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Der Einfluss des gamelan auf Claude Debussy und Colin McPhee Der Einfluss des gamelan auf C. Debussy und C. McPhee Kendra Stepputat Exotismen Betrachtet man die Musikgeschichte der letzten beiden Jahrhunderte wird deut- lich, dass die westliche Pop- und Kunstmusik immer starken Einfluss auf die Musik anderer Musiktraditionen gehabt hat. Dieser Umstand ist viel kritisiert und untersucht worden; 1 ebenso das Gegenstück zu dieser Tendenz, die Ver- wendung von nicht-westlicher Musik in westlichen Kompositionen zur Evo- zierung von Exotik oder Fremdartigkeit. 2 Es gibt viele Beispiele für die Adap- tion von Einflüssen anderer Musiktraditionen in der westlich geprägten Musik. Genannt seien hier frühe Verwendungen sogenannter musikalischer Exotismen 3 vor allem in Ballett und Oper durch J.-Ph. Rameau, Chr. W. Gluck oder W. A. Mozart oder die Inspiration durch die Volksmusik des eigenen Herkunftslandes bei Jean Sibelius, Antonín Dvořák oder Béla Bartók. 4 Klar unterscheiden lassen sich bei den meisten dieser Beispiele zwei Arten von Einfluss, einmal die Verarbeitung von Volksmusik der eigenen Kultur, 1 Siehe z. B. Baumann, Max Peter (Hrsg.): Local Musical Traditions in the Globalization Prozess, Berlin 2000. 2 Als neueres Beispiel siehe Bellman, Jonathan (Hrsg.): The Exotic in Western Music, Boston 1998. 3 Siehe hierzu den Artikel „Exotismus“ von Thomas Betzwieser und Michael Stegemann, in Finscher, L. (Hrsg.): Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil Band 3, Kassel [u. a.] 1995, 226–243. 4 Siehe u. a. Zilkens, Udo: Béla Bartók spielt Bartók: Allegro barbaro, Volkstänze und Bauernlieder; für Kinder, Mikrokosmos und anderes, Köln-Rodenkirchen 1999; Döge, Klaus: Antonin Dvorák: Leben, Werke, Dokumente, Zürich [u. a.] 1997, darin Kapitel „Sla- wische Tänze“ (S. 178–190); DeGorog, Lisa S.: From Sibelius to Sallinen: Finnish natio- nalism and the music of Finland, New York 1989.

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Der Einfluss des gamelan auf

Claude Debussy und Colin McPhee Der Einfluss des gamelan auf C. Debussy und C. McPhee

Kendra Stepputat

Exotismen

Betrachtet man die Musikgeschichte der letzten beiden Jahrhunderte wird deut-lich, dass die westliche Pop- und Kunstmusik immer starken Einfluss auf dieMusik anderer Musiktraditionen gehabt hat. Dieser Umstand ist viel kritisiertund untersucht worden;1 ebenso das Gegenstück zu dieser Tendenz, die Ver-wendung von nicht-westlicher Musik in westlichen Kompositionen zur Evo-zierung von Exotik oder Fremdartigkeit.2 Es gibt viele Beispiele für die Adap-tion von Einflüssen anderer Musiktraditionen in der westlich geprägten Musik.Genannt seien hier frühe Verwendungen sogenannter musikalischer Exotismen3

vor allem in Ballett und Oper durch J.-Ph. Rameau, Chr. W. Gluck oder W. A.Mozart oder die Inspiration durch die Volksmusik des eigenen Herkunftslandesbei Jean Sibelius, Antonín Dvořák oder Béla Bartók.4

Klar unterscheiden lassen sich bei den meisten dieser Beispiele zwei Artenvon Einfluss, einmal die Verarbeitung von Volksmusik der eigenen Kultur,

1 Siehe z. B. Baumann, Max Peter (Hrsg.): Local Musical Traditions in the Globalization

Prozess, Berlin 2000.2 Als neueres Beispiel siehe Bellman, Jonathan (Hrsg.): The Exotic in Western Music, Boston

1998.3 Siehe hierzu den Artikel „Exotismus“ von Thomas Betzwieser und Michael Stegemann, in

Finscher, L. (Hrsg.): Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil Band 3, Kassel [u. a.]1995, 226–243.

4 Siehe u. a. Zilkens, Udo: Béla Bartók spielt Bartók: Allegro barbaro, Volkstänze und

Bauernlieder; für Kinder, Mikrokosmos und anderes, Köln-Rodenkirchen 1999; Döge,Klaus: Antonin Dvorák: Leben, Werke, Dokumente, Zürich [u. a.] 1997, darin Kapitel „Sla-wische Tänze“ (S. 178–190); DeGorog, Lisa S.: From Sibelius to Sallinen: Finnish natio-

nalism and the music of Finland, New York 1989.

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zum anderen die Adaption fremder Musiktraditionen. Dieser Aufsatz beschäf-tigt sich ausschließlich mit dem zweiten Fall, d. h. der Adaption von Musik, dienicht der eigenen Musikkultur entstammt. Die ‚fremde‘ Musik soll in diesemFall das javanische und balinesische gamelan sein.

Über die letzten beiden Jahrhunderte hinweg hat es immer wieder Kom-ponisten gegeben, die sich von indonesischer Musik inspirieren ließen. Darun-ter finden sich Claude Debussy, Béla Bartók, Francis Poulenc, Benjamin Brit-ten, Colin McPhee u. a. Ich möchte nicht auf all diese Komponisten im Ein-zelnen eingehen, da, um dem jeweiligen Werk der einzelnen Komponisten ge-recht zu werden, eine genaue Betrachtung der Lebensumstände, Zeitläufte undmusikalischen Ansätze der Komponisten vorgenommen werden müsste. Einefundierte und zielführende Untersuchung all dieser Komponisten würdezwangsläufig den Rahmen dieses Aufsatzes weit übersteigen; statt dessen er-scheint es mir sinnvoll, anhand von Debussy und McPhee exemplarisch zu ver-deutlichen, wie unterschiedlich Komponisten sich dem Einfluss indonesischerMusik ausgesetzt haben und wie die Herangehensweise sich in den jeweiligenWerken manifestiert. Beide Komponisten unterscheiden sich signifikant inihrem musikalischen Ansatz in der Verarbeitung der gamelan-Musik und denErgebnissen ihres Schaffens. Sie bilden geradezu zwei Pole im Spektrum derer,die ‚fremde‘ Musik in ihr künstlerisches Schaffen integrierten.5

Die beiden Komponisten lebten und arbeiteten sowohl zu unterschiedlichenZeiten als auch an verschiedenen Orten. Claude Debussy (1862–1918) ver-brachte sein Leben in Frankreich und Italien, währenddessen Colin McPhee(1901–1964) in Kanada aufwuchs, zeitweilig auf Bali und schließlich in denUSA lebte. McPhee gehörte – 39 Jahre nach Debussy geboren – einer anderenGeneration an. Signifikante Veränderungen beeinflussten die Wahrnehmungder Welt und des Fremden zwischen dem Ende des 19. und der ersten Hälftedes 20. Jahrhunderts. Der technische Fortschritt im Zuge der Industrialisierungmachte Reisen in weit entfernte Regionen deutlich einfacher und schneller.Parallel dazu fand zu Ende des 19. Jahrhunderts eine Revolution in der me-dialen Entwicklung statt: Zum ersten Mal konnten mit dem 1877 durch ThomasA. Edison entwickelten Phonographen Klänge dauerhaft und deutlich objek-tiver als durch manuelle Notation konserviert werden. Bedingt durch den er-wähnten technischen Fortschritt entstand ein neues Interesse an fremden Kul-

5 Viele weitere Komponisten verwendeten die gamelan-Musik in ihrem Schaffen. Für einenguten Überblick siehe Mervyn Cooke: „The East in the West – Evocations of the Gamelanin Western Music“, in: Bellman, Jonathan (Hrsg.): The Exotic in Western Music, Boston1998, 258–280.

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turen und Ländern, eine Entwicklung weg von der passiven Rezeption zur ak-tiven Feldforschung, von der bloßen Neugier an der Fremdheit der eigenen Ko-lonien und ihrer Bewohner hin zum wissenschaftlichen, anthropologischen In-teresse.

Trotz der unterschiedlichen historischen, technischen und medialen Voraus-setzungen eint Debussy und McPhee über die Generationen hinweg genug, umsie auf musikalischer Ebene hier miteinander zu vergleichen; beide waren Pia-nisten und Komponisten, die ausschließlich in der westlichen Musiktheorie und-praxis ausgebildet waren und diese als Grundlage ihrer kompositorischen Ar-beit nutzten. Beide waren auf der Suche nach neuen Einflüssen in ihrem Mu-sikschaffen, ließen sich ab einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben vomgamelan beeinflussen und setzten diesen Einfluss in einzelnen Werken um.Schließlich sind beide immer wieder erwähnte, prominente Beispiele für dieIntegration indonesischer Musik in westliche Werke.6

Das indonesische gamelan

Das gamelan7 ist nur eine der vielen Musikformen Indonesiens und wirdoftmals als die Kunstmusik der indonesischen Inseln Sumatra, Lombok, Javaund Bali klassifiziert. Allein auf Bali existieren mindestens zehn verschiedenegamelan-Typen mit jeweils unterschiedlichem Repertoire und Instrumenten-zusammenstellungen. Es kann also keinesfalls von ‚dem‘ gamelan Indonesiensgesprochen werden, vielmehr besitzt jede indonesische Insel gamelan-Typen,die in ihrer Ausprägung sehr unterschiedlich sein können. Die Stimmungen desgamelan variieren ebenso wie das Repertoire, die Zusammenstellung der In-strumente und der jeweilige Aufführungskontext. Dennoch gibt es bei vielengamelan Gemeinsamkeiten: Die verwendeten Skalen sind meist fünf- odersiebenstufig, auf Java und Bali werden die Skalen vielfach als slendro (penta-tonisch) und pelog (heptatonisch) bezeichnet. Die Mehrzahl der gamelan-In-strumente sind gestimmte Metallophone, Gongspiele und Gongs, weitere In

6 Ich möchte schon an dieser Stelle darauf hinweisen, dass dieser Artikel keinesfalls eineWertung der Arbeiten von Debussy und McPhee vornehmen möchte, sondern lediglich einemöglichst objektive Gegenüberstellung der Herangehensweisen beinhaltet.

7 Der Begriff gamelan ist die indonesische Bezeichnung für Musikensemble, wobei in denmeisten Fällen die Instrumente an sich, nicht die Musiker bezeichnet werden.

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strumente können Doppelfelltrommeln, Bambusflöten, Spießlauten und Beckensein.8

Aus der Instrumentierung und Stimmung ergibt sich ein Klangbild, dasgrundsätzlich anders ist als das der in der westlichen Welt üblichen Musiken-sembles. Metallophone und Gongs prägen das Klangbild, je nach Typ des ga-

melan kann der subjektive Klangeindruck von meditativ-elegisch9 bis wild unddynamisch10 gehen. Doch nicht nur das Klangbild, auch die Struktur der Musikunterscheidet sich grundlegend. Ich kann im Rahmen dieses Beitrages nichtdetailliert javanische und balinesische Kompositionstechniken beschreiben,werde aber im Rahmen der einzelnen Werkanalysen auf einige besondere Phä-nomene im Vergleich zwischen Bild und Abbild, also dem gamelan und demwestlichen Werk, das vom gamelan beeinflusst ist, eingehen.

Kulturkontakt 1: Claude Debussy

Claude Debussy stieß bei der Kolonialausstellung 1889 in Paris zum ersten Malauf die Klänge des zentraljavanischen gamelan.11 Wie auch viele andere Künst-ler und Intellektuelle der Pariser Szene hörte Debussy das gamelan erneut 1900im Rahmen mehrerer Konzerte, bei denen javanische Tänze und Musik demneugierigen europäischen Publikum vorgestellt wurden (Arndt 1993:14). DieseKonzerte waren Teil der Präsentation Niederländisch Indiens, der Kolonie derNiederlande auf dem heutigen Gebiet Indonesiens. Vorstellungen wie diese wa-ren üblich auf den frühen Welt- bzw. Kolonialausstellungen, bei denen die eu-ropäischen Kolonialnationen ihre ‚Schützlinge‘ und deren Kultur präsentier-ten.12

8 Für einen detaillierten Einblick in die Instrumentierung des javanischen und balinesischengamelan empfiehlt sich Tenzer: Balinese Music, und Spiller: Gamelan – The Traditional

Sounds of Indonesia.9 Wie zum Beispiel das gamelan der javanischen Fürstenhöfe in Yogjakarta.10 Ein typisches Beispiel für diese Art des gamelan ist das balinesische gamelan gong kebyar.11 Wenn in der Folge von javanischem gamelan gesprochen wird, so meine ich konkret und

ohne weiter explizit darauf einzugehen das klassische, zentraljavanische gamelan, wie es anden Fürstenhöfen in Yogyakarta und Surakarta (Solo) tradiert ist.

12 Es muss an dieser Stelle bemerkt werden, dass nicht alle Kolonialbewohner als zu einer„Kultur“ zugehörig gesehen wurden: Es war üblich, die Völker in „Natur- und Kultur-völker“ zu unterteilen. Dementsprechend wurde auch die Musik klar unterschieden in „pri-mitive Volksmusik“ und „Kunstmusik“. Siehe hierzu z. B. die noch 1951 erschienene Publi-kation von Kurt Reinhard Musik Exotischer Völker, darin Abschnitt „Asien“ (Reinhard1951:13f). Es wäre undenkbar gewesen, beispielsweise die zu jener Zeit als „primitiv“

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Debussy war zu jenem Zeitpunkt noch im musikalischen Selbstfin-dungsprozess und tief beeindruckt von der javanischen Musik, vor allem der inseinen Augen „naturverbundenen“ Melodik und komplexen Rhythmik.13

Ergebnis 1: Pagodes von Debussy

Drei Jahre nach der zweiten Begegnung mit dem javanischen gamelan schreibtDebussy die Estampes, ein Zyklus aus drei Klavierstücken. Deren erstesbezeichnet Debussy als Pagodes.14

Wichtiges klangliches Element des javanischen gamelan ist der große gong

ageng. Auf einem Klavier ist die Nachahmung eines solchen großen Gongesbeinahe unmöglich (geringe Ausklangzeit selbst bei Verwendung des Pedals,nicht vorhandenes tiefes Klangspektrum). Oktavklänge, wie sie beispielsweiseim zweiten Abschnitt der Pagodes (ab Takt 19)15 verwendet werden, könntendennoch als Simulation eines solchen tiefen Gonges empfunden werden. De-bussy verwendet dieses ‚Gong-Surrogat‘ zwar als klanglich ähnlichen Effekt,jedoch nicht im Sinne der javanischen Kompositionstechnik, in der der großegong ageng als strukturierendes Element im Ablauf eines Stückes steht. Dertiefste Gong ist jeweils Anfang und Endpunkt einer zum Teil über einen sehrlangen Zeitraum erstreckten Melodie. Der gong ageng wird also jedesmal nachder gleichen Anzahl von Tönen der Melodie geschlagen. Dieses Prinzip findetsich nicht bei Debussy, der statt dessen ein sich entwickelndes Stück mitmehreren Formteilen komponierte.

bezeichneten Gesänge der Gesellschaften Papuas als exemplarisch für NiederländischIndien zu präsentieren. Stattdessen konzentrierte man sich auf die als „Kunstmusik“ ein-geschätzte gamelan-Musik Javas und später auch Balis.

13 An dieser Stelle möchte ich nicht ausführlich auf Werk und Leben Debussys eingehen, dadies an anderer Stelle wesentlich umfassender und tiefer gehend publiziert worden ist, siehez. B. Theo Hirsbrunner: Debussy und seine Zeit, Laaber 1981, und Jean Barraqué: Claude

Debussy / mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1991.14 Eine umfassende Analyse der Pagodes und anderer Werke von Debussy, jeweils im Bezug

zum Einfluss javanischen gamelan, legte Jürgen Arndt 1993 in seiner Arbeit Der Einfluß

der javanischen Gamelan-Musik auf Kompositionen von Claude Debussy vor. Die sehr de-taillierten Analysen erscheinen mir jedoch vielfach kontrovers; Arndt spürt in seinen Ana-lysen vor allem die klanglichen Einflüsse und Imitationen des gamelan auf. Der Frage, wieverändert die gamelan-Klänge im Gegensatz zu javanischen Kompositionsprinzipien ver-wendet werden, wird weitestgehend nicht berücksichtigt.

15 Ich verzichte an dieser Stelle auf die Wiedergabe von Notenmaterial, da der Notentext derEstampes gut zugänglich in vielen Musikbibliotheken einsehbar ist.

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Schon im ersten Takt der Pagodes benutzt Debussy ein weiteres Element,das deutliche Ähnlichkeit zum javanischen gamelan hat. In der tiefen Lagesetzt Debussy als eine Art Orgelpunkt Quintklänge, die über mehrere Takteausgehalten werden. Diese tiefen, ostinaten Klänge ähneln den kempul, auf einekonkrete Tonhöhe gestimmte hängende Gongs in Form eines Gongspiels. Imzentraljavanischen gamelan heben die kempul im Ablauf eines Zyklus einzelne,wichtige Töne der auf den Metallophonen saron gespielten zentralen Melodie,der sogenannten Kernmelodie, hervor. Ebenso verwendet Debussy die Quint-klänge im Bass; als feste Tonhöhe im Ablauf einer sich in anderer Tonlageentwickelnden Melodie.

Auch die vor allem im letzten Abschnitt (ab Takt 78) verwendete Schich-tung der Klangdichte, d. h. die Verwendung verschiedener Lagen für melodi-sche, umspielende oder begleitende Strukturen hat durchaus Ähnlichkeit mitder grundlegenden Struktur des javanischen gamelan. Die Melodie liegt hier inder linken Hand in der mittleren Klanghöhenebene. In einer deutlich höherenLage der rechten Hand platziert Debussy bewegtere, ostinate Motive. DieÄhnlichkeit mit dem javanischen gamelan ist hier eine rein klangliche. Imjavanischen gamelan haben die in der obersten Oktave des gamelan Tonspek-trums liegenden saron peking zwar ein ähnlich dichtes melodisches Motiv wiedas von Debussy komponierte, doch sind die Töne der saron peking fest an dieKernmelodie gebunden, die in der mittleren Lage auf den Metallophonen saron

demung gespielt wird. Die peking verdoppeln in der Struktur die Melodie oderspielen benachbarte Töne. Sie haben also niemals eine eigene Melodie, sondernverdichten lediglich die Kernmelodie. Auch gibt es im gamelan nicht die rhyth-mische Freiheit in der Kombination der Klangschichten, wie Debussy sie ver-wendet (z. B. Triolen gegen 32stel in Takt 78 etc.).

Als weiteres javanisches Element kann bei Debussy die teilweise Ver-wendung einer pentatonischen Skala (z. B. Takt 11) oder Ganztonskala (z. B.Takte 33–36) gedeutet werden. Die von Debussy kreierte Pentatonik beruhtjedoch nicht auf der tatsächlichen pentatonischen Skala, die in Java als slendro

bezeichnet wird. Auch die Ganztonskala nähert sich einer javanischen Stim-mung nur an (Sorell 1990:4). Eine interessante Anekdote hierzu schildert So-rell, der beschreibt, wie der javanische gamelan-Spezialist Joko Purwano 1989gefragt wurde, ob die Musik Debussys für ihn Ähnlichkeit mit javanischem ga-

melan hätte – er jedoch antwortete, dass die Musik zwar ‚irgendwie südost-asiatisch‘ klinge, aber auf keinen Fall javanisch. Entscheidendes Kriterium fürdiesen javanischen Musiker war, dass die Stimmung des Klavieres nicht der

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des gamelan entspräche und deswegen für ihn grundsätzlich anders klinge(Sorell 1990:5).

Alle erwähnten, javanischen Elemente verwendet Debussy nicht konsequent,sondern phasenweise im generellen Aufbau der Pagodes. Debussy schuf alsoeine javanisierte Komposition, die stellenweise klanglich ähnlich ist, und inwenigen Fällen – z. B. die Verwendung von Quintklängen in der tiefen Lageals kempul Surrogat – an Kompositionsprinzipien der javanischen Musiktheorieangelehnt erscheint. Generell folgt Debussy den Regeln der westlichen Kom-positionstechnik des frühen 20. Jahrhunderts. Arndt stellt in diesem Zusam-menhang fest, dass Pagodes aus zwei Schichten besteht, einmal der „javani-schen“ und der „europäische Schicht“ (Arndt 1993:77). Die javanische Schichtist es, die klangliche Eigenschaften des gamelan in das Werk einbringt, dereuropäische Anteil ist es, der den sich linear entwickelnden, zum Teil auf west-licher Harmonik basierenden Aufbau des Werkes prägt.

Obwohl Debussy also die Klangeigenschaften des javanischen gamelan

nachbildet und nicht mit der javanischen Kompositionstechnik und Funktionder Instrumente des gamelan vertraut war, ist die Nachbildung javanischerKlänge bei Debussy mehr als reiner Exotismus. Allroggen formuliert diesenZustand sehr treffend: „Es ist nicht das bloße Abweichen von abendländischerkompositionstechnischer Norm zugunsten der Charakterisierung des jeweils zuschildernden Fremden, ohne sich auf das Wesentliche des exotischen Milieusund der dorthin gehörenden Musik einzulassen. Vielmehr ist bei Debussy derjavanische Einfluß als ein spezifisch javanischer Einfluß erkennbar, auch ohnedaß in jedem Fall die Komposition an ein exotisches Sujet gebunden wäre.“(Allroggen 1993:8).

Kulturkontakt 2: Colin McPhee

Der in Montreal geborene McPhee (15.3.1900–7.1.1964) studierte Klavier undKomposition in Montreal und Paris.16 Erst in den späten 1920er Jahren hatte erden ersten Kontakt zu indonesischer Musik: Auf einer Schellackplatte hörte ereine Aufnahme von balinesischem gamelan, die auf der Stelle sein Interesse andieser so anderen Musikkultur weckte: „[...] my imagination took fire, and the

16 Daten zu McPhee aus der Encyclopedia of Music in Canada (2nd ed.), Toronto 1992,Online-Version unter http://www.collectionscanada.ca/emc/.

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day came when I determined to make a trip to the East to see them for myself.“(McPhee 1947:10, Oja 1990:55f.). In dieser Zeit lernte er seine spätere FrauJane Belo kennen, die wie viele von McPhees Freunden und Bekannten seineFaszination für das ‚Exotische‘, aber auch ein ernsthaftes, anthropologischesInteresse, teilte (Oja 1990:56f.). Die Faszination der Musik Balis führteschließlich dazu, dass er 1931 zusammen mit Jane Belo die erste Reise nachJava und Bali unternahm und sich schließlich entschied, längerfristig auf Balizu leben. Mit Unterbrechungen, während derer McPhee in New York lebte, warer von 1932–1938 Einwohner Balis. Er war einer jener Künstler und Intellek-tuellen westlicher Herkunft, die in den 1930er Jahren zu dem Kreis von Aus-wanderern um den Deutschen Walter Spies gehörten.

Auf Bali beschäftigte sich McPhee sehr intensiv mit dem balinesischen ga-

melan.17 McPhee transkribierte balinesische Melodien unterschiedlicher Gen-res, zum Teil adaptierte er ganze Werke für Klavier. Er beschäftigte sich jedochnicht nur beobachtend und passiv transkribierend mit balinesischer Musik,vielmehr legte er größten Wert auf die praktische Herangehensweise. Unter derAnleitung verschiedener balinesischer Lehrer erlernte er das gamelan, be-sonderen Schwerpunkt legte er lange Zeit auf das zu jener Zeit ‚modernste‘ undverbreitetste gamelan gong kebyar.18 McPhee griff mit seinem Einfluss alswestlicher Bewohner Balis, und nicht zuletzt mit seinen finanziellen Mitteln,signifikant in die musikalische und historische Entwicklung der balinesischenMusik ein. Er förderte einzelne Tänzer und Musiker in ihrer Ausbildung undinitiierte aktiv die Wiederbelebung verschiedener Ensembles auf Bali (McPhee1947:passim, Oja 1990:125ff.).

Für die Musikethnologie wurde McPhee vor allem durch seine posthumerschienene Monographie Music on Bali: A Study in Form and Instrumental

Organization in Balinese Orchestral Music bekannt. Music on Bali ist bis heutedas umfassendste und noch immer autoritative musikethnologische Werk überbalinesische Musik.

Aus dieser kurzen Beschreibung von McPhees Leben und Schaffen auf Baliwird deutlich, dass sein Ansatz im Umgang mit dem gamelan ein grundsätzlichanderer war. Er hatte nicht nur einen kurzzeitigen Klangeindruck, sondernsetzte sich intensiv mit der balinesischen Musik auseinander, sowohl durch daspraktischer Erlernen des gamelan als auch durch theoretische Diskussionen mit17 Für einen ausführlichen, z. T. selektiven Eindruck seines Lebens und Schaffens auf Bali

siehe das autobiographische Werk von McPhee: A House in Bali.18 Dies waren vor allem ältere gamelan-Typen wie das angklung, semar pegulingan und

gandrung.

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seinen balinesischen Lehrern. Deutlich wird dies in dem wohl bekanntestenWerk McPhees: Tabuh-Tabuhan, Toccata for Orchestra and 2 Pianos.

Ergebnis 2: Tabuh-Tabuhan von Colin McPhee

McPhee begann, an Tabuh-Tabuhan zu arbeiten, nachdem er von seinem erstenlängeren Aufenthalt auf Bali (1932–1935) zurückgekehrt war. Uraufgeführtwurde Tabuh-Tabuhan in Mexico City am 4.11.1936. McPhee selbst beschreibtdas Werk als Symbiose aus balinesischer und westlicher Musik, und wie CarolOja bemerkt, steht Tabuh-Tabuhan als Zeichen für McPhee, den Komponistenund Musikethnologen: „Tabuh-Tabuhan then, marks the union of McPhee thecomposer and McPhee the Ethnomusicologist.“ und „Throughout the workMcPhee’s Western training stand alongside Balinese methods and materials.“(Oja 1990:103f.).19 Schon der Titel zeigt den deutlichen Bezug zu balinesischerKompositionstechnik20 und auch die orchestrale Besetzung wählte McPhee so,dass er damit ein ‚Kern-gamelan‘ emulieren konnte: Neben der üblichen Or-chesterbesetzung verwendet McPhee zwei Klaviere, Celesta, Xylophon, Ma-rimba, Glockenspiel und zwei balinesische Gongs (Oja 1990:103).

Die melodische Basis großer Abschnitte der drei Tabuh-Tabuhan Sätze sindbalinesische Melodien unterschiedlicher Herkunft.21 So findet sich beispiels-weise im ersten Satz Ostinatos deutlich eine an das gamelan gambang ange-lehnte Melodie, die vor allem durch ihre typische rhythmische Gliederung vonacht Schlägen in fünf und drei auffällt. Die mit Takt 90 des ersten Satzesbeginnende achttaktige Melodie wird zunächst von den Pianos gespielt und inder Folge (Takt 109) von den Bläsern übernommen.

19 Mit den Arbeiten von Oja: Colin McPhee – Composer in Two Worlds (S. 103–116) undMueller: „Bali, Tabuh-Tabuhan, and Colin McPhee's Method of Intercultural Composition“(S. 127–75), liegen bereits ausführliche und zutreffende Analysen zum Thema der Verar-beitung balinesischer Kompositionskonzepte und Melodiefragmente bei McPhee vor. DieseArbeiten ermöglichen es mir, an dieser Stelle nur wenige wichtige Punkte auszuwählen unddabei sowohl auf das bereits Publizierte zurückzugreifen als auch neue Aspekte hinzuzufü-gen.

20 Balinesisch tabuh steht für „Schlägel“, das Verb menabuh bedeutet „als ein Instrumentschlagen“, d. h. musizieren. Die grammatikalische Verwendung als tabuh-tabuhan könntefrei und kontextgebunden mit „im Stile balinesischer Musik“ übersetzt werden.

21 Mueller zeigt in seinen Analysen präzise, wie McPhee die auf Bali erstellten Transkrip-tionen in Tabuh-Tabuhan integriert (Mueller 1991:passim).

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Notenbeispiel 1 gambang-Melodie im Piano 1, Takt 87–107 der Ostinatos

Auch in der Kombination von balinesischen Melodien und westlicher Har-monik versucht McPhee, möglichst eine Symbiose zu finden. McPhee ver-wendet für die balinesischen Melodien zwar die Tonhöhen der westlichen In-strumente, passt die gespielten Skalen jedoch in der Auswahl der Töne mög-lichst genau den jeweiligen balinesischen Skalen an. Die balinesischen Melo-dien schließlich unterlegt er mit westlichen Harmonien, die er jedoch oftmalsaus dem Tonvorrat der verwendeten, quasi-balinesischen Skalen aufbaut. EinBeispiel wäre die auf vier Töne reduzierte pentatonische Skala E – Fis – A – H,die z. B. in den Takten 1–8 der Ostinatos in den Flöten zu finden ist.

Notenbeispiel 2 Flötenmotiv der Takte 1–2 der Ostinatos

Ein weiteres grundlegendes Element der balinesischen Musik, das von Mc-Phee vielfach verwendet wird, ist das typisch balinesische Interlocking, das so-genannte kotekan, bei dem erst die rhythmische Kombination zweier Stimmendie gemeinsame Melodie ergibt. Das kotekan tritt beim balinesischen gamelan

vor allem bei den Instrumenten der oberen Lage auf. McPhee setzt die Strukturdes kotekan eins zu eins um. Allerdings lässt er kein auf zwei Instrumente ver-teiltes Interlocking spielen, sondern kombiniert die beiden Parts zu einem. Be-reits die ersten Takte des ersten Satzes beinhalten ein solches verändertes kote-

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kan im ersten Klavier; im kompletten ersten Formteil („Animato“, Takt 1–24)der Ostinatos dominiert das kotekan auf den Klavieren.

Notenbeispiel 3 kotekan des ersten Klaviers, Takt 1–2 der Ostinatos

Wie auch Debussy verwendet McPhee tiefe Oktavklänge in einem der bei-den Klaviere, unterstützt durch Celli und Bässe, als Gong-Ersatz. Darüberhinaus setzt McPhee diese Gongklänge jedoch ebenso ein, wie sie imbalinesischen gamelan verwendet werden, wie beispielsweise in Takt 5 deszweiten Satzes Nocturne.

Notenbeispiel 4 Gong-Ersatz durch Klavier, Celli und Bässe, Takt 1–5 der Nocturne

Im Unterschied zu älteren gamelan Formen auf Bali ist das gamelan gong

kebyar, dem McPhee weite Teile der Komposition anlehnt, nicht mehr aufzyklischer Wiederholung von Melodien basiert. Stattdessen bauen Kom-positionen für das gong kebyar auf lineare Abläufe und verschiedene Formteileauf. Dennoch haben auch im gong kebyar, wie in allen gamelan-Typen, dieGongs nicht nur eine klanglich-ästhetische, sondern vor allem auch eine form-gebende Funktion. Grundsätzlich wird der größte gong gede immer dann ge-

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spielt, wenn wichtige Punkte im Ablauf eines Stückes erreicht sind. In Ab-schnitten, die einem festen Metrum folgen, fallen diese schweren Schlägemeistens auf den vierten oder achten Schlag. Die Vier bzw. Acht ist somit einOrientierungspunkt, oftmals gleichzeitig Anfang und Ende einer Phrase. Vonder gefühlten Orientierung im Ablauf einer Phrase entsprächen also die Gong-schläge dem Schlag auf die Eins eines Taktes in der westlichen Notations-tradition. Interessant an Tabuh-Tabuhan ist nun, dass McPhee die balinesischenMelodien so umdeutet, dass die schweren Schläge nicht auf der Acht, sondernauf der Eins liegen, mit anderen Worten: McPhee verschiebt die Melodien umeinen Schlag nach vorne, um sie dem westlichen ‚Empfindungskonsens‘ anzu-passen. Dem entsprechend setzt er die Oktaven in der tiefen Lage der Klaviere,passend zu den darüber liegenden Melodien, jeweils auf die Eins eines Taktes.Durch diese Umdeutung gelingt es McPhee, die balinesischen Konzepte anwestliche Hörgewohnheiten anzupassen.

Von allen Instrumenten unisono gespielte Rhythmen als Abschluss einerPhrase, sogenannte angsel, verwendet McPhee in der gleichen Art, wie sie imgong kebyar zu finden sind. Ein heraustretendes Beispiel ist im dritten SatzFinale (Takt 1–8) zu finden, in dem die Melodien und Rhythmen verschiedenerInstrumente auf eine Kadenz hin entwickelt werden, die in Form eines ty-pischen gong kebyar angsel abgeschlossen wird. Der Abschnitt basiert aufeinem melodischen Ostinato, das ab Takt 7 von balinesischen ceng-ceng22 mitrhythmischen Strukturen begleitet wird, die im denen der balinesischenTrommeln kendang entsprechen. Die simulierte Vorbereitung des angsel

entspricht in der rhythmischen Ausführung sehr genau den balinesischenRegeln. In einem großen Accelerando steuern Melodie-, Begleit- undRhytmusgruppe auf ein unisono gespieltes Pattern zu, das dem eigentlichenangsel entspräche. Auf das angsel folgt eine Generalpause (Takt 8), nach derein neuer Formteil beginnt. Auch dies ist dem Einsatz eines angsel im bali-nesischen gamelan entlehnt. Ein Accelerando wie McPhee es in der Vor-bereitung des angsel einsetzt, würde jedoch im balinesischen gamelan ten-denziell nicht verwendet werden; die Verdichtung der Rhythmen würde hierder Vorbereitung des unisono Abschlusses genügen. Durch die Kombinationvon rhythmischer Verdichtung und Accelerando vereint McPhee wiederumwestliche und balinesische Methoden des Spannungsaufbaus in der Musik.

22 McPhee verwendet die kleinen balinesischen Aufschlagbecken ceng-ceng als Teil deserweiterten Instrumentariums.

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DER EINFLUSS DES GAMELAN AUF C. DEBUSSY UND C. MCPHEE

Notenbeispiel 5 unisono Durchführung eines angsel, Takt 8–9

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Es ließen sich noch weit mehr Beispiele aufzählen, an dieser Stelle sollendie erwähnten Fragmente jedoch genügen, um zu demonstrieren, wie McPheebalinesische und westliche Kompositionsprinzipien miteinander verbindet.Insgesamt lässt sich sagen, dass McPhee in weiten Teilen sowohl die melo-dische als auch rhythmische Struktur verschiedener balinesischer gamelan

übernommen und auf das Symphonieorchester übertragen hat. Obwohl McPheeTranskriptionen von balinesischen Melodien als Grundlage seiner Kompositionverwendet, ist Tabuh-Tabuhan keine reine Transkription des gamelan für west-liche Instrumente; McPhee verwendet balinesische Melodien und Rhythmenund Kompositionsprinzipien wie das kotekan und Gongklänge auf wichtigenSchlägen, und er nutzt Elemente der Symphonischen Komposition und dieMöglichkeiten der westlichen Instrumente. Mit all diesen Elementen schafft ereine balinesische Komposition für westliches Orchester.

Tabuh-Tabuhan ist zwar nach der Uraufführung mit großem Enthusiasmusaufgenommen worden, hat jedoch nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die mannach der Premiere hätte erwarten können. Young schreibt dazu: „[What]Tabuh-Tabuhan resents is an image of the Orient totally at odds with what con-temporary Western man wishes to perceive about the East.“ (Young 1986:18).McPhee bedient keine Stereotypen von ‚exotischer Musik‘, die auch heute nochweit verbreitet sind. Die Problematik und Gefahr der Missinterpretation bestehtsomit meines Erachtens vor allem darin, dass das westliche Publikum, dasgrößtenteils nicht in balinesischer Musik geschult ist, keinen Zugang zu dengamelan-Elementen in Tabuh-Tabuhan hat. Das hat zur Folge, dass nur eine,nämlich die ‚symphonische’ Hälfte des Gesamtwerkes durchdrungen werdenkann. Die Einsichten jener, die sowohl in westlicher wie in balinesischer Musikgebildet sind, und somit in dem Werk die Synthese balinesischer und west-licher Komposition erkennen können, kann die Mehrzahl der Hörer vermutlichnicht teilen.

Vergleich der Ansätze

Debussy, der keine Gelegenheit hatte, das gamelan intensiv zu studieren undauch kein Interesse am Studium javanischer Kompositionstechniken hatte(Arndt 1993:23), ließ sich lediglich inspirieren. Er blieb in den gewohntenwestlichen Kompositionsschemata und integrierte javanische Elemente in seinSchaffen so, wie er sie als Komponist wahrgenommen hatte. Debussy hatte

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nicht vor, eine Verbindung verschiedener Musikstile zu komponieren. Viel-leicht wird man Debussy am ehesten gerecht, wenn man wie Sorell die Be-gegnung Debussys mit dem gamelan nicht nur als neuen Einfluss auf dasSchaffen Debussys sieht, sondern mehr als „confirmation“, also eine Bestäti-gung dessen, was Debussy der Musik gegenüber empfand und im gamelan

entdeckte, um es konkreter in sein Werk einbringen zu können (Sorell 1990:3f). Diese neue, ‚fremde‘ gamelan-Musik traf bei Debussy auf fruchtbarenBoden, da er sich gerne von den zu jener Zeit prominenten westlichen Kom-positionsstrukturen und Klangbildern lösen wollte (Cooke 1998:259) und somitdie äußere Bestätigung für die innere Suche nach Neuem fand. Das gamelan

half Debussy, einen neuen und sehr persönlichen Kompositionsstil zu finden.Cooke sieht sowohl die Verwendung einer Pentatonik oder Ganztonskala alsauch die Verwendung von Klangschichten anstelle einer voranschreitendenFunktionsharmonik mehr als Revolte gegen das Bestehende denn als eineaktive Nachbildung des javanischen gamelan (Cooke 1998:263).

McPhee, der auf Bali lebte und ebenso balinesischer wie westlicher Musikerwar, verband in seinem Schaffen Kompositionsprinzipien sowohl der west-lichen als auch der balinesischen Tradition. Man kann also nicht von derVerwendung von ‚Exotismen‘ sprechen, da das Werk eine Mischung zweierMusiktraditionen darstellt. Oja schreibt hierzu: „In subsequently incorporatingmaterials and techniques from Bali, he did not simply track on exotic effectsbut found in the music of the gamelan traits common to his own personalvoice.“ (Oja 1990:116). Noch deutlicher wird Mueller in seiner Feststellung,welcher Art McPhees Herangehensweise in der Verwendung balinesischerMusikstrukturen war: „McPhee did not want to ‚re-create’ an effect that heassociated with the music, but one that he felt the Balinese themselvesassociated with the music.“ (Mueller 1990:162). Das Werk Tabuh-Tabuhan

trägt deutliche Elemente von beiden Kulturen in sich, die durch das interkul-turelle kompositorische Können McPhees zu einem Gesamtwerk verschmolzensind. Damit stand McPhee einer neuen Generation von Komponisten vor, diesich nicht nur ästhetisch von der gamelan-Musik inspirieren ließen, sonderndurch intensives Studium der fremden Musikkultur einen neuen Zugang auchzu ihrer eigenen Musik bekamen. Auf den Punkt bringt es Young, wenn erschreibt: „The significance of Tabuh-Tabuhan is that, for the first time ever, acomposer had treated Eastern musical cultures, black American jazz, and theindigenious folk music of Latin America, as absolute equals with each other,and with the art-music of Europe.“ (Young 1986:19).

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In einem entscheidenden Punkt schließlich gleichen sich Debussy und Mc-Phee trotz der sehr unterschiedlichen kompositorischen Herangehensweisen:Beide schufen, inspiriert durch das gamelan, unverwechselbare Komposi-tionen, grenzten sich dadurch vom bestehenden, musikalisch-kompositorischenKonsens ihrer Zeit ab und nahmen dadurch großen Einfluss auf spätere Kom-ponisten-Generationen. Abhängig von den Lebensumständen der Komponistenund den spezifischen Herangehensweisen sind sehr unterschiedliche musika-lische Hybride entstanden, die jedoch in keiner Weise als mehr oder weniger‚authentisch‘ gewertet werden sollten.

Um zu der anfänglichen Überlegung, wie die historischen Gegebenheitenden Ansatz von Debussy und McPhee beeinflussten, zurückzukehren, könnteman folgende hypothetische Frage stellen: Hätte Debussy, wenn er zur gleichenZeit wie McPhee gelebt und somit die gleichen Möglichkeiten gehabt hätte,sich wie McPhee nach Indonesien begeben und dort mit dem gamelan aus-einandergesetzt? Die Frage muss unbeantwortet bleiben; selbstverständlich istes möglich, dass Debussy selbst nach Java gereist wäre, um sich dort in ga-

melan fortzubilden. Es ist – ebenso hypothetisch – möglich, dass Debussy,würde er in heutigen Zeiten leben, bei einem der vielen im Ausland lebendengamelan-Lehrer, beispielsweise in Paris, in einem gamelan-Ensemble gespielthätte und somit in seiner Heimat javanische Kompositionstechnik hätte er-lernen können.23 Es ist allerdings auch möglich, dass er es – wie viele Kom-ponisten weltweit auch heute noch – bei der Rezeption von gamelan-Musikbelassen hätte. Nur ein Beispiel aus der Generation von McPhee sei hier nochgenannt, zur Bekräftigung, dass Umgang mit fremder Musik nicht ausschließ-lich historisch definiert ist: Francis Poulenc kam in Kontakt mit balinesischerMusik und arbeitete sie in sein Werk ein (Cooke 1998:264f.). Er beschäftigtesich jedoch nicht weitergehend mit balinesischer Kompositionstechnik, obwohler der gleichen, räumlich beweglicheren Generation wie McPhee angehörte undtheoretisch ebenso wie McPhee nach Indonesien hätte reisen können.

Generell lässt sich wohl nur soviel festhalten; selbstverständlich prägen diehistorischen Umstände und die technischen Möglichkeiten die Herangehens-weisen an fremde Musik. Wie jedoch ein Individuum mit diesen Einflüssenumgeht, d. h. ob ein Komponist nur ästhetische Merkmale oder komplexeKompositionsstrukturen anderer Musikkulturen in seinem Werk verwendet,hängt zuerst von dem persönlichen Interesse des Einzelnen ab.

23 Beispielsweise in der Einrichtung Cité de la Musique in Paris (http://www.cite-musique.fr/).

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Literatur

Allroggen, Gerhard: „Zum Geleit“, in: Arndt, Jürgen, Der Einfluß der java-

nischen Gamelan-Musik auf Kompositionen von Claude Debussy. Frankfurtam Main 1993, 7–8.

Arndt, Jürgen: Der Einfluß der javanischen Gamelan-Musik auf Kompo-

sitionen von Claude Debussy. Frankfurt am Main 1993.

Cooke, Mervyn: „The East in the West: Evocations of the Gamelan in WesternMusic“, in: Bellman, Jonathan (Hrsg.), The Exotic in Western Music. Boston1998, 258–280.

McPhee, Colin: A House in Bali. London 1947.

McPhee, Colin: Music in Bali: A Study in Form and Instrumental Organization

in Balinese Orchestral Music. London 1966.

Mueller, Richard: „Bali, Tabuh-Tabuhan, and Colin McPhee’s Method ofIntercultural Composition.“ in: Journal of Musicological Research 10, 1991,127–175.

Oja, Carol J.: Colin McPhee – Composer in Two Worlds. Washington/London1990.

Sorell, Neil: A Guide to the Gamelan. New York 1990.

Spiller, Henry: Gamelan – The Traditional Sounds of Indonesia. Santa Barbara2004.

Tenzer, Michael: Balinese Music. Singapore 1998.

Tenzer, Michael: Gamelan Gong Kebyar – The Art of Twentieth-Century

Balinese Music. Chicago 2000.

Young, Douglas: „Colin McPhee’s Music (II): Tabuh Tabuhan“, in: Tempo

159, Dec 1986, 16–19.

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Notenschriften

Colin McPhee: Tabuh-Tabuhan – Toccata for Orchestra and 2 Pianos, NewYork 1960.

Claude Debussy: „Estampes“ in: Œvres Complètes de Claude Debussy, Série 1Vol. 3, Paris 1991.

Diskografie (Auswahl)

Britten, B.: The Prince of the Pagodas / C. McPhee: Tabuh-Tabuhan, Chandos:Colchester 2003.

Debussy, C.: Estampes, Philips Universal 1991.

Internetquellen

Website der Cité de la Musique

http://www.cite-musique.fr/ (Stand: 14.9.2005)

Website der Encyclopedia of Music in Canada (2nd ed.), Toronto 1992http://www.collectionscanada.ca/emc/ (Stand: 14.9.2005)

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