Aufstand der Mädchenmörderinnen - SPIEGEL

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78 spiegel special 1 | 2008 Aufstand der Mädchenmörderinnen Indien ist das Land mit der aktivsten Frauenbewegung der Welt. Zwar gelten Frauen immer noch als Menschen zweiter Klasse, aber jetzt begehren sie auf, kämpfen gegen Mädchenmorde, Tempelprostitution, Kastensystem – und verändern ihre Gesellschaft. REDEN BEFREIT VON SCHULD Mütter, die ihre Töchter früher getötet oder zugesehen haben, wie ihre kleinen Mädchen ermordet wurden, feiern nach Jahren des Stillschweigens in Karukkatan- patty die Geburt von Töchtern.

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REDEN BEFREIT VON SCHULDMütter, die ihre Töchter früher getötet oder zugesehenhaben, wie ihre kleinen Mädchen ermordet wurden,feiern nach Jahren des Stillschweigens in Karukkatan-patty die Geburt von Töchtern.

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Aufstand derMädchenmörderinnen

Indien ist das Land mit der aktivsten Frauenbewegung der Welt. Zwar gelten Frauen immer noch als Menschen zweiter Klasse, aber jetzt begehren sie auf, kämpfen

gegen Mädchenmorde, Tempelprostitution, Kastensystem – und verändern ihre Gesellschaft.

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Als das Kindkam, wurde die Hebammewütend: „Ein Mädchen,schon wieder.Du solltest dichschämen.“

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Jedes Mal, wenn Sangara ihr Haus betritt, steigtsie über das Grab ihrer Tochter. Sie kann nichtvergessen, aber sie muss, sonst wird sie ver-rückt. Es war ihr drittes Kind, ihre dritte Toch-

ter, sie hatte keinen Namen. Jetzt liegt sie verscharrtunter den Treppenstufen.

Sie wurde vergiftet wenige Stunden nach ihrerGeburt vor zwei Jahren, kurz bevor der Monsundie Reisfelder flutete. Ein Brauch der Kallar-Kastebesagt: „Töte deine Tochter, und du wirst den Fluchbrechen und endlich einen Sohn gebären.“

Sangara hockt im Schatten eines Tamarinden-baums, eine schmale Inderin mit leeren Augen, 22 Jahre alt. Reden hilft, es befreit von der Schuld,

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hatten ihr die Frauen im Dorf gesagt. Reden fällt ihr schwer, sie streicht ihren dunkelroten Sari glatt,knetet die Hände. Ihr Mann steht daneben undschweigt. Sie holt tief Luft, steigt über das Grab in ihrHaus, steht in einer winzigen Kammer und weint.

Sie spricht über ein Tabu, ein schreckliches Ver-brechen, und während sie spricht, zum ersten Mal,schlagen sie drüben auf dem Marktplatz schon dieTrommeln. Zwei Tage und zwei Nächte dauerte dieGeburt, der Mord nur zehn Minuten. Sangara kralltsich an ein Seil, das von der Decke hängt, wie da-mals, als sie im Stehen ihr Kind in die Welt presste.Die Hebamme kniete zwischen ihren Beinen, schobihr Pfefferschoten in den Mund, damit die Weheneinsetzten, rief aufmunternde Worte, feuerte sie an. Als das Kind kam, wurde sie wütend: „Ein Mäd-chen, schon wieder, du solltest dich schämen!“

Sangara hatte versagt, ein Mädchen, schon wie-der, sie wusste, was folgen würde – und ließ es ge-schehen. Ihr Mann und ihre Schwiegermutter nah-men das Kind, gingen hinter das Haus, den Feldweghinunter zum Fluss. Schnitten Zweige vom Olean-der, weißer Milchsaft quoll hervor. Ließen das Giftauf ihre Fingerkuppen tropfen und steckten sie demsaugenden Mädchen in den Rachen. Es wurde vonKrämpfen geschüttelt, Blut drang aus Mund undNase, es starb.

Ein Jahr nachdem sie die Leiche verscharrt hat-ten, bekam Sangara einen Sohn, Jebaraj, er sitztjetzt nackt auf den Treppenstufen und brüllt. San-gara sagt, er sei ihre Altersvorsorge. Dann läuft sielos, sie folgt dem Klang der Trommeln. Denn heutewird im Dorf ein Fest gefeiert, das Fest für die neu-geborenen Mädchen.

Sangara trifft die Frauen auf dem Marktplatz vonKarukkatanpatty, Tamil Nadu, Südindien. Sie tragenfestliche Saris, Jasminblumen schmücken ihr Haar,sie sitzen im Halbkreis auf billigen Plastikstühlenund erzählen ihre Geschichten, sie müssen. Nach je-der Beichte prasselt Applaus.

Fast alle haben eine Tochter getötet oder denMord geschehen lassen, wie Sangara. Sie haben ihnen nasse Tücher über den Mund gelegt, damit sie erstickten, sie verbrüht mit kochend heißerHühnersuppe, ihnen Schädlingsbekämpfungsmittelin die Ohren geträufelt, sie erdrosselt, erschlagen,verhungern lassen, ein Dutzend Tötungsarten zählensie auf.

Warum?„Weil mein Mann mich sonst verlassen hätte“,

sagt Pandiamnal, 30.„Weil mein Vater drohte, meine Mitgift nicht zu

bezahlen“, sagt Amsu, 32.Weil in diesem Dorf und in den umliegenden

Dörfern in der Nähe der Stadt Madurai seit Jahr-hunderten dieser Satz durch die Köpfe der Men-schen geistert: „Mädchen großzuziehen ist wie denGarten des Nachbarn zu gießen.“ Ein Sohn gilt alsErnährer seiner Familien. Nach dem Tod der Elternvollzieht er die hinduistischen Bestattungsriten, trägtihren Namen, erbt ihren Besitz. Eine Tochter hin-gegen bedeutet Ruin: Sie trägt das Vermögen ausdem Haus, als Mitgift, 100 Gramm Gold meist und100 000 Rupien, knapp 2000 Euro. Gibt es kein Ver-mögen oder mehrere Töchter, muss sich die Familieverschulden – bisher zumindest war es hier so.

Regierende WitweNach der Ermordung ihres Ehemannes wurdeSirimavo Bandaranaike(1916 bis 2000) an derSpitze der sozialisti-schen Friedenspartei

Ceylons 1960 zur welt-weit ersten Premier-ministerin gewählt. 1972 wurde Ceylon zurRepublik Sri Lanka er-klärt. Die abgewählteRegentin wurde spä-ter wegen Machtmiss-brauchs angeklagt. Bandaranaikes Bevor-zugung der Singhalesenbeförderte den Bürger-krieg mit den Tamilen.Als ihre Tochter Chan-drika 1994 Präsidentinwurde, übernahm dieMutter erneut bis kurzvor ihrem Tod das Amtdes Premiers.

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Die meistenInderinnenleben wie inder Steinzeit,sie haben sichunterzuordnen.Brechen sieaus, sind sieverloren.

Jetzt haben sich diese Frauen, diese Kindsmör-derinnen von Karukkatanpatty, verbündet. In einervon 22 Frauengruppen im Ort wehren sie sich gegenüberholte Bräuche und gegen Männer, die behaup-ten, diese Bräuche seien von Gott gewollt.

Sie treffen sich täglich, lassen Schwangere vomArzt registrieren, sorgen dafür, dass Frauen, die sitzengelassen wurden, nähen lernen und Geld ver-dienen. Und wenn eine, die eben noch schwangerwar, sagt, es war eine Tochter, sie hatte Fieber, jetztist sie tot, gehen sie zur Polizei und zeigen sie an. Sie befreien sich selbst, und niemand hat damit gerechnet.

Am Nachmittag, wenn kühler Wind die staubigeHitze vertreibt, beginnt das Fest für die neugebo-renen Mädchen. Auf ihrem Kopf balancieren dieFrauen Silbertabletts mit rosa Tüllkleidchen undkleine Kokosnusspalmen. Sie machen viel Lärm,schlagen Trommeln, blasen in Muschelhörner, dasganze Dorf rennt herbei, Männer in Wickelröcken,neugierige Jungs.

Die Frauen von Karukkatanpatty stürmen in dieHäuser der Mütter, die in den letzten Tagen eineTochter geboren haben, drei sind es diesmal. Siestreifen den Babys die Kleidchen über, tupfen ihnenheilige Puderpunkte ins Gesicht und befehlen denVätern, Palmen vor die Häuser zu pflanzen. In fünfJahren, so ihre Rechnung, werden sie Früchte tra-gen, 50 Kokosnüsse im Monat, macht 2000 Rupienim Jahr. Ein Sparbuch für die Mädchen, damit sieüberleben.

Die Idee mit den Palmen stammt von der Andhe-ri-Hilfe, einer deutschen Organisation für Entwick-lungszusammenarbeit, die auch die Frauengruppengründete. Sie hilft offenbar wirklich: Seit ein paarJahren ist in zwei Dritteln von 80 Dörfern der Kallar-Kaste kein einziges Mädchen mehr getötet worden,behaupten die Frauen. Davor starben zwei von drei-en. „Eine Ausbildung ist sinnvoller als Mitgift“, fin-det heute Pandiamnal, „meine Tochter wird zurHochzeit keine einzige Rupie bekommen.“ „Ein Le-ben lang wurde ich benachteiligt“, sagt Jeyanthi, 39,„jetzt nehme ich, was mir zusteht. Wenn mein Mannwas dagegen hat, soll er doch gehen!“ Und die So-zialarbeiterin Daisy Vincent sagt, es komme ihr vor,als könnten die Frauen plötzlich fliegen. „Wir be-fürchten, sie könnten stärker werden als ihre Män-ner.“ Deshalb haben sie vor ein paar Monaten aucheine Gruppe für die Jungs gegründet.

Bisher waren diese Frauen öffentlich unsichtbar,sie waren im Haus, am Herd. Heute sind sie Teil ei-ner landesweiten Bewegung, eine von Hunderttau-senden Frauengruppen in Indien, die ihre Welt inden Dörfern und in den Slums auf den Kopf stellen.An Hilfe vom Staat glauben sie nicht. Als die Mi-nisterin für Frauen und die Entwicklung des Kin-des, Renuka Chowdhury, im vergangenen Jahr inNeu-Delhi ihr neues Projekt bekanntgab, die indi-sche Kinderkrippe – ungewollte Mädchen sollennach der Geburt in ein Waisenhaus, anonym, lach-ten sie nur. „Eine Babyklappe, wie albern, wir hel-fen uns selbst.“

WITWENVERBRENNUNGDer Feuertod, urspünglichein rituelles Selbstopfer vonWitwen, später häufig eineeingefordete Praxis, ist seitlangem verboten (hier einFoto aus dem Jahr 1972).Aber in kaum einem ande-ren Land gibt es mehr Frauenfeindlichkeit, und alle drei Minuten wird in Indien eine Frau Opfer einer Straftat.

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In einem Büro voller Bücher in Neu-Delhi, derHauptstadt, sitzt die Frauenrechtlerin Urvashi Buta-lia, herzlich, warme Stimme, 55 Jahre alt. Sie blät-tert in einem Bildband und zeigt eine Karikatur.Eine Misswahl ist dargestellt, sehr beliebt bei In-dern. Doch keine Schönheiten stehen auf dem Sie-gertreppchen, sondern klapprige Alte mit Augen-ringen, in Lumpen gehüllt: „Miss Landlos“, „MissObdachlos“, „Miss Armut“. Das letzte Treppchenbleibt leer, die Schärpe flattert zu Boden. „MissMädchen konnte nicht teilnehmen“ steht da. „Siewurde kurz nach ihrer Geburt getötet.“ Es ist dasPlakat einer Demonstration, bei der Urvashi Buta-lia mitmarschierte, damals, als der Kampf der indi-schen Frauen begann und Sangara noch gar nicht ge-boren war.

Indien, sagt Urvashi Butalia, sei voll von diesenGeschichten. Sie spielen ganz oben und tief untenim Dreck. Sie erzählen von einem Land, das seineFrauen vergöttert – als Bollywood-Stars, in der Poli-tik oder in der Wirtschaft. In den meisten Fällenaber erzählen sie von fürchterlicher Gewalt.

Urvashi Butalia sammelt diese Geschichten. Siewill, dass sich etwas bewegt in ihrem Land, dassFrauen über ihr Leid sprechen. Vor 23 Jahren grün-dete sie Indiens ersten feministischen Verlag, heuteso etwas wie das Archiv der Frauenbewegung. Sienannte ihn Kali, nach der strafenden Göttin.

Wie funktioniert Befreiung der Frauen in einemLand, das seine Töchter tötet? „Es ist ein zäherKampf“, sagt Urvashi Butalia, „aber wir kommenvoran, wir sind die aktivste Frauenbewegung derWelt.“ Das sei erstaunlich für Indien und anderer-seits auch wieder nicht.

Inderinnen leben in einem Land, das sich rühmt,die größte Demokratie der Welt zu sein. Sie sind esgewohnt, Macht zu haben und Rechte und Chan-cen. Zu einer Zeit, als Schweizerinnen noch garnicht wählen durften, fast 40 Jahre vor Angela Mer-kel, war Indira Gandhi Premierministerin, 15 Jahrelang. Heute führt deren Schwiegertochter SoniaGandhi die Kongresspartei, Inderinnen managenBanken, IT-Firmen, Callcenter. Laut Gesetz sindFrauen den Männern gleichgestellt, Indien hat eineder fortschrittlichsten Verfassungen der Welt undmehr Gesetze zum Schutz von Frauen als viele an-dere Länder.

„Andererseits“, sagt Urvashi Butalia und lächeltsanft, „andererseits ist Indien ein Land voller Ge-gensätze, ein gigantischer Subkontinent, der in vie-len Jahrhunderten gleichzeitig existiert.“

Die Mehrzahl der Inderinnen lebt wie in derSteinzeit, in einer von Männern dominierten, hier-archischen Gesellschaft. Sie gelten als Menschenzweiter Klasse, sie haben sich unterzuordnen, derKaste, dem Glauben, dem Ehemann und der Schwie-germutter. Brechen sie aus, sind sie verloren.

In kaum einem anderen Land, so die Statistik,gibt es mehr Frauenfeindlichkeit. Alle drei Minutenwird eine Frau Opfer einer Straftat, alle neun Mi-nuten wird eine Frau von einem Familienmitgliedmisshandelt. Jede zweite Inderin ist Analphabetin,in einigen Regionen werden Mädchen mit zehn Jah-ren verheiratet, und wenn sie den Mitgiftforderun-gen auch nach der Hochzeit nicht nachkommen –ein neues Auto, eine Reise nach Europa –, werden

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sie mit Kerosin übergossen und angezündet. Mitgift-mord, Witwenverbrennung, diese Geschichten sindbekannt, seit Frauen wie Urvashi Butalia sie publikgemacht haben.

Der Widerstand formierte sich Mitte der siebzigerJahre. Anlass war ein Regierungsbericht zur Lageder Frau. Urvashi Butalia, obere Mittelschicht, ex-zellent ausgebildet, begriff, dass sie nichts wussteüber die Lebensumstände von Frauen in Indien.Trotz Gleichberechtigung, trotz Frauenrechten – dieLage war verheerend.

Urvashi Butalia und ihre Mitstreiterinnen ver-ließen die Universitäten, fuhren im Zug kreuz undquer durch das riesige Land, wie einst MahatmaGandhi, und ließen Frauen berichten. Auf Neu-Delhis Straßen demonstrierten sie gegen Kasten-system und Mitgift, stürmten Kioske, zertrümmertenSchnapsflaschen der Männer, zogen vors Parlament,belagerten Polizeiwachen. Später gründeten sie An-waltskanzleien, Zeitungen, Notunterkünfte undSewa, eine Frauengewerkschaft. Die erste Massen-kundgebung von Frauen fand 1980 statt, nachdemzwei Polizisten auf einer Wache eine 16-Jährige ver-gewaltigt hatten und freigesprochen wurden.

So entstand eine der dynamischsten Frauenbe-wegungen der Welt. Die Aktivistinnen leben in derProvinz oder in Megacitys, sind Musliminnen oderHindufrauen, Höherkastige oder Unberührbare. Oftgibt es Rückschritte, Streit mit religiösen Fanatikern,Verzweiflung, wenn Hindus gegen Muslime kämpfenund Frauen die Opfer sind. Was sie eint, ist der Wil-

ERBITTERTER WIDERSTANDDie Verlegerin Urvashi Buta-lia gründete Indiens erstenfeministischen Verlag undist aktiv in der Frauenge-werkschaft Sewa, die sichfür gerechte Löhne, Sicher-heit am Arbeitsplatz, einbesseres Gesundheitswesenund Kinderbetreuung ein-setzt. „Es ist ein zäherKampf“, sagt die Feministin,„aber wir kommen voran.“

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Seit 20 Jahren,seit es hierUltraschall gibt,landetenmindestenszehn Millionenweibliche Fötenim Müll derAbtreibungs-kliniken.

le zu Macht, zu Mitbestimmung und die Hoffnungauf Veränderung.

Und heute? „Heute haben wir eine Frauenquo-te“, sagt Urvashi Butalia, „ein Drittel der Sitze inDorf- und Gremienräten gehört uns“, das sei schonetwas wert. Seit einer Verfassungsänderung 1992 be-stimmen mehr als eine Million Inderinnen die Zu-kunft ihrer Kommunen, bisher recht erfolgreich, seitJahren fordern sie die Frauenquote auch für dasParlament in Neu-Delhi, bisher vergebens.

Indien hat Frauen, die berühmt sind im Land,weil sie ihren Ruf riskieren und manchmal auch ihrLeben. Aktivistinnen der Chipko-Bewegung etwa,einfache Landfrauen, die sich an Bäumen festkrall-ten, damit man diese nicht fällt. Die SchriftstellerinArundhati Roy, die gegen den Bau des Narmada-Staudamms anschrieb. Als eine der wenigen ist siebekannt im Westen, weil sie hübsch ist und klugund in viele Sprachen übersetzte Bücher geschrie-ben hat, die anderen kennt man kaum. Flavia Agnesetwa, die von ihrem Mann geschlagen wurde, dasHaus verlassen musste, ohne ihre Kinder, Jura stu-dierte und heute für die Modernisierung des Schei-dungsrechts kämpft. Oder Shabana Azmi, Bolly-wood-Diva, bekannt seit „Fire“, einem Film überlesbische Liebe. Heute lässt sie Häuser bauen imSlum neben Mumbais Filmcity und streitet mit Dreh-buchautoren, weil sie sich ihre Rollen nicht gernvorschreiben lässt.

Alle diese Frauen verändern ihr Land, langsam,aber dauerhaft, und doch sind die Schlachten längstnicht geschlagen. Denn Indien, so viel steht heuteschon fest, werden in Zukunft die Frauen fehlen, nie zuvor wurden weniger Mädchen geboren. Laut

letztem Regierungszensus kommen landesweit nurnoch 927 Mädchen auf 1000 Jungen, im nördlichenPunjab sind es sogar weniger als 800. Schon berich-ten die Zeitungen von „Heiratskrise“ und „fru-strierten Junggesellen“, was noch mehr Gewalt zurFolge haben wird.

Mädchenmorde sind nicht auszurotten durch dieModerne, sie nehmen zu. Hauptursache ist die Tech-nik: Gezielte Abtreibung von Mädchen ist ein Mas-senphänomen in Indien, fast so extrem wie in Chi-na. In den vergangenen 20 Jahren, seit es hier Ul-traschall gibt, landeten mindestens zehn Millionenweibliche Föten im Müll der Abtreibungskliniken.Obwohl Geschlechtsbestimmung vor der Geburt seit1994 verboten ist, geben Ärzte Tipps gegen Trink-geld und werben mit Slogans wie: „Zahle jetzt 500Rupien und spare später 500 000“. Es ist nicht nurdie Angst vor Armut, die Töchtervermeidung zumTrend werden lässt – vor allem die wohlhabende,aufstrebende Mittelschicht empfindet Mädchen alsLast und geht die unheilige Allianz ein zwischenTradition und Fortschritt.

Wenn Mädchen überleben, müssen sie ihr Lebenselbst in die Hand nehmen. Es geht um „Empower-ment“, sagt Urvashi Butalia, Frauen sollen selbst-bewusst werden.

Man kann das auf einem Fischmarkt am Pulicat-See bei Chennai besichtigen, es ist drei Uhr mor-gens, und es stinkt bestialisch. 40 Frauen in Sarishocken auf Bastmatten zwischen silbrigen Aalenund Shrimps. In einer Ecke sitzt ein Geldverleiher,dicker Bauch, Schnauzbart, er zählt ein paar Ru-pienscheine, steckt sie zurück in den Bund seinesWickelrocks, er ärgert sich. Weil diese Fischerfrau-

PROTEST DER HURENDie Filmtrilogie „Fire“,„Earth“, „Water“ der in Indien geborenen Regisseu-rin Deepa Mehta zeigt einschonungsloses Bild indi-scher Vergangenheit undGegenwart. Als die Produk-tion wegen hindu-nationa-listischer Angriffe abgebro-chen werden musste, de-monstrierten maskierte Prostituierte für die Fort-setzung der Dreharbeiten.

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en früher Geld bei ihm geliehen haben, viel Geld,um den Fisch zu bezahlen, den sie dann ab sechsUhr morgens in den Dörfern weiterverkauften. Da-für verlangte er bis zu 80 Prozent Zinsen, aber jetzthaben diese Frauen eigenes Geld, sie brauchen ihnnicht mehr.

Die Frauen sind Dalits, Unberührbare, „gebro-chene Menschen“, wie sie sich selbst nennen. Rund200 Millionen Unberührbare gibt es in Indien, siegelten als unrein. Dalit-Frauen handeln mit stinken-dem Fisch oder schaufeln Kloaken frei, tiefer un-ten kann man nicht stehen in der indischen Gesell-schaft. Höherkastige ekeln sich vor ihren Berührun-gen, ja sogar vor ihrem Schatten. Sie dürfen nicht inihren Tempeln beten, müssen barfuß laufen, ihreHäuser liegen abseits. In Banken bekamen Dalitsfrüher nie Kredite, sie durften Banken früher nichtmal betreten.

Und nun kommen gutgekleidete Beamte in ihrDorf, plaudern höflich und drücken ihnen Kartenfür Geldautomaten in die Hand und kleine blaueSparbüchlein. Weil auch Banken begriffen haben,dass Frauen fleißiger sind als Männer und Kreditezuverlässiger zurückzahlen, mit einer Wahrschein-lichkeit von 98 Prozent.

Seit ein paar Monaten haben die Frauen aus Bhi-munivari Palem eine Kleinspargruppe eröffnet,zunächst mit Hilfe nichtstaatlicher Organisationenwie der Andheri-Hilfe aus Deutschland, dann mitBanken. Jetzt sitzen die Frauen wichtig in Ausschüs-sen, bekommen Kredite und kaufen damit eineMilchkuh oder einen kleinen Teeladen. Jetzt müssensogar ihre eigenen Männer nett zu ihnen sein, wennder Fang mal wieder mager ist und die Haushalts-kasse klamm. Nett zu sein fällt ihnen schwer.

Am Abend spielen Studenten aus Chennai, demehemaligen Madras, Straßentheater im Dorf, eineArt Volksaufklärung für Analphabeten. Es geht um Probleme, die Männer haben, wenn Frauen ihrDorf umkrempeln: ein Mann, der trinkt und seineFrau schlägt, weil er eifersüchtig ist auf ihren Erfolg;ein Geldhai, der seine Zinsen einfordert. Am Endeliegt der Mann wimmernd am Boden, seine Frautriumphiert.

Nach dem Stück wollen die Fischerfrauen mitihren Männern diskutieren. Sie sind laut und aufge-kratzt, sie stemmen ihre Arme in die Hüften, redenüber die Zukunft ihres Dorfs, die Fischfarm, die sieaufziehen wollen, einen neuen Tempel. Schnaps undPoker könnt ihr vergessen, sagen sie, ihr müsst unsunterstützen. Die Männer rutschen auf ihren Plas-tikstühlen herum, hüsteln verlegen. Dann fällt derStrom aus, stockdunkle Nacht. Und weil die Frauenimmer weiterreden, erheben sich die Männer undbeleuchten sie mit dem bläulichen Licht der Dis-plays ihrer Handys. Es ist nicht mehr ihre Veran-staltung, sie sind jetzt Statisten. Es ist nicht mehr soleicht, ein Mann zu sein in Indien.

1700 Kilometer nördlich vom Dorf der Dalits, imStadtzentrum von Neu-Delhi eilt eine Frau auf fla-chen, gummibesohlten Schuhen über lange Flure, esist Kiran Bedi, 58, bis vergangenen Dezember warsie Indiens ranghöchste Polizistin. Wir trafen sie einige Monate, bevor sie ihr Amt niederlegte. Sieträgt einen braunen Kurta Pajama, das hochge-schlossene Hemd der Männer, das Haar kurz wie

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mit dem Scherapparat geschnitten. Sie betritt einenKonferenzsaal, von hier oben sieht man Regierungs-paläste und Bürotürme, und unten im Hof parkendie Autos der Mächtigen, weiße Ambassadors mitTüllgardinen und Chauffeur.

Kiran Bedi hat es bis an die Spitze geschafft. Vonden Massen wird sie verehrt wie eine Erlöserin inUniform. Auch diese Geschichte ist möglich in In-dien, eine Polizistin, die gegen Korruption und Be-amtenfilz kämpft und Bücher schreibt, die „It’s al-ways possible“ heißen oder „I dare!“, ich wage es.Sie handeln von Ehrgeiz und Lust an der Macht.

Die Konferenz beginnt pünktlich, Bedi hasst Un-pünktlichkeit, sie muss entscheiden, welche Firmaden Auftrag bekommt, schusssichere Westen für In-diens Polizisten zu produzieren, es geht um sehrviel Geld. Geschäftsmänner sind eingeflogen ausMumbai und Bangalore, sie buhlen um Bedis Gunst,fordern Chancengleichheit, keiner dürfe benachtei-ligt werden. „Kommen Sie zum Punkt“, sagt Bedi.„What else? Quick! Noch Fragen? Schmeckt derTee?“ Einem der Männer platzt der Kragen: „Esstimmt also doch, Frauen regieren die Welt!“ – „No,Sir“, sagt Bedi zackig und kühl. „Erstens ist dasblanker Unsinn, zweitens müssen wir gemeinsamunserem Land dienen. Noch Fragen, ja oder nein?“

„No, Madam!“„Excellent! Noch Tee?“Sie eilt zurück in ihr Büro, zehn Minuten hat sie

bis zum nächsten Termin, ein TV-Sender möchteein Grußwort zum Muttertag, sie verschlingt dreiDörrpflaumen, blättert in fünf Zeitungen, CNNläuft, der Polizeifunk, ihre Tochter Saina ruft an undfragt, ob sie ihre Yoga-Übungen gemacht hat. „Män-

LUST AN DER MACHTKiran Bedi war bis Ende2007 Indiens ranghöchstePolizistin. Sie kämpfte gegen Korruption und Beamtenfilz und prangertin Büchern, Artikeln und Radiosendungen häuslicheGewalt an. „Ich musste michselbst erfinden“, sagt dieehemalige indische Tennis-Juniorenmeisterin.

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ner sind Könige in diesem Land, Frauen eine Last“,sagt Bedi. „Ich musste mich selbst erfinden.“

Kiran Bedi ging zur Polizei, als erste Frau in In-dien. Auch sie hat eine Welt verändert. Über 35Jahre sorgte sie für Aufsehen, trieb mit dem Schlag-stock eine Demonstration militanter Sikhs ausein-ander, düste im offenen Geländewagen durch DelhisVerkehrschaos und erteilte Fahrstunden per Mega-fon. Wurde Direktorin von Tihar, einem der berüch-tigtsten Gefängnisse der Welt. Man wollte sie los-werden, dachte, sie würde zerbrechen an diesemPosten.

Tihar wurde ihr größter Triumph: Aus dem Knastmachte sie nebenbei einen Ashram, eine Art Me-ditationszentrum, engagierte Gurus, Yoga-Meister,erlaubte den knapp 9000 Insassen Fernsehen, Radiound Kummerkästen, nur keine Kondome, die fandsie zu modern. Kiran Bedi wurde weltberühmt. Fürihre Gefängnisreform verlieh man ihr im Auslandden renommierten Magsaysay-Preis, Bill Clinton ludsie zum Frühstück ins Weiße Haus.

Natürlich, Kiran Bedi war nie eine vergesseneTochter vom Land. Sie hatte einen Vater, der niemalsheiraten wollte, weil er es nicht ertrug, wie Frauenin seiner Großfamilie unterdrückt wurden. Als eineTante in den Hungerstreik trat, fügte er sich undnahm die Frau, die man für ihn vorgesehen hatte.Als er vier Töchter gezeugt hatte, keinen Sohn,nahm er das als Wink des Schicksals. Er schickte sieauf beste Schulen und verordnete Leistungssport.Kiran war indische Tennis-Juniorenmeisterin, eineSchwester schaffte es bis Wimbledon. Den Traum ihres Vaters, ein freies, selbstbestimmtes Leben, er-füllten alle vier.

Heute hilft Bedi Menschen, die nichts habenaußer ihrem missratenen Leben. In „What went

wrong?“, (Was liefschief?), ihren Zeitungs-kolumnen und Radio-sendungen schildert sieFälle häuslicher Gewalt,Drogenkonsum, Kinder-prostitution und kom-mentiert das in schlich-ten Sätzen. „Männersind Raubtiere, sobald esum Sex geht“, so lautenihre Sätze, oder auch:„Die schlimmsten Fein-de der Frau sind Frau-en.“ Kiran Bedi ist keineFeministin, klar, vielefinden sie eitel und ihreErkenntnisse banal, aberFrauen wie Juanita hättesie vielleicht vor Un-glück bewahren können.

Juanita kann nicht le-sen, von Kiran Bedi hatsie nie gehört. Sie wareine Tempeltänzerin,und sie brauchte 15 Jah-re, bis sie den Mut fand,Schluss zu machen mitAberglaube und Prosti-tution. Ihre Mutter ver-

sprach sie der Göttin Mathamma, sie sollte demDorf Glück bringen, Söhne, fette Ernten, Juanitawar sechs Jahre alt.

Zuerst tanzte sie nur, vor dem Tempel auf Dorf-festen, mit offenem Haar und Ketten aus klingendenSchellen. Als sie zwölf war und ihre Menstruationbekam, gehörte sie allen. Männer zerrten sie in ihreHäuser, vergewaltigten sie, fast jede Nacht.

Juanita ist heute 36, eine fröhliche Frau von fül-liger Statur. Sie hilft jetzt aus in einer Schule imBundesstaat Andhra Pradesh, wo Prostituierte Zu-flucht finden und ihre Kinder schreiben und lesenlernen.

Manchmal wird die Schule angezündet und derBrunnen vergiftet, an eine Wand hat der Schulleiter„Des Mannes bester Freund sind seine zehn Fin-ger“ geschrieben, selbst ist der Mann, soll das hei-ßen, und Tempeltanz ein grässlicher Brauch. Tausen-de Tempelprostituierter soll es in Andhra Pradeshnoch geben, bei Goa und im Norden weit mehr.Wer hier nicht den Ausstieg schafft, landet in Mum-bai, auf Hinterhofpritschen im Rotlichtviertel, undwartet auf Kunden und den Tod.

Juanita fährt mit dem Bus durch die Nacht, steigt aus an einem Reisfeld, dort lebt sie in einerHütte mit ihrem Mann, einer Tochter und einemSohn.

Sie sagt, sie müsse sich nicht mehr verstecken, siewolle jetzt etwas Besseres werden. „Politikerin“,sagt sie, eine von einer Million weiblicher Dorfräte,bei der nächsten Wahl werde sie kandidieren. „Da-mit sie da“, sie zeigt auf ihre Tochter, „es einmal bes-ser hat.“ „Weil ich“, sie fasst sich ans Herz, „einigeszu sagen habe.“ Über Frauen in Indien, einem Land,das in vielen Jahrhunderten gleichzeitig lebt.

Fiona Ehlers

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FISCH AUF KREDITWeil Frauen zuverlässigeBankkunden sind, könnenauch sogenannte Unberühr-bare ihren Fisch heute ohnedie Hilfe von Geldwucherernkaufen und verkaufen.

KitzelkämpferinBei ihrem Einsatz für den Verbleib ihrerHeimatinsel Mayottebeim „Mutterland“Frankreich und gegendie Abhängigkeit vonden Komoren erfandenZéna M’Déré (1920 bis1999) und ihre Mitstreite-rinnen eine ungewöhn-liche Waffe: Sie kitzeltenihre Gegner buchstäb-lich in die Flucht – undgewannen den Volksent-scheid von 1975.

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