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AUFGEKLÄRTE LEBENSWELTEN? Einleitende Überlegungen Ole Fischer Im Zentrum dieses Buches steht die Aufklärung als historische Epoche, die unter einem bestimmten Aspekt, nämlich der lebensweltlichen Relevanz sozialer, wis- senschaftlicher und politischer Innovationen und Reformen, und zudem geogra- phisch eingegrenzt auf Norddeutschland und Dänemark betrachtet wird. Die Auf- klärung als Epoche ist abzugrenzen von einem inhaltlich definierten Aufklärungs- begriff, der auf bestimmte Wertvorstellungen der modernen, westlichen Welt ab- zielt, deren Ursprünge jedoch nicht selten in der historischen Aufklärung gesucht und gefunden werden. 1 So sind beispielsweise Freiheit, Menschenrechte und To- leranz, aber auch Vernunft, Kritik, Öffentlichkeit und Autonomie Werte und Schlagwörter für Konzepte und Ideen, die als Fundament der Moderne gelten. 2 Die Historikerin und den Historiker kann eine solchermaßen geschehene Reduzie- rung der Aufklärung kaum zufriedenstellen. Zwar bestimmte der inhaltlich defi- nierte Aufklärungsbegriff häufig auch die Auswahl der Gegenstände historischer Forschung. Aber nicht alle Aussagen, die vom aufklärerischen Diskurs verworfen wurden, waren für die Zeitgenossen gleichermaßen belanglos. Und nicht alles, was sich nicht unter den Begriff der Aufklärung subsumieren lassen wollte, war rückständig, traditionell und antimodern. Insofern sollte auch der Begriff der Auf- klärung nicht vorschnell Assoziationen einer Erfolgsgeschichte hervorrufen, wie spätestens seit Adorno/Horkheimer bekannt ist. 3 Nun könnte man den Standpunkt vertreten, dass die Frage „Was ist Aufklärung?“ – wenn sie inhaltlich gemeint ist – möglicherweise am besten unbeantwortet bleibt, denn selbst das kantsche sape- re aude! und die ausgehend davon erstrebte „Mündigkeit“ erscheinen in ihrer Wirkung aus gouvernementalitätstheoretischer Perspektive in gewissem Maße fraglich. Was nämlich bleibt von der Mündigkeit – ließe sich überspitzt fragen –, 1 Vgl. Horst Stuke, Aufklärung, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Stuttgart 1979, S. 243–342, hier S. 243–247. Zur zeitlichen Eingrenzung der Epoche vgl. auch Georg Schmidt, Wandel durch Vernunft. Deutsche Geschichte im 18. Jahrhundert, München 2009, S. 15. 2 Zur Grundlegung der Moderne im 18. Jahrhundert vgl. beispielsweise Olaf Breidbach, Hart- mut Rosa, Einleitung. Was ist das Laboratorium Aufklärung?, in: Laboratorium Aufklärung, hrsg. von dens., München 2010, S. 7–17, insbesondere S. 7–11. 3 Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 21. Aufl., Frankfurt a. M. 2013.

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AUFGEKLÄRTE LEBENSWELTEN?

Einleitende Überlegungen

Ole Fischer

Im Zentrum dieses Buches steht die Aufklärung als historische Epoche, die unter einem bestimmten Aspekt, nämlich der lebensweltlichen Relevanz sozialer, wis-senschaftlicher und politischer Innovationen und Reformen, und zudem geogra-phisch eingegrenzt auf Norddeutschland und Dänemark betrachtet wird. Die Auf-klärung als Epoche ist abzugrenzen von einem inhaltlich definierten Aufklärungs-begriff, der auf bestimmte Wertvorstellungen der modernen, westlichen Welt ab-zielt, deren Ursprünge jedoch nicht selten in der historischen Aufklärung gesucht und gefunden werden.1 So sind beispielsweise Freiheit, Menschenrechte und To-leranz, aber auch Vernunft, Kritik, Öffentlichkeit und Autonomie Werte und Schlagwörter für Konzepte und Ideen, die als Fundament der Moderne gelten.2 Die Historikerin und den Historiker kann eine solchermaßen geschehene Reduzie-rung der Aufklärung kaum zufriedenstellen. Zwar bestimmte der inhaltlich defi-nierte Aufklärungsbegriff häufig auch die Auswahl der Gegenstände historischer Forschung. Aber nicht alle Aussagen, die vom aufklärerischen Diskurs verworfen wurden, waren für die Zeitgenossen gleichermaßen belanglos. Und nicht alles, was sich nicht unter den Begriff der Aufklärung subsumieren lassen wollte, war rückständig, traditionell und antimodern. Insofern sollte auch der Begriff der Auf-klärung nicht vorschnell Assoziationen einer Erfolgsgeschichte hervorrufen, wie spätestens seit Adorno/Horkheimer bekannt ist.3 Nun könnte man den Standpunkt vertreten, dass die Frage „Was ist Aufklärung?“ – wenn sie inhaltlich gemeint ist – möglicherweise am besten unbeantwortet bleibt, denn selbst das kantsche sape-re aude! und die ausgehend davon erstrebte „Mündigkeit“ erscheinen in ihrer Wirkung aus gouvernementalitätstheoretischer Perspektive in gewissem Maße fraglich. Was nämlich bleibt von der Mündigkeit – ließe sich überspitzt fragen –,

1 Vgl. Horst Stuke, Aufklärung, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur

politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Stuttgart 1979, S. 243–342, hier S. 243–247. Zur zeitlichen Eingrenzung der Epoche vgl. auch Georg Schmidt, Wandel durch Vernunft. Deutsche Geschichte im 18. Jahrhundert, München 2009, S. 15.

2 Zur Grundlegung der Moderne im 18. Jahrhundert vgl. beispielsweise Olaf Breidbach, Hart-mut Rosa, Einleitung. Was ist das Laboratorium Aufklärung?, in: Laboratorium Aufklärung, hrsg. von dens., München 2010, S. 7–17, insbesondere S. 7–11.

3 Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 21. Aufl., Frankfurt a. M. 2013.

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wenn die erklommenen Dimensionen des Wissens in eine Form der bürgerlichen Selbstregierung münden, deren Differenz zur Disziplinierung durch die Obrigkei-ten in teleologischer Perspektive – also mit Blick auf die angestrebte Ordnung des Sozialen – sich tendenziell minimiert? Freiheit und Zwang werden vor diesem Hintergrund zunehmend ununterscheidbar.4 Darüber hinaus zeigt sich schon bei einem Blick auf die historische Epoche der Aufklärung, dass diese in ihrer Kom-plexität kaum mit einer schlagwortartigen Kategorisierung fassbar ist. Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert geraten die traditionellen Weltbilder in einen dynamischen Wandel, der im 18. Jahrhundert zu einer weitgehenden Ausdiffe-renzierung gesellschaftlicher Identifikationspunkte und -formen führen sollte und dessen Auswirkungen ersten Grades frühestens am Beginn des 19. Jahrhunderts abflachen, ohne Zweifel aber bis in die Gegenwart deutlich zu erkennen sind.5 Aufklärung in diesem Sinne bezeichnet also ein komplexes Gefüge im langen 18. Jahrhundert, das sich durch eine Vielzahl einander auch widerstreitender Ideen und Ideale auszeichnet.6

Was aber kann damit gemeint sein, wenn im Folgenden beispielsweise von „aufklärerischen Ideen und Reformen“ die Rede ist? Offenbar gibt es ja aller Plu-ralisierung aufklärerischer Ideale und allen vorsichtigen Relativierungen vonseiten der Aufklärungsforschung zum Trotz doch irgendetwas, das einem common sense vom Begriff der Aufklärung nahe kommt. Und auch aus diskursanalytischer Per-spektive lässt sich kaum darüber streiten, dass die Aufklärung ein diskursives Er-eignis gewesen ist, das sich gerade gegen Ende des 18. Jahrhunderts „im Mecha-nismus seines Drängens“7 beobachten lässt, über das also ganz explizit intensiv diskutiert wurde.8 Um im Hinblick auf den Aufklärungsbegriff dem definitori-schen Dilemma zwischen abstrakt-theoretischem Prinzip und konkreten Praktiken aufklärerischen Handelns sowie den entsprechenden Gegenströmungen produktiv zu begegnen, hat Daniel Fulda vorgeschlagen, zwischen der „Sache“ und den „Sa-chen“ der Aufklärung zu unterscheiden9: Die „Sache“ im Singular bezeichnet in

4 Vgl. dazu beispielsweise die Tagung „Vom Zwang zur Freiheit zur Ununterscheidbarkeit von

Freiheit und Zwang. Freisetzung und Vergesellschaftung von der Aufklärung bis in die Ge-genwart des 21. Jahrhunderts“, die im März 2010 stattgefunden hat. Das Programm ist unter folgendem Link einzusehen: http://www.exzellenz-netzwerk-arw.uni-halle.de/veranstaltungen /2010/zwang_freiheit.htm (geprüft am 28.10.2014).

5 Vgl. Breidbach, Rosa, Einleitung (wie Anm. 2), S. 6. 6 Zur „Nicht-Identität“ der Aufklärung vgl. beispielsweise Daniel Fulda, Gab es »die Aufklä-

rung«? Einige geschichtstheoretische, begriffsgeschichtliche und schließlich programmati-sche Überlegungen anlässlich einer neuerlichen Kritik an unserem Epochenbegriff, in: Das achtzehnte Jahrhundert. Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des acht-zehnten Jahrhunderts 37/1 (2013), S. 11–25.

7 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1990, S. 39. 8 Gleiches gilt für das französische „les lumières“, jedoch nicht für das englische „enlighten-

ment“, das als Epochenbegriff erst seit dem späten 19. Jahrhundert gebraucht wurde, vgl. Fulda, Gab es »die Aufklärung«? (wie Anm. 6), S. 12.

9 Daniel Fulda, Sache und Sachen der Aufklärung. Versuch einer Antwort auf die Frage, wie sich Programm und Praxis der Aufklärung erforschen lassen, in: Epoche und Projekt. Per-

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diesem Sinne eben genau die Aufklärung als idealtypisches Prinzip – zugespitzt könnte man sagen: Aufklärung als anthropozentrisches Denk- und Handlungssys-tem nach Maßgabe der Vernunft. Das wäre dann auch im Sinne von Aufklärung als „Projekt“ zu verstehen, das bis in die Gegenwart hinein wirkt. Die „Sachen“ im Plural bezeichnet all jene Praktiken, Ereignisse, Gegenstände etc., die sich an einer Idee von Aufklärung bedient und gerieben haben oder zum Objekt oder Sub-jekt aufklärerischer Kritik wurden, also die ganz konkreten Auswirkungen von Ideen und Handlungen mit dem Anspruch „vernünftig“ zu sein sowie auch die betonte Kritik an diesem Anspruch.10

Was an diesen Überlegungen deutlich wird, ist, dass man der Aufklärung we-der als Projekt noch als Epoche gerecht wird, wenn ihre Auswirkungen lediglich auf einer ideengeschichtlichen Ebene betrachtet werden. Diese Ebene ist zwar wichtig, da genau hier die oben benannten Begriffe (neu) diskutiert und definiert worden sind, doch ist ein Bezug zur Praxis jeder Vorstellung von Aufklärung in-härent.11 Aufklärung impliziert somit eine lebensweltliche und auf das Individuum bezogene Relevanz, die nicht ausgeblendet werden sollte. In seiner einschlägigen Definition bezeichnet Rudolf Vierhaus die Lebenswelt eines Menschen als „raum- und zeitbedingte soziale Wirklichkeit, in der tradierte und sich weiter entwickeln-de Normen gelten und Institutionen bestehen und neue geschaffen werden.“12 Die Aufklärung und das mit ihr einhergehende „Schwinden herkömmlicher Selbstver-ständlichkeiten“13 fordern zur Frage nach einem Einfluss auf menschliche Le-benswelten geradezu heraus. Auch unterhalb der gelehrten Diskurse und der ge-bildeten Elite wurde die Aufklärung relevant, und zwar insofern, als mit ihr der Anspruch verbunden war, die Strukturbedingungen menschlichen Zusammenle-bens zu verändern, und als Veränderungen auch in einem beträchtliche Maße er-reicht wurden.14 Dies gilt für den Verlust der Deutungshoheit von traditionellen Autoritäten in „Staat“ und Kirche, für den vertikalen gesellschaftlichen Aufstieg, der – wenn auch in kontinuierlich begrenztem Maße – zunehmend möglich wurde, aber auch im Hinblick auf die Verwissenschaftlichung der Landwirtschaft, um nur

spektiven der Aufklärungsforschung, hrsg. von Stefanie Stockhorst, Göttingen 2013, S. 241–262.

10 Vgl. ebd., S. 251 ff. 11 Vgl. beispielsweise Hans Erich Bödeker, Ulrich Hermann, Über den Prozeß der Aufklärung

in Deutschland im 18. Jahrhundert. Personen, Institutionen und Medien, in: Über den Prozeß der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert. Personen, Institutionen und Medien, hrsg. von dens., Göttingen 1987, S. 9–13, hier S. 11.

12 Rudolf Vierhaus, Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kultur-geschichtsschreibung, in: Wege zu einer neuen Kulturgeschichte, hrsg. von Hartmut Leh-mann, Göttingen 1995, S. 5–28, hier S. 13–14. Vierhaus konnte bei dieser Definition auf älte-re Konzepte aus der Soziologie zurückgreifen, so vor allem auf Alfred Schütz u. Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Bd. 2, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1984 (erstmals 1979), S. 11: „Die Lebenswelt ist der Inbegriff einer Wirklichkeit, die erlebt, erfahren und erlitten wird.“

13 Fulda, Gab es »die Aufklärung« (wie Anm. 6), S. 23. 14 Vgl. beispielsweise Franklin Kopitzsch, Die Aufklärung in Deutschland. Zu ihren Leistungen,

Grenzen und Wirkungen, in: Archiv für Sozialgeschichte 23 (1983), S. 1–21.

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einige Beispiele zu erwähnen. Wie aber genau liefen die Transformationsprozesse ab, wie positionierten sich die Menschen zu den Ideen und Reformen verschiede-ner Aufklärer und wie beeinflusste ihre Positionierung zur Aufklärung ihre Le-benswirklichkeit? Nicht zuletzt gilt das 18. Jahrhundert als Phase fortschreitender Individualisierung und Subjektivierung.15 Aufklärung wirkte sich also auch auf den einzelnen Menschen, seine Denk- und Wahrnehmungsweisen und somit auf seine Identitätsbildung aus. Dies beeinflusste auch die Handlungsweisen der Men-schen und wirkte somit fundamental auf die Lebenswelt zurück, so dass sich im Prozess der Aufklärung lebensweltliche Strukturen, aufklärerische Diskurse und individuelle Denk- und Handlungsweisen in einem komplexen Spannungsfeld gegenseitig beeinflusst haben. Es ist daher fraglich, inwieweit die breite Masse der Bevölkerung wirklich nur „Publikum“ der Aufklärung gewesen ist, wie Im-manuel Kant meinte.16 Und ob allein aus dem Vorhandensein einer Vielzahl mo-ralisch-pädagogischer Schriften im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert wirklich auf einen umfassenden Mentalitätenwandel der Landbevölkerung geschlossen werden kann,17 ist eine weitere Frage. Letztlich haftet ja gerade der sogenannten „Volksaufklärung“18 allen emanzipatorischen Ansprüchen zum Trotz der An-schein eines zutiefst paternalistischen Projekts an.19 Wie Jürgen Martschukat für die Vereinigten Staaten in der Nachfolge der amerikanischen Revolution (1763–1783) gezeigt hat, barg gerade der mit der Aufklärung vermittelte Anspruch auf vernunftgemäßes Handeln das Potenzial, in Abhängigkeit von einer mutmaßlichen

15 Vgl. beispielsweise Schmidt, Wandel durch Vernunft (wie Anm. 1), S. 332 sowie Angelika

Poferl, Norbert Schröer, Wer oder was handelt? Zum Subjetverständnis der hermeneutischen Wissenssoziologie. Eine Einleitung, in: Wer oder was handelt? Zum Subjektverständnis der hermeneutischen Wissenssoziologie, hrsg. von dens., Wiesbaden 2014, S. 1–22, hier S. 17.

16 Kant, Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung“, S. 10. Zitiert nach Alexander Krünes, Die Volksaufklärung in Thüringen im Vormärz (1815–1848), Köln/Weimar/Wien 2013, S. 4.

17 Vgl. Heidrun Alzheimer-Haller, Handbuch zur narrativen Volksaufklärung. Moralische Ge-schichten 1780–1884, Berlin/New York 2004, S. 3f.

18 Die seit etwa Mitte der 1980er Jahre florierende Forschung zur „Volksaufklärung“ beschäftigt sich vornehmlich mit dem „Volk“ als Objekt aufklärerischer Bemühungen. Das Spektrum aufklärerischer Aktivitäten reicht dabei von publizistischen Erzeugnissen bis zur Einrichtung von Volkshochschulen. Ziel vieler Volksaufklärer war es, den Wissensstand der Bevölkerung in jeweils für einzelne Gruppen lebensrelevanten Bereichen anzuheben. Zur Volksaufklärung vgl. insbesondere: Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahr-hunderts, hrsg. von Holger Böning, Hanno Schmitt und Reinhart Siegert, Bremen 2007 sowie zusammenfassend auch Schmidt, Wandel durch Vernunft (wie Anm. 1), S. 268–273; Holger Böning, Volksaufklärung, in: Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, hrsg. von Werner Schneiders, München 1995, S. 434–437.

19 In diesem Zusammenhang ist auch die Debatte um die Notwendigkeit einer „Volkstäu-schung“ interessant, die 1778 durch eine Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaf-ten ausgelöst worden war. Vgl. Anne Conrad, Aufgeklärte Elite und aufzuklärendes Volk? Das Volk im Visier der Aufklärung, in: Das Volk im Visier der Aufklärung. Studien zur Po-pularisierung der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert, hrsg. von ders., Arno Herzig u. Franklin Kopitzsch, Hamburg 1998, S. 1–15, hier S. 7–12.

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Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme neue Machträume zu schaffen.20 Diese Feststellung sollte jedoch nicht dazu verleiten, die Bemühungen um eine Popula-risierung aufklärerischer Vorstellungen einseitig abzuwerten oder das „Volk“ und die „Elite“ als Gegensätze zu betrachten. Vielmehr – so wird vonseiten der Volksaufklärung gefordert – gelte es, den Fokus auf die personellen und ideellen Wechselwirkungen zwischen diesen keinesfalls als statisch anzusehenden „Grup-pen“ zu richten.21 Dennoch machen die Beispiele in diesem Band eines deutlich: Senkt man den Blick hinab und betrachtet die Ebene unterhalb der gelehrten De-batten und Theorien einer „aufklärerischen Elite“, dann entdeckt man ganz an-dersartige Wissensräume, die häufig nicht minder taugliche Strategien zur Bewäl-tigung alltäglicher Probleme bereitstellten.

FORSCHUNGSSTAND

In den Überblicksdarstellungen zur Aufklärung22 ist der norddeutsch-dänische Raum nur selten präsent, und dies, obwohl die zeitgenössische Beobachtung, dass die Herzogtümer Schleswig und Holstein besonders aufgeklärte Regionen seien, bis heute in der Forschungsliteratur tradiert wird.23 Von Bedeutung waren dabei vermutlich auch die politischen Rahmenbedingungen, an denen sich die histori-sche Forschung vielfach orientierte bzw. orientiert. Das auf den ersten Blick schwer durchschaubare territoriale Gefüge, das während der Frühen Neuzeit die Region des heutigen Schleswig-Holsteins geprägt hat,24 erschwerte die Zugänge zu einer Geschichte der Aufklärung im staatlichen Kontext. Aus diesem Grund ist es wenig erstaunlich, dass sich die beiden bisher erschienenen Sammelbände zur Aufklärung in Norddeutschland und Dänemark vor allem auf die Zeit des Däni-

20 Jürgen Martschukat, Die Ordnung des Sozialen. Väter und Familien in der amerikanischen

Geschichte seit 1770, Frankfurt a. M./New York 2013, S. 17–42. 21 Conrad, Aufgeklärte Elite und aufzuklärendes Volk (wie Anm. 19), S. 4–5. Für weitere Aus-

führungen zum Verhältnis von „Volk“ und „Elite“ im Kontext der Aufklärung vgl. ebd., S. 4–7.

22 Vgl. beispielsweise Angela Borgstedt, Das Zeitalter der Vernunft, Darmstadt 2004; Terence James Reed, Mehr Licht in Deutschland. Eine kleine Geschichte der Aufklärung, München 2009; Schmidt, Wandel durch Vernunft (wie Anm. 1); Annette Meyer, Die Epoche der Auf-klärung, München 2010; Barbara Stollberg-Rilinger, Die Aufklärung. Europa im 18. Jahr-hundert, 2. Aufl., Stuttgart 2011.

23 Vgl. dazu den Beitrag von Lars N. Henningsen in diesem Band. 24 Einen Überblick über die allgemeinen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen

Entwicklungen in der Region des heutigen Schleswig-Holsteins bietet Franklin Kopitzsch, Schleswig-Holstein im Gesamtstaat 1721–1830. Absolutismus, Aufklärung und Reform, in: Geschichte Schleswig-Holsteins. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, hrsg. von Ulrich Lange, 2. Aufl., Neumünster 2003, S. 281–303.

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schen Gesamtstaats (1773–1864) konzentrieren,25 um von einheitlicheren politi-schen Rahmenbedingungen ausgehen zu können.

Der mangelnden Präsenz in der internationalen Aufklärungsforschung zum Trotz ist der Forschungsstand zur Geschichte des 18. Jahrhunderts in Nord-deutschland und Dänemark als gut zu bezeichnen. Sowohl in chronologischen Gesamtdarstellungen zur schleswig-holsteinischen Geschichte und regionsbezo-genen Überblicksdarstellungen zur Aufklärung26 als auch in Einzeluntersuchun-gen wurden Ereignisse und Entwicklungen des 18. Jahrhunderts thematisiert. Die Suche nach Spuren der Aufklärung in Norddeutschland und Dänemark nahm da-bei – entsprechend einer älteren Tradition der insbesondere an der „Hochkultur“ interessierten Aufklärungsforschung – ihren Ausgangpunkt häufig bei den „gro-ßen Männern“27: Johann Friedrich Struensee (1737–1772), Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) oder Matthias Claudius (1740–1815) gelten als herausra-gende Akteure einer androzentrischen Perspektive auf die Gelehrtenkultur dieser Region im 18. Jahrhundert.28 Schon früh gewannen in der norddeutsch-dänischen Aufklärungsforschung aber auch eher unkonventionelle Zugänge und Aspekte an Bedeutung. So beispielsweise der Zusammenhang zwischen Aufklärung und Volkskultur im Spiegel der Schleswig-Holsteinischen Provinzialberichte, den Kai Detlev Sievers für seine 1970 publizierte Habilitationsschrift untersucht hat.29 Abgesehen von diesem eher ethnologischen Zugriff hat auch Franklin Kopitzsch schon früh damit begonnen, den vornehmlich philosophie-, literatur- und über-haupt geistesgeschichtlich geprägten Studien zur Aufklärung für den norddeut-schen Raum eine sozialgeschichtliche Perspektive entgegenzusetzen.30 Dabei

25 Aufklärung und Pietismus im dänischen Gesamtstaat 1770–1820, hrsg. von Hartmut Leh-

mann u. Dieter Lohmeier, Neumünster 1983; Der dänische Gesamtstaat. Kopenhagen, Kiel, Altona, hrsg. von Klaus Bohnen u. Sven-Aage Jørgensen, Tübingen 1992.

26 Vgl. beispielsweise Svend Cedergreen Bech, Oplysning og Tolerance 1721–1784, 2. Aufl., Kopenhagen 1971; Kopitzsch, Schleswig-Holstein im Gesamtstaat (wie Anm. 24), S. 281–340; Lars N. Henningsen, Mønsterregion i det danske monarki 1721–1814, in: Sønderjyllands Historie 1 Indtil 1815, Aabenraa 2008, S. 333–468; Jendris Alwast, Die Aufklärungszeit, in: Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte Bd. 5, Neumünster 1989, S. 13–51; Hamburg im Zeitalter der Aufklärung, hrsg. von Inge Stephan u. Hans-Gerd Winter, Hamburg 1989 sowie die älteren Darstellungen von Hans Hejselbjerg Paulsen, Oplysningstiden i Hertugdømmerne, in: SøÅ 1934 S. 129–211, u. Christian Degn, Die Herzogtümer im Gesamtstaat 1773–1830, in: Geschichte Schleswig-Holsteins, Bd. 6, Neumünster 1960, S. 163–407.

27 Vgl. zur Frage nach der Bedeutung von Frauen im Prozess der Aufklärung Conrad, Aufge-klärte Elite und aufzuklärendes Volk (wie Anm. 19), S. 6–7.

28 Vgl. Sven-Aage Jørgensen, Einführung. Der dänische Gesamtstaat zwischen Kopenhagen und Kiel, in: Der dänische Gesamtstaat, hrsg. von Bohnen u. Jørgensen (wie Anm. 25), S. 1–6.

29 Kai Detlev Sievers, Volkskultur und Aufklärung im Spiegel der Schleswig-Holsteinischen Provinzialberichte, Neumünster 1970.

30 Vgl. beispielsweise Franklin Kopitzsch, Einleitung. Die Sozialgeschichte der deutschen Auf-klärung als Forschungsaufgabe, in: Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutsch-land, hrsg. von dems. München 1976; Ders., Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklä-rung in Hamburg und Altona, Hamburg 1982; Ders., Organisationsformen der Aufklärung in Schleswig-Holstein, in: Aufklärung und Pietismus im dänischen Gesamtstaat 1770–1820, hrsg. Hartmut Lehmann u. Dieter Lohmeier, Neumünster 1983, S. 53–85.

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wurden auch die Entstehung einer kritischen Öffentlichkeit sowie die Bedeutung von aufklärerischen Sozietäten untersucht.31 Ein weiterer Schwerpunkt lag bereits früh auf der Sozialgeschichte der Bildung in Schleswig, Holstein und Hamburg.32 Kopitzsch folgten weitere Historikerinnen und Historiker, die in Aufsätzen und umfassenden Arbeiten unsere Kenntnisse des Zusammenhangs von Aufklärung und Lebenswelt bereicherten, so beispielsweise Otto Ulbricht, der in seiner Habi-litationsschrift über Kindsmord und Aufklärung vorwiegend Beispiele aus Schleswig und Holstein thematisiert.33

Als relativ gut erforscht können auch die kirchlich-religiösen Prozesse in Norddeutschland und Dänemark im 18. Jahrhundert gelten, wenn auch nach wie vor für Schleswig und Holstein eine Forschungslücke für die Zeit zwischen etwa 1730 und 1760 festzustellen ist. Bereits Manfred Jakubowski-Tiessen hat in seiner Dissertation deutlich gemacht, dass der Pietismus in Schleswig und Holstein (und auch in Dänemark) deutlich länger brauchte, um sich durchzusetzen, sich dann aber auch länger gegen aufklärerische Tendenzen in der Theologie behaupten konnte.34 Erst nach dem Tod des königlichen Generalsuperintendenten Adam Struensee 1791 wurden vonseiten der kirchlichen Obrigkeit erfolgreich Versuche unternommen, Reformen in Theologie und Kirche durchzusetzen.35 Dies geschah in einer Zeit, in der bereits die einsetzende Erweckungsbewegung sowie auch die mangelnde Reformbegeisterung der Bevölkerung diesen Aktivitäten kaum noch eine Chance ließen.

Als Indikator für die Wirksamkeit aufklärerischer Ideen dienen häufig die Ak-tivitäten an Universitäten.36 In diesem Zusammenhang haben Studien deutlich gemacht, dass die 1665 gegründete Christian-Albrechts-Universität zu Kiel lange

31 Franklin Kopitzsch, Lesegesellschaften im Rahmen einer Bürgerrepublik. Zur Aufklärung in

Lübeck, in: Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich, hrsg. von Otto Dann, München 1981, S. 87–102; Ders., Lesegesellschaften und Aufklärung in Schleswig-Holstein, in: ZSHG 108 (1983), S. 141–170; Ders. Organisationsformen der Auf-klärung in Schleswig-Holstein. Lesegesellschaften, in: Rundbrief des Arbeitskreises für Wirt-schafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 1 (1978), S. 15–23. Vgl. außerdem Cars-ten Prange, Die Zeitungen und Zeitschriften des 17. Jahrhunderts in Hamburg und Altona. Ein Beitrag zur Publizistik der Frühaufklärung, Hamburg 1978.

32 Franklin Kopitzsch, Anfänge der Lehrerausbildung im Zeitalter der Aufklärung in Schleswig-Holstein, Hamburg und Lübeck, in: Informationen zur erziehungs- und bildungshistorischen Forschung 20/21 (1983), S. 129–143; Franklin Kopitzsch u. Jürgen Overhoff, Der deutsch-dänische Kulturaustausch im Bildungswesen (1746–1800), in: Das achtzehnte Jahrhundert 25 (2001), Heft 2: Deutsch-dänischer Kulturtransfer im 18. Jahrhundert, S. 184–196.

33 Otto Ulbricht, Kindsmord und Aufklärung in Deutschland, München 1990. 34 Manfred Jakubowski-Tiessen, Der frühe Pietismus in Schleswig-Holstein. Entstehung, Ent-

wicklung und Struktur, Göttingen 1983. 35 Vgl. Ole Fischer, „Toleranz ist gut, wenn sie nur gehörig eingeschränckt wird“. Adam Stru-

ensee als Generalsuperintendent in Schleswig und Holstein (1759–1791), in: ZSHG 35 (2010), S. 147–178.

36 Vgl. dazu den Band Universitäten und Aufklärung, hrsg. von Notker Hammerstein, Göttingen 1995.

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abgeschnitten vom aufklärerischen Diskurs gewesen ist.37 Zunächst hatte die ge-rade erst gegründete Universität in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen erstaunlichen Niedergang erlebt. In den 1760er Jahren war Kiel – wie Dieter Lohmeier betont – „das Schlußlicht unter allen deutschen Universitäten“, und nur wenige Studenten fanden überhaupt den Weg an die Christiania Albertina.38 Erst nachdem im Jahr 1773 der Vertrag von Zarskoje Selo geschlossen worden war und eine Eingliederung ehemals gottorfischer Territorien in den Dänischen Ge-samtstaat erfolgte, wurden unter dem neuen Landesherrn Bemühungen zum Aus-bau der Kieler Universität unternommen. Lohmeier spricht in diesem Zusammen-hang von einer zweiten Gründung der Universität.39 Diese erscheint aber weniger als das Ergebnis aufklärerischer Bestrebungen, sondern insbesondere als das Re-sultat politischer Ereignisse.40 Ähnliche Beobachtungen wurden auch zur Kopen-hagener Universität sowie zur Ritterakademie Sorø, die zeitweise ebenfalls den Status einer Universität besaß, gemacht. Zwar reicht die Geschichte dieser Hoch-schulen deutlich weiter zurück als die der Kieler Universität – die Ritterakademie wurde im 16. Jh., die Universität Kopenhagen bereits im 15. Jh. gegründet –, doch erlebten beide im 18. Jahrhundert ebenfalls eine umfassende Erneuerung. Trotz dieser Bemühungen gelang der Anschluss an die wissenschaftliche Spitzengruppe der europäischen Universitäten jedoch auch hier kaum.41

Auch die Bedeutung landwirtschaftlicher Reformen wurde bereits in den Blick genommen.42 Dass diese Entwicklungsprozesse aber im 18. Jahrhundert nicht allein das Ergebnis aufklärerischer Bemühungen gewesen sind, zeigt bei-spielsweise Dominik Hünnigers Arbeit über die Viehseuche, die zwischen 1748 und 1752 die Herzogtümer Schleswig und Holstein erfasste. Hünniger betont nicht nur die fortwährende Relevanz religiöser Deutungssysteme bei der Bewälti-gung von Krisenerfahrungen im 18. Jahrhundert, sondern auch die Handlungs-kompetenz der Bevölkerung im Umgang mit der Seuche.43 Ambitionen im Geiste der Aufklärung wurden insbesondere dem Propsten Philipp Ernst Lüders beschei-nigt, der ab 1763 mit der von ihm initiierten „Königlich Dänischen Acker-

37 Zur Geschichte der Christian-Albrechts-Universität im 18. Jahrhunderts vgl. beispielsweise

Dieter Lohmeier, Die Universität Kiel als Stätte der Aufklärung, in: Der dänische Gesamt-staat, hrsg. von Bohnen u. Jørgensen (wie Anm. 25), S. 69–90.

38 Ebd., S. 71. 39 Ebd., S. 70. 40 Erste Ideen für eine Reform der Universität wurden allerdings schon Ende der 1760er Jahre

formuliert. Vgl. ebd., S. 72–73. 41 F. J. Billeskov Jansen, Universität Kopenhagen und Ritterakademie Sorø, in: Der dänische

Gesamtstaat, hrsg. von Bohnen u. Jørgensen (wie Anm. 25), S. 49–67. 42 Vgl. Peter Vollrath, Landwirtschaftliches Beratungs- und Bildungswesen in Schleswig-

Holstein in der Zeit von 1750 bis 1850, Neumünster 1957; Wolfgang Prange, Die Anfänge der großen Agrarreformen in Schleswig-Holstein bis um 1771, Neumünster 1971.

43 Dominik Hünniger, Die Viehseuche von 1744–52. Deutungen und Herrschaftspraxis in Kri-senzeiten, Neumünster 2011, S. 211–215.

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Akademie“ in Glücksburg an der Flensburger Förde die naturwissenschaftlichen und landwirtschaftlichen Kenntnisse der Bauern anheben wollte.44

Trotz dieser beachtlichen Ergebnisse der bisherigen Forschung zur Charakte-ristik und Wirkung der Aufklärung in Norddeutschland und Dänemark gibt es eine Vielzahl von Lücken, insbesondere im Hinblick auf eher kulturgeschichtliche Fragestellungen. Darüber hinaus konzentrierte sich die Forschung häufig auf auf-klärerische Zentren wie beispielsweise Altona, für das Franklin Kopitzsch einen fast als mikrohistorisch zu charakterisierenden Überblick verfasst hat.45 Eine Fra-ge, die trotz der Menge an auch sozialgeschichtlicher Forschung zum 18. Jahr-hundert in Dänemark und Norddeutschland noch zu selten wirklich gestellt wurde, ist jene nach den tatsächlichen Auswirkungen aufklärerischer Diskurse und Re-formen auf die Lebenswelt der „normalen“ Bevölkerung,46 und zwar nicht aus der Perspektive derer, die ihre Erfolge selbst zu beschreiben versuchten, sondern aus der Perspektive der vom aufklärerischen Handeln „Betroffenen“, die – wenn man genau hinsieht – gar nicht ausschließlich passiv Betroffene waren, sondern sich aktiv an der Gestaltung ihrer Lebenswelt beteiligten.47

DIE BEITRÄGE DIESES BANDES

Um dieses Desiderat in der Erforschung der lebensweltlichen Relevanz aufkläre-rischer Ideen und Reformen im norddeutschen und dänischen Raum zumindest ein Stück weit aufzuarbeiten, beschlossen einige Mitglieder des Arbeitskreises für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins im Sommer 2010 ein ge-meinschaftliches Forschungsprojekt unter dem Titel „Aufklärung und Alltag“ zu starten. Dabei war der Projektname „Aufklärung und Alltag“ nicht als enger Rahmen gedacht, sondern als zu vielen Seiten offenes Zentrum. Das heißt, dass Aufklärung, wie bereits angedeutet, eher eine grobe Einschränkung des Zeitraums

44 Vgl. zu Lüders Vollrath, Landwirtschaftliches Beratungs- und Bildungswesen (wie Anm. 42),

S. 127–156. 45 Vgl. Anm. 30. 46 Einen wichtigen Beitrag zur Forschung leistete in diesem Zusammenhang bereits der Band:

Das Volk im Visier der Aufklärung. Studien zur Popularisierung der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert, hrsg. von Anne Conrad, Arno Herzig und Franklin Kopitzsch, Hamburg 1998. Der hier vorliegende Band knüpft insofern an die Idee der 1998er Publikation an, als „die Spannung zwischen dem Ideal der Volksaufklärung einerseits und seiner faktischen Re-lativierung andererseits“ (Klappentext) ebenfalls in zahlreichen Beiträgen thematisiert wird. Insgesamt soll der Fokus jedoch vor allem auf den Wahrnehmungen und Deutungen derjeni-gen liegen, die nicht Teil einer „aufklärerischen Elite“ waren oder sich an deren Rändern be-wegten. Durch diese Akzentverschiebung soll der vorliegende Band die wichtigen Erkennt-nisse des Bandes von 1998 ergänzen und ihnen weitere hinzufügen.

47 Damit zusammenhängend kann auch gefragt werden, in welchen Zusammenhängen sich so etwas wie ein „Eigensinn“ erkennen lässt, den Alf Lüdtke als „Distanz gegenüber herrschaft-lichen Zumutungen“ beschreibt – eine Distanz jedoch, die „keine weitertreibende Dynamik“ entfaltete. Vgl. Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993, S. 9.

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und der in diesem Zeitraum diskutierten „Sachen“ vorgab als eine ohnehin schwerlich begründbare inhaltliche Beschränkung und dass der Begriff „Alltag“ nicht eine Beschränkung auf das eigentliche Themenfeld der Alltagsgeschichte,48 also die ganz basalen alltäglichen Praktiken (Essen, Schlafen, Sexualität etc.), erzwang, sondern stellvertretend stand für den Bezug zur Lebenspraxis, der die im Rahmen des Projektes erarbeiteten Beiträge auszeichnen sollte. Inhaltlich gab es darüber hinaus keine Vorgaben. Da eine vollständige und umfassende Aufarbei-tung lebensweltlich relevanter Aspekte der Aufklärung in Norddeutschland und Dänemark ohnehin im Rahmen des Projektes nicht zu leisten war, sollten – wie bei Projekten des Arbeitskreises für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins üblich – vielmehr die Interessen- und Forschungsschwerpunkte der Pro-jektteilnehmerinnen und -teilnehmer den thematischen Zuschnitt bestimmen. Dies implizierte von vornherein auch eine methodische Vielfalt, denn wenn man eines aus der Auseinandersetzung mit der Aufklärung als historischer Epoche lernen kann, dann ist es die Erkenntnis, dass es nicht immer nur eine richtige Methode und nur selten einen einzig wahren Weg der Wissensgenerierung gibt. In diesem Sinne ist das Projekt „Aufklärung und Alltag“ darauf angelegt gewesen, das breite inhaltliche Spektrum auch methodisch vielfältig anzugehen. Nach einem Arbeits-gespräch an der Kieler Universität im November 2010 wurden die Ergebnisse der einzelnen Teilbeiträge im Herbst 2011 auf einer Tagung in der Akademie auf dem Koppelsberg bei Plön präsentiert und die anschließende Publikation eines Sam-melbandes beschlossen, in dem die einzelnen Ergebnisse zusammengetragen wer-den sollten.

Herausgekommen sind die insgesamt zwölf in diesem Buch versammelten Beiträge, die verschiedene Aspekte der lebensweltlichen Relevanz aufklärerischen Denkens und Handelns in Dänemark und Norddeutschland beschreiben. Die Bei-träge sind chronologisch geordnet und umfassen einen Zeitraum von etwa 1680 bis 1850 und damit sowohl die Zeit der Anfänge aufklärerischen Denkens und Handelns als auch die ersten Jahrzehnte nach der Aufklärung als historischer Epo-che, in denen sich viele Reformen und Innovationen behaupten und konsolidieren mussten. Obwohl – wie beispielsweise der Beitrag von Ortwin Pelc in diesem Band betont – in aufklärerischen Sozietäten ein großes Interesse an vielen sehr alltäglichen Fragen und Problemen bestand, zeigen gleich mehrere der hier ver-sammelten Studien in eindrucksvoller Weise, wie nicht nur philosophierende Dichter, bürgerliche Publizisten und politische Reformer im Sinne ihrer Vorstel-lung von Aufklärung tätig wurden, sondern auch Bauern, Dorfbewohner und ein-fache Pastoren als reflektierende Akteure auftraten. Die Rezeption aufklärerischer Vorstellungen durch die genannten Gruppen ist dabei keineswegs immer eine Er-folgsgeschichte. Zum Teil erstaunlich kritisch reagierten die Bewohner ländlicher Gebiete auf die von „oben“ kommenden Reformvorschläge, und dies auch, weil sie dem theoretischen Wissen aufklärerischer Reformer häufig mit einer Form des

48 Vgl. zur Semantik des Begriffes „Alltag“ in der Alltagsgeschichte insbesondere Norbert

Elias, Zum Begriff des Alltags, in: Material zur Soziologie des Alltags, hrsg. von Kurt Hammerich, Opladen 1978, S. 22–29.

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aus der Praxis generierten Wissens begegneten, das in vielen Fällen nicht weniger geeignet zur Bewältigung alltäglicher Probleme war. 49

Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt zeigt im Hinblick auf die Rezeption und Durchsetzung von wissenschaftlichen Innovationen im Bereich der Landwirt-schaft, dass Landwirte dem theoretischen und in der Regel nicht erfahrungsbasier-ten Wissen der Reformer – seien es publizierende Theoretiker oder vermittelnde Pastoren – wenig Beachtung schenkten. Während jüngere Studien in Anlehnung an neue Ergebnisse der Alphabetisierungsforschung dazu neigen, das Interesse der Landbevölkerung an den aufklärerischen Schriften zu betonen,50 verweist der auf langjährigen Quellenstudien basierende Beitrag von Lorenzen-Schmidt auf eine große Distanz zwischen aufklärerischer Theorie und bäuerlicher Praxis.51 Land-wirtschaftliche Innovationen kamen im 18. Jahrhundert häufig durch empirische Versuche von Landwirten selbst zustande und hatten oft auch nur dann eine Chance, von anderen Landwirten rezipiert zu werden. Dies überwiegend einer mangelnden Lesefähigkeit der ländlichen Bevölkerung zuzuschreiben, wie es älte-re Studien zum Teil getan haben,52 ist sicherlich eine verkürzte Interpretation.53 Letztlich verfügten die Vermittler theoretischen Wissens offenbar gegenüber den Landwirten nur über eingeschränkte Autorität und Glaubwürdigkeit, so dass die Frage berechtigt erscheint, inwieweit das in Zeitschriften, Lehrbüchern etc. schriftlich verfasste Wissen nicht nur nicht rezipiert werden konnte, sondern von den potenziellen Adressaten vielleicht auch gar nicht rezipiert werden wollte.54 Solche Überlegungen können möglicherweise auch zur Beantwortung der Frage beitragen, warum selbst dann noch von den „Aufklärern“ über eine mangelnde Rezeption ihrer Theorien durch die Landwirte geklagt wurde, als deren Lesefä-higkeit bereits deutlich angestiegen war.55 Dabei sagen die Erkenntnisse von Lo-renzen-Schmidt vor allem etwas über die Rezeption theoretisch-aufklärerischen

49 Vgl. dazu auch Conrad, Aufgeklärte Elite und aufzuklärendes Volk (wie Anm. 19), S. 12–14. 50 Vgl. Krünes, Volksaufklärung in Thüringen (wie Anm. 16), S. 15. 51 Vgl. dazu auch Böning, Volksaufklärung (wie Anm. 18), S. 437. 52 Vgl. beispielsweise Rudolf Schenda, Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der mo-

dernen Lesestoffe 1770–1910, Frankfurt a. M. 1970; Reinhard Wittmann, Der lesende Land-mann. Zur Rezeption aufklärerischer Bemühungen durch die bäuerliche Bevölkerung im 18. Jahrhundert, in: Der Bauer Mittel- und Osteuropas im sozioökonomischen Wandel des 18. und 19. Jahrhunderts. Beiträge zu seiner Lage und deren Widerspiegelung in der zeitgenössi-schen Publizistik und Literatur, hrsg. von Dan Berindei u.a., Köln/Weimar/Wien 1973, S. 142–196.

53 Vgl. Ernst Hinrichs, Zur Erforschung der Alphabetisierung in Nordwestdeutschland in der Frühen Neuzeit, in: Das Volk im Visier der Aufklärung. Studien zur Popularisierung der Auf-klärung im späten 18. Jahrhundert, hrsg. von Anne Conrad, Arno Herzig u. Franklin Kopitz-sch, Hamburg 1998, S. 35–56.

54 Vgl. Holger Böning, Der „gemeine Mann“ als Adressat aufklärerischen Gedankengutes. Ein Forschungsbericht zur Volksaufklärung, in: Das achtzehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts 12 (1988), S. 52–80, hier S. 65.

55 Auf eine solche Klage verweist Klaus-J. Lorenzen-Schmidt in seinem Beitrag in diesem Band.

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Wissens im Bereich spezifisch bäuerlicher Tätigkeit aus und verweisen nicht auf ein allgemeines Desinteresse an allen Dingen jenseits des eigenen Erfahrungsbe-reiches. Dass in diesem Zusammenhang der Zugang zu Informationen bald als eine zentrale Herausforderung erkannt wurde, macht Detlev Kraack anhand einer Schrift von Niels Nikolaus Falck aus dem Jahr 1833 deutlich.

Wie langsam sich zum Teil von Seiten der Obrigkeit initiierte Reformen durchsetzten und auf welchen Widerstand diese stoßen konnten, das zeigt auch der Beitrag von Robert Gahde, der die Entwicklung des Feuerversicherungswe-sens im norddeutschen Raum „vom Zwang zum Bedürfnis“ nachverfolgt. Weiter-führend sind in diesem Zusammenhang ebenfalls die Beobachtungen von Lars N. Henningsen und Veronika Janssen, die in ihren Beiträgen detailliert die Strategien der Bevölkerung im Amt Hadersleben sowie in der Gemeinde Witzwort bei ihren Kämpfen gegen eine aufklärerische Kirchenordnung nachzeichnen. In der zum Teil sehr reflektierten Ablehnung dieser kirchlichen Reform durch die Einwohner des Amtes Hadersleben sieht Henningsen selbst „aufklärerisches Potential“ sowie deutliche Parallelen zu späteren demokratischen Bewegungen. Offensichtlich be-stand auch im Zusammenhang mit theologischen Sachverhalten und somit in der Regel jenseits des Bildungsstandes durchschnittlicher Landbewohner ein Bedürf-nis nach und ein Gespür für die eigene Mündigkeit, das unabhängig war von ei-nem für viele Reformer obligatorischen Bildungskanon.

Einen eher mikrogeschichtlichen Zugriff auf die mehr oder weniger gelunge-ne Aneignung aufklärerischer Vorstellungen bieten die Beiträge von Detlev Kraack und Ole Fischer, in denen jeweils eine Individualbiographie fokussiert wird. Mit dem Plöner Pastor Georg Suhr steht in Kraacks Aufsatz eine Person im Mittelpunkt, die eine Art Scharnierfunktion zwischen dem Alltagswissen der länd-lichen Bevölkerung und den Diskursen der aufklärerischen Elite innehatte. Auch in diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die Vermittlung von Wissen keines-falls zwangsläufig von oben nach unten verlief, etwa wenn sich Suhr für seine Theorie zur Fortpflanzung der Aale der Beobachtungen eines ortansässigen Fi-schers bedient. Dass sich das so generierte Wissen letztlich als falsch entpuppte, mag im Nachhinein die Vorstellung einer Inferiorität der Beobachtungsgabe ein-facher Männer und Frauen gestützt haben, als Indiz für die möglichen Wege der Wissenstransformation bleibt diese Geschichte gleichwohl ein anschauliches Bei-spiel. Ole Fischer untersucht die Folgen der Aneignung religiöser Ideen durch den lutherischen Geistlichen Martin Friedrich Lihme und versucht anhand dieses Bei-spiels die Frage zu beantworten, warum theologisch innovative Pastoren in den Herzogtümern Schleswig und Holstein bis ins späte 18. Jahrhundert wenig Chan-cen hatten, ihre „aufklärerischen“ Überlegungen und Ideale innerhalb der Kir-chengemeinden zu verbreiten. In Ergänzung zu den Beiträgen von Henningsen und Janssen zeigt dieser Aufsatz, dass die Durchsetzung von Reformen und die Rezeption von Neuerungen im Bereich von Theologie und Kirche nicht nur am Widerstand der Bevölkerung scheitern konnte, sondern dass – zumindest in Schleswig und Holstein – auch vonseiten der Obrigkeit massive Kritik an theolo-gischen Innovationen geleistet wurde. Für aufklärerisch ambitionierte Geistliche

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konnte dies mit erheblichen Auswirkungen auf die eigene Lebenspraxis, die über eine reine Amtsenthebung hinausgingen, einhergehen.

Wie andere Beiträge dieses Bandes zeigen, wurden nicht alle Innovationen gleichermaßen mit Skepsis betrachtet. Bessere Chancen zur Durchsetzung hatten in Norddeutschland und Dänemark anscheinend Reformen im Bereich der Schul-bildung und des Erziehungswesens. Dabei zeigt Juliane Engelhardt, die in ihrem Beitrag nach der Bedeutung des Hallischen Pietismus in Kopenhagen fragt, dass Reformen im Bereich der Bildung im 18. Jahrhundert auch ohne aufklärerischen Anspruch auskamen, und verweist damit zugleich erneut auf eine Nähe zwischen pietistischen und aufklärerischen Reformern im Bereich alltagsgestaltender Pra-xis. Pädagogische Aspekte werden insbesondere von Burkhard Büsing, Detlev Kraack und Jürgen Overhoff beleuchtet. Während Büsing die Entwicklung der Schulbildung in ländlichen Gebieten um 1700 untersucht, befasst sich Kraack in einem weiteren quellennahen Beitrag mit Claus Harms‘ Schleswig-Holsteinischem Gnomon, der als Lehrmittel in Schulen dienen sollte. Overhoff hingegen befasst sich mit dem Einfluss der Schriften des US-amerikanischen Gelehrten Benjamin Franklin auf den Kieler Pädagogikprofessor Martin Ehlers. In allen Fällen wurden erfolgreich Neuerungen aufgegriffen und zumindest teilweise umgesetzt. Die Gründe dafür liegen möglicherweise in dem praktischen Nutzen, den alle diese Innovationen schnell und offensichtlich geboten haben. Während theologische Überlegungen den Bewohnern ländlicher Gebiete vielfach zu abstrakt waren und sich ihnen die Gründe für Reformen in diesem Bereich wohl eher selten erschlos-sen, boten Reformen im Erziehungs- und Schulwesen schnell offensichtliche Vor-teile.

Weil die Themen dieses Bandes von den Forschungs- und Interessen-schwerpunkten der beteiligten Autorinnen und Autoren abhängig sind, wurden viele nicht weniger wichtige Bereiche ausgespart oder nur gestreift. Dies gilt bei-spielsweise für geschlechter-, medizin- und körpergeschichtliche Aspekte, für deren Aufarbeitung im Kontext der dänisch-norddeutschen Aufklärung bedauerli-cherweise niemand gefunden werden konnte. Auch wirtschaftsgeschichtliche Fra-gestellungen fanden kaum Eingang in dieses Buch. Somit hinterlässt auch dieser Band erneut viele Leerstellen, deren Aufarbeitung nachfolgenden Projekten vor-behalten bleibt. Dass weitere Suchen nach den alltäglichen Spuren der Aufklärung lohnend sind, können die in diesem Band versammelten Beiträge eindrücklich zeigen. Denn der thematischen Heterogenität der Aufsätze zum Trotz wird beim Lesen der einzelnen Texte schnell eines deutlich: Über den Einfluss von aufklärerischen Ideen und Reformen auf die Lebenswelten gewöhnlicher Men-schen lernt man wenig, wenn diese nur als Objekt volksaufklärerischer Bemühun-gen in den Fokus der Geschichtswissenschaft geraten.56

56 Für die kritische Durchsicht dieser „Einleitung“ sowie wichtige Anmerkungen danke ich Lars

N. Henningsen, Franklin Kopitzsch, Detlev Kraack und Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt (†).