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Inhalt AUFSÄTZE Zivilrecht Grundlagen und ausgewählte Probleme der Partnerschaftsgesellschaft Von Ref. iur. Sebastian Ferner, Frankfurt 676 Der Lizenznehmer in der Insolvenz des Lizenzgebers – eine unendliche Geschichte? Von Ref. iur. Nick Marquardt, Halle/Saale 681 Bündelung von Ansprüchen mittels Inkassozession im VW-Abgasskandal Eine „Sammelklage“ nach deutschem Recht? Von stud. iur. Aleksandar Zivanic, Konstanz 687 Strafrecht „Zugänglichmachen“ und „öffentliches Begehen“ als Tathandlungen im Medienstrafrecht Beiträge zum Medienstrafrecht – Teil 6 Von Prof. Dr. Manfred Heinrich, Kiel 698 DIDAKTISCHE BEITRÄGE Öffentliches Recht Sezession im Bundesstaat – Neun Fragen an das Grundgesetz Von Prof. Dr. Carsten Doerfert, Bielefeld 711 ÜBUNGSFÄLLE Zivilrecht Fortgeschrittenenklausur: Dieselgate Von Prof. Dr. Ivo Bach, Göttingen 714

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Inhalt

AUFSÄTZE

Zivilrecht

Grundlagen und ausgewählte Probleme der Partnerschaftsgesellschaft

Von Ref. iur. Sebastian Ferner, Frankfurt 676

Der Lizenznehmer in der Insolvenz des Lizenzgebers – eine unendliche Geschichte?

Von Ref. iur. Nick Marquardt, Halle/Saale 681

Bündelung von Ansprüchen mittels Inkassozession

im VW-Abgasskandal

Eine „Sammelklage“ nach deutschem Recht?

Von stud. iur. Aleksandar Zivanic, Konstanz 687

Strafrecht

„Zugänglichmachen“ und „öffentliches Begehen“ als Tathandlungen im Medienstrafrecht

Beiträge zum Medienstrafrecht – Teil 6

Von Prof. Dr. Manfred Heinrich, Kiel 698

DIDAKTISCHE BEITRÄGE

Öffentliches Recht

Sezession im Bundesstaat – Neun Fragen an das Grundgesetz

Von Prof. Dr. Carsten Doerfert, Bielefeld 711

ÜBUNGSFÄLLE

Zivilrecht

Fortgeschrittenenklausur: Dieselgate

Von Prof. Dr. Ivo Bach, Göttingen 714

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Inhalt (Forts.) 6/2016

ÜBUNGSFÄLLE (Forts.)

Zivilrecht (Forts.)

Fortgeschrittenenklausur: Und am Ende nichts als Ärger

Von RiAG Prof. Dr. Ulf P. Börstinghaus,

Wiss. Mitarbeiter Dennis Pielsticker, Bielefeld 725

Öffentliches Recht

Klausur: Flüchtlinge in den Leerstand!

Von Prof. Dr. Kristin Pfeffer,

Dr. Volker Steffahn, Hamburg 732

Übungshausarbeit: Brennende Neugier

Von Ref. iur. Jan-Marcel Drossel,

Wiss. Mitarbeiter Volker Herbolsheimer, Berlin/Bochum 741

Strafrecht

Übungsfall: Untreue mit bitterem Ende

Von Wiss. Mitarbeiterin Annabell Blaue, Halle-Wittenberg 750

Examensklausur: Die freundlich gierigen Bankmitarbeiter

Von Wiss. Mitarbeiter Tobias Günther, Wiss. Mitarbeiterin Nicole Selzer, Halle (Saale) 756

ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN

Zivilrecht

BGH, Urt. v. 19.7.2016 – X ZR 123/15

(Anzeige des Reisemangels trotz Kenntnis des Reiseveranstalters)

(Prof. Dr. Paul T. Schrader, LL.M.oec., Augsburg) 772

Öffentliches Recht

BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al.

(Rechtmäßigkeit des Ankaufs von Staatsanleihen durch die EZB im OMT-Programm)

(Wiss. Mitarbeiter Robert Böttner, B.A., LL.M., Leipzig) 776

Strafrecht

BGH, Urt. v. 26.11.2015 – 3 StR 247/15

(Schadensberechnung bei Kreditverträgen)

(Prof. Dr. Janique Brüning, Kiel) 781

LG Passau, Urt. v. 13.1.2016 – 1 Ns 35 Js 4140/13; AG Erfurt, Urt. v. 26.4.2016 – 880 Js 10703/13 Ds

(Betrug der Kaskoversicherung durch versteckten Rabatt)

(Prof. Dr. Holm Putzke, LL.M., Passau/Wiesbaden) 787

REZENSIONEN

Allgemeines

Martin Zwickel/Eva Julia Lohse/Matthias Schmid, Kompetenztraining Jura, 2014

(Florian Fuhrmann, Erlangen) 791

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ZJS 6/2016 676

Grundlagen und ausgewählte Probleme der Partnerschaftsgesellschaft Von Ref. iur. Sebastian Ferner, Frankfurt* Eine Beschäftigung mit der Partnerschaftsgesellschaft kann in der Examensvorbereitung aus zeitlichen Gründen nur in eingeschränktem Umfang erfolgen. Trotzdem sollte die Part-nerschaftsgesellschaft nicht unberücksichtigt bleiben, da Klausuren mit Anwaltsbezug beliebt sind und die Partner-schaftsgesellschaft eine klassische Gesellschaftsform für Rechtsanwälte ist. Des Weiteren steht die Partnerschaftsge-sellschaft der GbR bzw. OHG nahe, was zu Analogiefragen führt, die für Klausurersteller interessant sind, da sie vom Bearbeiter eine Transferleistung erfordern. Ferner ermögli-chen es die Kürze des PartGG und die Verweise auf das HGB, bekannte Probleme im Kontext einer eher unbekannten Gesellschaftsform zu prüfen. In diesem Sinne zielt dieser Beitrag darauf ab, in konzentrierte Form einen Überblick über die Partnerschaftsgesellschaft und mit ihr in Verbin-dung stehender Probleme zu geben. I. Grundlagen Bei der Partnerschaftsgesellschaft handelt es sich um eine Personengesellschaft, die rechtlich an die OHG angelehnt ist. Dies lässt sich bereits aus den Verweisen auf die entspre-chenden Regelungen des HGB innerhalb des Partnerschafts-gesellschaftsgesetzes (PartGG) ableiten. Offen steht die Part-nerschaft nur den Angehörigen der freien Berufe (§ 1 Abs. 1 S. 1 PartGG). 1. Gründung

Hinsichtlich der Gründung einer Partnerschaftsgesellschaft kommen grundsätzlich zwei Wege in Betracht. Zum einen kann direkt eine Partnerschaftsgesellschaft gegründet werden. Zum anderen kann eine Partnerschaftsgesellschaft im Wege der Umwandlung, etwa aus einer GbR heraus, entstehen. Die Voraussetzungen weichen in beiden Konstellationen nur wenig voneinander ab.

So entsteht eine Partnerschaftsgesellschaft im Innenver-hältnis durch Abschluss eines Partnerschaftsvertrages (§ 1 Abs. 4 PartGG i.V.m. § 705 BGB), der gem. § 3 Abs. 1 PartGG der Schriftform (§ 126 BGB) bedarf. Im Rahmen einer Umwandlung bedeutet dies, dass durch Beschluss eine entsprechende Änderung des Gesellschaftsvertrages erforder-lich ist. Auch muss der Vertrag die gem. § 3 Abs. 2 PartGG erforderlichen Angaben enthalten und die Gesellschafter müssen für eine Partnerschaftsgesellschaft geeignet sein (vgl. § 1 Abs. 1, 2 PartGG, § 60 Abs. 1 S. 2 BRAO). Ferner muss der Name der Partnerschaft die Anforderungen des § 2 Abs. 1 PartGG erfüllen.

Für die wirksame Entstehung im Außenverhältnis ist gem. § 7 Abs. 1 PartGG die konstitutiv1 wirkende Eintragung im Partnerschaftsregister erforderlich. Sollte die Partnerschaft

* Der Verf. ist Rechtsreferendar im OLG-Bezirk Frankfurt. 1 Vgl. Schäfer, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2015, § 23 Rn. 3.

ihre Geschäfte schon vor der Eintragung beginnen, gelten für sie die Regelungen der GbR.2 2. Vertretung

Die Vertretung der Partnerschaft ist in § 7 Abs. 3 PartGG geregelt, wobei dort die Vertretungsregeln der OHG für ent-sprechend anwendbar erklärt werden. Demnach hat jeder Partner grundsätzlich Einzelvertretungsmacht, wobei im Partnerschaftsvertrag die Gesamtvertretung vereinbart wer-den kann. Aus der entsprechenden Anwendung ergibt sich weiterhin, dass der Grundsatz der Selbstorganschaft auch für die Vertretung der Partnerschaft gilt, sodass zumindest ein Gesellschafter zur Vertretung berechtigt sein muss und eine vollständige Übertragung der Vertretungsmacht auf Dritte ausscheidet.3 Wichtig ist dabei, dass sich das Problem der unechten Gesamtvertretung bei Abhängigkeit von einem Prokuristen im Rahmen der Partnerschaft nicht stellen kann, weil sich der Verweis des § 7 Abs. 3 PartGG nicht auf § 125 Abs. 3 HGB bezieht. Schließlich kann eine Partnerschaft mangels Handelsgewerbe keinen Prokuristen bestellen. Des Weiteren stellt sich über den Verweis des § 7 Abs. 3 PartGG auf § 126 Abs. 2 HGB auch bei der Partnerschaft die aus dem OHG-Recht bekannte Frage, ob eine Ausnahme vom Grund-satz der Unbeschränkbarkeit der Vertretungsbefugnis ein-greift, wenn der Dritte im Sinne des § 126 Abs. 2 HGB ein Partner der Gesellschaft ist.4

Im Übrigen ist die Vertretungsmacht der Partner in jedem Fall gem. § 5 Abs. 1 PartGG zur Eintragung in das Partner-schaftsregister anzumelden. Solange dies nicht geschieht kann etwa eine vereinbarte Gesamtvertretungsmacht dem Rechtsverkehr gem. § 5 Abs. 2 PartGG i.V.m. § 15 Abs. 1 HGB nicht entgegengehalten werden.5 An dieser Stelle kann daher über den „Umweg“ des PartGG mit § 15 HGB eine äußerst examensrelevante Norm in einem unüblichen Kontext geprüft werden. 3. Haftung

Bei der Haftung der Partnerschaft ist wie üblich im Recht der Personengesellschaften zwischen der Haftung der Gesell-schaft und ihrer Gesellschafter zu unterscheiden.

Die Haftung der Partnerschaft folgt dabei unproblema-tisch aus § 7 Abs. 2 PartGG i.V.m. § 124 HGB und gilt für Verbindlichkeiten jeder Art. Für das Handeln ihrer Partner haftet die Partnerschaft analog § 31 BGB, wobei dies auch bei vertraglichen Beziehungen gilt, sodass es auf § 278 BGB insofern nicht ankommt.6

2 H.M. vgl. Hirtz, in: Henssler/Strohn, Kommentar zum Ge-sellschaftsrecht, 2. Aufl. 2014, § 7 Rn. 3 m.w.N. 3 Schäfer, in: Münchener Kommentar zum PartGG, 6. Aufl. 2013, § 7 Rn. 13. 4 Vgl. hierzu Timm/Schöne, Fälle zum Handels- und Gesell-schaftsrecht, Bd. I, 9. Aufl. 2014, S. 183. 5 Hirtz (Fn. 2), § 7 Rn. 18. 6 Hirtz (Fn. 2), § 7 Rn. 3.

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Grundlagen und ausgewählte Probleme der Partnerschaftsgesellschaft ZIVILRECHT

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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 677

Die Haftung der Partner regelt § 8 PartGG, dessen Abs. 1 nach dem Regelungsvorbild der §§ 128 ff. HGB ausgestaltet wurde.7

Nach § 8 Abs. 1 S. 1 PartGG haften die Partner demnach grundsätzlich akzessorisch und gesamtschuldnerisch für Verbindlichkeiten der Partnerschaft, wie dies auch bei § 128 S. 1 HGB der Fall ist. Folglich stellt sich auch hier die Frage nach dem genauen Inhalt der Gesellschafterschuld, sodass der bekannte Streit zwischen der Erfüllungstheorie und der Haf-tungstheorie auch hier von Relevanz ist.8

In § 8 Abs. 2 PartGG wird die Haftung für Berufsfehler gesondert geregelt, wobei insofern ein Haftungsprivileg fest-geschrieben wird. Letzteres bildet den Kern des Haftungsre-gimes der Partnerschaft und macht diese insbesondere im Vergleich zur Freiberufler-GbR attraktiv. § 8 Abs. 2 PartGG hat dabei eine haftungsbegründende Funktion und ist nicht als Einschränkung des § 8 Abs. 1 PartGG zu verstehen, da nur so das Haftungsprivileg rechtssicher und vorhersehbar eingreifen kann.9

Hinsichtlich der Tatbestandsvoraussetzungen des § 8 Abs. 2 PartGG muss es sich zunächst um einen Auftrag han-deln. Geboten ist insofern eine weite Auslegung, sodass jedes Vertragsverhältnis erfasst wird, das als Grundlage für eine freiberufliche Tätigkeit dient.10 Des Weiteren muss der jewei-lige Partner mit dem Auftrag befasst gewesen sein, wobei es nicht darauf ankommt, ob er selbst pflichtwidrig gehandelt hat, da die Handelndenhaftung des § 8 Abs. 2 PartGG ver-schuldensunabhängig ist.11 Eine Befassung liegt demnach grundsätzlich vor, wenn der Partner den Auftrag selbst bear-beitet oder seine Bearbeitung überwacht hat oder dies nach der internen Zuständigkeitsverteilung hätte tun müssen.12 Sind die beiden genannten Tatbestandsmerkmale erfüllt, so scheidet eine Haftung dennoch aus, wenn es sich lediglich um einen Bearbeitungsbeitrag von untergeordneter Bedeu-tung handelt. Beispielhaft zu nennen ist insofern die Urlaubs-vertretung oder ein nur gelegentlicher Ratschlag, wobei etwas anderes gilt, wenn ein derartiger Bearbeitungsbeitrag mit-ursächlich geworden ist.13

Hinzuweisen ist des Weiteren darauf, dass § 8 Abs. 2 PartGG nur durch Individualabrede und nicht durch AGB abbedungen werden kann, da er zu den wesentlichen Grund-gedanken des PartGG im Sinne von § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB gehört.14

Der Vollständigkeit halber ist noch auf § 8 Abs. 3 PartGG zu verweisen, der die Möglichkeit einer Höchstbetrags-haftung enthält sowie auf § 8 Abs. 4 PartGG, der die neue

7 BT-Drs. 12/6152, S. 17. 8 Schäfer (Fn. 3), § 8 Rn. 5. 9 Schäfer (Fn. 3), § 8 Rn. 15. 10 Henssler, in: Henssler/Prütting, Kommentar zur BRAO, 3. Aufl. 2010, § 8 PartGG Rn. 21. 11 Schäfer (Fn. 3), § 8 Rn. 21. 12 BT-Drs. 13/9820, S. 21. 13 BT-Drs. 13/9820, S. 21. 14 Schäfer (Fn. 3), § 8 Rn. 15.

Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung (PartmbB)15 regelt. II. Probleme Die im Folgenden dargestellt spezifischen Probleme der Partnerschaftsgesellschaft sind alle im Bereich der Haftung zu verorten. Zu beachten ist jedoch, dass durch die diversen Verweisungen in das HGB bekannte Probleme der OHG auch im Kontext der Partnerschaftsgesellschaft relevant werden können. 1. § 8 Abs. 2 BGB analog

Anwaltssozietäten sind alternativ zu Partnerschaftsgesell-schaft oftmals in der Rechtsform der GbR organisiert. Letzt-lich wird dabei in beiden Konstellationen dieselbe Tätigkeit ausgeübt, sodass sich die Frage stellt, ob die Handelnden-haftung des § 8 Abs. 2 PartGG analog auf die Rechtsanwalts-GbR anwendbar ist. Dies setzt eine vergleichbare Interessen-lage, sowie eine planwidrige Regelungslücke voraus.

Für eine vergleichbare Interessenlage könnte man anbrin-gen, dass nach § 1 Abs. 1 PartGG für Zusammenschlüsse von Freiberuflern nicht die OHG, sondern die Partnerschaftsge-sellschaft als typisiertes Regelungsmodell vorgesehen ist.16 Folglich enthalte das PartGG für derartige Zusammenschlüs-se verallgemeinerungsfähige Regeln. Auch erwarte der Rechtsverkehr rechtsformunabhängig keine persönliche Haf-tung aller Partner, sondern nur des Bearbeiters.17

Selbst wenn man dieser Argumentation folgt, so fehlt es jedoch an einer planwidrigen Regelungslücke. Das Haftungs-privileg des § 8 Abs. 2 PartGG soll gerade dazu dienen, die Rechtsform der Partnerschaftsgesellschaft im Vergleich zur GbR attraktiver zu machen18 und stellt somit eine rechtsform-spezifische Regelung dar.19 Insbesondere aber wird bei der Partnerschaft, im Gegenzug für das Haftungsprivileg des § 8 Abs. 2 PartGG, die Eintragung und damit die Publizität der Gesellschaftsverhältnisse verlangt (§§ 4 Abs. 1, 7 Abs. 1 PartGG).20 Dies ist bei der GbR nicht der Fall.

Eine analoge Anwendung des § 8 Abs. 2 PartGG auf die Rechtsanwalts-GbR ist mangels planwidriger Regelungslücke daher abzulehnen. 2. Anwendbares Haftungsregime

Soweit es um einen Schadensersatzanspruch wegen einer Berufspflichtverletzung geht und die Partnerschaftsgesell-schaft nicht direkt als solche gegründet wurde, sondern zuvor etwa als GbR firmierte, stellt sich die Frage, welches Haf-tungsregime anzuwenden ist bzw. auf welchen Zeitpunkt diesbezüglich abzustellen ist. Relevant wird diese Frage we-

15 Vgl. zur Vertiefung Grunewald, GWR 2013, 393; Römer-mann/Jähne, BB 2015, 579. 16 Henssler/Deckenbrock/Meyer, JuS 2010, 48. 17 Vgl. BT-Drs. 13/9820, S. 21. 18 Schäfer (Fn. 3), § 8 Rn. 14. 19 BGH NJW 2012, 2435; K. Schmidt, NJW 2005, 2801 (2805). 20 BGH NJW 2012, 2435 m.w.N.

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AUFSÄTZE Sebastian Ferner

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gen § 8 Abs. 2 PartGG immer dann, wenn der Vertrags-schluss mit der GbR erfolgte, die Berufspflichtverletzung jedoch erst nach der Umwandlung in eine Partnerschaftsge-sellschaft begangen wurde. Nur wenn man auf die Berufs-pflichtverletzung abstellt, kommt man zu einer Anwendbar-keit des § 8 Abs. 2 PartGG. Eine Antwort auf die aufgewor-fene Frage ist im Wege der Auslegung zu ermitteln. a) Wortlaut

Der Wortlaut des § 8 Abs. 1 PartGG ist hinsichtlich des maß-geblichen Zeitpunkts unergiebig. § 8 Abs. 2 PartGG hingegen stellt auf die Bearbeitung ab, was dafür spricht, diese als Anknüpfungspunkt der Haftung zu sehen. b) Systematisch

In systematischer Hinsicht ist zu berücksichtigen, dass das Haftungsregime einer Partnerschaft dem einer KG mit wech-selndem Kommanditisten entspricht.21 Bezüglich des maß-geblichen Zeitpunktes besteht daher eine vergleichbare Situa-tion zu § 160 Abs. 1, 3 HGB. Auf welchen Zeitpunkt für die Begründung eines Schadensersatzanspruchs bei Beratungs-fehlern eines Rechtsanwalts im Rahmen des § 160 HGB abzustellen ist, wird unterschiedlich beantwortet.

Teilweise wird vertreten, dass bereits der Vertragsschluss als Rechtsgrund für die Verbindlichkeit der maßgebliche Zeitpunkt sei.22 Andere hingegen wollen auf den Zeitpunkt der Verletzung der Beratungspflicht abstellen.23

Für die erstgenannte Auffassung streitet, dass ein Gläubi-ger auf die gesamtschuldnerische Haftung aller Sozien ver-trauen können muss. Nachdem er seine Angelegenheiten der Sozietät anvertraut hat, dürfen außerhalb seines Einflussbe-reichs liegende Ereignisse ihm keine Schuldner mehr entzie-hen können.24 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass für den Gläubiger die Möglichkeit besteht, der Sozietät das Mandat zu entziehen, sodass ihm insofern Einfluss zukommt.25 Dies gilt im Rahmen der Umwandlung in eine Partnerschaft umso mehr, als er durch den Namenswechsel und die Eintragung ins Partnerschaftsregister die Möglichkeit der Kenntnisnahme hat. Außerdem bleibt die Gesellschaft selbst weiterhin als Schuldnerin erhalten.

21 Leuering, NZG 2013, 1001 (1003). 22 OLG Saarbrücken, Urt. v. 30.4.2007 – 1 U 148/06; Wischemeyer/Honisch, NJW 2014, 881 (883); Sommer/ Treptow/Dietlmeier, NJW 2011, 1551 (1553); Borgmann/ Jungk/Grams, Anwaltshaftung, 5. Aufl. 2014, § 36 Rn. 17. 23 OLG Köln, Urt. v. 6.4.2011 – 11 U 107/10; LG Bonn NZG 2011, 143; Meixner/Schröder; DStR 2008, 527 (528); Hartung, in: Henssler/Prütting, Kommentar zur BRAO, § 59a Rn. 98; Zugehör/Rinkler, Handbuch der Anwaltshaftung, 3. Aufl. 2010, Rn. 410; Sieg, WM 2002, 1432 (1436); vgl. auch BGH, WM 1982, 743. 24 Wischemeyer/Honisch, NJW 2014, 881 (883); Sommer/ Treptow/Dietlmeier, NJW 2011, 1551 (1553). 25 In diese Richtung Zugehör/Rinkler (Fn. 23), Rn. 410; Sieg, WM 2002, 1432 (1436).

Weiterhin argumentieren diejenigen, die auf den Ver-tragsschluss abstellen, dass sich bereits zu diesem Zeitpunkt die vertragliche Verpflichtung derart konkretisiert hat, dass es keines Hinzutretens weiterer Umstände mehr bedarf, letztere mithin auch nicht maßgeblich sein könnten.26 Dabei wird jedoch verkannt, dass eine derartige Konkretisierung nur in den Fällen gegeben ist, in denen als Primärpflicht ein Erfolg geschuldet wird. Bei Nichterbringung orientieren sich Sekun-däransprüche etwa als Schadensersatz statt der Leistung dann an dem Erfolg, sind mithin bereits im Vertrag angelegt. Bei einem Mandatsvertrag handelt es sich jedoch um einen Ver-tragstyp bei dem kein Erfolg geschuldet wird, sodass die Sekundäransprüche sich erst mit der Pflichtverletzung kon-kretisieren, mithin noch nicht im Vertrag angelegt sind.27

Richtigerweise ist daher im Rahmen des § 160 Abs. 1, 3 HGB auf den Beratungsfehler abzustellen, sodass der ange-stellte systematische Vergleich dafür spricht, auch bei § 8 PartGG derart zu verfahren. c) Historisch

Historisch gesehen resultierte die Idee der Partnerschaftsge-sellschaft daraus, dass eine Lücke zwischen den Haftungsre-gimen der GbR einerseits und denen der Kapitalgesellschaf-ten andererseits bestand, welche geschlossen werden sollte.28 Auch wollte man dem Bedürfnis der Freiberufler nach einer Gesellschaftsform die eine Risikobegrenzung29 möglich macht, sowie Rechts- und Planungssicherheit30 bietet, gerecht werden. Beidem kann durch einen weiten Anwendungsbe-reich des Partnerschaftsgesellschaftsgesetzes am besten Rechnung getragen werden, was wiederum durch ein Abstel-len auf den Beratungsfehler realisiert werden kann.

Auch wurde auf eine besondere Übergangsregelung für solche Verträge verzichtet, die eine Partnerschaft vor dem Inkrafttreten des § 8 Abs. 2 PartGG n.F. am 1.8.1998 abge-schlossen hatte. Dies spricht dafür, Ansprüche aus nach die-sem Zeitpunkt eingetretenen Bearbeitungsfehlern der Neure-gelung zu unterstellen,31 was wiederum einen Anhaltspunkt dafür bietet, dass generell auf den Zeitpunkt des Beratungs-fehlers abgestellt werden soll.

Somit spricht die historische Auslegung für die Maßgeb-lichkeit des Beratungsfehlers. d) Teleologisch

Als teleologisches Argument lässt sich anführen, dass § 8 Abs. 2 PartGG Ansprüche wegen fehlerhafter Berufsaus-übung als selbständig behandelt, um eine Haftungsbeschrän-kung rechtssicher zu ermöglichen. Daher ist es überzeugen-

26 OLG Saarbrücken, Urt. v. 30.4.2007 – 1 U 148/06; Sommer/Treptow/Dietlmeier, NJW 2011, 1551 (1553); Voll-kommer/Gregor/Heinemann, Anwaltshaftungsrecht, 4. Aufl. 2014, § 22 Rn. 10e. 27 Meixner/Schröder, DStR 2008, 527 (528). 28 BT-Drs. 12/6152, S. 2. 29 BT-Drs. 12/6152, S. 2. 30 BT-Drs. 13/9820, S. 21. 31 Schäfer (Fn. 3), § 8 Rn. 16.

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Grundlagen und ausgewählte Probleme der Partnerschaftsgesellschaft ZIVILRECHT

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der, bei solchen Ansprüchen auch hinsichtlich des Zeitpunkts selbständig anzuknüpfen,32 mithin auf den Berufsausübungs-fehler abzustellen. e) Ergebnis

Die Auslegung ergibt daher, dass auf den Berufsausübungs-fehler abzustellen ist, sodass § 8 Abs. 2 PartGG anwendbar ist. 3. § 28 HGB analog

Ein weiterer Problemkreis im Rahmen der Partnerschaftsge-sellschaft ist, ob § 28 HGB analog bei der Gründung einer Partnerschaftsgesellschaft Anwendung findet. Eine direkte Anwendung scheitert daran, dass eine Partnerschaftsgesell-schaft nur den Angehörigen freier Berufe offen steht (§ 1 Abs. 1 S. 1 PartGG), sodass es an einem Eintritt in das Ge-schäft eines Einzelkaufmanns fehlt. Auch hier stellt sich somit die Frage nach einer planwidrigen Regelungslücke und einer vergleichbaren Interessenlage. a) Planwidrige Regelungslücke

Hinsichtlich der Regelungslücke ist festzustellen, dass es im PartGG keine eigenständige Regelung gibt, die mit § 28 Abs. 1 S. 1 HGB vergleichbar ist. Auch verweist § 2 Abs. 2 HGB nicht auf § 28 Abs. 1 S. 1 HGB, sodass eine Regelungs-lücke vorliegt.

Problematisch ist jedoch deren Planwidrigkeit. Gegen diese könnte sprechen, dass § 2 Abs. 2 PartGG nicht auf § 28 Abs. 1 S. 1 HGB verweist, worin eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers zu sehen sein könnte.33 Jedoch befasst sich § 2 Abs. 2 PartGG nur mit dem Namen der Partnerschaft, sodass konsequenterweise nur firmen- und registerrechtliche Vorschriften in Bezug genommen werden.34 Eine solche ist § 28 Abs. 1 S. 1 HGB jedoch nicht,35 sodass es konsequen-terweise auch an einem Verweis fehlt. Insofern kann daher von einer Planwidrigkeit der Regelungslücke ausgegangen werden. b) Vergleichbare Interessenlage

Problematisch ist allerdings die Vergleichbarkeit der Interes-senlage. Für sie streitet, dass die Partnerschaftsgesellschaft durch die zahlreichen Verweise des PartGG auf das Recht OHG dieser weitgehend angenähert ist36 und darüber hinaus § 128 S. 1 HGB als Regelungsvorbild für § 8 Abs. 1 S. 1 PartGG diente.37 Hierbei kann es sich jedoch lediglich um Anhaltspunkte handeln, da letztlich die ratio legis bzw. dog-matische Einordnung von § 28 Abs. 1 S. 1 HGB maßgeblich sein muss.

32 Schäfer (Fn. 3), § 8 Rn. 16. 33 Hirtz (Fn. 2), § 8 Rn. 11. 34 Ulmer/Habersack, in: Festschrift für Hans Erich Brandner, 1996, S. 151 (165 f.). 35 BGH NJW 1966, 1917. 36 Ulmer/Habersack (Fn. 34), S. 166. 37 Ulmer/Schäfer, Gesellschaft bürgerlichen Rechts und Part-nerschaftsgesellschaft, 5. Aufl. 2009, § 8 Rn. 5.

Abstellen könnte man insofern auf die Vermeidung der haftungs- und vollstreckungsrechtlichen Benachteiligung der Altgläubiger, die ohne § 28 Abs. 1 S. 1 BGB aus der Ein-bringung des Unternehmens in eine Personengesellschaft entstehen würde38. Derartige Probleme entstehen dabei unab-hängig von der Gesellschaftsform, was wiederum für eine Analogie spricht. Bei einem derartigen Verständnis würde man jedoch verkennen, dass die Vermeidung vollstreckungs-rechtlicher Probleme lediglich eine Wirkung von § 28 Abs. 1 S. 1 HGB sein kann, nicht jedoch der Zweck, schließlich ist die Norm gem. § 28 Abs. 2 HGB dispositiv.39

§ 28 Abs. 1 S. 1 HGB könnte jedoch auch als Ausdruck des Gedankens der Unternehmenskontinuität zu verstehen sein, aus der letztlich dann auch eine Haftungskontinuität resultiert.40 Ein derartiges Verständnis würde jedoch hier die Besonderheiten des Mandatsverhältnisses unbeachtet lassen. Dieses ist durch ein besonderes Vertrauensverhältnis zwi-schen Mandant und Anwalt geprägt und daher von persönli-cher Art.41 Das auch der Gesetzgeber von einem besonderen Vertrauensverhältnis ausgeht, zeigt sich unter anderem an der in § 2 BORA geregelten Verschwiegenheit des Anwalts. Folglich greift der Gedanke einer an der Kontinuität des Unternehmens anknüpfenden Haftungserwartung, welche eine Haftungserstreckung rechtfertigt, hier nicht.42

Aus dem Gesetzeszweck des § 28 Abs. 1 S. 1 HGB lässt sich somit keine vergleichbare Interessenlage ableiten. Der Gesetzeszweck erscheint vielmehr fragwürdig43, sodass § 28 Abs. 1 S. 1 HGB grundsätzlich eng auszulegen ist.44 Letztlich muss daher der Wortlaut maßgeblich sein.45

Eine analoge Anwendung ist daher zu verneinen.46 4. Haftung für vor Eintritt begangene Berufsfehler gem. § 8 Abs. 1 S. 2 PartGG i.V.m. § 130 HGB

Weiterhin stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzun-gen ein neu eingetretener Partner gem. § 8 Abs. 1 S. 2 PartGG i.V.m. § 130 HGB haftet. Diesbezüglich wird vertre-ten, dass es ausreichend ist, wenn er nach seinem Beitritt an dem fehlerbehafteten Auftrag mitgewirkt hat.47 Andere hin-gegen fordern, dass der zum Schadensersatz führende Fehler während der Mitwirkung des neu eingetretenen Partner be-gangen sein worden muss.48

Die erstgenannte Ansicht beruft sich insoweit auf den Wortlaut, welcher keine Anhaltspunkte dafür enthalte, dass

38 Canaris, Handelsrecht, 24. Aufl. 2006, § 7 Rn. 83. 39 Burgard, in: Staub, Großkommentar zum HGB, 5. Aufl. 2009, § 28 Rn. 11. 40 Schmidt, Handelsrecht, 6. Aufl. 2014, § 8 II Rn. 93. 41 BGH NJW 2004, 836. 42 BGH NJW 2004, 836. 43 Canaris (Fn. 38), § 7 Rn. 115. 44 BGH NJW 2010, 3720 (3721). 45 Canaris (Fn. 38), § 7 Rn. 17. 46 Mahnke, WM 1996, 1029 (1033); Vossebürger, in: Feuerich/ Weyland, Kommentar zur BRAO, 8. Aufl. 2012, § 8 PartGG Rn. 8. 47 BGH NJW 2010, 1360. 48 Schäfer (Fn. 3), § 8 Rn. 32.

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AUFSÄTZE Sebastian Ferner

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ZJS 6/2016 680

der Berufsfehler während der Mitwirkung des neu Eingetre-tenen passiert sein müsse.49 Auch werden systematische Gründe gegen ein derartiges Verständnis angeführt. Schließ-lich habe der Gesetzgeber den Verweis auf § 130 HGB in § 8 Abs. 1 PartGG geregelt, welcher die Haftung zunächst unab-hängig von einem Berufsfehler festschreibt. Hätte die Mit-wirkung an letzterem Voraussetzung für eine Haftung sein sollen, so wäre der Verweis dieser Ansicht nach erst in § 8 Abs. 2 PartGG geregelt worden.50

Dem ist jedoch zu entgegnen, dass der Standort des Ver-weises wohl eher damit zu erklären ist, dass zunächst das Haftungsregime der OHG (§§ 128 ff. HGB), welches als Regelungsvorbild diente, entsprechend der dortigen numme-rischen Abfolge in § 8 Abs. 1 PartGG abgebildet wurde, bevor dann in § 8 Abs. 2 PartGG als Besonderheit der Part-nerschaftsgesellschaft die Haftung für Berufsfehler kodifi-ziert wurde. Des Weiteren ist § 8 Abs. 2 PartGG, wie bereits dargelegt, aus systematischen und teleologischen Gesichts-punkten als haftungsbegründende Norm einzustufen, deren Voraussetzung gerade ein Berufsfehler des Partners ist.51 Ferner würde eine Haftung ohne Mitwirkung des neu Einge-tretenen an dem Berufsfehler impraktikable Folge nach sich ziehen. So müsste der neu eingetretene Anwalt vor Befassung mit Altmandaten, diese erst auf potentielle Haftungsrisiken untersuchen und unter Umständen die Bearbeitung im Ergeb-nis verweigern. Dies würde zum einem die praktische Arbeit der betreffenden Kanzlei stark behindern und widerspricht zum anderen dem Telos des § 8 Abs. 2 PartGG Rechtssicher-heit zu schaffen.

49 BGH NJW 2010, 1360 (1361). 50 BGH NJW 2010, 1360 (1361). 51 Schäfer (Fn. 3), § 8 Rn. 32.

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Der Lizenznehmer in der Insolvenz des Lizenzgebers - eine unendliche Geschichte? Von Ref. iur. Nick Marquardt , Halle/Saale* Iphone, ipad oder die neue Applewatch, viele kennen die Produkte des Technologiegiganten Apple. Manche campieren tagelang vor Applestores, um die allerneusten Produkte zu ergattern. Der angebissene Apfel hat längst weltweiten Kult-status. Allein die Marke „Apple“ hat einen geschätzten Wert von 246,99 Milliarden US-Dollar.1 Ein Recht, das Logo oder den Namen zu verwenden, ist enorm wertvoll. Gleiches gilt für die vielen anderen gewerblichen Schutzrechte wie bei-spielsweise Patente, Urheberrechte oder Gebrauchsmuster. Nutzungsrechte daran können dem Vertragspartner mithilfe von Lizenzverträgen eingeräumt werden. Fast jeder hat schon mal eine Lizenzvereinbarung bei der Softwareinstalla-tion akzeptiert. Lizenzverträge werden aber nicht nur zwi-schen Verbrauchern und Unternehmern geschlossen, sondern in größerem Umfang zwischen Unternehmern. Mitunter müs-sen diese hohe Kosten in Kauf nehmen, um ihr Nutzungsrecht gewinnbringend einzusetzen. Man denke beispielsweise an einen Textilhändler, der allein auf den Verkauf von Apple T-Shirts spezialisiert ist oder an Pharmaunternehmen, die viel Geld in die Zulassung eines Medikamentes stecken müssen. Deren Investitionen lohnen nur, solange sie das Schutzrecht nutzen dürfen. Riskanter wird ihre Rechtsstellung in der Insolvenz des Lizenzgebers. Die teilweise komplexen Proble-me sind seit der Einführung der neuen Insolvenzordnung im Jahre 1999 Kern zahlreicher Diskussionen gewesen und bis heute kaum befriedigend gelöst. I. Einführung - Lizenzverträge in der Systematik des Schuldrechts Bevor man sich den Problemen von Lizenzverträgen im In-solvenzverfahren nähern kann, muss deren Rechtsnatur au-ßerhalb eines Insolvenzverfahrens geklärt sein.

Umstritten ist schon, welchem Typenvertrag Lizenzver-träge zuzuordnen sind. Die h.M. sieht den Lizenzvertrag als einen Vertrag sui generis, weil er sich keinem gesetzlichen Vertragstypus zuordnen lässt und nur bruchstückhaft geregelt ist.2 Inhaltlich ist mit dieser Bezeichnung nichts gewonnen, denn letztlich kommt es allein auf die Ausgestaltung des Lizenzvertrages an. Meist kann man darin miet-, pacht-, kauf- oder gesellschaftsvertragliche Elemente wiederfinden. Der Begriff Lizenzvertrag ist eher ein Oberbegriff für eine Reihe unterschiedlich ausgestalteter, atypischer oder typengemisch-ter Verträge, denen die Einräumung eines Lizenzrechts ge-

* Der Autor ist Rechtsreferendar im OLG Bezirk Naumburg. Der Beitrag ist im Rahmen des Schwerpunktstudiums an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg entstanden. 1 Millward Brown Most Valuable Global Brands 2015, abrufbar im Internet unter http://www.millwardbrown.com/BrandZ/2015/Global/2015_BrandZ_Top100_Report.pdf (1.11.2016). 2 BGHZ 2, 331 (335); 26, 7 (9); Ingerl/Rohnke, in: Ingerl/ Rohnke, Kommentar zum MarkG, 3. Aufl. 2010, § 30 Rn. 52; Engels, Patent-, Marken- und Urheberrecht, 9. Aufl. 2015, Rn. 1499.

meinsam ist.3 Der Lizenzvertrag muss dann anhand des all-gemeinen Schuldrechts beurteilt werden. Ähnlichkeiten zu gesetzlichen Typenverträgen muss mit der Anwendung der entsprechenden Vorschriften Rechnung getragen werden. Häufig werden Lizenzverträge der Rechtspacht gem. § 581 BGB ähneln, soweit keine abweichenden Gestaltungen ge-wählt wurden; infolgedessen sind sie meist Dauerschuldver-hältnisse.4 II. Die Rechtsnatur von Lizenzrechten Nachdem nun die Struktur eines Lizenzvertrages bekannt ist, muss geklärt werden, welchen Charakter die jeweiligen Nut-zungsrechte haben. Das ist die Grundlage einer insolvenz-rechtlichen Betrachtung. Umstritten ist nämlich, ob Lizenz-rechte dinglichen oder schuldrechtlichen Charakter haben. Dabei muss zwischen zwei Lizenzrechten unterschieden werden. 1. Ausschließliche Lizenzrechte

Ausschließliche Lizenzrechte gewähren dem Lizenznehmer ein umfassendes und autonomes Nutzungsrecht an dem Schutzrecht. Anderen, auch dem Schutzrechtsinhaber gegen-über, hat der Lizenznehmer ein Verbotsrecht.

Eine Auffassung sieht in ausschließlichen Lizenzen schuldrechtliche Nutzungsrechte.5 Das Schutzrecht beleibt formal beim Lizenzgeber und dieser gestattet nur vertraglich die Ausübung des Rechtes.6

Dagegen spricht aber die Tatsache, dass das „vollkom-menste dingliche Recht“,7 das Eigentum, geprägt ist von einem umfassenden Nutzungs- und Verwertungsrecht sowie der Ausschluss- und Zuweisungsfunktion. Nur das Eigentum gem. § 903 S. 1 BGB kann den Begriff „dinglich“ konkreti-sieren. Eine allgemeine Definition der „Dinglichkeit“ gibt es nicht. Es handelt sich um einen Rechtsfolgenbegriff.8 Alle potentiell dinglichen Rechte müssen bei einer Gesamtschau der Wirkungen in die Nähe des Eigentums rücken. Die ein-zelnen Schutzrechte gewähren ebenfalls absolute, subjektive Rechte mit umfassenden Verwertungs- und Nutzungsrech-

3 Vgl. zur Terminologie „typengemischt - aypisch“ Emmerich, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2017, § 311 Rn. 24. 4 BGH NJW-RR 1991, 1266 (1267); Osterrieth, Patentrecht, 5. Aufl. 2015, Rn. 689 ff. 5 Sosnitza, in: Perspektiven des Geistigen Eigentums und des Wettbewerbsrechts – Festschrift für Gerhard Schricker zum 70. Geburtstag, 2005, S. 183 (191); vgl. Hacker, in: Ströbele/ Hacker, Kommentar zum MarkG, 10. Aufl. 2012, § 30 Rn. 25. 6Vgl. Sosnitza (Fn. 5), S. 191. 7 Baur/Stürner, in: Baur/Stürner, Kommentar zum Sachen-recht, 18. Aufl. 2009, § 3 Rn. 23. 8 Berger, Insolvenzschutz für Markenlizenzen, 2006, S. 5.

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AUFSÄTZE Nick Marquardt

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ten.9 Sie sind zwar als Immaterialgüterrechte keine Sachen und daher nicht per definitionem Gegenstand dinglicher Rechte. Dennoch sind sie mit dem Sacheigentum vergleich-bar, weil sie die gleichen Wirkungen erzeugen.10 Wird nun der Hauptbestandteil des Immaterialgüterrechts auf einen Lizenznehmer abgespalten, hat dieser die Rechtsnatur des Stammrechts. Dieses wirkt dinglich, sodass für ein aus-schließliches Nutzungsrecht nichts anderes gelten kann. Li-zenzgebern verbleibt nur die formale Hülle des Rechtes.11 Es ist daher gerechtfertigt, der ausschließlichen Lizenz dingliche Wirkung zu attestieren. 2. Einfache Lizenzrechte

Bei der einfachen Lizenz gestattet der Lizenzgeber dem Li-zenznehmer nur die Benutzung des Schutzrechtes. Der Li-zenzgeber kann aber weitere Lizenzen vergeben und sie selbst nutzen. Der Lizenznehmer hat kein eigenes Verbots-recht gegenüber Dritten.12

Bezüglich der Frage nach der Rechtsnatur der einfachen Lizenz, misst eine Auffassung dieser dinglichen Charakter bei.13 Begründet wird das mit der Wirkung der einfachen Lizenz, denn diese gewährt nicht nur im Verhältnis zum Vertragspartner ein Nutzungsrecht, sondern auch gegenüber jedermann.14 Ein weiterer Erwerber einer Lizenz kann die Nutzung durch den ersten Lizenznehmer nicht untersagen. Nicht einmal der gutgläubige Erwerb eines Dritten lässt die einfache Lizenz entfallen.15 Ferner werden die jeweiligen Sukzessionsschutzvorschriften (§ 15 Abs. 3 PatG, § 30 Abs. 5 MarkG, § 22 Abs. 3 GebrMG) zur Begründung heran-gezogen, wonach eine spätere Lizenzerteilung an demselben Schutzrecht nicht die Rechte des ersten Lizenznehmers be-rührt.16

Trotzdem kann dieser Konzeption nicht gefolgt werden, weil bei der Einräumung einer einfachen Lizenz nicht die absolute Herrschaftsbefugnis an dem Schutzrecht abgegeben wird. Der Lizenzgeber verpflichtete sich nur vertraglich einen Anteil am Nutzungsrecht zu gewähren. Im Kontrast dazu wird bei der ausschließlichen Lizenz inhaltlich die gesamte Herrschaftsbefugnis abgegeben. Dass bei der einfachen Li-zenz eine Privilegierung des Vertragspartners auch gegenüber Dritten entsteht, hat seinen Grund in der Relativität der Schuldverhältnisse, taugt aber nicht zur Begründung einer dinglichen Wirkung. Vertragspartner räumen einander meist

9 Engels (Fn. 2), Rn. 13; Kraßer, Patentrecht, 6. Aufl. 2009, § 2 I. 10 Berger (Fn. 8), S. 12; Bacher/Mellulis, in: Benkard, Kom-mentar zum Patentgesetz, 10. Aufl. 2006, § 1 PatG Rn. 2c. 11 H.M. RGZ 57, 38 (40 f.); BGH GRUR 2005, 48 (50); Wimmer, ZIP 2012, 545 (549); Ganter, NZI 2011, 833 (834). 12 Zum ganzen Schricker, Kommentar zum Verlagsrecht, 3. Aufl. 2001, § 28 Rn. 23 ff.; Engels (Fn. 2), Rn. 1502. 13 BGH GRUR 2009, 946 Rn. 20; v. Frentz/Masch, ZIP 2012, 1245 (1246 f.). 14 v. Frentz/Masch, ZIP 2012, 1245 (1246 f.). 15 v. Frentz/Masch, ZIP 2012, 1245 (1246 f.). 16 v. Frentz/Masch, ZIP 2011, 1245 (1247); BGHZ 180, 344 (345 f.).

Rechte und Pflichten ein, von denen Dritte ausgeschlossen sind. Knüpft man zur Bestimmung der Dinglichkeit wieder an § 903 S. 1 BGB an, fehlt es der einfachen Nutzungsbefug-nis gerade an der typischen Ausschluss- und Zuweisungs-funktion. Dem Lizenzgeber bleibt mehr als die bloße Hülle des Schutzrechtes. Die Nutzung ist ihm noch immer primär zugewiesen. Will man einen vorsichtigen Vergleich anstellen, so ist die ausschließliche Lizenz eher mit dem Eigentum vergleichbar, wohingegen die einfache Lizenz dem Besitz näher steht.17

Nichts anderes ergibt sich aus dem Sukzessionsschutz in § 15 Abs. 3 PatG, § 30 Abs. 5 MarkenG § 22 Abs. 3 GebrMG, denn dadurch erhalten die Nutzungsrechte keine dingliche Wirkung, sondern nur der Bestand des vertragli-chen Nutzungsrechtes wird geschützt.18 Hätten diese ex se dingliche Wirkung, wären die Vorschriften des Sukzessions-schutzes überflüssig.19 Einer gesonderten Anordnung hätte es nicht bedurft. Die undogmatische Formulierung in den jewei-ligen Gesetzen: „Die Rechtsübertragung berührt nicht Lizen-zen, die Dritten vorher erteilt worden sind“, lässt nicht auf eine dingliche Wirkung schließen. Die Regelung dehnt nur die Wirkung des Vertragsverhältnisses auf zukünftige Erwer-ber aus.

Auch eine strukturelle Ähnlichkeit des Sukzessionsschutz mit § 566 BGB spricht nicht für eine dingliche Wirkung.20 § 566 BGB vermittelt keine „Dinglichkeit“, weil der Schutz des Mieters nur Folge einer allgemeinen Wertung ist. Danach verdient ein besitzloser Erwerber weniger umfassenden Schutz als ein Erwerber mit unmittelbarem Besitz.21 Zudem wird der Schutz des Mieters durch einen Vertragsübergang erreicht und nicht durch ein dingliches Recht.22 Folglich lässt sich aus § 566 BGB ebenfalls kein Argument dafür entneh-men, dass Sukzessionsschutzvorschriften dingliche Wirkung vermitteln. Somit hat die einfache Lizenz keine dingliche Wirkung, sondern ist ein schuldrechtliches Nutzungsrecht.23 III. Auswirkungen einer Insolvenz des Lizenzgebers 1. Das Lizenzrecht als Aussonderungsrecht

Um herauszufinden, wie sich die Insolvenz auf die Lizenz-rechte auswirkt, muss vorrangig im Wege der Massebereini-gung geklärt werden, ob an Lizenzrechten gem. § 47 InsO ein Aussonderungsrecht zugunsten des Lizenznehmers besteht. Existiert ein solches, kommt es auf eine mögliche Nichterfül-lungswahl des Insolvenzverwalters gem. § 103 Abs. 2 InsO

17 So schon Schramm, Grundlagenforschung auf dem Gebiet des gewerblichen Rechtsschutzes und Urheberrechtes, 1954, S. 85. 18 Ganter, NZI 2011, 833 (835). 19 Ganter, NZI 2011, 833 (835). 20 v. Frentz/Masch, ZIP 2011, 1245 (1247); Vgl. Berger (Fn. 8), S. 6. 21 H.M. Haüblein, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 566 Rn. 2 ff.; Vgl. Canaris, in: Festschrift für Werner Flume zum 70. Geburtstag, 1978, S. 371 (373). 22 Vgl. Canaris (Fn. 21), S. 393 f. 23 Vgl. BGHZ 83, 251; Bausch, NZI 2005, 293 (295).

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Der Lizenznehmer in der Insolvenz des Lizenzgebers - eine unendliche Geschichte? ZIVILRECHT

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nicht mehr an. Aussonderungsrechte können sowohl durch dingliche Rechte, als auch durch schuldrechtliche Ansprüche begründet werden.24 Sie gehören nicht zur Insolvenzmasse und ihre Separierung erfolgt gem. § 47 Abs. 2 InsO nach allgemeinen Vorschriften. a) Ausschließliche Lizenzrechte

Wie bereits oben diskutiert sind ausschließliche Lizenzrechte dinglicher Natur.25 Daraus allein lässt sich noch kein Aus-sonderungsrecht ableiten, weil beispielsweise auch das Siche-rungseigentum, ein dingliches Recht, nur gem. § 51 Abs. 1 Nr. 1 InsO zur abgesonderten Befriedigung berechtigt. Eine Differenzierung zwischen Aussonderung, Absonderung und Insolvenzforderung deckt sich nicht zwangsläufig mit den zivilrechtlichen Typen dinglicher Vollrechte, beschränkt dinglicher Rechte und persönlicher Ansprüche.26 Allein die zivilrechtliche Einordnung in eine der genannten Gruppen reicht zur Qualifizierung als Aus- oder Absonderungsrecht im Insolvenzverfahren nicht aus. Entscheidend sind die haf-tungsrechtliche Zuordnung und die wirtschaftliche Funkti-on.27 Trotzdem wird die zivilrechtliche Einordnung als ding-lich wirkendes Recht keineswegs überflüssig; ihr kommt zumindest Indizwirkung für die haftungsrechtliche Zuord-nung zu.28 Demzufolge liegt es nahe, dass ausschließliche Lizenzen ein Aussonderungsrecht begründen.

Die haftungsrechtliche Betrachtung sowie die wirtschaft-liche Funktion bestätigen diese Vermutung. Das ausschließli-che Lizenzrecht ist eine verselbstständigte Vermögensabspal-tung des Vollrechts.29 Sie ist dem Vermögen des Lizenzneh-mers bereits vor der Insolvenz vollständig zugeordnet und dem des Lizenzgebers vollständig entzogen. Ihre Funktion ist es alle anderen, auch den Lizenzgeber selbst, von der Nut-zung auszuschließen. Ihr kommt dabei auch keine bloße Kreditsicherungsfunktion zu, wie sie den Absonderungsrech-ten eigen ist. Bei wirtschaftlicher Betrachtung stellt man fest, dass der Lizenznehmer allein den Wert des Schutzrechtes in seinem Vermögen hat. Der Lizenzgeber hat nur die leere Hülle des Rechts.30 Wieso die Eröffnung des Insolvenzver-fahrens diese Zuordnung vollständig umkehren soll, ist nicht erklärbar. Die Masse würde ohne Rechtsgrund gesteigert. Die Gläubiger bekämen einen Vermögenswert, der nach Ab-schluss des Lizenzvertrages aus dem Vermögen des Lizenz-gebers ausgeschieden war. Sie erhalten mehr, als der Lizenz-geber hatte. Eine solche Umverteilung soll die Insolvenz

24 Reischl, Insolvenzrecht, 3. Aufl. 2014, § 6 Rn. 281; Ganter, in: Münchener Kommentar zur InsO, 3. Aufl. 2013, § 47 Rn. 340. 25 Vgl. B. I. 26 Häsemeyer, Insolvenzrecht, 4. Aufl. 2007, Rn. 11.04 f. 27 Reischl (Fn. 24), § 6 Rn. 288; Häsemeyer (Fn. 26), Rn. 11.04 f. 28 BGHZ 155, 227 (233); Vgl. Becker, Insolvenzrecht, 3. Aufl. 2010, § 22 Rn. 970; umfassender Hirte/Knof, JZ 2011, 889 (895). 29 Vgl. Baur/Stürner (Fn. 7), § 60 Rn. 2 f. 30 Wimmer, ZIP 2012, 545 (549).

nicht bewirken.31 Demzufolge kann der ausschließliche Li-zenznehmer die Aussonderung beanspruchen. b) Einfache Lizenzrechte

Größere Schwierigkeiten treten bei der einfachen Lizenz auf. Auch hier wird dafür plädiert, dass einfache Lizenzen ein Aussonderungsrecht gewähren.32 Begründet wird das mit der dinglichen Wirkung der einfachen Lizenz. Dass die einfache Lizenz nur schuldrechtlicher Natur ist, wurde bereits zuvor ausgeführt.33 Erst recht verfehlt ist es die dingliche Wirkung mit einem besonderen Schutzbedürfnis in der Insolvenz zu begründen.34 Damit setzt man bereits voraus, was gerade noch zu beweisen wäre. Die Dinglichkeit ist ja ein Argument für die Schutzbedürftigkeit in der Insolvenz; nicht umgekehrt. Dieser (falschen) Logik folgend sind alle Rechte dinglicher Natur, wenn in der Insolvenz ein Schutzbedürfnis besteht. Das ist zweifelhaft, weil man logisch nicht zwingend vom speziellen Insolvenzrecht auf das allgemeine Zivilrecht indu-zieren kann.35

Unabhängig davon begründet allein der dingliche Charak-ter der Lizenz kein Aussonderungsrecht. Also selbst wenn man der einfachen Lizenz dingliche Wirkung zusprechen wollte, käme es noch auf die wirtschaftliche Funktion und die haftungsrechtliche Zuordnung an.

Das ausschließliche Nutzungsrecht des Lizenzgebers geht bei der einfachen Lizenz nicht auf den Lizenznehmer über. Der Lizenzgeber kann eine Vielzahl weitere Lizenzen an demselben Schutzrecht vergeben, ohne dass der erste Lizenz-nehmer dies verhindern kann. Der wirtschaftliche Kern des Schutzrechtes verbleibt also beim Lizenzgeber. Es ist zwar zutreffend, dass auch der einfache Lizenznehmer sein Nut-zungsrecht gegenüber Dritten nicht mehr verlieren kann.36 Diese Wirkung folgt aber aus der Relativität aller Schuldver-hältnisse. Vertragliche Nutzungsrechte wirken inter partes, zugleich schließen sie regelmäßig Dritte von der Vertrags-wirkung aus.

Es wird noch darauf hingewiesen, dass die Ablehnung ei-nes Aussonderungsrechtes nicht nur mit der fehlenden Aus-schließlichkeitsgewähr zu begründen ist, weil Miteigentum ja auch aussonderungsfähig sei.37 Der Vergleich mit dem Mitei-gentum ist aber schon deshalb wenig aussagekräftig, weil jeder Miteigentümer gem. § 1011 BGB im Außenverhältnis wie ein Alleineigentümer behandelt wird und gegenüber Dritten die Aussonderung verlangen kann.38 Miteigentum hat

31 Hirte/Knof, JZ 2011, 889 (897). 32 v. Frentz/Masch, ZIP 2011, 1245 (1249); Wallner, NZI 2002, 70 (79). 33 Vgl. B. II. 34 Wallner, NZI 2002, 70 (79). 35 Vgl. zur Induktion Joerden, Logik im Recht, 2010, S. 341 f. 36 v. Frentz/Masch, ZIP 2011, 1245 (1249). 37 Ganter, NZI 2011, 833 (834). 38 Brinkmann, in: Uhlenbruck, Kommentar zur InsO, 14. Aufl. 2015, § 47 Rn. 12; Fritzsche, in: Beck̓scher Onli-ne-Kommentar zum BGB, Ed. 40, Stand: 1.8.2016, § 1011 Rn. 1.

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also nur im Innenverhältnis keine Ausschließlichkeitsfunkti-on. Trotzdem existiert sie gegenüber Dritten. Bei der einfa-chen Lizenz besteht keine Möglichkeit für den Lizenzneh-mer, Dritte von der Nutzung auszuschließen. Das obliegt allein dem Lizenzgeber. Demnach trägt die fehlende Aus-schließlichkeit durchaus gegen die Anerkennung eines Aus-sonderungsrechtes.

Letztlich sprechen noch die verschiedenen Entwürfe zur Einführung eines § 108a InsO gegen ein Aussonderungs-recht.39 Wenn der Gesetzgeber davon ausgegangen ist, dass einfache Lizenzrechte ein Aussonderungsrecht begründen, dann wären Reformüberlegungen zur insolvenzfesten Ausge-staltung von einfachen Lizenzen ohnehin überflüssig. Davon ging weder der Referentenentwurf noch der Regierungsent-wurf aus.40 Deshalb fanden sich in beiden Vorschlägen aus den Jahren 2007 und 2012 Regelungen zur insolvenzfesten Ausgestaltung.41 Der Gesetzgeber selbst hält die einfache Lizenz also nicht für aussonderbar. Somit gewährt die einfa-che Lizenz kein Aussonderungsrecht. Ihr Fortbestand hängt vom Wahlrecht des Insolvenzverwalters aus § 103 InsO ab. 2. Das Wahlrecht des Insolvenzverwalters gem. § 103 InsO

Kann der Lizenznehmer kein Aussonderungsrecht für sich beanspruchen, so hängt das Schicksal der einfachen Lizenz allein vom Wahlrecht des Insolvenzverwalters aus § 103 InsO ab. a) Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 InsO

Lizenzverträge sind Dauerschuldverhältnisse und gegenseiti-ge Verträge im Sinne von § 103 Abs. 1 InsO.42 Weiterhin setzt § 103 Abs. 1 InsO voraus, dass der Vertrag nicht oder nicht vollständig erfüllt wurde. Teilweise wird angenommen, dass der Lizenzvertrag bereits mit der Einräumung des Nut-zungsrechtes vollständig erfüllt sei.43 Dann unterfiele der Lizenzvertrag nicht dem Wahlrecht des Insolvenzverwalters. Diese Auffassung mag zutreffen, wenn im Lizenzvertrag vor-rangig kaufvertragliche Elemente überwiegen und tatsächlich eine Übertragung des Schutzrechtes stattfinden sollte. Sie ist aber nicht generell auf einfache Lizenzen übertragbar.

Die Leistung muss zur vollständigen Erfüllung gem. § 362 ff. BGB bewirkt sein.44 Bewirkt ist eine Leistung, wenn der Leistungserfolg eingetreten ist.45 Bei Dauerschuldver-hältnissen erlischt die zu erbringende Gesamtleistung nach

39 De Vries, ZUM 2007, 898 (900); Berger, GRUR 2013, 321 f. 40 De Vries, ZUM 2007, 898 (900); Berger, GRUR 2013, 321 f. 41 De Vries, ZUM 2007, 898 (900); Berger, GRUR 2013, 321 f. 42 BGH NZI 2006, 229 (230 m.w.N.). 43 OLG München GRUR 2013, 1125 (1132). 44 Flöther/Wehner, in: Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, Fach-anwaltskommentar zum Insolenzrecht, 1. Aufl. 2012, § 103 Rn. 16. 45 BGH NJW 2009, 1085 (1086); Grüneberg, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 74. Aufl. 2015, § 362 Rn. 2.

und nach durch Teilerfüllung.46 Lizenzen sind in der Regel gerade nicht endgültige Übertragungen, sondern nur zeitlich begrenzte Nutzungsrechte.47 Solange noch Teilleistungen zu erbringen sind, ist daher eine vollständige Erfüllung ausge-schlossen.

Außerdem passt es nicht in das Regelungssystem der In-solvenzordnung, wenn man bei Dauerschuldverhältnissen eine vollständige Erfüllung bereits mit der Einräumung des Nutzungsrechtes annimmt. § 108 InsO wäre als Ausnahme überflüssig, weil der Vermieter mit Einräumung der Miet-sache bereits vollständig erfüllt hätte.48 Warum sollte das Gesetz das Fortbestehen des Mietverhältnisses besonders anordnen, wenn es doch ohnehin nicht vom Wahlrecht erfasst wird? § 108 InsO wäre dann ohne Anwendungsbereich. Auch ein Blick auf die verbleibenden Pflichten des Lizenzgebers zeigt, dass von einer vollständigen Erfüllung keine Rede sein kann. Der Lizenzgeber bleibt zur Verteidigung und Erhaltung des Schutzrechtes verpflichtet.49 Woraus sich diese Pflichten ergeben sollen, wenn der Vertrag schon vollständig erfüllt ist, scheint schwer erklärbar. b) Der Insolvenzverwalter wählt Erfüllung gem. § 103 Abs. 1 InsO

Wählt der Insolvenzverwalter die Erfüllung des Lizenzver-trages ergeben sich keine rechtlichen Schwierigkeiten. Er kann die einfache Lizenz weiterhin nutzen, muss aber die Lizenzgebühr an die Masse zahlen. Der Insolvenzverwalter muss seine Pflichten, wie beispielsweise die Erhaltung und Verteidigung des Schutzrechtes,50 gem. § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO aus der Masse erfüllen. c) Die Nichterfüllungswahl gem. § 103 Abs. 2 InsO

Die Nichterfüllungswahl birgt hohe Risiken für den Lizenz-nehmer. Die jeweiligen Ansprüche sind für die Dauer des Insolvenzverfahrens nicht durchsetzbar.51 Der Lizenznehmer ist auf die Anmeldung seiner Forderung gem. §§ 174, 38 InsO zur Tabelle verwiesen.52 Mit der Anmeldung wandelt sich die ursprüngliche Forderung in eine „Forderung wegen Nichterfüllung“ im Sinne von § 103 Abs. 2 S. 2 InsO.53 Diese wird dann quotal in Höhe seines Erfüllungsinteresses befrie-digt. Für den Lizenznehmer kann das den finanziellen Ruin zur Folge haben, denn er erhält eine meist wertlose Insol-

46 Fezer, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2016, § 362 Rn. 27. 47 McGuire, GRUR 2013, 1125 (1133); vgl. A. II. 48 Berger, GRUR 2013, 321 (325). 49 Vgl. umfassend zu den Pflichten McGuire, Die Lizenz, 2012, S. 713; Groß, Der Lizenzvertrag, 9. Aufl. 2007, S. 117 ff. 50 Vgl. McGuire (Fn. 49), S. 713; Groß (Fn. 49), S. 117 ff. 51 Seit BGH NZI 2002, 375 (376); BGH NZI 2006, 229 (231); vgl. „Erlöschenstheorie“ BGH NJW 1977, 1345 f. 52 Kreft, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2015, § 103 Rn. 22 f.; Reischl (Fn. 24), § 8 Rn. 520. 53 Flöther/Wehner (Fn. 44), § 103 Rn. 50; Marotzke, Gegen-seitige Verträge, 3. Aufl. 2001, Rn. 5.64 ff.

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Der Lizenznehmer in der Insolvenz des Lizenzgebers - eine unendliche Geschichte? ZIVILRECHT

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venzforderung und verliert sein Nutzungsrecht.54 Die ökono-mische Bedeutung dieses Nutzungsrecht ist im modernen Wirtschaftsverkehr enorm, zumal Lizenznehmer zur Nutzung bereits erhebliche Vorleistungen tätigen. Es kann beispiels-weise Kosten von bis zu zwei Milliarden Euro verursachen, ein Medikament von der Entwicklung bis zur Marktreife zu bringen.55 Daher wurde dieses Ergebnis seit je her zurecht als unbillig empfunden.56

Die eigentliche Gretchenfrage ist daher: Wie kann der Li-zenznehmer im Einklang mit dem Recht vor den Folgen der Nichterfüllungswahl geschützt werden? 3. Zwischenfazit

Bisher wurden zwei Lösungsansätze aufgezeigt. Zum einen wurde vorgeschlagen, dass die einfache Lizenz ein Ausson-derungsrecht begründet. Zum anderen nahm das OLG Mün-chen eine vollständige Erfüllung des Vertrages an. Beide Ansätze konnten nicht vollständig überzeugen.

Die Frage ist brisant, weil es jedenfalls keine hinreichend bestimmte höchstrichterliche Rechtsprechung gibt.57 Der Gesetzgeber vermeidet seit mehreren Jahren die Einführung eines § 108a InsO.58 Auch der neueste Regierungsentwurf enthält dazu keine Regelung.59 4. Die analoge Anwendung von § 108 Abs. 1 S. 1 und 2 InsO

Eine weitere Lösungsmöglichkeit wurde von Fezer vorge-schlagen. Er hält § 108 Abs. 1 InsO für analog anwendbar.60 Demzufolge würden Lizenzverträge auf die Insolvenzmasse übergeleitet und wären insolvenzfest. Bereits die Vorgänger-regelung § 21 Abs. 1 KO sorgte dafür, dass Lizenzrechte insolvenzfest sind und der Gesetzgeber wollte daran nichts ändern.61

Zudem verweist er auf die Interessenlage der Parteien des Lizenzverhältnisses sowie auf die Rechtsnatur des Lizenzver-trages als Vertrag sui generis.62

Es fällt jedoch schwer, eine planwidrige Regelungslücke nachzuweisen, weil der Gesetzgeber sehr wohl erkannt hat, dass auch Rechte aus dem Anwendungsbereich von § 108 InsO herausfallen.63 Hinzu kommt, dass es mit § 103 Abs. 1 InsO eine Auffangregelung gibt, sofern ein gegenseitiger

54 BGH GRUR 2006, 435 (436 f.); Berger, GRUR 2013, 321 (323). 55 Vgl. Pharmazeutische Zeitung, abrufbar unter http://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=55217 (1.11.2016). 56 Vgl. Wimmer, ZIP 2012, 545 (547); Berger (Fn. 8), S. 41; Fezer, WRP 2004, 799 f. 57 Vgl. BGH NZI 2016, 97; zu Recht kritisch Rüther, NZI 2016, 103 (104). 58 Vgl. McGuire, GRUR 2012, 657 (664); kritisch: Dengler/ Gruson/Spielberger, NZI 2006, 677 (684). 59 Vgl. BR-Drs. 495/15. 60 Fezer, WRP 2004, 799. 61 Fezer, WRP 2004, 799. 62 Fezer, WRP 2004, 799. 63 BT-Drs. 12/2443, S. 146.

Vertrag nicht von § 108 InsO erfasst wird.64 Eine „uner-wünschte“ allgemeinere Vorschrift anwenden zu müssen, begründet noch keine Regelungslücke.

Jedenfalls scheitert eine Analogie aber an der ungleichen Interessenlage zwischen Miet- und Pachtverträgen gegenüber Lizenzverträgen. Man müsste, wenn man § 108 InsO anlog anwenden will, bei Unterstellung einer gleichen Interessenla-ge auch § 111 InsO analog heranziehen.65 Gewährt man ei-nem Erwerber des Schutzrechtes analog § 111 InsO ein Son-derkündigungsrecht, wird aber der bezweckte Schutz des Lizenznehmers wieder aufgehoben.66 Es ist nicht erklärbar, warum die Interessenlage bei § 108 InsO gleich sein soll, aber bei § 111 InsO nicht, obwohl beide die gleichen Ver-tragstypen betreffen. Warum nur § 108 InsO Anwendung finden soll, bedarf zumindest einer Erklärung. Die §§ 103 ff. InsO enthalten ein in sich geschlossenes Regelungssystem. Eine selektive Analogie nach dem Günstigkeitsprinzip ist damit kaum vereinbar.

Außerdem können die Kosten für die Aufrechterhaltung und Verteidigung des Schutzrechtes die Masse vollständig aufzehren und gerade die Risiken bergen, die der Insolvenz-verwalter durch die Nichterfüllungswahl vermeiden wollte. Innerhalb dieses Spannungsverhältnisses wäre eine starre Anwendung von § 108 InsO mit all seinen Folgen zu unflexi-bel. Die Masse könnte von den Kosten aufgezehrt werden. Der Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung aus § 1 Abs. 1 InsO kann nicht pauschal und ohne gesetzliche Anordnung zugunsten der Lizenznehmer zurücktreten.67 5. Die Beschränkung von § 103 Abs. 2 InsO durch § 242 BGB

Bisher wenig Beachtung gefunden hat eine Einschränkung der Nichterfüllungswahl über § 242 BGB.68 Treu und Glau-ben ist in seinen Wirkungen nicht auf das Schuldrecht be-schränkt.69 Richtigerweise nimmt der Insolvenzverwalter zuerst die Interessen der Masse wahr. Trotzdem unterliegt er bei der Ausübung des Wahlrechtes den Grenzen von § 242 BGB.70 Das funktionelle Synallagma erlischt nicht durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens.71 Früher hat man gar in § 103 InsO bzw. § 17 KO eine Vorschrift gesehen, die vor-rangig dem Schutz des Vertragspartners dient.72

Unbestritten ist, dass jede Einschränkung über § 242 BGB nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen vorzunehmen

64 Berger, GRUR 2013, 321 (326). 65 Berger, GRUR 2013, 321 (326). 66 Vgl. Fezer, WRP 2004, 799; Köhler/Ludwig, NZI 2007, 79 (81); McGuire, GRUR 2012, 657 (661). 67 Anders Köhler/Ludwig, NZI 2007, 79 (81). 68 Brandt, NZI 2001, 337 (342); vgl. v. Frentz/Masch, ZIP 2011, 1245 (1249 f.). 69 BGHZ 43, 289 (292); BGH NJW 2008, 3278; LAG Düs-seldorf NZI 2014, 183 f.; Looschelders/Olzen, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2015, § 242 Rn. 1132 70 RGZ 140, 156 (162); Brandt, NZI 2001, 337 (342). 71 Reischl (Fn. 24), § 8 Rn. 463; vgl. Schmidt, JuS 2013, 562 f. 72 BGH ZIP 1984, 190 (192); BGH 1986, 382 (384).

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AUFSÄTZE Nick Marquardt

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ist, weil die Erfüllungsablehnung ja nur die bereits kraft Ge-setz eingetretene Folge verfestigt.73 Einen solchen Fall kann man wohl nur annehmen, wenn die Nichterfüllungswahl offensichtlich zur Folgeinsolvenz des Lizenznehmers führt. Einen „ökonomischer Supergau“74 muss man vermeiden.

In diesen Fällen darf der Insolvenzverwalter nicht leicht-hin die Erfüllung ablehnen. Heute wird § 103 InsO zwar vorwiegend als Vorschrift zur Massemehrung verstanden.75 Das kann aber nicht so weit gehen, dass jegliches Vertrauen des Lizenznehmers auf den Bestand der Lizenz negiert wird. Schon deshalb muss der Insolvenzverwalter bei der Nichter-füllungswahl die Interessen des Lizenznehmers ebenso zur Kenntnis nehmen, wie die der Masse. Er muss die Folgen abschätzen und sich gegebenenfalls um einen sachgerechten Interessenausgleich bemühen. Das Wahlrecht des Insolvenz-verwalters kann dabei nicht über § 242 BGB insgesamt aus-geschlossen werden. Grundsätzlich ist die Wahlrechtsaus-übung auch nicht treuwidrig. Es kann aber abgemildert wer-den, wenn es zu dem untragbaren Ergebnis führt: Existenz-vernichtung des Lizenznehmers.

Keinesfalls darf jede Unbilligkeit zur Anwendung von § 242 BGB führen. Sofern im konkreten Einzelfall aber eine derartige Disparität zwischen Lizenznehmer und Insolvenz-verwalter besteht, können die Interessen der Gläubiger aus-nahmsweise weniger schutzwürdig sein. Das ist eine Folge der atypischen Interessenlage innerhalb von Lizenzverträgen gegenüber anderen Verträgen. Die volkswirtschaftlich sinn-volle Unternehmenserhaltung ist ein übergeordneter Zweck, der zum Teil in § 1 InsO angedeutet wird.76 Jedenfalls lässt sich daraus erkennen, dass die Interessen der Gläubiger nicht ausschließlich maßgebend sein sollen.

Eine Korrektur über § 242 BGB darf wegen des Grund-satzes der Gewaltenteilung nur vorgenommen werden, wenn sie durch einen „rechtlichen Notstand“ gerechtfertigt werden kann.77 Allein subjektiv rechtspolitisch wünschenswerte Empfindungen reichen nicht aus, sondern es bedarf eines breiten Konsenses innerhalb der Rechtswissenschaft.78 Tat-sächlich hält die Hoffnung auf ein Einschreiten des Gesetz-gebers seit der Einführung der InsO bis heute in der Literatur an.79 Einigkeit besteht nur darin, dass die derzeitige Lage unbefriedigend ist und die einfache Lizenz besser geschützt

73 BGH NJW 1986, 1176 (1178); BGH NJW 1986, 2948 (2950); Wagner, in: Handbuch des Fachanwalts Insolvenz-recht, 6. Aufl. 2014, Kap. 6 Rn. 28.; Marotzke, in: Heidelber-ger Kommentar zur InsO, 6. Aufl. 2011, § 103 Rn. 46. 74 Wimmer, ZIP 2012, 545 (548). 75 BGH NZI 2001, 537 (539); BGH NZI 2002, 380 (381). 76 Vgl. Pape, in: Uhlenbruck, Kommentar zur InsO, 14. Aufl. 2015, § 1 Rn. 4. 77 Medicus/Lorenz, Schuldrecht AT, 20. Aufl. 2012, § 16 Rn. 134; Larenz, Schuldrecht AT, 14. Aufl. 1984, § 10 S. 138. 78 Medicus/Lorenz (Fn. 77), § 16 Rn. 153. 79 Vgl. Brandt, NZI 2001, 337; Fezer, WRP 2004, 803; Dengler/Spielberger/Gruson, NZI 2006, 677; Berger, GRUR 2013, 321 (333); Hauck, GRUR-Prax 2013, 437.

werden muss.80 Nichts anderes zeigen auch die vertraglichen Versuche, die einfache Lizenz insolvenzfest auszugestalten. Der Gesetzgeber hat im Bereich der vermögensrechtlichen Struktur des Immaterialgüterrechts ohnehin Nachholbedarf.81 Es zeichnet sich zudem ab, dass der Gesetzgeber der Recht-sprechung die Lösung des Problems überlassen will.82 Das spricht, obgleich keinesfalls unproblematisch, eher für eine Korrektur über § 242 BGB.

Aus Treu und Glauben könnte dann ein Anspruch auf Anpassung des Vertrages erwachsen. Die Nichterfüllungs-wahl des Insolvenzverwalters wird nicht aufgehoben, sondern bleibt für den Fall, dass keine Anpassung verhandelbar ist, bestehen. Vorteilhaft daran ist, dass den Beteiligten ein er-heblicher Gestaltungsspielraum eingeräumt wird, um den Vertrag anzupassen. Außerdem erhält der Verwalter eine starke Verhandlungsposition gegenüber dem Lizenznehmer, weil diesem die Nichterfüllung droht. Immerhin wird der Lizenznehmer, wenn seine eigene Existenz gefährdet ist, bereit sein, eine wesentlich höhere Lizenzgebühr zu bezahlen. Insoweit kann auch eine unverhältnismäßige Gläubigerbe-nachteiligung vermieden werden. Zugleich steht § 242 BGB einer unangemessenen Gebührenerhöhung durch den Insol-venzverwalter entgegen. Er darf seine Verhandlungsposition nicht missbrauchen.

Hinzu kommt, dass man so der komplexen Interessenlage eines Lizenzvertrages besser gerecht werden kann, als durch die starre Wahl zwischen Erfüllung und Nichterfüllung. Der Insolvenzverwalter kann die verbleibenden Nebenpflichten für die Masse auf den Lizenznehmer übertragen. Die wirt-schaftlich problematischsten Konstellationen ließen sich so im Einzelfall bewältigen. Von einer Ideallösung, sofern es die gibt, ist das freilich weit entfernt. IV. Schlussbetrachtung Ausschließliche Lizenzen begründen Aussonderungsrechte und sind demzufolge „insolvenzfest“. Der Lizenznehmer kann die Lizenz weiter nutzen.

Einfache Lizenzen gewähren kein Aussonderungsrecht. Ebenso bestehen sie nicht analog § 108 Abs. 1 InsO zulasten der Masse fort. Sie fallen regelmäßig auch nicht wegen einer vollständigen Erfüllung aus dem Anwendungsbereich von § 103 Abs. 1 InsO. Bei einfachen Lizenzen kann man nur mit der vorsichtigen Anwendung von § 242 BGB eine immanente Beschränkung von § 103 Abs. 1 InsO, jedenfalls für die exis-tenzvernichtenden Härtefälle, vornehmen. Die zunehmende Bedeutung von gewerblichen Schutzrechten, nicht nur bei Unternehmen wie Apple, erfordert auch auf dem deutschen Markt eine praktikable Lösung und keine unendliche Ge-schichte.

80 Dengler/Spielberger/Gruson, NZI 2006, 677; Berger, GRUR 2013, 321 (333); Hauck, GRUR-Prax 2013, 437; Dahl/Schmitz, NZI 2013, 878 (880 f.); MacGuire, GRUR 2013, 1125 (1134 f.). 81 Berger, GRUR 2013, 321 (333). 82 Schmoll, in: Büscher/Dittmer/Schiwy, Kommentar zum Gewerblichen Rechtsschutz, Urheberrecht und Medienrecht, 3. Aufl. 2015, Teil 3 Rn. 283.

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Bündelung von Ansprüchen mittels Inkassozession im VW-Abgasskandal Eine „Sammelklage“ nach deutschem Recht? Von stud. iur. Aleksandar Zivanic, Konstanz* Nachdem die Volkswagen AG (VW-AG) zunächst am 2.4.20161 ein Ultimatum des „US-Staranwalts“ Michael Hausfeld ignoriert und sodann am 28.6.20162 in den USA einen Kompromiss i.H.v. 15 Milliarden US-Dollar erzielt hatte, kann aus aktuellem Anlass erwogen werden, ob eine Anspruchsbündelung mittels einer Inkassozession im VW-Abgasskandal für die kollektive gerichtliche Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen deutscher Kunden (in Deutschland) eine sinnvolle Möglichkeit darstellt.

Jedenfalls sieht die sog. „financialright“ GmbH – unter der Marke „myRight“3 –, die mit der Kanzlei von Hausfeld kooperiert, in ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen eine Bündelung von (deliktischen) Entschädigungsansprüchen mittels einer „fiduziarischen Inkassozession (sog. treuhände-rische Forderungsabtretung)“4 vor.

Der folgende Beitrag soll zunächst auf die (prozessuale) Ausgangslage deutscher Kunden im VW-Abgasskandal hin-weisen. Im Anschluss daran wird auf die Rechtsnatur von Inkassozessionen eingegangen sowie die ihnen – insbesonde-re durch das BGB, das Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) und durch die Vorgaben der Rechtsprechung – auferlegten Grenzen näher beleuchtet. I. Ausgangslage im VW-Abgasskandal Vom VW-Abgasskandal sind in Deutschland schätzungswei-se 2,4 Millionen Fahrzeuge betroffen.5 Da jedenfalls die * Der Autor studiert Rechtswissenschaften an der Universität Konstanz und ist dort Wiss. Hilfskraft am Lehrstuhl für Straf-recht und Nebengebiete von Prof. Dr. Rudolf Rengier. Der Beitrag beruht im Wesentlichen auf einer Seminararbeit aus dem Sommersemester 2016 im Seminar „Forderungsabtre-tungen – insb. Inkassozessionen – in kollisionsrechtlicher und vergleichender Perspektive“ von Prof. Dr. Astrid Stadler. 1 Die Welt v. 2.4.2016, abrufbar unter http://www.welt.de/wirtschaft/article153920086/Volkswagen-ignoriert-Ultimatum-von-US-Staranwalt.html (1.11.2016) sowie FAZ v. 2.4.2016, abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/vw-abgasskandal/abgasskandal-staranwalt-will-fuer-tausende-vw-kunden-in-europa-klagen-14156684.html (1.11.2016). 2 FAZ v. 28.6.2016, abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/vw-abgasskandal/vw-ab-gasskan-dal-volkswagen-muss-in-usa-15-mrd-dollar-zahlen-14313387.html (1.11.2016). 3 Siehe https://www.my-right.de/ (1.11.2016). 4 So explizit in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) von „myRight“ unter Punkt 2.2 bezeichnet (Stand: 20.7.2016), abrufbar unter https://www.my-right.de/agb/ (1.11.2016). 5 FAZ v. 2.4.2016, abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/vw-abgasskandal/abgasskandal-staranwalt-will-fuer-tausende-vw-kunden-in-europa-klagen-14156684.html (1.11.2016).

meisten betroffenen Personen Verbraucher im Sinne von § 13 BGB6 sein werden, ist eine individuelle Anspruchsdurchset-zung gegen die VW-AG wohl eher nicht in Betracht zu zie-hen, zumal ein Zivilprozess immer mit erheblichen Kosten verbunden ist und die Parteien auch psychisch belasten kann.7 Schließlich werden sich die einzelnen Verbraucher kaum auf die David gegen Goliath-Situation einlassen. In der deutschen Literatur wurde bereits darauf hingewiesen, dass den Betrof-fenen ein Schaden in einer Höhe von bis zu ca. 10.000 Euro pro Fahrzeug entstehen kann.8 VW-Kunden in den USA könnten Rechnungen zufolge Entschädigungszahlungen von rund 5.100 US-Dollar (rund 4.600 Euro) erhalten.9 Erleiden zahlreiche Personen einen Schaden, aufgrund derselben oder einer gleichartigen Ursache – nämlich der eingebauten Mani-pulationssoftware –, die von dem- oder denselben Schädi-ger(n) – nämlich der VW-AG – verursacht wurde, spricht man von sogenannten Massenschäden.10 Die Frage, ob das deutsche Zivil- bzw. Zivilprozessrecht die Möglichkeit eines kollektiven Rechtsschutzes dahin gehend kennt, „dass einzel-ne als Repräsentanten einer Gruppe klagen und eine Ent-scheidung mit Bindungswirkung auch für Betroffene [erwir-ken können], die nicht am Prozess beteiligt sind“11, lässt sich mit Nein beantworten. Derartige Repräsentativklagen, die im angloamerikanischen Rechtskreis vor allem als „class ac-

6 Gleichwohl sind auch Kapitalanleger wie Unternehmer betroffen. Siehe nur die Klagen von Anlegern gegen die VW-AG vor dem Landgericht Braunschweig in FAZ v. 21.9.2016, abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/vw-abgasskandal/klagen-mit-streit-wert-von-gut-8-milliarden-euro-gegen-vw-14445938.html (1.11.2016). 7 Vgl. nur Thole, ZWeR 2015, 93 (100): „weil die jeweils geschädigten Beteiligten das Risiko und die Mühen eines individuellen Vorgehens scheuen.“ 8 Fuhrmann, ZJS 2016, 124 (129 f.); a.A. Riehm, Legal Tri-bune Online (LTO) v. 1.10.2015, abrufbar unter http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/vw-abgasaffaere-schadensersatz-rechtslage-deutschland/ (1.11.2016), der ledig-lich das vertragliche Äquivalenzverhältnis als verletzt an-sieht. 9 FAZ v. 4.7.2016, abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/vw-abgasskandal/kritik-an-ungleichbehandlung-verbraucherschuetzer-bestehen-auf-vw-entschaedigung-14323278.html (1.11.2016). 10 Vgl. zum Begriff der Massenschäden nur Bamberger, in: Festschrift für Karl Eichele, 2013, S. 19 (22); Buchner, Kol-lektiver Rechtsschutz für Verbraucher in Europa, 2015, S. 36 f.; Frank/Henke/Singbartl, VuR 2016, 333 (334); Stadler, in: Kollektiver Rechtsschutz im Zivilprozeßrecht, 2001, S. 3. 11 Wörtlich Gsell, in: Europäisches Privatrecht in Vielfalt geeint – Der modernisierte Zivilprozess in Europa, 2014, S. 179.

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AUFSÄTZE Aleksandar Zivanic

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tion“12 bekannt sind, sind de lege lata in Deutschland nicht vorgesehen,13 obschon seit Längerem14 und auch neuer-dings15 über eine Erweiterung des kollektiven Rechtsschutzes heftig diskutiert wird, zumal Deutschland im internationa-len16 und europäischen17 Vergleich teils „rückständig“18 da-steht. Ein Blick in den Nachbarstaat Österreich genügt, um zu zeigen, dass sich auch dort „innovative Entwicklungen“19 auf dem Gebiet des kollektiven Rechtschutzes vollziehen. Er-wähnenswert sei insofern insbesondere die „Sammelklage nach österreichischem Recht“.20 Diese ermöglicht es, gebün-delte – im Wesentlichen gleichartige21 – Ansprüche zahlrei-cher Geschädigter – beruhend auf einer Abtretung der Scha-densersatzansprüche – einzutreiben bzw. – in objektiver Kla-gehäufung gem. § 227 öZPO – gerichtlich einzuklagen.22 Im

12 Dazu nur Bruns, in: Globalisierung und Sozialstaatsprinzip, 2014, S. 255 (262 ff.); von Bar, in: Ständige Deputation des 62. Deutschen Juristentags, S. 97 ff.; Stadler, in: Ständige Deputation des 62. Deutschen Juristentags, S. I 35, 45 ff.; dies. (Fn. 10), S. 13 ff. 13 Bamberger (Fn. 10), S. 20; Gsell (Fn. 11), S. 179 f.; Fiedler, Class Actions zur Durchsetzung des europäischen Kartellrechts, 2010, S. 117; Frank/Henke/Singbartl, VuR 2016, 333 (334). 14 Vgl. nur Stadler (Fn. 10), S. 1 ff. bzgl. der Aufnahme von Gruppenklagen – als die Bündelung gleichgerichteter (Par-tei-)Interessen durch einen oder wenige Repräsentanten – in das deutsche Zivilprozessrecht. 15 Siehe Bamberger (Fn. 10), S. 19; Bernhard, Kartellrechtli-cher Individualschutz durch Sammelklagen, 2010; Bien, in: Festschrift für Wernhard Möschel zum 70. Geburtstag, Recht, Ordnung und Wettbewerb, 2011, S. 131; Buchner (Fn. 10); Gsell (Fn. 11), S. 179 ff.; Stadler, JZ 2014, 613. 16 Gsell (Fn. 11), S. 179. 17 So auch Bamberger (Fn. 10), S. 21 und 26 m.w.N.; umfas-send zu den mit den class actions konkurrierenden Lösungs-modellen in Europa Bruns (Fn. 12), S. 267 ff.; zur europäi-schen Diskussion der class action siehe Stadler, VuR 2011, 79 f. 18 Zutreffend Bamberger (Fn. 10), S. 46; ders., in: Festschrift für Peter Derleder zum 75. Geburtstag, Zivilrecht im Wandel, 2015, S. 1 (21), der die Möglichkeit eine Gruppenklage zu erheben als einen „besonderen Aspekt sozialer Recht-sprechung“ ansieht; vgl. bereits Koch, JZ 1998, 801 (804), dem zufolge das deutsche Zivilverfahrensrecht – im Gegen-satz zu anderen Ländern – für den Umgang mit Massenphä-nomenen „schlecht gerüstet“ sei. 19 Siehe bereits Stadler/Mom, RIW 2006, 199. 20 So die Bezeichnung bei Buchner (Fn. 10), S. 112; Huber/ Grabmair, PHi 2010, 42 (43); Kolba, ecolex 2010, 864 (865); Stadler/Mom, RIW 2006, 199 (200). 21 OGH, Urt. v. 12.7.2005 – 4 Ob 116/05w, ÖBA 2005/1306 (OGH) mit dem weiteren Erfordernis, dass sich gemeinsame Rechts- und/oder Tatsachenfragen stellen müssen, vgl. auch Buchner (Fn. 10), S. 112; Stadler/Mom, RIW 2006, 199 (204). 22 Vgl. nur Buchner (Fn. 10), S. 112; Huber/Grabmair, PHi 2010, 42 (43 f.); Stadler/Mom, RIW 2006, 199 (202).

Erfolgsfalle werden die erstrittenen Beträge an die Zedenten ausgezahlt. Bei der „Sammelklage nach österreichischem Recht“ handelt es sich mithin um eine Inkassozession.23 II. Rechtsnatur der Inkassozession Die Inkassozession ist eine „echte“ – gleichwohl abge-schwächte – Abtretung im Sinne des §§ 398 BGB.24 Erfor-derlich ist ein Gläubigerwechsel, der sich durch zwei über-einstimmende Willenserklärungen, Angebot und Annahme gem. §§ 145 ff. BGB, zwischen (Inkasso-)Zedent und (Inkas-so-)Zessionar – ohne Beteiligung des Schuldners25 – vollzieht (sog. Abtretungsvertrag).26 Dabei ist insbesondere das Tren-nungs- und Abstraktionsprinzip zu beachten. Die (Inkasso-) Abtretung stellt eine Verfügung dar, die streng vom schuld-rechtlichen Vertrag (in der Regel wird dies ein Auftrag gem. §§ 662 ff. BGB oder ein entgeltlicher Geschäftsbesorgungs-vertrag gem. § 675 BGB27 sein) zu trennen und auch deren (Un-)Wirksamkeit abstrakt von dem zugrunde liegenden Vertrag zu bewerten ist.

Der maßgebliche Unterschied zwischen einer Inkassozes-sion und einer „normalen“ Abtretung liegt darin, dass der Inkassozessionar – nur rechtlich betrachtet – Inhaber der Forderung (geworden) ist,28 während der Inkassozedent – aus wirtschaftlicher Betrachtungsweise – weiterhin Inhaber der

23 So Buchner (Fn. 10), S. 112; Stadler/Mom, RIW 2006, 199 (200). 24 Seitz, in: Inkasso-Handbuch, 4. Aufl. 2015, Kap. 14 Rn. 4 bezeichnet sie als eine „Unterform der Abtretung.“ 25 Allerdings versucht das Gesetz den Schuldner über die §§ 404, 406-410 BGB zu schützen, vgl. Roth/Kieninger, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2016, § 398 Rn. 3. Sichern gegen eine Abtretung kann sich der Schuldner überdies durch einen vertraglichen Abtretungsausschluss gem. § 399 BGB. 26 Vgl. Seitz (Fn. 24), Kap. 14 Rn. 4 sowie zum Abtretungs-vertrag allgemein Roth/Kieninger (Fn. 25), § 398 Rn. 3 und 13 ff.; Schulze, in: Handkommentar zum BGB, 8. Aufl. 2014, § 398 Rn. 3 f. 27 Busche, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2012, Einl. zu §§ 398 ff. Rn. 110; Larenz, Schuldrecht, Allgemeiner Teil I, 14. Aufl. 1987, § 34 V b (S. 597); siehe für die rechtli-che Einordnung des „Inkassovertrages“ zwischen Gläubiger und einem Inkassounternehmen insbesondere Seitz (Fn. 24), Kap. 9 Rn. 1 ff. 28 Deshalb kann der Inkassozessionar über die Forderung – bis zur treuwidrigen Kollusion – wirksam verfügen, vgl. nur RGZ 153, 366 (370); BGH NJW 1968, 1471 = JZ 1968, 428 zur Verfügung über einen Gesellschaftsanteil durch den Treuhänder; Busche (Fn. 27), Einl. zu §§ 398 ff. Rn. 112; Gruber, AcP 202 (2002), 435 (442 m.w.N.) aus der Recht-sprechung des BGH; Herr, Rechtliche Natur und Wirkungen der Inkassovereinbarung (Inkassozession), 1933, S. 1; Westermann, in: Erman, Kommentar zum BGB, 14. Aufl. 2014, § 398 Rn. 32; Rohe, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, Ed. 40, Stand: 1.8.2016, § 398 Rn. 87; Roth/ Kieninger (Fn. 25), § 398 Rn. 44; Schulze (Fn. 26), § 398 Rn. 21.

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Forderung bleibt, d.h. er weiterhin das Bonitätsrisiko trägt.29 Eine Inkassozession erweist sich insofern als der typische Fall eines „uneigennützigen Treuhandverhältnisses“,30 indem der Inkassozessionar im Außenverhältnis über mehr Rechts-macht verfügt, als er im Innenverhältnis zum Inkassozeden-ten – entsprechend seiner schuldrechtlichen Verpflichtung – ausüben darf.31 Nachdem der Inkassozessionar – aus rechtli-cher Perspektive – tatsächlich Inhaber der Forderung gewor-den ist, zieht er diese beim Schuldner ein und kehrt den er-strittenen Gewinn – abzüglich einer Erfolgsprovision – an die jeweiligen Inkassozedenten ab.32

Abzugrenzen ist die Inkassozession vor allem zur „funk-tionsäquivalenten“ – und auf richterlicher Rechtsfortbildung33 oder dem Rechtsgedanken des § 185 BGB34 beruhenden – Einziehungsermächtigung, die ebenfalls die Einziehung einer Forderung im eigenen Namen auf materiell-rechtlicher Ebene erlaubt.35 Die beiden Rechtsinstitute unterscheiden sich aber dahin gehend, als der Inkassozedent seine Gläubigerstellung – durch Vollabtretung gem. §§ 398 ff. BGB – auf den Inkas-sozessionar überträgt, während der Ermächtigende dem Er-mächtigten nur die Eintreibung der Forderung – ohne den

29 Im Falle der Insolvenz des Inkassozessionars hat der Inkas-sozedent ein Aussonderungsrecht nach § 47 InsO und kann – sofern Gläubiger des Inkassozessionars in die abgetretene Forderung vollstrecken – gem. § 771 ZPO widersprechen, vgl. Busche (Fn. 27), Einl. zu §§ 398 ff. Rn. 116 m.w.N. 30 Henckel, in: Festschrift für Karl Larenz zum 70. Geburts-tag, 1973, S. 643 (649); Rehmann, WM 1987, 225 (226); vgl. ferner Gruber, AcP 202 (2002), 435 f. zur Struktur der „Voll-rechtstreuhand.“ 31 BGHZ 155, 227 (232); BGH ZIP 2014, 1032 (1033); Roth/Fitz, JuS 1985, 188 (190); Roth/Kieninger (Fn. 25), § 398 Rn. 42; vgl. auch Ulmer/Schäfer, in: Münchener Kom-mentar zum BGB, 6. Aufl. 2013, § 705 Rn. 84, denen zufolge das „rechtliche Können des Treugebers […] weiter [geht] als [sein] rechtliche[s] Dürfen.“ 32 Vgl. Punkt 3.1 der AGB von „myRight“ (Stand: 20.7.2016), abrufbar unter https://www.my-right.de/agb/ (1.11.2016). 33 Busche (Fn. 27), Einl. zu §§ 398 ff. Rn. 120 und 124; Larenz (Fn. 27), § 34 V c (S. 598 f.), der zufolge die Einzie-hungsermächtigung „durch den Grundsatz der vertragsrecht-lichen Autonomie gedeckt ist.“; unklar Schreiber, in: Soergel, Kommentar zum BGB, 2010, § 398 Rn. 15, aber jedenfalls gegen die Annahme einer Zulässigkeit aus § 185 BGB. 34 BGHZ 4, 153 (164); BGH NJW 1998, 896 (897); RGZ 117, 69 (72); Roth/Kieninger (Fn. 25), § 398 Rn. 47; Schulze (Fn. 26), § 398 Rn. 23. 35 Siehe zur Einziehungsermächtigung etwa Henckel (Fn. 30), S. 643 ff.; Looschelders, Schuldrecht, Allgemeiner Teil, 10. Aufl. 2012, § 52 Rn. 1170 f.; Rehmann, WM 1987, 225; Roth/Fitz, JuS 1985, 188 (190 ff.); Roth/Kieninger (Fn. 25), § 398 Rn. 47 ff.; Schumann, in: Festschrift für Hans-Joachim Musielak zum 70. Geburtstag, 2004, S. 457 (461 f.); Seitz (Fn. 24), Kap. 14 Rn. 7 f.

Verlust der Gläubigerstellung – gestattet.36 Hinzu kommt, dass der Ermächtigte die Forderung nur unter den Vorausset-zungen der gewillkürten Prozessstandschaft37 gerichtlich geltend machen kann, hingegen der Inkassozessionar dieser prozessrechtlichen Hürde entweicht, indem er als Vollrechts-inhaber ein eigenes Recht im eigenen Namen einklagt.38

Wird die Inkassozession „geschäftsmäßig“ betrieben, er-geben sich Überschneidungen mit dem seit 1.7.2008 gelten-den RDG, das das alte RBerG abgelöst hat, denn steht diese unter einem Erlaubnisvorbehalt (§§ 2 Abs. 2 S. 1, 3 RDG), deren Fehlen - jedenfalls nach Ansicht des BGH - die Nich-tigkeit der Abtretung gem. § 134 BGB i.V.m. § 3 RDG zur Folge hat.39

36 Von einer „überschießende[n] Außenmacht“ des Inkasso-zessionars sprechend Rehmann, WM 1987, 225 (226); vgl. ferner Gruber, AcP 202 (2002), 435 (457), der – mit Huber, JZ 1968, 791 – ebenfalls von der dem Treuhänder „über-schießende[n] Rechtsmacht“ spricht. 37 Vgl. für die „unklaren“ Voraussetzungen einer gewillkür-ten Prozessstandschaft etwa Bendtsen, in: Saenger, Kommen-tar zur Zivilprozessordnung, 6. Aufl. 2015, § 51 Rn. 20 ff.; Weth, in: Musielak/Voit, Kommentar zur Zivilprozessord-nung, 13. Aufl. 2016, § 51 Rn. 26 ff.; Schumann (Fn. 35), S. 472 hingegen präzisiert folgende vier Voraussetzungen: a) Erklärung des materiell Berechtigten, durch die der rechts-fremde Dritte zur Prozessführung ermächtigt wird. b) Eigenes rechtliches Interesse des Ermächtigten an der Prozessführung als rechtsfremder Dritter. c) Eigenes rechtliches Interesse des Ermächtigenden an der Prozessführung durch den rechts-fremden Dritten. d) Keine ungerechtfertigten Nachteile des Prozessgegners durch die Prozessermächtigung.; siehe spezi-ell zur Einziehungsermächtigung im Prozess auch BGHZ 4, 153 (165) im Kontext der Abtretung ganz oder teilweise unpfändbarer Rentenforderungen. 38 Umfassend hierzu Henckel (Fn. 30), S. 655 ff.; Rehmann, WM 1987, 225; Roth/Fitz, JuS 1985, 188; kürzer Busche (Fn. 27), Einl. zu §§ 398 ff. Rn. 125; Roth/Kieninger (Fn. 25), § 398 Rn. 41; Schulze (Fn. 26), § 398 Rn. 23; Seitz (Fn. 24), Kap. 14 Rn. 7; a.A. Lindenacher (in: Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, 5. Aufl. 2016, Vorbem. zu § 50 Rn. 74), der auch „verfahrensrechtlich auf eine ein-schlägige Assimilation [zwischen Einziehungsermächtigung und Inkassozession] nicht verzichten“ mag, mithin ein „schutzwürdiges Inkassointeresse“ voraussetzt. 39 Siehe Römermann, in: Grunewald/Römermann, Kommen-tar zum Rechtsdienstleistungsgesetz, 2008, § 3 Rn. 5 f.; Seichter, in: Deckenbrock/Henssler, Kommentar zum Rechtsdienstleistungsgesetz, 4. Aufl. 2015, § 3 Rn. 1 und 33 mit Verweis auf die Rspr. des BGH; a.A. wohl Seitz (Fn. 24), Kap. 14 Rn. 20, der danach fragt, ob die Nichtigkeitsfolge der Zession gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot verstößt.

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III. Gesetzliches Verbot (§ 134 BGB): § 3 Rechtsdienst-leistungsgesetz (RDG) Gem. § 134 BGB ist ein Rechtsgeschäft nichtig, wenn es – im Zeitpunkt seines Abschlusses40 – gegen ein gesetzliches Verbot verstößt und sich aus dem Gesetz nichts anderes ergibt.41 Ein solches Verbotsgesetz regelt § 3 RDG. Danach sollen nur solche Personen Rechtsdienstleistungen erbringen dürfen, die über eine entsprechende Erlaubnis verfügen.42 Da § 2 Abs. 2 S. 1 RDG den „außergerichtlichen“ Forderungs-einzug aufgrund einer „geschäftsmäßigen“43 Inkassozession erfasst,44 muss der Rechtsdienstleister entweder Rechtsanwalt (vgl. § 3 BRAO), Rechtsbeistand (vgl. § 209 BRAO; § 1 RDGEG), Verbraucherzentrale, ein mit öffentlichen Mitteln geförderter Verbraucherverband im Sinne von § 8 Abs. 1 Nr. 4 RDG45 oder ein gem. § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 RDG regis-trierter Rechtsdienstleister sein, um nicht gegen die Verbots-norm des § 3 RDG zu verstoßen.46 1. „Außergerichtlicher Bereich“ im Sinne von § 1 Abs. 1 RDG

Zunächst ist fraglich, ob auch Forderungen, die ausschließ-lich zum Zweck der gerichtlichen Geltendmachung abgetre-ten werden, dem Anwendungsbereich des RDG unterfallen, da dieses – ausweislich des § 1 Abs. 1 S. 1 RDG – nur für „außergerichtliche Rechtsdienstleistungen“47 gilt. Wird so-dann im Prozess ein Rechtsanwalt als Bevollmächtigter be-stellt, könnte dem Zweck des RDG, die Qualität der Rechts-beratung zu sichern, durchaus Rechnung getragen sein.48 Einem solchen Verständnis lässt sich allerdings entgegenhal-

40 BGHZ 45, 322 (326) = NJW 1966, 1265. 41 Siehe grundlegend zu § 134 BGB etwa Beater, AcP 197 (1997), 505; Kramer, Der Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot und die Nichtigkeit von Rechtsgeschäften (§ 134 BGB), 1976; Rüthers/Stadler, BGB, Allgemeiner Teil, 18. Aufl. 2014, § 26 Rn. 2 ff. 42 BGH NJW 2014, 847; BGH NJW 2013, 59; Seichter (Fn. 39), § 3 Rn. 33. 43 Eine Nebenleistung im Sinne von § 5 RDG ist hingegen zulässig, vgl. hierzu Deckenbrock/Henssler, in: Deckenbrock/ Henssler, Kommentar zum Rechtsdienstleistungsgesetz, 4. Aufl. 2015, § 5 Rn. 26 ff. 44 Bernhard (Fn. 15), S. 169. 45 Umfassend zur Möglichkeit der kollektiven Durchsetzung von Ansprüchen durch Verbraucherverbände siehe Buchner (Fn. 10), S. 76 ff.; Fiedler (Fn. 13), S. 113 ff. 46 Vgl. insofern die Aufzählung der Erlaubnistatbestände im RDG sowie in anderen Gesetzen bei Seichter (Fn. 39) § 3 Rn. 11 ff. 47 Zum Begriff der „außergerichtlichen Rechtsdienstleistung“ siehe Deckenbrock, in: Deckenbrock/Henssler, Kommentar zum Rechtsdienstleistungsgesetz, 4. Aufl. 2015, § 1 Rn. 15 ff.; Römermann (Fn. 39), § 1 Rn. 24 ff.; Teubel, in: Krenzler, Kommentar zum Rechtsdienstleistungsgesetz, 2010, § 1 Rn. 15 ff.; siehe auch Klingel, NJW 1993, 3165 zum RBerG. 48 So Gsell (Fn. 11), S. 190.

ten, dass eine Prozessführung ohne rechtliche Vorbereitung kaum vorstellbar sei und gerade diese Vorbereitung sehr wohl als „außergerichtliche Rechtsdienstleistung“ angesehen werden kann.49 „myRight“ jedenfalls möchte die „Durchset-zung der Entschädigungsansprüche, soweit zweckdienlich, im außergerichtlichen Verfahren betreiben“50, so dass deren Geschäftsmodell unstreitig dem Anwendungsbereich des RDG unterfällt. 2. Forderungseinziehung als „eigenständiges Geschäft“ im Sinne von § 2 Abs. 2 S. 1 RDG oder als „Tätigkeit in konkre-ten fremden Angelegenheiten“ im Sinne von § 2 Abs. 1 RDG

Fraglich könnte jedenfalls sein, ob „myRight“ die Forde-rungseinziehung als „eigenständiges Geschäft“ im Sinne von § 2 Abs. 2 S. 1 RDG betreibt. Wann ein „eigenständiges Geschäft“ vorliegt, beurteilt sich nach Ansicht der Recht-sprechung danach, ob die Forderungseinziehung innerhalb einer ständigen haupt- oder nebenberuflichen Inkassotätigkeit oder außerhalb einer solchen, nicht lediglich als Nebenleis-tung im Sinne des § 5 Abs. 1 S. 2 RDG im Zusammenhang mit einer anderen beruflichen Tätigkeit, erfolgt.51 Hinzu kommt, dass ein „geschäftsmäßiges Handeln“ eine Wiederho-lungsabsicht erfordert, um die Tätigkeit dadurch zu einem dauernden oder wiederkehrenden Bestandteil einer Beschäf-tigung zu machen.52 Die Durchsetzung der Entschädigungs-ansprüche stellt jedenfalls unstreitig die Haupttätigkeit von „myRight“ dar.53 Ob „myRight“ auch mit der erforderlichen Wiederholungsabsicht handelt, kann offen bleiben, sofern eine Rechtsdienstleistung gem. § 2 Abs. 1 RDG vorliegt. Danach ist eine Rechtsdienstleistung „jede Tätigkeit in kon-kreten fremden Angelegenheiten, sobald sie eine rechtliche

49 Gsell (Fn. 11), S. 190. Gleichwohl ist die bloße Beurtei-lung der Erfolgschance einer Klage keine rechtsberatende Tätigkeit. Dies folgt aus einer verfassungskonformen Ausle-gung des Art. 12 GG, vgl. BVerfG NJW 2002, 3531 zum RBerG; dazu auch Pierenkemper, Kartellbußen aus rechtli-cher und ökonomischer Sicht, 2012, S. 119. 50 Vgl. die AGB von „myRight“ unter Punkt 1.3 (Stand: 20.7.2016), abrufbar unter https://www.my-right.de/agb/ (1.11.2016). 51 Hier ist die erforderliche Abgrenzung zu § 5 RDG vorzu-nehmen; vgl. BGH NJW 2014, 847; BGH NJW 2013, 59; BGH WM 2012, 2322 (2324); vgl. auch Deckenbrock/ Henssler (Fn. 43), § 2 Rn. 89; Lettl, WM 2008, 2233 (2234); Mann, ZIP 2011, 2393 (2396); Römermann (Fn. 39), § 2 Rn. 100; siehe umfassend zur Nebenleistung im Sinne von § 5 RDG Ditgen, in: Festschrift für Karl Eichele, 2013, S. 94 (95 ff.). 52 Vgl. BGH WM 2009, 259 (261); BGH WM 2005, 102 (103); Michalski, ZIP 1994, 1501 (1506) zum RBerG; siehe Mann, NJW 2010, 2391 (2393), wonach das Merkmal der Geschäftsmäßigkeit auch im RDG zu berücksichtigen und prüfen ist. 53 Vgl. die AGB von „myRight“ unter Punkt 1.2 (Stand: 20.7.2016), abrufbar unter https://www.my-right.de/agb/ (1.11.2016).

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Prüfung des Einzelfalls erfordert.“54 Für die Beurteilung, ob eine „fremde“ Rechtsangelegenheit vorliegt, ist eine wirt-schaftliche – nicht rechtliche – Betrachtungsweise maßgeb-lich.55 Dadurch, dass die Inkassozedenten aus wirtschaftlicher Perspektive weiterhin Inhaber der jeweiligen Forderung blei-ben, ist jedenfalls im Falle der Vorgehensweise von „myRight“ eine Rechtsdienstleistung gem. § 2 Abs. 1 RDG anzunehmen. 3. Erlaubnisfreie Rechtsdienstleistung gem. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 RDG

Möglicherweise könnte im Falle der Durchsetzung der Ent-schädigungsansprüche durch „myRight“ eine erlaubnisfreie Rechtsdienstleistung gem. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 RDG vorlie-gen. Gem. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 RDG sind Rechtsdienstleis-tungen erlaubt, die berufliche oder andere zur Wahrung ge-meinschaftlicher Interessen gegründete Vereinigungen im Rahmen ihres satzungsmäßigen Aufgabenbereichs für ihre Mitglieder oder für die Mitglieder der ihnen angehörenden Vereinigungen oder Einrichtungen erbringen, soweit sie gegenüber der Erfüllung ihrer übrigen satzungsmäßigen Auf-gaben nicht von übergeordneter Bedeutung sind. Aufgrund des Erfordernisses eines gemeinschaftlichen Interesses fallen derartige Vereinigungen,56 bei der die bloße gebündelte Durchsetzung von Einzelinteressen im Vordergrund steht, nicht unter die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 RDG.57 Schließlich wird die gebündelte treuhänderische Forderungs-durchsetzung mittels Inkassozession gerade die Hauptaufgabe der zu diesem Zweck gegründeten Vereinigung sein, so dass § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 RDG keinen Spielraum für eine alterna-tive Auslegung lässt.58

54 Vgl. zum Verhältnis zwischen § 2 Abs. 2 S. 1 RDG („spe-zieller Fall“) und § 2 Abs. 1 RDG auch Deckenbrock/ Henssler (Fn. 43), § 2 Rn. 2. 55 So auch Loritz/Wagner, WM 2007, 477 (478 f.) hinsicht-lich der kollektiven Rechtsdurchsetzung mittels einer einzel-fallbezogen gegründeten GbR. A.A. Stadler, JZ 2014, 613 (616 f.) sowie ferner Koch, NJW 2006, 1469 (1471) zum RBerG; Mann, ZIP 2011, 2393 (2396 f.); ders., NJW 2010, 2391 (2393), denn in einer solchen Konstellation ist der Übergang der Forderung in das Gesamthandsvermögen (§ 719 BGB) ernst zu nehmen, weshalb von der Geltendma-chung eigener – nicht fremder – Forderungen durch die Ge-sellschaft auszugehen ist. 56 Siehe zum Begriff der Vereinigungen im Sinne von § 7 Abs. 1 RDG Dux, in: Deckenbrock/Henssler, Kommentar zum Rechtsdienstleistunggesetz, 4. Aufl. 2015, § 7 Rn. 17 ff.; Schmidt, in: Krenzler, Kommentar zum Rechtsdienstleis-tungsgesetz, 2010, § 7 Rn. 13 ff. 57 Vgl. Kleine-Cosack, Kommentar zum Rechtsdienstleis-tungsgesetz, 3. Aufl. 2014, § 7 Rn. 19; Dux (Fn. 56), § 7 Rn. 32 mit dem Verweis auf den Willen des Gesetzgebers BT-Drs. 16/3655, S. 59; so auch Fest, WM 2015, 705 (708); siehe auch Faulmüller/Wiewel, VuR 2014, 452 (455). 58 Zutreffend Gsell (Fn. 11), S. 193.

4. „Registrierter Rechtdienstleister“ gem. §§ 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 12, 13 RDG

Gem. § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 RDG dürfen „registrierte Rechtsdienstleister“ außergerichtliche Rechtsdienstleistungen erbringen. Erforderlich hierfür ist – neben einem formgerech-ten Antrag (vgl. § 10 Abs. 2 S. 1 RDG, § 6 Abs. 1 RDV) – die persönliche Eignung und Zuverlässigkeit (vgl. § 12 Abs. 1 Nr. 1 RDG), der Nachweis der theoretischen und praktischen Sachkunde (vgl. § 12 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 RDG, § 2 Abs. 1 RDV) und eine Berufshaftpflichtversicherung in Höhe von 250.000 Euro (vgl. § 12 Abs. 1 Nr. 3 RDG, § 5 RDV).59 „myRight“ muss jedenfalls einen Verstoß gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz nicht fürchten, denn hat sich die „financialright“ GmbH beim Amtsgericht Hamburg60 regist-rieren lassen, mithin sämtliche Voraussetzungen für eine erfolgreiche Registrierung erfüllt. Der gebündelten Durchset-zung der Entschädigungsansprüche mittels einer Inkassozes-sion gegen die VW-AG wird jedenfalls nicht das RDG im Wege stehen. IV. Verstoß gegen die „guten Sitten“ (§ 138 BGB) Die für eine „zulässige“ Inkassozession höchste Hürde bildet jedenfalls nicht § 134 BGB i.V.m. § 3 RDG, sondern viel-mehr § 138 BGB. In Betracht kommt ein Verstoß gegen die „guten Sitten“. Eine „sittenwidrige“ Inkassozession wird von der Rechtsprechung dann angenommen, wenn ein vermö-gensloser Dritter, der den Prozesskostenerstattungsanspruch des Beklagten im Falle des Prozessverlustes nicht befriedigen kann, im Prozess „vorgeschoben“ wird.61 Bereits das RG62 ging davon aus, dass Forderungsabtretungen nicht dazu miss-braucht werden dürfen, dem Beklagten die Möglichkeit zu nehmen, seinen Rechtsanspruch auf Erstattung oder Zahlung der Prozesskosten zu verwirklichen. Der BGH63 führte diese Rechtsprechung grundsätzlich fort, aber behandelte eine Abtretung, die darauf abzielte, die Voraussetzungen der Pro-zesskostenhilfe zu schaffen, offenbar als wirksam, indem er auf die Vermögensverhältnisse des Zedenten abstellte.64 Die Abtretung im Sinne von tatsächlicher materieller Berechti-gung wurde also schlicht ignoriert.65 Dreh- und Angelpunkt

59 Siehe zu den Registrierungsvoraussetzungen des § 12 RDG Berg/Gaub/Ohle, in: Inkasso-Handbuch, 4. Aufl. 2015, Kap. 2 Rn. 37 ff.; kürzer Fest, WM 2015, 705 (709). 60 Vgl. die AGB von „myRight“ unter Punkt 1.1 (Stand: 20.7.2016), abrufbar unter https://www.my-right.de/agb/ (1.11.2016). 61 Vgl. insofern nur LG Düsseldorf JZ 2014, 635; OLG Düs-seldorf BeckRS 2015, 05520; sowie ferner Buß/Honert, JZ 1997, 694 m.w.N.; Henckel (Fn. 30), S. 647. 62 RGZ 81, 175 (176). 63 BGH MDR 1959, 999 für das „Vorschieben eines vermö-genslosen Zessionars“, um in den Genuss der Prozesskosten-hilfe zu gelangen; zust. Armbrüster, in: Münchener Kommen-tar zum BGB, 7. Aufl. 2015, § 138 Rn. 111. 64 BGHZ 47, 289 (292); dazu Buß/Honert, JZ 1997, 694 (695); Thole, ZWeR 2015, 93 (99). 65 Buß/Honert, JZ 1997, 694 (695).

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ZJS 6/2016 692

der Entscheidungen war dabei immer der Verstoß gegen die guten Sitten,66 weshalb nur die (objektive) Vermögenslosig-keit des Klägers nicht ausreichte, sondern vielmehr ein tat-sächlicher (subjektiver) Missbrauch im Sinne des „zweckge-richteten Vorschiebens eines mittelosen Klägers“ vorliegen musste, um den Tatbestand des § 138 BGB zu verwirklichen. Allgemein ist nämlich anerkannt, dass der bzw. die Handeln-den, die die Sittenwidrigkeit begründenden Umstände – so-fern der Inhalt des Rechtsgeschäfts nicht ohne Weiteres (ob-jektiv) sittenwidrig ist – kennen müssen.67 1. Vorrang des RDG?

Ein Verstoß gegen die „guten Sitten“ lässt sich allerdings nur dann begründen, wenn die Generalklausel des § 138 BGB nicht durch ein spezielleres Gesetz zurückzutreten hat.68 Als ein solches kommt das RDG in Betracht. Obschon es bizarr erscheint, dass einem Zedenten, der sich an eine gem. § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 RDG registrierte Person wendet und ihr im Wege der Inkassozession den Anspruch abtritt, gleichfalls der Einwand der Sittenwidrigkeit vorgehalten werden kann, lässt sich im Ergebnis ein Vorrangsverhältnis des RDG vor dem § 138 BGB nicht dartun.69 Das RDG vermag deshalb kein „spezielleres Gesetz“ als § 138 BGB sein, da dessen Anwen-dung lediglich an die Gefahren der Rechtsdienstleistung anknüpft.70 Zwar werden auch im Registrierungsverfahren gem. § 12 Abs. 1 Nr. 1 lit. b RDG die Vermögensverhältnisse des Rechtsdienstleisters geprüft,71 doch kann dies keinesfalls von der Prüfung der Verlagerung der Prozesskostenrisiken im Rahmen des § 138 BGB abhalten. Vor diesem Hintergrund bedarf es einer näheren Untersuchung, wann Inkassozessio-nen als „sittenwidrig“ im Sinne von § 138 BGB gelten. 2. Anspruch auf einen zahlungsfähigen Kläger?

Gem. § 91 Abs. 1 S. 1, 1. Hs. ZPO gilt im deutschen Zivil-prozessrecht die sog. „Verlierer-Regel“, der zufolge die im Prozess unterliegende Partei grundsätzlich die Prozesskosten zu tragen hat.72 Dabei ist insbesondere das – dem Rechts-

66 Vgl. nur Henckel (Fn. 30), S. 647. 67 Vgl. etwa BGH NJW 2007, 1447, dem zufolge die reine Möglichkeit der Kenntnisnahme nicht ausreichen soll und BGHZ 109, 314, demnach ausreichend ist, wenn sich die Beteiligten der Kenntnis grob fahrlässig verschließen; Mansel, in: Jauernig, Kommentar zum BGB, 16. Aufl. 2015, § 138 Rn. 11c; ferner bereits Boecken/Krause, NJW 1987, 420 m.w.N. 68 Armbrüster (Fn. 63), § 138 Rn. 4 zum Verhältnis von § 134 BGB und § 138 BGB; Arnold, in: Erman, Kommentar zum BGB, 14. Aufl. 2014, § 138 Rn. 10; Ellenberger, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 75. Aufl. 2016, § 138 Rn. 13 ff.; vgl. ferner BGHZ 51, 152 (160). 69 So auch Thole, ZWeR 2015, 93 (105). 70 Zutr. Thole, ZWeR 2015, 93 (105). 71 Dazu nur Gsell (Fn. 11), S. 194. 72 Boecken/Krause, NJW 1987, 420 (421); Flockenhaus, in: Musielak/Voit, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 13. Aufl. 2016, § 91 Rn. 1; Paulus, Zivilprozessrecht,

staatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) entnommene – Gebot der gleichmäßigen Verteilung des Kostenrisikos zu beachten.73 Wenn eine Forderung nur deshalb abgetreten wird, damit der Zessionar diese einklagt, ohne dabei im Unterliegensfall die Prozesskosten des Beklagten tilgen zu können, stellt sich das Problem, wie die Konstellation des „Vorschiebens eines mittellosen Klägers“ zu beurteilen bzw. zu lösen ist.74 Schließlich könnte so die „Gerechtigkeit durch Verfahren“ in Gefahr sein, wenn eine Partei die Möglichkeit hätte, durch eine „prozeßtaktische Zession“75, die durch die ZPO vorge-gebene „loser pays rule“ zu umgehen bzw. zu ihren Gunsten zu verändern.76 Im Grundsatz gilt jedenfalls, dass ein Beklag-ter kein Recht auf einen solventen Kläger hat.77 In der Regel trägt vielmehr jede Partei das Risiko, von einem zahlungsun-fähigen Kläger verklagt zu werden.78 Lediglich im Fall der §§ 110, 111 ZPO wird dem Beklagten eine „Prozesskostensi-cherheit“ im Sinne einer „Ausländersicherheit“ gewährt, die es ihm erlaubt, die Einrede mangelnder Kostenerstattung (§ 269 Abs. 6 ZPO) geltend zu machen.79 In allen anderen

6. Aufl. 2016, Rn. 167; Wilke, ZJS 2014, 365 (366); siehe etwa im Vergleich zur deutschen Kostenregelung die „Ame-rican Rule“ bei Buchner (Fn. 10), S. 53 f., wonach die unter-liegende Partei „grundsätzlich“ – vorbehaltlich zahlreicher Ausnahmen – keine Kostenerstattungspflicht gegenüber der obsiegenden Partei hat. 73 So auch Stadler, JZ 2014, 613 (617); siehe auch LG Düs-seldorf JZ 2014, 635 (639), das auf die Regelungen zur Ver-bandsklagebefugnis (§ 33 Abs. 2 GWB und § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG) verweist, wonach der „klagende Verband die erforder-liche finanzielle Ausstattung zur Rechtsverfolgung“ besitzen muss. 74 Jedenfalls liegt in einer solchen Konstellation kein Schein-geschäft gem. § 117 BGB vor, denn ist ein Rechtsgeschäft dann nicht bloß zum Schein geschlossen, wenn der mit ihm verfolgte Zweck – hier die Verlagerung des Prozesskostenri-sikos auf den Beklagten – seine Gültigkeit voraussetzt, siehe zur sog. „prozeßtaktischen Zession“ – mit entsprechender Argumentation – Buß/Honert, JZ 1997, 694 m.w.N. 75 So der Titel des Aufsatzes von Buß/Honert, JZ 1997, 694. 76 Fast wörtlich Buß/Honert, JZ 1997, 694 (697) im Kontext der Erschleichung der Zeugenstellung durch Abtretung im Prozess. 77 BGHZ 96, 151 (156); 100, 217 (221); BGH NJW 1999, 1717 (1718); Armbrüster (Fn. 63), § 138 Rn. 111; Fest, WM 2015, 705 (711); Stadler, JZ 2014, 613 (617); OLG München ZIP 2013, 558 zum sog. Kirch-Fall. 78 BGHZ 100, 217 (221); krit. hierzu Schumann (Fn. 35), S. 487 ff. 79 Allerdings beschränkt sich die Anwendung des § 110 ZPO auf wenige Fälle, denn entbindet einerseits eine Vielzahl von Staatsverträgen von dieser Pflicht und andererseits urteilte der EuGH NJW 1997, 3299, dass die Vorschrift für Kläger, die ihren „gewöhnlichen Aufenthalt […] in einem Mitglied-staat der Europäischen Union haben […]“, nicht gilt; vgl. hierzu Paulus (Fn. 72), Rn. 169 sowie ferner EuGH NJW 1993, 2431; EuGH NJW 1996, 3407; siehe auch Fest (WM 2015, 705 [712]), der die Anwendbarkeit des § 110 ZPO im

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Fällen ist die Möglichkeit vom Kläger Prozesskostensicher-heit zu verlangen, dem deutschen Zivilprozessrecht fremd – auch wenn dies de lege ferenda (insb. für die „Treuhands-fälle“) wünschenswert wäre.80 Vor diesem Hintergrund schützt § 110 Abs. 1 ZPO den Beklagten nicht vor der Gefahr der Vermögenslosigkeit des Klägers und zwar unabhängig davon, ob der Kläger ein „originär eigenes Recht“ oder ein solches, das ihm zum Zwecke der Einziehung übertragen worden ist, geltend macht.81 3. Nachteil für den Beklagten

Infolgedessen ist eine Gesamtwürdigung des jeweils verfolg-ten Zwecks sowie des dazu eingesetzten Mittels unter Be-rücksichtigung sämtlicher objektiver und subjektiver Um-stände vorzunehmen.82 Fraglich ist zunächst, ob dem Beklag-ten im Falle des „Vorschiebens eines mittellosen Klägers“ immer ein objektiver Nachteil entsteht. Eine derartig pau-schale Betrachtungsweise wird zwar von der Rechtsprechung herangezogen, vermag aber nicht zu überzeugen.83 Vielmehr sollte ein Vergleich mit der Situation ohne Inkassozession vorgenommen werden.84 Einem Beklagten kann nämlich nur dann ein objektiver Nachteil durch die Inkassozession entste-hen, wenn der Zedent selbst im Falle einer Klage zur Pro-zesskostenerstattung problemlos in der Lage gewesen wäre. Problematisch könnte dabei allenfalls sein, welche Umstände in den Vergleich zwischen der finanziellen Leistungsfähig-keit von Inkassozedent und Inkassozessionar berücksichtigt werden müssen. So könnte man etwa das Gesamtvolumen von „myRight“ (Abtretung aller Entschädigungsansprüche aus dem VW-Abgasskandal) mit dem einzelnen Anspruch des jeweiligen Zedenten vergleichen und sodann zum Ergeb-nis gelangen, der ursprüngliche Forderungsinhaber hätte, indem er nur seinen eigenen Anspruch hätte durchsetzen wollen, die Prozesskosten des Beklagten im Unterliegensfall unstreitig tilgen können.85 Ob eine solche Auffassung sachge-recht erscheint, ist jedenfalls bedenklich. Schließlich hat der Inkassozedent keinen Einfluss darauf, wann das Gesamtvo-lumen der Rechtsverfolgungsgesellschaft derart hoch ist, dass die Prozesskostenerstattung für den Gegner gefährdet ist.86 Maßgeblich kann daher nur sein, ob die Situation des Inkas-sozessionars „offensichtlich“ schlechter ist als diejenige des

Fall „CDC/Zementkartell“ verneint, denn waren prozessöko-nomische Vorteile für die an der Zession Beteiligten hand-lungsleitend. 80 Hierfür spricht sich insbesondere Gsell ([Fn. 11], S. 197) aus. 81 Zutreffend Fest, WM 2015, 705 (712). 82 BGH NJW 2008, 2027, st. Rspr.; Armbrüster (Fn. 63), § 138 Rn. 30 und insbesondere für die Zessionsfälle Rn. 111; Mansel (Fn. 67), § 138 Rn. 8; Wendtland, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, Ed. 40, Stand: 1.8.2016, § 138 Rn. 21. 83 Zutr. Stadler, JZ 2014, 613 (618). 84 Stadler, JZ 2014, 613 (618). 85 Thole, ZWeR 2015, 93 (101). 86 Thole, ZWeR 2015, 93 (101).

Zedenten.87 Unter welchen Umständen eine „offensichtlich“ schlechtere Situation anzunehmen ist, darüber sollte eine Gesamtabwägung – unter Berücksichtigung der objektiven finanziellen Mittel der an der Zession Beteiligten – entschei-den. So kann etwa die Eröffnung des Insolvenzverfahrens gegen den Inkassozessionar als Indiz dafür dienen, dass die Zession gerade darauf abzielte, dem Beklagten die Möglich-keit einer Prozesskostenerstattung zu nehmen.88 4. Der maßgebliche Zeitpunkt

Sodann stellt sich die Frage, ob der Vergleich der finanziellen Leistungsfähigkeit der an der Abtretung Beteiligten – nach den allgemeinen Regeln zu § 138 BGB – eine Zeitpunktbe-trachtung bezogen auf den Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts verlangt.89 War nämlich der Inkassozessio-nar zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage die Prozesskosten des Beklagten zu tilgen, so ist und bleibt die Inkassozession – auch im Falle einer nachträglichen Heilung der Sittenwidrig-keit – sittenwidrig. Bekanntermaßen ist nach h.M. eine selbstständige Heilung ausgeschlossen.90 Vielmehr sind die Parteien gezwungen, das nunmehr sittengemäße Rechtsge-schäft erneut vorzunehmen oder zu bestätigen (§ 141 Abs. 1 BGB).91 Die Rechtsprechung jedenfalls legt eine solche starre Zeitpunktbetrachtung auch Inkassozessionen zugrunde und lehnt eine selbstständige Heilung ab.92 Dies erscheint jedoch mehr als bedenklich, kommt es doch tatsächlich nur auf die hypothetische Prozesskostenerstattung an. Grundsätzlich gilt nämlich im Rahmen der Abtretung, dass – sofern sich die finanzielle Leistungsfähigkeit des Zessionars während des Prozesses bessert – eine Nachholung der Rechtshandlungen bis zum Ende der letzten mündlichen Verhandlung möglich ist.93 Hinzu kommt, dass auch bei der gewillkürten Prozess-standschaft für die wirksame Ermächtigung auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abgestellt wird, mithin eine positive Änderung der finanziellen Leistungsfähigkeit des ermächtigten Klägers berücksichtigt wird.94 Weshalb

87 Vgl. insofern auch Thole, ZWeR 2015, 93 (102). 88 So etwa ausdrücklich in Art. 99 der (neuen) schweizeri-schen Bundeszivilprozessordnung von 2011 normiert. Art. 99 S. 1 lit. b verlangt, dass die klagende Partei „zahlungsunfähig erscheint, namentlich [wenn] gegen sie der Konkurs eröffnet oder ein Nachlassverfahren in Gang ist“, vgl. dazu auch Stadler, JZ 2014, 613 (618). 89 BGH NJW 1989, 1276 (1277); BGH NJW 1995, 1886 (1887); Mansel (Fn. 67), § 138 Rn. 2 f.; Wendtland (Fn. 82), § 138 Rn. 26. 90 Eckert, AcP 199 (1999), 337 (340 m.w.N.); Ellenberger (Fn. 68), § 138 Rn. 10; Wendtland (Fn. 82), § 138 Rn. 27. 91 Vgl. zur Möglichkeit der Bestätigung BGH NJW 2007, 2841 und zur Neuvornahme BGH NJW 2012, 1570 (1571). 92 OLG Düsseldorf BeckRS 2015, 05317 Rn. 74. 93 Stadler, JZ 2014, 613 (618). 94 BGH NJW-RR 1993, 670; Bendtsen (Fn. 37), § 51 Rn. 21; Bork, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 22. Aufl. 2004, Vorbem. zu § 50 Rn. 44; Hüßtege, in: Tho-mas/Putzo, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 37. Aufl. 2016, § 51 Rn. 33; Weth (Fn. 37), § 51 Rn. 26.

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dann eine selbsteintretende Heilung der nunmehr sittengemä-ßen Abtretung ausgeschlossen sein soll, erschließt sich nicht.95 Des Weiteren kommen Zweifel an der starren Zeit-punktbetrachtung auf, sobald man sich den hypothetischen Fall vor Augen hält, dass der Inkassozessionar im Zeitpunkt der Vornahme der Abtretung finanziell leistungsstark war, aber noch vor Klageerhebung oder während des Prozesses vermögenslos geworden ist.96 Der Prozesskostenerstattungs-anspruch wäre in einem derartigen Fall gleichermaßen ge-fährdet. Gleichwohl würde man eine sittenwidrige Abtretung mit der Begründung verneinen, der Vermögensverlust sei nicht sittenwidrig gewesen.97 Eine solche Betrachtungsweise verleitet sodann zu Manipulationen, indem ein Prozess-finanzierer, ein Dritter oder der Zedent im Zeitpunkt der Abtretung eine Finanzierungszusage macht, der zufolge der Kostenerstattungsanspruch gesichert ist, aber diese Zusage vor oder während des Prozesses zurückzieht, mithin die h.M. konsequenterweise eine sittenwidrige Abtretung verneinen müsste – auch wenn das Vermögen des Zessionars lediglich „künstlich hochgehalten“ wurde.98 a) Abstellen auf das Ende der letzten mündlichen Verhand-lung

Um der starren Zeitpunktbetrachtung des § 138 BGB zu entgehen, könnte man daher erwägen, für die finanzielle Lage des Inkassozessionars auf das Ende der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen. Für das Abstellen auf das Ende der letzten mündlichen Verhandlung im Rahmen des § 138 BGB spricht zunächst die Berücksichtigung positiver Veränderun-gen der finanziellen Leistungsfähigkeit – entsprechend der h.M. zur gewillkürten Prozessstandschaft.99 Die ohnehin „funktionsäquivalenten“ Rechtsinstitute der Inkassozession und der Einziehungsermächtigung sowie ihre prozessuale Durchsetzung im Wege der gewillkürten Prozessstandschaft würden mithin gleichermaßen hinsichtlich ihrer Wirksamkeit behandelt werden.100 Hinzu kommt, dass eine Klageabwei-sung mit der Begründung, der Kostenerstattungsanspruch sei einmal früher hypothetisch gefährdet gewesen, „eine durch nichts zu rechtfertigende Bevorzugung des Beklagten allein in den Inkassofällen [wäre] und [...] den Kläger zur erneuten Klageerhebung nach wiederholter Abtretung [zwingen wür-de].“101 Schließlich würde man dieser Ansicht nach in der Tat auch das Beibringen von Bürgschaften berücksichtigen, in-dem etwa ein Dritter, der sich zwar noch nicht im Zeitpunkt

95 Ebenso Stadler, JZ 2014, 613 (618 f.). 96 Thole, ZWeR 2015, 93 (103). 97 Denn ist für die Verhältnisse des Zessionars der Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts maßgeblich, vgl. nur Eckert, AcP 199 (1999), 337 (340 m.w.N.) aus der Recht-sprechung des RG sowie des BGH; dazu auch Boecken/ Krause, NJW 1987, 420 (421). 98 Zutreffend hiervon ausgehend Thole, ZWeR 2015, 93 (103); ebenso Makatsch/Abele, WuW 2014, 164 (167). 99 Denn gilt dort der Grundsatz der Rücknehmbarkeit von Prozesshandlungen, vgl. nur Schumann (Fn. 35), S. 473. 100 Ähnlich Stadler, JZ 2014, 613 (619). 101 Wörtlich Stadler, JZ 2014, 613 (619).

der Abtretung, aber jedenfalls noch vor Klageerhebung oder bis zum Ablauf der letzten mündlichen Verhandlung bereit erklärt, für den Kläger zu „bürgen“102; ergo eine Gefähr-dungslage des Beklagten – anders als beim Abstellen auf den Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts – erst gar nicht entstehen würde. b) Zwischenergebnis

Weil die Rechtsprechung weiterhin an der starren Zeitpunkt-betrachtung festhält, sei „myRight“ zu raten, sich bereits vor den Inkassoabtretungen um eine hinreichende Prozessfinan-zierung zu bemühen. Nachdem der Prozessfinanzierer Burford Capital103 der Kanzlei von Hausfeld bereits zugesagt hatte, 30 Millionen für ihre Prozesse in Deutschland zur Ver-fügung zu stellen,104 dürfte der Prozesskostenersattungs-anspruch für die VW-AG im Falle des Obsiegens gedeckt sein. Zumindest dürften grundsätzlich keine Bedenken für einen Missbrauch der Inkassozession durch das „Vorschieben eines mittellosen Klägers“ bestehen, da die einzelnen VW-Kunden (insbesondere Verbraucher) kaum liquider sein wer-den als ein Prozessfinanzierer. Der Rechtsprechung sei jeden-falls zu raten – aufgrund der Änderung der tatsächlichen Grundlage der angenommenen Sittenwidrigkeit im Falle des Vorschiebens eines mittellosen Inkassozessionars – von der starren Zeitpunktbetrachtung Abstand zu nehmen und wegen des (notwendigen) Vergleichs zur gewillkürten Prozessstand-schaft vielmehr auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen, zumal auch für Testamente inzwi-schen anerkannt ist, dass der Zeitpunkt der richterlichen Be-wertung bzw. des Erbfalls entscheidend sei.105 Im Übrigen wird auch für die Feststellung eines Rechtsmissbrauchs im Rahmen des § 242 BGB auf den Zeitpunkt der Geltendma-chung des Rechts bzw. – im Rechtsstreit – auf die letzte mündliche Verhandlung abgestellt, so dass eine derartige Betrachtungsweise keinesfalls eine eklatante Ausnahme in der Rechtsprechung zu den „Generalklauseln des BGB“ dar-stellen würde.106

102 Ähnlich Thole, ZWeR 2015, 93 (102). Dies gilt natürlich nur insofern der Bürge über ausreichend Kapital verfügt. 103 Zur Website http://www.burfordcapital.com/ (1.11.2016). 104 So die Mitteilung auf der Website von Hausfeld, unter http://www.hausfeld.com/news/global/30-mio.-euro-projekt-von-hausfeld-und-burford-capital-fuer-den-deutschen-ma (1.11.2016) abrufbar. 105 Vgl. dazu nur OLG Hamm OLGZ 1979, 425 (427 f.) so-wie die Darstellung bei Eckert, AcP 199 (1999), 337 (342 f., insbesondere 356 m.w.N.); siehe auch Paal, JZ 2005, 436 (443 f.); Sack/Fischinger, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 15. Aufl. 2011, § 138 Rn. 105. 106 Vgl. dazu Looschelders/Olzen, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 15. Aufl. 2015, § 242 Rn. 153; siehe auch Boecken/Krause, NJW 1987, 420 (421), die sich gerade auf § 242 BGB berufen.

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5. Vorteile einer Prozessführung durch die Bündelung von Ansprüchen

Ein weiterer „Makel“, der der Lösung der Rechtsprechung anhaftet, ist die Nichtberücksichtigung der Vorteile einer Prozessführung durch die Bündelung von Ansprüchen mittels einer Inkassozession, denn es darf nicht vergessen werden, dass die Lösung über § 138 BGB „stets eine Prüfung der Beweggründe, die zumindest auch im Subjektiven verhaftet sind“107, erfordert. Bereits das OLG München108 hat im sog. Kirch-Fall zutreffend auf die mannigfachen kostensparenden Folgen einer Anspruchsbündelung – von denen beide Partei-en profitieren – hingewiesen. Zudem entbindet ein „gebün-deltes“ Vorgehen von der mehrfachen Durchführung der gleichen Beweisaufnahme.109 Dies führt zugleich zu zeitli-chen Ersparnissen.110 Zusätzlich kann durch eine solche Vor-gehensweise – zumindest bei Massenschäden – die Justiz entlastet werden.111 Obendrein dient die „Bündelung von Ansprüchen“ dem Entscheidungseinklang und der Rechtssi-cherheit, da die Gefahr divergierender Entscheidungen be-steht, wenn verschiedene Gerichte über dasselbe tatsächliche und/oder rechtliche Problem urteilen.112 Hinzu kommt, dass eine Rechtsdurchsetzung – gerade bei geringen Bagatell- bzw. Streuschäden, aber auch bei Massenschäden – nur in Betracht kommt, wenn eine Person das Heft des Handelns in die Hand nimmt, denn mag es aus Sicht des einzelnen Betei-ligten – aufgrund der „hohen Wagnisse und Mühen“113 eines (eigenen) Zivilprozesses – durchaus rational114 sein, auf eine individuelle Anspruchsdurchsetzung zu verzichten. Daher

107 Thole, ZWeR 2015, 93 (101); sowie von der Kenntnis der „sittenwidrigkeitsbegründenden Umstände, Motive, Zwecke usw.“ sprechend Dörner, in: Schulze u.a., Handkommentar zum BGB, 8. Aufl. 2014, § 138 Rn. 4; so auch Wendtland (Fn. 82), § 138 Rn. 23; siehe näher zum „Subjektiven Tatbe-stand des § 138“ auch Lindacher, AcP 173 (1973), 124 (125 ff., insb. 127). 108 OLG München ZIP 2013, 558. 109 OLG München ZIP 2013, 558. 110 Generell zur sog. Prozessökonomie und -effizienz siehe Buchner (Fn. 10), S. 47, die aber richtigerweise anführt, dass auch auf dem Gebiet des kollektiven Rechtsschutzes zeit- und kostenintensive Klagen geführt werden (können); Möllers/ Weichert, NJW 2005, 2737 (2738); Tamm, ZHR 174 (2010), 525 (529). 111 Zutreffend Buchner (Fn. 10), S. 50, die aber den „kollek-tiven Rechtsschutz“ bei Bagatellschäden als eine „Mehrbelas-tung“ der Justiz beschreibt. 112 Buchner (Fn. 10), S. 50; Reuschle, WM 2004, 966 (973). 113 Thole, ZWeR 2015, 93 (100). 114 So auch Bamberger (Fn. 10), S. 33 f., der von „subjekti-ve[n] und bisweilen übertriebene[n] Ängste[n]“ Massenschä-den Betroffenen spricht, diese aber gleichwohl auch durch „faktische Umstände gehindert“ sieht zu klagen; vom „ratio-nalem Desinteresse“ potentiell Geschädigter spricht etwa Halfmeier, Popularklagen im Privatrecht, 2006, S. 79; siehe ferner auch Bien (Fn. 15), S. 131 f. zum „Problem der ratio-nalen Apathie“; ferner Hempel, NJW 2015, 2077; Schaub, JZ 2011, 13 (16) insbesondere für Bagatellschäden.

läuft die Argumentation, der einzelne Zedent könne den An-spruch selbst einklagen, ins Leere.115 Schließlich wäre bei einer solchen Betrachtungsweise auch der Finanzierungsvor-teil des Zedenten – nämlich gerade nicht die Kosten des Rechtsstreits zu tragen – dahin.116 Des Weiteren würde der Beklagte insoweit von der Anwendung des § 138 BGB dop-pelt begünstigt werden, indem einerseits der Inkassozessionar (bereits im Zeitpunkt der Abtretung!) mit hinreichend Kapital ausgestattet sein und andererseits der Anspruchsgegner – sollte die Abtretung nichtig sein – keinen weiteren Prozess durch die einzelnen Zedenten fürchten muss.117 6. Schädigungsabsicht für Inkassozessionen?

Vor dem Hintergrund der fehlenden Bündelungsmöglichkeit von Ansprüchen bei Bagatell- bzw. Streuschäden und Mas-senschäden, könnte für die Bewertung der Wirksamkeit einer Inkassozession ein strengerer Maßstab – als dies bisher der Fall war – anzulegen sein, der das „strenge moralische Ur-teil“ 118 des § 138 BGB rechtfertigt. So wird zutreffend vorge-schlagen, dass eine Inkassozession nur dann sittenwidrig sein kann, wenn Zedent und Zessionar sie nur aus dem Grund vornehmen, um in Schädigungsabsicht die prozessuale Kos-tenerstattungssituation des Beklagten zu verschlechtern.119 Zwar ist eine Schädigungsabsicht ebenso wenig wie eine – jüngst vom BGH120 geforderte – „verwerfliche Gesinnung“ eine allgemeine Voraussetzung für die Annahme eines sit-tenwidrigen Rechtsgeschäfts,121 doch spricht insbesondere der Grundsatz, dass kein Beklagter einen Anspruch auf einen

115 Zutr. Thole, ZWeR 2015, 93 (100). 116 So stellt Hempel (NJW 2015, 2077 [2079]) richtigerweise klar, dass man „auf die Zedenten als Geldgeber […] nicht unbedingt setzen [kann]“, denn haben diese „eher wenig Interesse an einer Kostenbeteiligung.“ 117 Thole, ZWeR 2015, 93 (100). 118 Stadler, JZ 2014, 613 (619). 119 So Stadler, JZ 2014, 613 (619 f.); vgl. ferner Boecken/ Krause, NJW 1987, 420 (421), die eine „Lösung dieses Inte-ressenkonflikts“ im Rahmen des § 242 BGB suchen, wonach „die Ausübung einer Rechtsposition eine grobe und unerträg-liche Unbilligkeit“ darstellen müsste, damit der Grundsatz des Verbots der unzulässigen Rechtsausübung greift. Eine solche „grobe und unerträgliche Unbilligkeit“ impliziert einen äußerst strengen Maßstab, der mit der Schädigungsab-sicht gleichzustellen sein könnte. 120 BGH NJW 2004, 2671 (2673); BGH NJW 2010, 363; siehe dazu auch Armbrüster, JZ 2015, 733 (735). 121 Vgl. nur BGH NJW 1993, 1587 (1588); Dörner (Fn. 107), § 138 Rn. 4; Wendtland (Fn. 82), § 138 Rn. 23 gegen das Erfordernis einer Schädigungsabsicht; sowie Armbrüster (Fn. 63), § 138 Rn. 117; ders., JZ 2015, 733 (736); Canaris, AcP 200 (2000), 273 (301); Lindacher, AcP 173 (1973), 124 (126) gegen das Erfordernis einer „verwerflichen Gesin-nung“, denn geht es bei § 138 BGB lediglich darum inhalt-lich anstößige Rechtsgeschäfte dem Nichtigkeitsverdikt aus-zusetzten, hingegen nicht um die Unterdrückung als bedenk-lich erachteter Gesinnungen; dagegen auch LG Düsseldorf JZ 2014, 635 (640).

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zahlungsfähigen Kläger hat dafür, sie gleichwohl für die Bewertung sittenwidriger Inkassozessionen heranzuziehen.122 Auch der Umstand, dass eine Inkassozession grundsätzlich nur dann als sittenwidrig gilt, wenn ihr „maßgeblicher Zweck“, der sich nur vorsätzlich – nicht aber (grob) fahrläs-sig verfolgen lässt –, die Verlagerung des Prozesskostenrisi-kos auf den Beklagten ist, lässt eine derartige Auslegung zu.123 Schließlich stellt die im Allgemeinen uneingeschränkte Abtretbarkeit von Forderungen eines der Grundprinzipien des deutschen Zivilrechtssystems dar, so dass eine Einschränkung jener Freiheit nur dann erfolgen kann, „wenn sie völlig ein-seitig zur Schädigung Dritter missbraucht wird.“124 7. Rechtsfolgen einer „sittenwidrigen“ Inkassozession

Gelangt man schließlich – entsprechend dem Vorliegen einer Schädigungsabsicht der an der Zession Beteiligten – zu dem Ergebnis, dass die Inkassozession sittenwidrig im Sinne von § 138 BGB ist, bedarf es der Frage, ob diese - nach den all-gemein anerkannten Grundsätzen zu § 138 BGB – von An-fang an (ex tunc) als nichtig anzusehen ist.125 a) „Durchgriffslösung“

Teilweise wird gegen das Nichtigkeitsverdikt für die Inkasso-zession eingewandt, diese hätte eine „überschießende Sankti-on“ zur Folge, „die nicht notwendig ist, um den Vermögens-interessen des Beklagten Rechnung zu tragen.“126 Vielmehr erscheine eine sog. „Durchgriffslösung“, die für die Vermö-gensverhältnisse im Rahmen der Inkassozession auf den Inkassozedenten abstellt, sachgerecht, zumal dies für die Rechtsprechung kein Neuland wäre, das sie zu betreten hätte, denn ist allgemein anerkannt, dass bei der rechtsmissbräuch-lichen Erschleichung von Prozesskostenhilfe durch das „Vor-schieben eines mittellosen Klägers“ gerade auf den tatsächli-chen Rechtsinhaber abzustellen sei.127

122 Stadler, JZ 2014, 613 (619 f.). 123 So Armbrüster, JZ 2015, 733 (736); ähnlich Fest, WM 2015, 705 (711). 124 Wörtlich Armbrüster, JZ 2015, 733 (735). 125 Vgl. nur Boemke/Ulrici, BGB, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2014, § 11 Rn. 61; Dörner (Fn. 107), § 138 Rn. 17; Mansel (Fn. 67), § 138 Rn. 25 ff.; Rüthers/Stadler (Fn. 41), § 26 Rn. 42; Wendtland (Fn. 82), § 138 Rn. 29. 126 Stadler, JZ 2014, 613 (621). 127 So etwa BGHZ 47, 289 (292); vgl. insbesondere für einen „Durchgriff“ im Kontext der gewillkürten Prozessstandschaft auf den Ermächtigenden Schumann (Fn. 35), S. 487 m.w.N.; Fischer, in: Musielak/Voit, Kommentar zur Zivilprozessord-nung, 13. Aufl. 2016, § 114 Rn. 5; Kießling, in: Saenger, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 6. Aufl. 2015, § 114 Rn. 14; a.A. Bork (Fn. 94), § 114 Rn. 7; vgl. ferner die Ent-scheidungen des BGH zur Prozessermächtigung einer ver-mögenslosen juristischen Person bei Schumann (Fn. 35), S. 489 f.

b) Zweifel an der „Durchgriffslösung“?

Eine solche „Durchgriffslösung“ müsste aber mit dem Prinzip des Zwei-Parteien-Prozesses128 und dem maßgeblichen for-mellen Parteibegriff der ZPO (§§ 91 ff. ZPO)129 konkurrie-ren. Daher wird eingewandt, eine derartige Lösung hätte eine Verkomplizierung des Kostenerstattungsverfahrens zur Fol-ge. Zudem bestünde für denjenigen Zedenten, der sich seiner Forderungen vollständig „abgestoßen“ habe, gleichwohl die Gefahr, mit fremden Prozessen – nämlich denen des Zessio-nars – in Berührung zu kommen.130 Es mag zwar durchaus richtig sein, dass bei einer „Durchgriffslösung“ die Wertun-gen der §§ 91 ff. ZPO umgangen werden würden, jedoch ist ein Durchgriff auf den vermögenden Zedenten – sofern man weiterhin mit dem „vagen“ Maßstab des § 138 BGB operie-ren muss – jedenfalls angemessener, als die Nichtigkeit der Zession.131 Dies vor allem deshalb, weil es infolge von Inkas-sozessionen nicht immer zwingend zu Prozessen kommen muss, das Nichtigkeitsverdikt aber gerade einen möglichen außergerichtlichen Vergleich oder Anwaltsvergleich, der sachgerecht erscheint, weil dann die Prozesskostengefähr-dung des Gegners nicht gegeben ist, zunichtemachen wür-de.132 Schließlich greift auch das Argument der vollständigen Entledigung der Forderungen durch den Zedenten im Rah-men der Inkassozession nicht, sofern man sich ihre Rechtsna-tur vor Augen führt. Maßgeblich für sie ist – wie unter Punkt II. erläutert – eine wirtschaftliche und gerade keine formal-rechtliche Betrachtungsweise, mithin eine „Forderungsabsto-ßung im Ganzen“, da der Inkassozedent weiterhin das Boni-tätsrisiko der Einziehung der Forderung trägt, überhaupt nicht denkbar sei. Des Weiteren soll die „Durchgriffslösung“ nur auf Fälle von Inkassozessionen beschränkt werden. Keines-falls kann sie eine allgemeine Lösung für sämtliche „norma-le“ Abtretungsfälle darstellen.

128 Dazu allgemein Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilpro-zessrecht, 2010, § 40 Rn. 26; sowie im Kontext kollektiver Klageinstrumente Lange, Das begrenzte Gruppenverfahren, 2011, S. 110 ff. (insb. S. 112), die letztlich ebenfalls das Prinzip des Zwei-Parteien-Prozesses nicht als Zulässigkeits-hindernis für Kollektivklagen sieht, „soweit eine eindeutige Zuordnung der Beteiligten zu einer der sich gegenüberste-henden Seiten möglich ist.“ Dies ist im Fall der gebündelten Rechtsdurchsetzung mittels Inkassozession unstreitig der Fall. 129 Hierzu allgemein siehe Jacoby, in: Stein/Jonas, Kommen-tar zur Zivilprozessordnung, 22. Aufl. 2004, Vorbem. zu § 50 Rn. 2 m.w.N.; Paulus (Fn. 72), Rn. 64 ff. 130 Vgl. Thole, ZWeR 2015, 93 (107 f.). 131 Zutr. Stadler, JZ 2014, 613 (621); dies gilt vor allem auch deshalb, weil die Kostenfrage so in subjektive Bereiche ver-schoben wird, obschon die prozessualen Kostenerstattungs-ansprüche kein Verschulden der unterliegenden Partei vo-raussetzen, vgl. dazu Schumann (Fn. 35), S. 488. 132 Stadler, JZ 2014, 613 (620 f.).

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Bündelung von Ansprüchen mittels Inkassozession im VW-Abgasskandal ZIVILRECHT

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c) Zwischenergebnis

Vor diesem Hintergrund stellt der Durchgriff auf den vermö-genden Zedenten im Falle der Prozesskostenerstattung de lege lata für die Inkassozession ein vernünftiges Mittel dar. Das Nichtigkeitsverdikt des § 138 BGB sollte daher teleolo-gisch reduziert werden.133 Alternativ ließe sich das Nichtig-keitsurteil über die Anwendung von § 242 BGB vermeiden, sofern sich die tatsächlichen Verhältnisse geändert haben, da die Nichtigkeitsrechtsfolge dann zu einem Ergebnis führt, welches der Billigkeit (im Sinne von Individualgerechtigkeit) widerspricht.134 V. Schlussbetrachtung und Ausblick Die Inkassozession eignet sich als etwaige „Sammelklage“ nach deutschem Recht – gemäß den Vorgaben der Recht-sprechung – noch nicht als ein effektives kollektives Rechts-schutzinstrument, obschon sie dies – de lege lata – zumindest für die Bewältigung von Massenschäden sein kann. Voraus-setzung hierfür wäre ein differenzierter Ansatz der Recht-sprechung im Rahmen der § 134 BGB (i.V.m. § 3 RDG), § 138 BGB. De lege ferenda täte der Gesetzgeber gut daran, eine Anpassung des Prozesskostenrechts und des Rechts der Prozesskostensicherheit für die Fälle der treuhänderischen Rechtsdurchsetzung vorzunehmen.135 Als „Vorbild“ könnten insofern die Rules 25.12-25.14 der Civil Procedure Rules 1999 von England und Wales dienen, die auf Antrag des Beklagten die gerichtliche Anordnung einer „security for costs“ vorsehen, wenn eine klagende Gesellschaft oder ein „nominal claimant“ voraussichtlich die Prozesskosten der Gegenseite im Falle ihres Obsiegens nicht tilgen kann.136 Dies entspricht insofern einer subsidiären Haftung des Inkas-sozedenten für die Prozesskosten des Gegners – anteilig nach der Höhe der jeweiligen Forderung – im Fall der Vermögens-losigkeit des Inkassozessionars (so Rule 25.14 der Civil Pro-cedure Rules für England und Wales).137

Grenzen werden der „Inkassozessionslösung“ jedenfalls bei der Bewältigung von Bagatell-bzw. Streuschäden gesetzt, weil sich die lediglich ganz geringfügig Geschädigten138 kaum auf den mit dem Verkauf und der Abtretung der Forde-rungen verbundenen bürokratischen Aufwand einlassen wer-den, zumal gewiss das Interesse des Inkassozessionars (und seines Finanzierers) bei niedrigen Schadensersatzforderungen

133 Stadler, JZ 2014, 613 (621). 134 Siehe umfassend zum Verhältnis von § 242 BGB zu teleo-logischer Reduktion und Analogie Looschelders/Olzen (Fn. 106), § 242 Rn. 343 ff. und Rn. 365 ff. zur Konkurrenz zwischen § 242 BGB und § 138 BGB. Zur Möglichkeit der Einschränkung der Nichtigkeitsfolge des § 138 BGB durch § 242 BGB vgl. dies. (a.a.O.), § 242 Rn. 491 ff. (insbesonde-re Rn. 497). 135 Zutreffend Gsell (Fn. 11), S. 197. 136 Vgl. dazu näher Stadler, JZ 2014, 613 (618). 137 Dafür spricht sich zutreffend Stadler, JZ 2014, 613 (622) aus. 138 Ca. 15 € als Grenze, vgl. Bien (Fn. 15), S. 136 Fn. 28.

eher schwach sein dürfte.139 Zwar werden es künftig auch die nach dem RDG registrierten Rechtsverfolgungsgesellschaften schwerer haben, eine Klage durchzusetzen, sofern nicht – im Zeitpunkt der Abtretung – hinreichend Kapital vorhanden ist, um den Kostenerstattungsanspruch des Beklagten zu de-cken.140 Gleichwohl sollte man das „Inkassoabtretungsmo-dell“ nicht völlig aus den Augen verlieren, zumal eine effek-tivere kollektive Rechtsschutzmöglichkeit – mit Finanzie-rungscharakter – für die Bewältigung von Massenschäden in Deutschland kaum zu erkennen ist.141

139 Zutreffend Bien (Fn. 15), S. 136; so auch Bernhard (Fn. 15), S. 171 und 322 ff.; Gsell (Fn. 11), S. 195 f.; siehe auch Fiedler (Fn. 13), S. 112 und 118. 140 So auch die Einschätzung von Thole, ZWeR 2015, 93 (116 f.) sowie Makatsch/Abele, WuW 2014, 164 (167); vgl. zudem Buchner (Fn. 10), S. 79, denn „zeigt [das Urteil des LG und OLG Düsseldorf], dass bei Abtretungen zur Forde-rungsbündelung und gesammelten Geltendmachung die fi-nanzielle Situation des Zessionars von großer Bedeutung ist.“ 141 Siehe etwa Hempel, NJW 2015, 2077 (2080): „Das Abtre-tungsmodell ist nicht passé, aber anpassungsbedürftig.“; ähnlich auch Stadler, JZ 2014, 613 (621 f.); ferner Alfaro/ Reher, The European Antitrust Review 2010, 2010, 43 (44), die bereits die gebündelte Klageerhebung von CDC mittels Inkassozession als Nachweis dafür sehen, dass es einer ge-setzlichen Fixierung von Sammelklagen in der EU nicht bedürfe; nach Kainer/Persch (WuW 2016, 2 [7]) ist „die Abtretungskonstruktion […] keineswegs obsolet“; da das Urteil des LG Düsseldorf in der Berufung bestand hatte, sehen Makatsch/Abele (WuW 2014, 164 [170 f.]) dies als „deutliche[n] Rückschritt für die private Kartellrechtsdurch-setzung in Deutschland“ an.

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ZJS 6/2016 698

„Zugänglichmachen“ und „öffentliches Begehen“ als Tathandlungen im Medien-strafrecht Beiträge zum Medienstrafrecht – Teil 6* Von Prof. Dr. Manfred Heinrich , Kiel Die in medienstrafrechtlich relevanten Strafnormen neben dem „Verbreiten“ mit Abstand am häufigsten genannten Tathandlungen sind die des „Zugänglichmachens“ und des „öffentlich“ Begehens. Wie schon beim „Verbreiten“1 er-scheint es nutzbringend, unabhängig von der Betrachtung der einschlägigen Delikte auch diese Begehensformen in tatbe-standsübergreifender Weise bereits vorab zu behandeln, um die daraus zu erlangenden Erkenntnisse bei der Betrachtung jener Delikte dann als ohne Weiteres abrufbar zugrunde legen zu können.

Dabei ist zu beachten, dass im Zuge der Umgestaltung bzw. Neufassung der §§ 130, 130a, 131, 184 ff. StGB durch das 49. StÄG2 der Gesetzgeber erst unlängst (im Januar 2015) auch Änderungen im Hinblick auf die Formulierung der jeweils einschlägigen Tathandlungen vorgenommen hat, etwa durch Streichung der bisher vom Gesetz als Beispiele für ein „Zugänglichmachen“ genannten Begehensformen des Ausstellens, Anschlagens und Vorführens in §§ 130 Abs. 2, 130a Abs. 1 und 2, 131 Abs. 1, 184 Abs. 1, 184a, 184b Abs. 1, 184c Abs. 1 StGB a.F. sowie insbesondere durch Ersetzen der Formel von der „Verbreitung durch Rundfunk, Medien- oder Teledienste“ in §§ 130 Abs. 2 Nr. 2, 131 Abs. 2, 184d StGB a.F. durch diejenige vom Zugänglichmachen einschlä-giger Inhalte mittels Rundfunk oder Telemedien in §§ 130 Abs. 2 Nr. 2, 130a Abs. 3, 131 Abs. 1 Nr. 2, 184d StGB n.F. Grundlage der nachfolgenden Darstellung ist selbstverständ-lich die neue Gesetzeslage, soweit dem Verständnis förder-lich, erfolgen aber auch Hinweise auf die vorherige Rege-lung.

* Dieser Beitrag ist der sechste einer Reihe von Beiträgen des Autors zum Medienstrafrecht, die sukzessive in der ZJS er-scheinen. Der erste und der vierte Beitrag – zu Besonderhei-ten der Verjährung im Presse-, Rundfunk- und Telemedien-strafrecht – finden sich in ZJS 2016, 17 und 414. Der zweite und der dritte Beitrag – in ZJS 2016, 132 und 297 – widme-ten sich der Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB. In dem vorhergehenden fünften und diesem sechsten Beitrag der Reihe sollen nun besonders wichtige, in medienstrafrecht-lichen Tatbeständen immer wiederkehrende Tathandlungen in tatbestandsübergreifender Weise dargestellt werden – nach dem „Verbreiten“ in ZJS 2016, 569 nunmehr das „Zugäng-lichmachen“ und das „öffentliche“ Begehen. Auf dieser Grundlage wird sich dann in weiteren Beiträgen die Darstel-lung einzelner medienstrafrechtlich relevanter Tatbestände (zunächst aus dem Bereich der Staats- und Friedensschutzde-likte) anschließen, die als Tathandlungen zu allermeist – nur bzw. gerade auch – das Verbreiten, Zugänglichmachen und/oder öffentliche Begehen nennen. 1 Ausführlich hierzu M. Heinrich, ZJS 2016, 569. 2 49. StÄG v. 21.1.2015 = BGBl. I 2015, S. 10 ff., in Kraft seit 27.1.2015.

I. Das Zugänglichmachen In zahlreichen medienstrafrechtlich relevanten Tatbeständen3 (aber auch vereinzelt in nicht-tatbestandlichen Regelungen4) findet sich die Tathandlung des „Zugänglichmachens“ – zumeist neben der des „Verbreitens“5, nicht selten aber auch insoweit für sich alleine stehend6.

Meist geht es dabei um das Zugänglichmachen von Schriften im Sinne des § 11 Abs. 3 StGB7, häufig darum, diese „öffentlich“ bzw. „der Öffentlichkeit“ zugänglich zu machen8 oder aber in der Absicht zu handeln, dies zu tun9. In einer Reihe von Fällen knüpft das Gesetz jedoch auch daran an, dass der Täter die Schriften „einer anderen Person“ zu-gänglich macht10 bzw. „einer Person unter achtzehn Jahren“11 oder „an einem Ort, der Personen unter achtzehn Jahren zu-gänglich ist oder von ihnen eingesehen werden kann“12. Das Zugänglichmachen der Schrift gegenüber „der Öffentlich-keit“ (hierzu nachfolgend 1.) und gegenüber „einer Person unter achtzehn Jahren“ (zu den Fällen „einfachen“ Zugäng-lichmachens vgl. unten 2.) stehen dabei bisweilen auch alter-nativ nebeneinander13.

Von Bedeutung ist nunmehr aber auch das „mittels Rund-funk oder Telemedien“ erfolgende Zugänglichmachen von

3 Im Bereich der Ordnungswidrigkeiten siehe auch §§ 119 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3, 120 Abs. 1 Nr. 2 OWiG. 4 Wie in §§ 74d Abs. 4, 194 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 2 StGB. 5 So in §§ 86 Abs. 1, 130 Abs. 2 Nr. 1, 130a Abs. 1, 2 Nr. 1, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. a, b, 184 Abs. 1 Nr. 9, 184a S. 1 Nr. 1, 184b Abs. 1 Nr. 1, 184c Abs. 1 Nr. 1, 202c Abs. 1 StGB, § 23 JMStV und § 108b Abs. 1 Nr. 2 lit. b UrhG. 6 Vgl. §§ 91 Abs. 1 Nr. 1, 130 Abs. 2 Nr. 2, 130a Abs. 3, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 184 Abs. 1 Nr. 1 und 2, 201 Abs. 1 Nr. 2, 201a Abs. 1 Nr. 3 und 4, Abs. 2 StGB, §§ 27 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. 15 Abs. 1 Nr. 1 und 2 JuSchG. 7 So in §§ 86 Abs. 1, 91 Abs. 1 Nr. 1, 130 Abs. 2 Nr. 1, 130a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. a, b, 184 Abs. 1 Nr. 1, 2, 9, 184a S. 1 Nr. 1, 184b Abs. 1 Nr. 1, 184c Abs. 1 Nr. 1 StGB und auch in §§ 74d Abs. 4, 194 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 2 StGB. 8 Vgl. §§ 74d Abs. 4, 194 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 2 StGB („öf-fentlich“), § 86 Abs. 1 StGB („öffentlich in Datenspeichern“, speziell hierzu unten im Text 1. d) sowie §§ 130 Abs. 2 Nr. 1, 130a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. a, 184a S. 1 Nr. 1, 184b Abs. 1 Nr. 1, 184c Abs. 1 Nr. 1 StGB („der Öffentlichkeit“). 9 So in § 184 Abs. 1 Nr. 9 StGB. 10 § 91 Abs. 1 Nr. 1 StGB. 11 §§ 130 Abs. 2 Nr. 1, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. b, 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB. 12 § 184 Abs. 1 Nr. 2 StGB. 13 So in §§ 130 Abs. 2 Nr. 1, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. a, b StGB.

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„Zugänglichmachen“ und „öffentliches Begehen“ als Tathandlungen im Medienstrafrecht STRAFRECHT

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Inhalten (volksverhetzender, straftatanleitender, gewaltdar-stellender, pornografischer oder beleidigender Art), wie es erst kürzlich durch das 49. StÄG14 in einer Reihe von Tatbe-ständen15 – unter Ersetzung des zuvor dort relevanten „Ver-breitens von Darbietungen“16 – verankert wurde (näher hierzu unten 3.). Auch hier geht es wieder darum, dass die Inhalte „der Öffentlichkeit“17 bzw. „einer Person unter achtzehn Jahren“18 oder nur einfach „einer anderen Person“19 zugäng-lich gemacht werden (zum Verhältnis dieses neuen „Zugäng-lichmachens von Inhalten“ zu dem in den einschlägigen De-likten ebenfalls enthaltenen „Zugänglichmachen von Schrif-ten“ vgl. unten 3. a).

Bisweilen finden sich aber auch Fälle des Zugänglichma-chens, die nicht eine „Schrift“ oder einen „Inhalt“ betreffen (vgl. unten 4.), wie beim Zugänglichmachen einer „(Ton-) Aufnahme“ (§ 201 Abs. 1 Nr. 2 StGB), einer „Bildaufnahme“ (§ 201a Abs. 1 Nr. 3 und 4, Abs. 2 StGB), von „Passwörtern oder sonstigen Sicherungscodes“ bzw. „Computerprogram-men“ (§ 202c Abs. 1 StGB), von „Angeboten“ (§ 23 JMStV), eines „Trägermediums“ (§ 27 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG) oder „eines Werkes oder eines sonstigen Schutzgegenstandes“ (§ 108b Abs. 1 Nr. 2 lit. b UrhG). 1. Das Öffentlich-zugänglich-Machen von Schriften

Die meisten Delikte, in denen die Tathandlung des „Zugäng-lichmachens“ von Schriften aufscheint, stellen explizit (nur oder auch) das Öffentlich-zugänglich-Machen (§ 86 Abs. 1 StGB) bzw. – seit der Neufassung durch das 49. StÄG20 das Der-Öffentlichkeit-zugänglich-Machen (§§ 130 Abs. 2 Nr. 1, 130a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. a, 184 Abs. 1 Nr. 9, 184a S. 1 Nr. 1, 184b Abs. 1 Nr. 1, 184c Abs. 1 Nr. 1 StGB) unter Strafe. Dabei ist ein sachlicher Unterschied zwischen den beiden Formulierungen nicht gemeint; mit den Worten „der Öffentlichkeit zugänglich machen“ wollte der Gesetzgeber des 49. StÄG – wohl angesichts dessen, dass insbesondere im Schrifttum21 insoweit (sprachlich alles ande-re als korrekt22) mitunter auch von „öffentlichem Zugäng-

14 Wie Fn. 2. 15 Nämlich den §§ 130 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 5 S. 2, 130a Abs. 3, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 184d Abs. 1 S. 1 StGB, aber auch in der nicht-tatbestandlichen Norm des § 194 Abs. 1 S. 2 StGB (nicht jedoch in § 194 Abs. 2 S. 2 StGB). 16 Näher hierzu bereits M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (585 f.). 17 §§ 130 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 5 S. 2, 130a Abs. 3, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. b, 184d Abs. 1 S. 1, 194 Abs. 1 S. 2 StGB. 18 §§ 130 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 5 S. 2, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. a StGB. 19 § 184d Abs. 1 S. 1 StGB. 20 Vgl. Fn. 2. 21 Vgl. nur Derksen, NJW 1997, 1878 (1881); Eisele, Compu-ter und Medienstrafrecht, 2013, 6/39; B. Heinrich, in: Wandtke/Ohst (Hrsg.), Medienrecht, Bd. 4, 3. Aufl. 2014, Rn. 174; aber auch der Gesetzgeber formuliert gelegentlich so, vgl. §§ 119 Abs. 1 Nr. 2, 120 Abs. 1 Nr. 2 OWiG. 22 Dies erinnert an die sprachliche Klippe des § 242 Abs. 1 StGB, bei dem es anerkanntermaßen nicht um eine rechts-

lichmachen“ die Rede war, – lediglich klarer zum Ausdruck bringen („zur besseren Verdeutlichung“), dass nicht etwa der Akt des Zugänglichmachens als solcher „öffentlich“ gesche-hen muss23. Im Folgenden soll der Einfachheit halber i.d.R. nur vom Öffentlich-zugänglich-Machen gesprochen werden. a) Das Zugänglichmachen einer Schrift

Unter „Zugänglichmachen“ einer Schrift ist nach gängiger Auffassung das Ermöglichen der sinnlichen Wahrnehmung ihres Inhalts zu verstehen24. Anders als beim „Verbreiten“25 ist eine körperliche Weitergabe nicht nötig26. Erfasst ist damit – anders als dort27 – neben dem bereits im Beispielskatalog des § 74 Abs. 4 StGB explizit genannten28 Ausstellen, An-schlagen und Vorführen einer Schrift29 auch das Vorlesen eines Textes, das Vorzeigen eines Bildes, das Auslegen einer Neuerscheinung in einer Buchhandlung, das Aushängen einer Zeitung im Schaukasten des Verlagshauses oder das Führen eines (beleidigenden) Aufklebers am Auto; ebenso ist das Abspielen einer Tonaufnahme, das Ausstrahlen eines Ton- oder Bilddokuments über Rundfunk oder Fernsehen sowie das Anzeigen einer Datei auf dem Monitor zwar nicht als „Verbreiten“30, sehr wohl aber als „Zugänglichmachen“ zu begreifen31.

Dabei kommt es nicht darauf an, ob damit – über den in-haltlichen Zugang hinaus – auch die Gelegenheit zu körperli-chem Zugriff auf die Schrift verbunden ist32, wie zwar beim

widrige Zueignungsabsicht geht, sondern um die Absicht rechtswidriger Zueignung. 23 Vgl. BT-Drs. 18/2601, S. 24: „nicht das ‚Zugänglichma-chen‘ geschieht öffentlich“. 24 Hilgendorf/Valerius, Computer- und Internetstrafrecht, 2. Aufl. 2012, Rn. 291; siehe auch B. Heinrich (Fn. 21), Rn. 172; Steinmetz, in: Joecks/Miesbach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 3, 2. Aufl. 2012, § 86 Rn. 36; Eisele (Fn. 21), 6/10. 25 Zur dortigen Situation M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (571 f.). 26 Derksen, NJW 1997, 1878 (1881); B. Heinrich (Fn. 21), Rn. 172. 27 Vgl. M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (570, 571). 28 Der Verzicht auf diese Beispiele in der Neufassung der durch das 49. StÄG geänderten Delikte (vgl. §§ 130 Abs. 2 Nr. 1, 130a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. a, 184 Abs. 1 Nr. 9, 184a S. 1 Nr. 1, 184b Abs. 1 Nr. 1, 184c Abs. 1 Nr. 1 StGB) ist insoweit ohne Bedeutung, diente er doch nur der „redaktionellen Bereinigung“ (BT-Drs. 18/2601, S. 24). 29 BT-Drs. 18/2601, S. 24: „beispielhaft aufgeführte Formen des ‚Öffentlich-Zugänglichmachens‘“. 30 Näher M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (570 f.). 31 Hilgendorf/Valerius (Fn. 24), Rn. 292; Eisele (Fn. 21), 6/10; a.A. zum Vorlesen Mitsch, Medienstrafrecht, 2012, 3/25; speziell zur Anzeige am Monitor Walther, NStZ 1990, 523; Sieber, JZ 1996, 494 (495); OLG Stuttgart NStZ 1992, 38. 32 Hilgendorf/Valerius (Fn. 24), Rn. 291; ausführlich Lauben-thal, Handbuch Sexualstrafrecht, Die Delikte gegen die sexu-elle Selbstbestimmung, 2012, Rn. 942 ff. (943, 945); Eisele,

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AUFSÄTZE Manfred Heinrich

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Anschlagen eines Plakats oder Führen eines Aufklebers33, nicht aber notwendig auch beim Vorlesen eines Buches oder beim Vorführen eines Filmes und gewiss nicht beim Aus-strahlen über Rundfunk oder Fernsehen. Das „Zugänglichma-chen“ im hier beschriebenen Sinne ist nicht in eins zu setzen mit dem im Verbreitensbegriff enthaltenen, in der Sache dementsprechend enger umrissenen Erfordernis des „Körper-lich-zugänglich-Machens“34. Vom „Zugänglichmachen von Schriften“ erfasst ist damit ohne Weiteres auch der im heuti-gen Mediengeschehen besonders bedeutsame Fall, dass in-kriminierte Inhalte im Internet zum Abruf bereitgestellt wer-den35 (zum Verhältnis zur Tathandlungsvariante des „Zu-gänglichmachens von Inhalten mittels Rundfunk oder Tele-medien“ in einigen Delikten vgl. noch unten 3. a).

Ob auch das Setzen von Hyperlinks ein täterschaftliches Zugänglichmachen darstellt36, ist strittig, da die betreffenden Inhalte, auf die verwiesen wird, sich nicht im Herrschaftsbe-reich des Verweisenden befinden, so dass nur eine Beihilfe-handlung anzunehmen sei37; richtigerweise wird man jedoch ein Zugänglichmachen, ohne dass es auf jenes Herrschaftskri-terium ankäme – welches das Zugänglichmachen sachwidrig auf den Fall des Bereithaltens im Sinne des § 7 Abs. 1 TMG reduzierte – stets dann anzunehmen haben, wenn der Linkset-zer die betreffenden Inhalte in das eigene „Angebot“ mit einbezieht, sie sich also zu eigen macht38.

Ohne Bedeutung ist, ob auch wirklich jemand Kenntnis von dem zugänglich gemachten Inhalt erlangt; es genügt vielmehr, wenn jemandem die konkrete Möglichkeit eröffnet wird, sich – entgeltlich oder unentgeltlich – Kenntnis zu verschaffen39. Ausreichend ist bereits die nur kurzfristige Ermöglichung der Kenntnisnahme40, wobei die betreffende Zeitspanne aber ausgedehnt genug sein muss, um auch tat-

in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 184 Rn. 16. 33 Vgl. bereits M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (571). 34 Vgl. M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (570 f.). 35 Vgl. nur Hilgendorf/Valerius (Fn. 24), Rn. 292; B. Hein-rich (Fn. 21), Rn. 173; Eisele (Fn. 21), 6/10, 6/39, 6/101, 6/126. 36 So etwa BGH NJW 2008, 1882 (1883 f.); OLG Stuttgart MMR 2006, 387 (388); Eisele (Fn. 21), 6/39. 37 So etwa Hörnle, NJW 2002, 1008 (1010); dies., in: Joecks/ Miebach (Fn. 24) § 184 Rn. 48; LG Karlsruhe MMR 2009, 418 (419); Hilgendorf/Valerius (Fn. 24), Rn. 232, 246; siehe auch Löhnig, JR 1997, 496 (497): Der Linksetzer mache die Zielseite nicht selbst zugänglich, er gebe „nur Informationen über ihre Adresse im Netz“. 38 So etwa BGH NJW 2008, 1882 (1883 f.); kritisch gegen-über diesem Kriterium (jedenfalls bei §§ 86, 86a StGB) aber OLG Stuttgart MMR 2006, 387 (388); wie hier letztlich auch Eisele (Fn. 21), 3/15. 39 B. Heinrich (Fn. 21), Rn. 172 f.; Hörnle (Fn. 37),§ 184 Rn. 28; Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kom-mentar, 63. Aufl. 2016, § 184 Rn. 10; Eisele (Fn. 32), § 184 Rn. 16. 40 B. Heinrich (Fn. 21), Rn. 172; siehe auch Fischer (Fn. 39), § 184 Rn. 10: „für kurze oder längere Zeit“.

sächlich Kenntnis erlangen zu können; ein bloßes „Auf-blitzenlassen“ genügt also nicht.

All dies gilt auch für das Zugänglichmachen von Daten-speichern – zur Erinnerung: ebenfalls „Schriften“ im Sinne des § 11 Abs. 3 StGB – über das Internet; um mit dem BGH zu sprechen: „Ein Zugänglichmachen liegt bereits dann vor, wenn eine Datei zum Lesezugriff ins Internet gestellt wird. Hierfür reicht die bloße Zugriffsmöglichkeit aus; nicht erfor-derlich ist, dass auch ein Zugriff des Internetnutzers er-folgt“ 41. Erforderlich ist freilich auch hier, dass tatsächlich jemand hätte zugreifen können – was nicht der Fall ist, wenn Inhalte auf einem Internet-Server gespeichert, die nötigen Zugangsdaten (die URL42) aber (noch) niemandem mitgeteilt wurden, oder wenn die soeben gespeicherten Dateien unver-züglich wieder gelöscht werden.

Das Zurverfügungstellen eines Internetzugangs als sol-ches (sei es durch den Internetprovider oder schlicht durch eine Person, die jemand anderen ihren PC benutzen lässt) ist – im Zuge entsprechender teleologischer Reduktion – nicht als Zugänglichmachen im Sinne der Verbreitungsdelikte zu werten (Gedanke der Sozialadäquanz)43, selbst wenn es im Einzelfall im Wissen darum geschieht, dass der Nutzer ent-sprechende Inhalte aufsuchen wird. Ebenso wenig ist ein (öffentliches) Zugänglichmachen gegeben, wenn jemand nur sein W-LAN nicht hinreichend absichert, so dass – ohne sein Wissen – Dritte sich dies zum Online-Stellen inkriminierter Inhalte über diesen Internet-Zugang zunutze machen44. b) Das Öffentlich-zugänglich-Machen

Öffentlich (bzw. – gleichbedeutend – der Öffentlichkeit, vgl. oben vor a) zugänglich wird eine Schrift stets dann gemacht, wenn ihr Inhalt „einem größeren, individuell nicht feststellba-ren oder durch persönliche Beziehungen nicht verbundenen Personenkreis“ zur Kenntniserlangung dargeboten wird45, jedenfalls immer dann also, wenn unbestimmt viele Personen

41 BGHSt 47, 55 (60); siehe auch B. Heinrich (Fn. 21), Rn. 173; Eisele (Fn. 21), 6/39, 6/101; Hilgendorf/Valerius (Fn. 24), Rn. 292, 293; Hörnle (Fn. 37), § 184b Rn. 23; Steinmetz (Fn. 24), § 86 Rn. 36; Wolters, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 136. Lfg., Stand: Oktober 2012, § 184 Rn. 11. 42 Kürzel für „Uniform Resource Locator“; nach üblichem Sprachgebrauch: „die“ URL. 43 Hilgendorf/Valerius (Fn. 24), Rn. 295; Eisele (Fn. 21), 6/11; Laubenthal (Fn. 32), Rn. 948; siehe auch Fischer (Fn. 39)§ 184 Rn. 10. 44 BGH MMR 2010, 565 (566); Hörnle (Fn. 37), § 184 Rn. 45; siehe auch Eisele (Fn. 32), § 184 Rn. 77. 45 B. Heinrich (Fn. 21), Rn. 174; siehe auch Sieber, JZ 1996, 494 (495); Derksen, NJW 1997, 1878 (1882); Hilgendorf/ Valerius (Fn. 24), Rn. 299; Eisele (Fn. 32), § 184 Rn. 47, 56; Mitsch (Fn. 31), 3/20; Hilgendorf, in: Satzger/Schluckebier/ Widmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2. Aufl. 2014, § 184b Rn. 10 („für den Täter unkontrollierbarer Per-sonenkreis“).

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„Zugänglichmachen“ und „öffentliches Begehen“ als Tathandlungen im Medienstrafrecht STRAFRECHT

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auf ihren Inhalt zugreifen können46, wie im Bereich des – als „öffentliche Sphäre“ verstandenen47 – Internets bei nicht geschützten Webseiten, nicht geschlossenen Foren und offe-nen Tauschbörsen48.

Am Merkmal „öffentlich“ fehlt es somit beim Zugäng-lichmachen an privaten bzw. der Allgemeinheit nicht zugäng-lichen Orten, wie in Wohnungen oder Büros, aber auch bei „Veranstaltungen eines Vereins ausschließlich für Vereins-mitglieder“49, es sei denn, es handelt sich dabei um einen Massenverein50 oder um eine Schein-Mitgliedschaft, bei der die für den Zutritt erforderliche Mitgliedschaft jeweils „mit dem Besuch des Lokals und praktisch nur für die Zeit des Aufenthalts erworben wird“51. Das Vorführen eines (porno-grafischen) Films vor einer einzelnen in einer Kabine sitzen-den Person ist auch dann nicht „öffentlich“, wenn die Benut-zung der Kabine jedem offensteht52 – es sei denn, die Vorfüh-rung erfolgt zeitgleich auch in zahlreichen anderen Kabi-nen53.

Aber auch sonst ist ein Öffentlich-zugänglich-Machen immer dann nicht gegeben, wenn die Schrift nur „im privaten Kreis einiger individuell ausgesuchter Personen“54 bzw. in-nerhalb geschlossener Zirkel zugänglich gemacht wird. Nicht „öffentlich“ ist im Internet insbesondere das Bereitstellen von Dateien im Rahmen geschlossener Benutzergruppen55 (wozu der recht lockere „Freundes“-Kreis des Inhabers eines Facebook-Profils nicht gehört56) – freilich nur dann, wenn sichergestellt ist, dass nur bestimmte Personen (alte und ge-zielt ausgewählte neue Mitglieder) an die Zugangsdaten (Passwort, Benutzername-Passwort-Kombination etc.) gelan-

46 B. Heinrich (Fn. 21), Rn. 174; zur Gleichsetzung von „öf-fentlich“ (wie in § 183a StGB) mit „vor einer unbestimmten Vielzahl von Personen“ vgl. BT-Drs. VI/3521, S. 8, 57; siehe auch BT-Drs. 18/2601, S. 24. 47 Fischer (Fn. 39), § 184b Rn. 17/18. 48 Hilgendorf/Valerius (Fn. 24), Rn. 299; Hörnle (Fn. 37), § 184b Rn. 23; zu Internettauschbörsen siehe auch Eisele (Fn. 21), 6/39. 49 Eisele (Fn. 32), § 184 Rn. 56; Hörnle (Fn. 37), § 184 Rn. 88: „in geschlossenen Klubs“. 50 Eisele (Fn. 32), § 184 Rn. 56. 51 Eisele (Fn. 32), § 184 Rn. 56; Wolters (Fn. 41), § 184 Rn. 63; Hörnle (Fn. 37), § 184 Rn. 88. 52 Schreibauer, Das Pornographieverbot des § 184 StGB, 1999, S. 269; Hörnle (Fn. 37), § 184 Rn. 88; siehe auch BayObLG NJW 1976, 527 (528); KG NStZ 1985, 220; Wolters (Fn. 41), § 184 Rn. 63; Eisele (Fn. 32), § 184 Rn. 56. 53 KG NStZ 1985, 220 f.; Schreibauer (Fn. 52), S. 269; Hörnle (Fn. 37), § 184 Rn. 88; Fischer (Fn. 39), § 184 Rn. 18. 54 Hörnle (Fn. 37), § 184b Rn. 23; siehe auch (zum Bereit-stellen im Internet) Hilgendorf/Valerius (Fn. 24), Rn. 300; Wolters (Fn. 41), § 184 Rn. 11 (dabei von „individueller Zugangsbeschränkung“ sprechend). 55 Vgl. die Nennungen in Fn. 57, 58, 59 sowie Hilgendorf (Fn. 45), § 184b Rn. 10. 56 So erst jüngst BGH NStZ 2015, 81 (83) zum „öffentlichen“ Verwenden i.R.d. § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB.

gen57; auch darf keine problemlose Beitrittsmöglichkeit zur Gruppe bestehen58. Kurzum: „Bloße Scheinhindernisse und ohne weiteres zu überwindende Beschränkungen – wie etwa der automatische Versand des Passwortes an eine einzuge-bende E-Mail-Adresse – stehen der Öffentlichkeit nicht ent-gegen“59 (zum Einsatz von Zugangshindernissen in Pay-TV und Internet vgl. unten 2. b) cc). c) Öffentlich-zugänglich-Machen und Verbreiten

Finden sich in vielen Schriftenverbreitungstatbeständen das „Verbreiten“ und das „Öffentlich-zugänglich-Machen“ – bzw. das „Der-Öffentlichkeit-zugänglich-Machen“ (vgl. oben vor 1.) – Seite an Seite gestellt (vgl. oben bei und in Fn. 5) und sind sie, kurz gesagt, „danach abzugrenzen, ob sich die Handlung auf die Schrift als körperlichen Gegenstand bezieht oder auf den darin verkörperten Inhalt“60, so ist damit ein Ergänzungsverhältnis dergestalt gemeint, dass nicht etwa das eine im anderen aufgeht (bzw. umgekehrt), sondern jede der beiden Tatmodalitäten – im Sinne zweier sich (in weiten Teilen) überschneidender Mengen61 – neben einem (umfang-reichen) gemeinsamen Bereich – einer Schnittmenge – auch einen (kleineren) nur jeweils ihr selbst zugehörenden Bereich von Tathandlungen umfasst.

So ist jede körperliche Weitergabe einer Schrift an eine unbestimmte Vielzahl von Empfängern sowohl ein „Verbrei-ten“62, wie auch ein „Öffentlich-zugänglich-Machen“ (soeben a) und b). Fehlt es jedoch an der (das Merkmal des „Verbrei-tens“ konstituierenden63 körperlichen Weitergabe – wie beim Anschlagen eines Plakats oder dem Vorlesen eines Buchs –, vermag die immerhin zu verzeichnende unkörperliche In-haltsvermittlung, wenn sie denn „öffentlich“ (bzw. gegenüber „der Öffentlichkeit“) erfolgt, ein „Öffentlich-zugänglich-Machen“ zu begründen. Andererseits kann es sich in Fällen nicht „öffentlich“ geschehenden Zugänglichmachens jeden-falls dann um ein „Verbreiten“ handeln, wenn die Schrift innerhalb eines zwar geschlossenen, aber doch bereits „grö-ßeren“ Personenkreises körperlich herumgereicht bzw. ver-teilt wird64.

Das bedeutet, dass gerade in dem heute so wichtigen Fall des Bereitstellens inkriminierter Inhalte im Internet zumin-dest immer dann, wenn der betreffende Tatbestand neben dem „Verbreiten“ auch das „Öffentlich-zugänglich-Machen“

57 Hilgendorf/Valerius (Fn. 24), Rn. 300; B. Heinrich (Fn. 21), Rn. 174; Hörnle (Fn. 37), § 184b Rn. 23. 58 Sieber, JZ 1996, 495; Derksen, NJW 1997, 1878 (1882); B. Heinrich (Fn. 21), Rn. 174; Hörnle (Fn. 37), § 184b Rn. 23. 59 Hilgendorf/Valerius (Fn. 24), Rn. 300; siehe auch Eisele (Fn. 32), § 184b Rn. 6. 60 Hilgendorf/Valerius (Fn. 24), Rn. 291; sie sprechen hier von den „grundlegenden beiden Tatmodalitäten“. 61 Hörnle (Fn. 37), § 184b Rn. 20 spricht von „weitgehender Überschneidung der Anwendungsbereiche“. 62 Vgl. hierzu bereits M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (570 ff.). 63 Vgl. M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (571 ff.). 64 Näher M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (576, unter dd).

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AUFSÄTZE Manfred Heinrich

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umfasst65, eine Strafbarkeit schon aufgrund des Letzteren gewährleistet ist, ohne dass es auf die Frage nach der Beja-hung auch des Ersteren noch irgend ankäme. Schwer ver-ständlich sind daher die Bemühungen des BGH, mittels eines internetspezifischen Verbreitungsbegriffs auch die Übermitt-lung von Dateien über das Internet unter das Tatbestands-merkmal des „Verbreitens“ zu subsumieren66. d) Das Öffentlich-zugänglich-Machen in Datenspeichern (§ 86 Abs. 1 StGB)

Indem § 86 Abs. 1 StGB nur das Öffentlich-zugänglich-Machen „in Datenspeichern“ – und § 119 Abs. 1 Nr. 2 OWiG das Öffentlich-zugänglich-Machen „von Datenspeichern“ – benennt, ist damit erkennbar zum Ausdruck gebracht, dass das Gesetz hier gerade im Hinblick auf die Vermittlung nicht sinnlich wahrnehmbar auf Festplatten, sonstigen Datenträ-gern oder in Arbeitsspeichern verkörperter Inhalte – insbe-sondere über das Internet67 – besonderen Schutz gewähren will, während es das – mangels körperlicher Weitergabe auch nicht als „Verbreiten“ fassbare68 – unkörperliche Zugäng-lichmachen der Inhalte sonstiger Schriften im Sinne des § 11 Abs. 3 StGB – man denke an das in der Öffentlichkeit erfol-gende Vorlesen oder Vorzeigen über § 86 Abs. 2 StGB er-fasster textlicher oder bildlicher Propagandamittel – ganz offenkundig als nicht hinreichend strafbedürftig erachtet.

Das mag verwundern, nicht zuletzt deswegen, weil es dem Gesetzgeber doch ein leichtes wäre, die Strafbarkeit des Öffentlich-zugänglich-Machens (nach dem Vorbild anderer Delikte) auch auf andere Schriften, als nur die – erst seit 199769 – im Gesetz genannten Datenspeicher zu erstrecken. Doch da es sich hier um eine vom Gesetzgeber sehenden Auges geschaffene Strafbarkeitslücke handelt, kommt eine analoge Anwendung auf das Zugänglichmachen anderer Schriften im Sinne des § 11 Abs. 3 StGB nicht in Betracht. 2. Das (einfache) Zugänglichmachen von Schriften

Sprechen eine ganze Reihe von Tatbeständen70 nur vom Zu-gänglichmachen von Schriften – bzw. davon, sie „einer ande-ren Person“ oder „einer Person unter achtzehn Jahren“ zu-gänglich zu machen –, so ist insoweit hierunter nichts anderes zu verstehen, als unter dem Zugänglichmachen im Rahmen jener Vorschriften, die ein Öffentlich-zugänglich-Machen

65 So in §§ 86 Abs. 1, 130 Abs. 2 Nr. 1, 130a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. a, 184 Abs. 1 Nr. 9, 184a S. 1 Nr. 1, 184b Abs. 1 Nr. 1, 184c Abs. 1 Nr. 1 StGB. 66 Vgl. M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (578 ff., 582). 67 Aber nicht nur, auch das bloße („öffentliche“) Abspielen einer Audio-CD mit volksverhetzenden bzw. Vorführen einer DVD mit pornografischen Inhalten genügt; siehe auch Güntge, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier (Fn. 45), § 86 Rn. 15. 68 M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (571 ff.). 69 Durch Art. 4 Nr. 1 IuKDG v. 22.7.1997 = BGBl. I 1997, S. 1870; dazu BT-Drs. 13/7385, S. 36. 70 Nämlich §§ 91 Abs. 1 Nr. 1, 130 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. b, 184 Abs. 1 Nr. 1, 2 StGB.

verlangen. Die Erläuterungen zum „Zugänglichmachen“ oben unter 1. a) gelten also auch hier. a) Die Reichweite der tatbestandlichen Erstreckung

Nachdem es aber im Rahmen der soeben (in Fn. 70) bezeich-neten Tatbestände nicht erforderlich ist, dass „öffentlich“ zugänglich gemacht wird, findet sich von ihnen – ungeachtet dessen, dass sie (mit Ausnahme des § 91 Abs. 1 Nr. 1 StGB) nur zu verhindern suchen, dass die Schrift „einer Person unter achtzehn Jahren“ zugänglich gemacht wird – im Hinblick auf die Tathandlung ein deutlich ausgedehnterer Strafbarkeits-bereich umrissen, als beim Öffentlich-zugänglich-Machen. Ersichtlich kommt es diesen Delikten nicht auf eine wie auch immer geartete Breitenwirkung der Zugangsvermittlung an, die es zu verhindern gilt, sondern soll auch die individuelle Ermöglichung eines Einzelzugriffs auf die inkriminierten Inhalte unterbunden werden.

Das ist bei den jugendschützenden Normen der §§ 130 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2, 131 Abs. 1 Nr. 2 lit. a, 184 Abs. 1 Nr. 1, 2 StGB deswegen sinnvoll, weil es bei ihnen ja gerade um den Schutz desjenigen (des Minderjährigen) geht, dem der Zugriff auf jene Inhalte eröffnet wird – und es hinsichtlich seiner Schutzbedürftigkeit keinen Unterschied macht, ob er zusammen mit zahlreichen anderen oder nur als Einzelner in den „Genuss“ ihm ermöglichter Kenntnisnahme der jeweili-gen Inhalte gelangt. Bei § 91 Abs. 1 Nr. 1 StGB erklärt sich die Einbeziehung auch nicht-öffentlichen Zugänglichma-chens hingegen unschwer daraus, dass auch die Versorgung nur einer geschlossenen Gruppe bzw. nur einiger weniger Interessierter (oder gar nur eines einzigen Interessierten) etwa mit Bombenbauplänen so gefährlich erscheint, dass ihr ent-gegengetreten werden muss. b) Die Errichtung von Zugangshindernissen

Gerade im Hinblick auf die soeben genannten jugendschüt-zenden Begehensweisen (nicht aber auch auf diejenigen des „Der-Öffentlichkeit-zugänglich-Machens“), dort also, wo es (nur) darum geht, den Zugang Jugendlicher zu jugendgefähr-denden – in Form von: volksverhetzenden (§ 130 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 StGB), gewaltdarstellenden (§ 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. a StGB) sowie pornografischen (§ 184 Abs. 1 Nr. 1, 2 StGB) – Schriften zu verhindern, erhebt sich – in der Praxis in erster Linie bei pornografischen Darstellungen71 – die Frage, welche Bedeutung etwaigen Vorkehrungen zukommt, die das Ziel verfolgen, der Kenntniserlangung durch Jugend-liche entgegenzuwirken (bei § 91 Abs. 1 Nr. 1 StGB stellt sich mangels entsprechender Ausrichtung diese Frage nicht).

Die einschlägigen Fallkonstellationen reichen hier vom Vater, der seine Pornosammlung vor dem minderjährigen Sohn versteckt bzw. einschlägige Dateien auf dem heimi-schen PC mittels Passworts vor dessen Zugriff sichert, über den Tankstellenbetreiber, der die zum Verkauf ausgelegten Pornografika in (an entscheidender Stelle undurchsichtige)

71 Demgemäß wird die Problematik denn auch stets mit Blick auf § 184 Abs. 1 Nr. 1, 2 StGB behandelt.

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„Zugänglichmachen“ und „öffentliches Begehen“ als Tathandlungen im Medienstrafrecht STRAFRECHT

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Plastikfolie verpackt72, bis hin zu technischen Zugangser-schwerungen im Bereich von Internet und Rundfunk (Pay-TV), insbesondere in Form von Altersverifikationssystemen, die es dem jeweiligen Anbieter ermöglichen sollen, die be-treffenden Inhalte gezielt nur Erwachsenen zugänglich zu machen – was im Rahmen der genannten Begehensvarianten ja nicht strafbar ist73.

aa) Die grundsätzliche Antwort lautet, dass im Zuge te-leologischer Reduktion74 (insbesondere auch in Anlehnung an § 4 Abs. 2 S. 2 JMStV, § 184d Abs. 1 S. 2 StGB75) eine Strafbarkeit immer – gerade auch bei Internetgeschehnissen und (ungeachtet der Beschränkung des § 184d Abs. 1 S. 2 StGB auf Telemedien) auch im Bereich des Rundfunks – dann zu verneinen ist, wenn zum Zwecke der Abhaltung von Minderjährigen hinreichend wirksame Zugangshindernisse existieren bzw. geschaffen werden76. Diese müssen „nicht unüberwindbar sein, aber eine spürbare Hemmschwelle auch für neugierige Minderjährige darstellen“77; zumindest „einfa-che, nahe liegende und offensichtliche Umgehungsmöglich-keiten müssen ausgeschlossen werden“78. Es geht mithin um das Vorliegen ernsthafter Hindernisse79, die Errichtung einer effektiven Barriere80. Wann dies gegeben ist, ist eine Frage des Einzelfalles.

bb) So stellt es eine geeignete Maßnahme dar, das Be-trachten bzw. den Verkauf jugendgefährdender Schriften oder das Vorführen derartiger Filme an die Vorlage eines Perso-nalausweises zu knüpfen81. Ebenso genügt das sorgsame Verstecken einschlägigen Materials bzw. dessen Einschließen in geeignete Behältnisse82, das Sichern von Dateien mittels eines Passwortes83 oder das Einschweißen im Verkaufsraum

72 Vgl. hierzu OLG Karlsruhe NJW 1984, 1975 (1976) sowie nachfolgend bei und in Fn. 84, 85. 73 Woran auch die im Bereich des Rundfunks bestehende Möglichkeit der Sanktionierung als Straftat bzw. Ordnungs-widrigkeit gem. §§ 23 bzw. 24 Abs. 1 Nr. 2, 3 JMStV nichts ändert. 74 Hilgendorf/Valerius (Fn. 24), Rn. 296; Hilgendorf (Fn. 45), § 184 Rn. 20. 75 So explizit auch Eisele (Fn. 21), 6/12 (freilich noch unter Geltung des § 184d S. 2 StGB a.F.). 76 Hörnle (Fn. 37), § 184 Rn. 30; Wolters (Fn. 41), § 184 Rn. 18. 77 Hörnle (Fn. 37), § 184 Rn. 30; siehe auch Hilgendorf/ Valerius (Fn. 24), Rn. 296; Wolters (Fn. 41), § 184 Rn. 18 Fn. 101. 78 Hilgendorf/Valerius (Fn. 24), Rn. 296; strenger B. Heinrich (Fn. 21), Rn. 176: „Zugriff […] nahezu ausschließen“. 79 Eisele (Fn. 32), § 184 Rn. 16, 17, 18; ders. (Fn. 21), 6/12; siehe auch B. Heinrich (Fn. 21), Rn. 176. 80 Hilgendorf/Valerius (Fn. 24), Rn. 296; Wolters (Fn. 41), § 184 Rn. 13; Fischer (Fn. 39), § 184 Rn. 11, 11a; Eisele (Fn. 21), 6/14. 81 Hilgendorf/Valerius (Fn. 24), Rn. 297. 82 Hörnle (Fn. 37), § 184 Rn. 30; Eisele (Fn. 32), § 184 Rn. 16. 83 Hörnle (Fn. 37), § 184 Rn. 30; Laubenthal (Fn. 32), Rn. 947; Eisele (Fn. 21), 6/12; ders. (Fn. 32), § 184 Rn. 17.

ausgelegter Pornografika in dünne teilverdeckende Plastikfo-lie84 – letzteres zumindest dann, wenn der Jugendliche nicht unbeobachtet mit der so gesicherten Ware alleingelassen wird85. Nicht ausreichend sind demgegenüber bloße rechtli-che Verbote, etwa durch Aufhängen eines Schildes86, wie: „Kein Zugang unter 18 Jahren“ oder: „Zutritt für Jugendliche verboten“; es müssen vielmehr Kontrolle und ggf. auch Durchsetzung des Verbots sichergestellt sein87, wobei weder das Verlangen von Eintrittsgeld genügt 88, noch eine Alters-kontrolle erst an der Kasse89, da beides den Zugang zu den Pornografika nicht zu verhindern vermag.

cc) Was die Tauglichkeit von Zugangshindernissen beim Anbieten jugendgefährdenden Materials über das Fernsehen90 (im Rahmen des verschlüsselt ausgestrahlten und nur mittels Verwendung eines Decoders nutzbaren Pay-TV) oder das Internet (im Rahmen sog. geschlossener Benutzergruppen im Sinne des § 4 Abs. 2 S. 2 JMStV) anlangt, so sind ob zahlrei-cher Umgehungsmöglichkeiten hohe Anforderungen zu stel-len91.

So wird man nach heutigem Stand der Technik in beiden Bereichen ein zweistufiges Verfahren verlangen müssen92: Erforderlich ist auf einer ersten Stufe gleich zu Anfang – d.h. beim Erwerb des Pay-TV-Decoders bzw. bei erstmaliger Anmeldung im Internet – eine Volljährigkeitsprüfung sowie auf zweiter Stufe dann jeweils beim Zugriff auf konkrete Inhalte93 eine spezielle Authentifizierung des Nutzers als eben der auf erster Stufe als Erwachsener Ausgewiesene, etwa durch Eingabe eines an ihn vergebenen PIN-Codes94 –

84 OLG Karlsruhe NJW 1984, 1975 (1976); Laubenthal (Fn. 32), Rn. 944; a.A. Eisele (Fn. 32), § 184 Rn. 16. 85 Hörnle (Fn. 37), § 184 Rn. 30, 36, dabei maßgeblich auf die fehlende Überwachung abstellend. 86 BGH NJW 1988, 272; Hilgendorf (Fn. 45), § 184 Rn. 19; Heger, in: Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2014, § 184 Rn. 5. 87 BGH NJW 1988, 272; Heger (Fn. 86), § 184 Rn. 5; Lauf-hütte/Roggenbuck, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiede-mann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 6, 12. Aufl. 2009, § 184 Rn. 20. 88 Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 87), § 184 Rn. 20; Heger (Fn. 86), § 184 Rn. 5. 89 BGH NJW 1988, 272: Es gehe darum, bereits das Betreten der Videothek zu verhindern. 90 Zur Berücksichtigung des Errichtens von Zugangshinder-nissen gerade auch im Bereich des Rundfunks vgl. schon oben im Text bei Fn. 74. 91 Zur ähnlichen Problematik der Automatenvideothek vgl. bereits BGHSt 48, 278. 92 Braml/Hopf, ZUM 2010, 645 (650); Hörnle (Fn. 37), § 184 Rn. 46; Eisele (Fn. 32), § 184 Rn. 18; ders. (Fn. 21), 6/13; in der Sache auch BGH NJW 2008, 1882 (1885); siehe auch BGHSt 48, 278 (286) zur Automatenvideothek. 93 Vgl. BGH NJW 2008, 1882 (1885): „bei jedem einzelnen Abruf“; siehe auch Hörnle (Fn. 37), § 184 Rn. 46. 94 Eisele (Fn. 21), 6/13: „ggf. in Kombination mit Hardware – wie einem speziellen USB-Stick“; siehe auch BGH NJW

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AUFSÄTZE Manfred Heinrich

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der sich freilich ganz spezifisch auf jugendgefährdende Inhal-te beziehen muss95. Mit dem Fortschreiten technischer Mög-lichkeit wird es künftig aber vermutlich möglich sein, auf ein einstufiges Verfahren zu vertrauen, etwa mittels unmittelbar vor dem konkreten Zugriff erfolgenden Einsatzes neuer Per-sonalausweise mit eID-Funktion96.

Hinsichtlich der auf der soeben erwähnten ersten Stufe er-forderlichen Altersverifizierung ist es – angesichts häufig geringer Schwierigkeit, auf das Girokonto der Eltern zuzu-greifen – ohne Bedeutung, ob es sich um ein kostenpflichti-ges Angebot handelt97. Auch genügt es (selbstverständlich) nicht, wenn lediglich das Alter abgefragt wird98 – etwa durch Ankreuzen bzw. Anklicken eines Kästchens: „Ich bin über 18 Jahre alt“ – oder wenn bei Bestellung bzw. Anmeldung über das Internet nur die Eingabe der ID-Nummer des Personal-ausweises bzw. einer Kreditkarte99 oder die Übersendung einer Ausweiskopie verlangt wird100; in all diesen Fällen ist leicht eine Täuschung möglich.

Erforderlich ist vielmehr i.d.R. eine „offline zu erfolgende face to face-Kontrolle“101 (d.h. eine Altersverifikation von Angesicht zu Angesicht unter Vorlage eines Ausweises) durch persönliche Kontrolle unmittelbar bei Erwerb des De-coders bzw. Aushändigung der Zugangscodes102 oder auch im Rahmen des sog. Post-Ident-Verfahrens, bei dem man bei Abholung in einer Postfiliale oder bei Zustellung durch die Post den Decoder bzw. die Codes nur unter Vorlage des Per-sonalausweises und nach entsprechender Prüfung von Identi-tät und Alter durch den Postbediensteten ausgehändigt be-kommt103; auch die Versendung per persönlich zu unter-zeichnenden Übergabe-Einschreibens an bereits durch die

2008, 1882 (1885: insb. Hardware-Schlüssel i.V.m. einer PIN); Hörnle (Fn. 37), § 184 Rn. 46. 95 Eisele (Fn. 21), 6/13; ders. (Fn. 32), § 184 Rn. 18; Heghmanns, in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirt-schaftsstrafrecht, 4. Aufl. 2015, 6 Teil Rn. 301: spezielle „Porno-PIN“. 96 Vgl. Altenhain/Heitkamp, K&R 2009, 619; Hörnle (Fn. 37), § 184 Rn. 46; Eisele (Fn. 21), 6/13; einschränkend jedoch Braml/Hopf, ZUM 2010, 645 (650). 97 B. Heinrich (Fn. 21), Rn. 176; Hörnle (Fn. 37), § 184 Rn. 36, 46; ausführlich Heghmanns (Fn. 95), 6. Teil Rn. 298. 98 Heghmanns (Fn. 95), 6. Teil Rn. 298; B. Heinrich (Fn. 21), Rn. 176. 99 B. Heinrich (Fn. 21), Rn. 176; Eisele (Fn. 21), 6/13; Hilgendorf/Valerius (Fn. 24), Rn. 298; Hörnle (Fn. 37), § 184 Rn. 46. 100 B. Heinrich (Fn. 21), Rn. 176. 101 Heghmanns (Fn. 95), 6. Teil Rn. 301; Hörnle (Fn. 37), § 184 Rn. 46. 102 Heghmanns (Fn. 95), 6. Teil Rn. 301; siehe auch BGH NJW 2008, 1882 (1885: „in einer Verkaufsstelle“). 103 BGH NJW 2008, 1882 (1885); Heghmanns (Fn. 95), 6. Teil Rn. 301; Eisele (Fn. 21), 6/13; Hilgendorf/Valerius (Fn. 24), Rn. 297 m.w.N.; Hörnle (Fn. 37), § 184 Rn. 46; siehe auch Hilgendorf (Fn. 45), § 184 Rn. 20.

Schufa als Erwachsene identifizierte Personen kommt in Betracht104.

Grundsätzlich denkbar ist aber auch eine rein technische Altersverifikation, etwa durch elektronische Signaturen105, „durch einen entsprechend zuverlässig gestalteten Webcam-Check“106 oder unter Verwendung biometrischer Merkma-le107. 3. Das Zugänglichmachen von Inhalten mittels Rundfunk oder Telemedien

Im Zuge der Umgestaltung der §§ 130 ff., 184 ff. StGB durch das 49. StÄG im vergangenen Jahr108 wurde die bis dahin in einigen zentralen Verbreitungstatbeständen (nämlich in §§ 130 Abs. 2 Nr. 2, V, 131 Abs. 2, 184d S. 1 StGB a.F.) enthaltene Strafbarkeit des „Verbreitens von Darbietungen durch Rundfunk, Medien- oder Teledienste“ ersetzt109 durch diejenige des „Zugänglichmachens von Inhalten mittels Rundfunk oder Telemedien“ (vgl. nunmehr §§ 130 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 5 S. 2, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 184d Abs. 1 S. 1 StGB), welche auch Einzug fand in § 130a Abs. 3 StGB110 sowie in die nicht-tatbestandliche Regelung des § 194 Abs. 1 S. 2 StGB (nicht aber die des § 194 Abs. 2 S. 2 StGB). a) Sinn und Zweck der Regelung

Mit der Neugestaltung wollte der Gesetzgeber erklärtermaßen zweierlei erreichen: Zum einen sollte die in §§ 130 Abs. 2 Nr. 2, 131 Abs. 2, 184d S. 1 StGB a.F. verankerte Erfassung einschlägiger (Live-)Darbietungen in Rundfunk und Teleme-dien fortgeführt werden111. Zum anderen sollte aber nunmehr auch die via Rundfunk und Telemedien erfolgende Wieder-gabe zuvor gefertigter Aufzeichnungen entsprechenden In-halts erfasst sein – ohne dabei aber, wie bisher, an das „Ver-breiten“ oder „Zugänglichmachen“ einer Schrift anknüpfen zu müssen112 (was dem Gesetzgeber ersichtlich, vor allem mit Blick auf den „internetspezifischen Verbreitensbegriff“ des BGH113, dogmatische „Bauchschmerzen“ bereitete114).

104 BGH NJW 2008, 1882 (1885); Heghmanns (Fn. 95), 6. Teil Rn. 301; siehe auch Hörnle (Fn. 37), § 184 Rn. 46. 105 Hörnle (Fn. 37), § 184 Rn. 46 im Anschluss an Pooth, Jugendschutz im Internet, 2005, S. 79 f. und Birkholz, Jugendmedienschutz im Internet unter strafrechtlichen Ge-sichtspunkten, 2008, S. 96 ff. 106 BGH NJW 2008, 1882 (1885); siehe auch Heghmanns (Fn. 95), 6. Teil Rn. 301; Hörnle (Fn. 37), § 184 Rn. 46. 107 Vgl. die Nennungen in Fn. 106 sowie Birkholz (Fn. 105), S. 170 f.; siehe auch BGHSt 48, 278 (287). 108 Vgl. bereits oben Fn. 2. 109 Ausführlich M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (585 f.). 110 Bewusst aber nicht auch in § 201a StGB, vgl. BT-Drs. 18/2601, S. 17. 111 Vgl. BT-Drs. 18/2601, S. 16, 24. 112 Vgl. BT-Drs. 18/2601, S. 16: demgegenüber seien „einfa-chere und klarere Regelungen möglich“. 113 BT-Drs. 18/2601, S. 16: „Zwar hat die Rechtsprechung dafür Lösungen entwickelt […]“. 114 Näher M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (584).

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„Zugänglichmachen“ und „öffentliches Begehen“ als Tathandlungen im Medienstrafrecht STRAFRECHT

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Mit der bislang uneinheitlichen Behandlung dieser beiden Fallgruppen115 unzufrieden, beschloss der Gesetzgeber, im Bereich von Rundfunk und Telemedien das „Zugänglichma-chen von Schriften“ einerseits und das „Zugänglichmachen von (Live-)Darbietungen“ andererseits in dem beides umfas-senden „Zugänglichmachen von Inhalten“ zusammenzufüh-ren. Es ging ihm darum, Regelungen zu installieren, auf de-ren Grundlage „insoweit nicht mehr zwischen verkörperten und nicht verkörperten Inhalten unterschieden wird“116.

Wird damit der Fokus im Bereich von Rundfunk und Te-lemedien auf die durch sie übermittelten Inhalte gerichtet, so liegt dies nicht nur im internationalen Vergleich durchaus „im Trend“, ist es doch beispielsweise außerhalb Deutsch-lands schon längst üblich, nicht mehr auf „pornografische Schriften“ abzustellen, sondern von vornherein auf „Porno-grafie“117. Der Gesetzgeber hat damit vielmehr in erfreulicher Weise auch dem Umstand Rechnung getragen, dass das her-kömmliche, noch auf die klassischen Medien zugeschnittene Instrumentarium überlieferter Tathandlungsbeschreibungen auf die Neuen Medien nur recht eingeschränkt „passt“. Kurz-um: Auch der Gesetzgeber ist insoweit – endlich! – im Inter-netzeitalter angekommen.

Nur am Rande sei vermerkt, dass diese Abkoppelung der Strafbarkeit vom Verbreiten bzw. Zugänglichmachen von Schriften und der Fokussierung auf den inhaltlichen Aspekt des kommunikativen Geschehens schon längst gelebte Wirk-lichkeit ist bei jenen Delikten, bei denen dem „Verbreiten von Schriften“ das „öffentliche“ Begehen an die Seite gestellt ist118 oder bei denen nur einfach von „öffentlichem“ Begehen die Rede ist119. Denn in ihnen allen umfasst das „öffentliche“ Begehen von vornherein u.a. auch jegliches (öffentliche) „Zugänglichmachen von Inhalten mittels Rundfunk oder Telemedien“, ohne dass dabei – um mit dem Gesetzgeber des 49. StÄG zu sprechen (vgl. gerade eben bei Fn. 116) – „zwi-schen verkörperten und nicht verkörperten Inhalten unter-schieden wird“ (näher unten II. 1.).

Abzuwarten bleibt, wie die Rechtsprechung mit den neu-en Regelungen umzugehen gedenkt. Naheliegend wäre es, sie im Bereich von Rundfunk und Telemedien als leges speciales zu begreifen gegenüber den in §§ 130 Abs. 2 Nr. 1, 130a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, 131 Abs. 1 Nr. 1, 184 Abs. 1, 184a S. 1 Nr. 1, 184b Abs. 1 Nr. 1, 184c Abs. 1 Nr. 1 StGB noch im-mer enthaltenen Tathandlungsvarianten des Verbreitens bzw. Zugänglichmachens von Schriften. Gerade dies schwebte

115 Näher M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (586). 116 BT-Drs. 18/2601, S. 24; zur evidenten Sinnhaftigkeit eines solchen Gleichlaufs vgl. schon M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (586). 117 Näher hierzu Gercke, ZUM 2014, 641 (642) sowie insbe-sondere schon ders., CR 2010, 798 (802 ff.). 118 So in §§ 80a, 86a Abs. 1 Nr. 1, 90 Abs. 1, 90a Abs. 1, 90b Abs. 1, 111 Abs. 1, 140 Nr. 2, 166 Abs. 1 und 2, 186, 187, 188 Abs. 1 und 2, 219a Abs. 1 StGB, § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 12 BtMG; vgl. noch unten im Text Abschnitt II. vor 1. 119 So (nach wie vor) in §§ 130 Abs. 3 und 4, 130a Abs. 2 Nr. 2, 164 Abs. 1 StGB; vgl. noch unten im Text Abschnitt II. vor 1.

auch dem Gesetzgeber vor, plädierte er doch explizit dafür, „in den genannten Fällen nicht mehr auf die Verbreitung oder das Zugänglichmachen […] der Schrift und ihr nach § 11 Absatz 3 StGB gleichstehender Medien abzustellen, sondern auf das Zugänglichmachen von Inhalten durch Rundfunk oder Telemedien“120.

Zu befürchten steht jedoch, dass der BGH bei seiner ein-mal gefundenen „internetspezifischen“ Verbreitenslösung verharrt121 und die Möglichkeit tatbestandlicher Erfassung einschlägiger Verhaltensweisen mittels des Zugänglichma-chens der Inhalte ebenso außer Acht lässt, wie er dies seiner-zeit schon hinsichtlich derjenigen mittels des Zugänglichma-chens von Schriften getan hat122). b) Der sachliche Gehalt der Regelung

Gegenstand des Zugänglichmachens sind „Inhalte“ (nachfol-gend aa), tatbestandsrelevante Transport-Medien der „Rund-funk“ und die „Telemedien“ (unten bb) – woraus sich auch Aussagen über das „Zugänglichmachen“ ableiten lassen (un-ten cc); eine Sonderregelung zur Zugangssicherung findet sich in § 184d Abs. 1 S. 2 StGB (unten dd).

aa) Kaum erklärungsbedürftig ist zunächst der Begriff des „Inhalts“, der verwendet wurde, „um das Bezugsobjekt der strafbaren Handlung zu bezeichnen“123 – wenn man sich nur dessen bewusst ist, dass es zur Bejahung eines „Inhalts“ auf eine wie auch immer geartete Verkörperung nicht ankommt. Letztlich ist mit „Inhalt“ nichts anderes gemeint, als mit dem Begriff der „Information“ im Telemediengesetz124 – wobei der Gesetzgeber das Wort „Information“ freilich „im vorlie-genden Zusammenhang schon sprachlich nicht passend“125 fand (tatsächlich wäre die Bezeichnung volksverhetzender oder kinderpornografischer Darstellungen als „Information“ wohl befremdlich), so dass er lieber (ersichtlich neutraler gehalten) von „Inhalt“ sprechen wollte. Alles also, was über Rundfunk und Telemedien übermittelt wird, ist als „Inhalt“ anzusprechen, sei es in Form einer Live-Übertragung oder als Wiedergabe zuvor auf Ton-, Bild- oder Datenträgern erstell-ter Aufzeichnungen (vgl. schon oben a).

bb) Tatbestandsrelevant ist das Zugänglichmachen ein-schlägiger Inhalte nur, wenn es „mittels Rundfunk oder Te-lemedien“ erfolgt. Was „Telemedien“ sind, ergibt sich dabei aus der Legaldefinition des § 1 Abs. 1 S. 1 TMG (inhalts-identisch mit § 2 Abs. 1 S. 3 RStV): „alle elektronischen Informations- und Kommunikationsdienste, soweit sie nicht Telekommunikationsdienste […] oder Rundfunk […] sind“. Hinsichtlich des „Rundfunks“ sei auf § 2 Abs. 1 S. 1, 2 RStV verwiesen, wo es heißt: „Rundfunk ist ein linearer Informati-ons- und Kommunikationsdienst; er ist die für die Allge-meinheit und zum zeitgleichen Empfang bestimmte Veran-

120 BT-Drs. 18/2601, S. 16; vgl. das wesentlich ausführlichere Zitat bei M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (584 bei Fn. 223). 121 Ausführlich zu dieser M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (578 ff.). 122 M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (582). 123 BT-Drs. 18/2601, S. 24. 124 So auch der Gesetzgeber, vgl. BT-Drs. 18/2601, S. 24. 125 BT-Drs. 18/2601, S. 24.

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AUFSÄTZE Manfred Heinrich

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staltung und Verbreitung von Angeboten in Bewegtbild oder Ton entlang eines Sendeplans unter Benutzung elektromag-netischer Schwingungen. Der Begriff schließt Angebote ein, die verschlüsselt verbreitet werden oder gegen besonderes Entgelt empfangbar sind“.

Ganz im Einklang damit erstreckt sich das Zugänglich-machen „mittels Rundfunk“ sowohl auf öffentlich-rechtliche, wie auch auf private Rundfunkangebote126 (nicht aber, da i.d.R. nicht „entlang eines Sendeplans“ sendend, auf Ama-teursender127), und zwar unabhängig davon, ob die Übermitt-lung über Antenne, Satellit oder Leitung erfolgt128. Dies gilt auch bei entgeltlichen Angeboten (sog. Pay-TV)129. Auch eine etwaige Programm-Übertragung via Internet geschieht „mittels Rundfunk“ – sei es nun zeitgleich zur herkömmli-chen Ausstrahlung (sog. Live-Streaming) oder als exklusive Übertragung über das Internet (sog. Webcasting)130.

cc) Was die Tathandlung des „Zugänglichmachens“ durch Rundfunk oder Telemedien anlangt, gilt im Grunde nichts anderes, als beim „Zugänglichmachen“ einer Schrift131, wes-wegen insoweit auf die Darlegungen oben in Abschnitt 1. a) verwiesen werden kann.

Entscheidend für das Zugänglichmachen mittels Rund-funk ist (wie schon für das Verbreiten mittels Rundfunk nach altem Recht) nicht, ob die ausgestrahlte bzw. per Kabel über-tragene Sendung tatsächlich auch von jemandem empfangen wird132, und noch weniger, ob jemand von den übermittelten Inhalten Kenntnis erlangt133. Der tatbestandliche Erfolg ist vielmehr schon dann eingetreten, wenn die Sendung empfan-gen werden kann134 – was nicht der Fall ist, wenn „das Signal beim Zuschauer überhaupt nicht ankommen konnte, weil z.B. der Satellit […] defekt war“135. Vereinfachend (mit Blick auf die klassische terrestrische Rundfunkausstrahlung) gespro-

126 Eisele (Fn. 21), 6/61; Schäfer, in: Joecks/Miebach (Fn. 24), § 130 Rn. 73; Hörnle (Fn. 37), § 184d Rn. 6; Fischer (Fn. 39), § 184d Rn. 2. 127 So i.E auch Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 87) § 184d Rn. 2; Wolters (Fn. 41), § 184d Rn. 4 Fn. 12; Fischer (Fn. 39), § 184d Rn. 2; a.A. jedoch Hörnle (Fn. 37), § 184d Rn. 6; Laubenthal (Fn. 32); Rn. 1107; Eisele (Fn. 21), 6/61. 128 Hörnle (Fn. 37), § 184d Rn. 6; Fischer (Fn. 39), § 184d Rn. 2; Wolters (Fn. 41), § 184d Rn. 4; Hilgendorf (Fn. 45), § 184d Rn. 4. 129 Schäfer (Fn. 126), § 130 Rn. 73; Hörnle (Fn. 37), § 184d Rn. 6; Eisele (Fn. 21), 6/61; ders. (Fn. 32), § 184d Rn. 3. 130 Hörnle (Fn. 37), § 184d Rn. 6; Wolters (Fn. 41), § 184d Rn. 4; Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 87), § 184d Rn. 3. 131 So auch der Gesetzgeber, vgl. BT-Drs. 18/2601, S. 24. 132 Zum alten Recht Schreibauer (Fn. 52), S. 289, 291; Albrecht/Hotter, Rundfunk und Pornographieverbot, 2002, S. 58 (Nachweis des Zugangs entbehrlich). 133 Zum alten Recht Hörnle (Fn. 37), § 184d Rn. 6, 7. 134 Zum alten Recht Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 87), § 184d Rn. 5; Eisele (Fn. 32), § 184d Rn. 5; Wolters (Fn. 41), § 184d Rn. 5; siehe auch Hilgendorf (Fn. 45), § 184d Rn. 5 sowie ausführlich Schreibauer (Fn. 52), S. 288 f. 135 Zum alten Recht Schreibauer (Fn. 52), S. 289; in diesem Fall ist nur Versuch gegeben (Schreibauer, a.a.O.).

chen: „Die Tat ist vollendet, wenn die Darbietung in den Äther gelangt“136.

Ganz entsprechend kommt es auch im Bereich der Tele-medien (wiederum nicht anders, als im bisherigen Recht137) allein auf „die Möglichkeit der Wahrnehmung“ an138, die zu bejahen ist, wenn „der Nutzer, sofern er über die erforderli-chen technischen Möglichkeiten verfügt, die Daten über den jeweiligen Dienst beziehen kann“.

Hinsichtlich der Adressaten des Zugänglichmachens ist (als Pendant zum entsprechend aufgesplitteten Zugänglich-machen von Schriften in §§ 130 Abs. 2 Nr. 1, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. a, b StGB) in den Fällen der §§ 130 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 5 S. 2, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. a, b StGB davon die Rede, dass der betreffende Inhalt entweder „der Öffentlich-keit“ oder „einer Person unter achtzehn Jahren“ zugänglich gemacht wird – wobei es doch verwundert, dass der vorgeb-lich so auf „redaktionelle Bereinigung“ bedachte Gesetzge-ber139 die beiden Modalitäten in § 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB getrennt unter lit. a und lit. b aufführt, sie hingegen in § 130 Abs. 2 Nr. 2 StGB in einem Atemzug nennt.

Davon abweichend erfassen (wiederum in Spiegelung des Zugänglichmachens von Schriften in §§ 130a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, 194 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 StGB) die Regelungen der §§ 130a Abs. 3, 194 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB allein die „Öf-fentlichkeits“-Variante. Noch wieder anders spricht § 184d Abs. 1 S. 1 StGB davon, dass die Inhalte „einer anderen Per-son“ (auch also einer Person über achtzehn Jahren) oder „der Öffentlichkeit“ zugänglich gemacht werden.

Wie beim Zugänglichmachen von Schriften (vgl. oben 1. b) ist auch ein strafrechtlich relevanter „Inhalt“ der Öffent-lichkeit stets „dann zugänglich gemacht, wenn die Möglich-keit der Wahrnehmung durch unbestimmt viele Personen besteht“140, so dass das Versenden von E-Mails, die Vergabe von Zugangs-Codes oder die Mitteilung ansonsten geheim gehaltener Internetadressen an einzelne Personen nicht ge-nügt. In der Variante „mittels Rundfunk“ ist ein Zugänglich-machen gegenüber „der Öffentlichkeit“ übrigens bereits per definitionem gegeben, ist doch gem. § 2 Abs. 1 S. 1 RStV „Rundfunk“ von vornherein ausschließlich „die für die All-gemeinheit [und damit per se für eine unbestimmte Vielzahl von Personen] […] bestimmte Veranstaltung und Verbreitung […]“.

dd) Zur Bedeutung wirksamer Zugangshindernisse für Jugendliche, insbesondere in Form von Altersverifikations-systemen, gilt im Hinblick auf die jugendschützenden §§ 130 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 5 S. 2, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB das zum „Zugänglichmachen von Schriften“ oben in Abschnitt 2. b) cc) Gesagte ganz entsprechend141. Demgegenüber je-

136 Zum alten Recht Albrecht/Hotter (Fn. 132), S. 58; ebenso Schreibauer (Fn. 52), S. 288. 137 So ausdrücklich auch der Gesetzgeber, vgl. BT-Drs. 18/ 2601, S. 24. 138 Hier und nachfolgend BT-Drs. 18/2601, S. 24. 139 Vgl. BT-Drs. 18/2601, S. 16, 24. 140 BT-Drs. 18/2601, S. 24 (Hervorhebung von mir). 141 Die den Besonderheiten des Pornografiestrafrechts ge-schuldete, den Rundfunk gegenüber den Telemedien schlech-

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„Zugänglichmachen“ und „öffentliches Begehen“ als Tathandlungen im Medienstrafrecht STRAFRECHT

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doch hat der besonders wichtige Fall des Zugänglichmachens (einfach-)pornografischer Inhalte gem. § 184 Abs. 1 S. 1 StGB insoweit in § 184d Abs. 1 S. 2 StGB eine eigene Rege-lung erfahren: Nach dieser ist eine Strafbarkeit gem. § 184d Abs. 1 S. 1 StGB – allerdings nur „bei einer Verbreitung mittels Telemedien“142 – nicht gegeben, „wenn durch techni-sche oder sonstige Vorkehrungen sichergestellt ist, dass der pornographische Inhalt Personen unter achtzehn Jahren nicht zugänglich ist“. Damit ist die weitreichende Strafbarkeit aus § 184d Abs. 1 S. 1 StGB desjenigen, der (einfach-)pornogra-fische Inhalte „einer anderen Person oder der Öffentlichkeit“ zugänglich macht, im Bereich der Telemedien – nicht aber im Bereich des Rundfunks (!) – de facto heruntergebrochen auf die Strafbarkeit dessen, der keine wirksamen Vorkehrungen dagegen trifft, dass sie „einer Person unter achtzehn Jahren“ zugänglich werden. 4. Das Zugänglichmachen in sonstigen Fällen

In jenen Fällen des Zugänglichmachens, die nicht eine „Schrift“ oder einen „Inhalt“ betreffen (vgl. oben vor 1.), wie beim Zugänglichmachen einer „(Ton-)Aufnahme“ (in § 201 Abs. 1 Nr. 2 StGB), einer „Bildaufnahme“ (in § 201a Abs. 1 Nr. 3 und 4, Abs. 2 StGB), von „Passwörtern oder sonstigen Sicherungscodes“ bzw. „Computerprogrammen“ (in § 202c Abs. 1 StGB), von „Angeboten“ (in § 23 JMStV), eines „Trägermediums“ (in § 27 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG) oder „eines Werkes oder eines sonstigen Schutzgegenstandes“ (in § 108b Abs. 1 Nr. 2 lit. b UrhG, wobei hier sogar von „Öffentlich-zugänglich-Machen“ die Rede ist), gilt im Grunde nichts anderes als beim Zugänglichmachen von Schriften, kommt es also – auch wenn mitunter Besonderheiten zu beachten sind – letztlich entscheidend auf das Ermöglichen der sinnlichen Wahrnehmung des jeweiligen Inhalts an.

Um diese grundsätzliche Übereinstimmung zumindest anhand zweier Beispiele zu belegen, sei zunächst aus einer Kommentierung zu § 201 StGB zitiert: „Die Aufnahme wird einem Dritten zugänglich gemacht, indem diesem ermöglicht wird, durch ein Abspielen der Aufnahme von der Bedeutung des aufgenommenen Wortes Kenntnis zu nehmen. Ein Gewahrsamsübergang am Tonträger ist dafür nicht erforder-lich“ 143; und zu § 201a StGB liest man ganz entsprechend: „Einem Dritten zugänglich gemacht wird die Aufnahme, indem einem anderen die Möglichkeit zur Kenntnisnahme ihres Inhalts verschafft wird“144.

ter stellende Regelung des § 184d Abs. 1 S. 2 StGB ist inso-weit unbeachtlich. 142 Zu dieser bei der Neufassung des § 184d StGB – wohl versehentlich – „stehengebliebenen“ Formel vgl. bereits M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (586 f.). 143 Hoyer, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 56. Lfg., Stand: Mai 2003, § 201 Rn. 20 m.w.N.; in diesem Sinne u.a. auch Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder (Fn. 32), § 201 Rn. 17. 144 So (zu § 201a Abs. 2 und 3 StGB a.F.) Hoyer (Fn. 143), § 201a Rn. 29; siehe auch Lenckner/Eisele (Fn. 143), § 201a Rn. 15a.

II. Das „öffentliche“ Begehen In einer ganzen Reihe von Schriftenverbreitungstatbeständen findet sich dem „Verbreiten“ zwar nicht ein „Zugänglichma-chen“ an die Seite gestellt (hierzu oben I.), dafür aber die Handlungsvariante des „öffentlich(en)“ Begehens145, meist146 im Rahmen der Trias „öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften“147 (nachfolgend 1.).

Daneben taucht das Merkmal des „öffentlichen“ Bege-hens aber ebenfalls in einigen Tatbeständen auf, die sich nicht auch mit dem Verbreiten von Schriften befassen, sei es nun in der Verbindung „öffentlich oder in einer Versamm-lung“ – so in §§ 130 Abs. 3 und 4, 130a Abs. 2 Nr. 2 StGB (hierzu unten 2.) – oder gar nur alternativlos eben in der Wendung des „öffentlich“ Begehens – so z.B. in § 164 Abs. 1 StGB: „wer einen anderen […] öffentlich […] verdächtigt“, aber auch in § 284 Abs. 1 StGB: „wer […] öffentlich ein Glücksspiel veranstaltet oder hält“ (vgl. unten 3.). 1. Das „öffentliche“ Begehen im Rahmen von Schriften-verbreitungstatbeständen

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das „öffentliche“ Be-gehen auch dort, wo es neben dem Verbreiten von Schriften steht (vgl. soeben bei und in Fn. 145), keineswegs nur im Rahmen medialen Geschehens stattfinden kann, sondern (gerade) auch außerhalb eines jeden Medienbezugs – etwa mittels Vortrags vor Publikum an öffentlichem Ort, z.B. mittels einer verleumderischen Rede gem. § 187 StGB auf dem Marktplatz.

Dementsprechend weit greifen denn auch die gängigen Begriffsbestimmungen: „Öffentlich“ geschehe die Tathand-lung, wenn sie „von einem größeren, nach Zahl und Individu-alität unbestimmten oder durch nähere Beziehung nicht ver-bundenen Personenkreis unmittelbar wahrgenommen werden kann“148. Dies entspricht durchaus auch dem Verständnis von

145 Vgl. §§ 80a, 86a Abs. 1 Nr. 1, 90 Abs. 1, 90a Abs. 1, 90b Abs. 1, 111 Abs. 1, 140 Nr. 2, 166 Abs. 1 und 2, 186, 187, 188 Abs. 1 und 2, 219a Abs. 1 StGB, § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 12 BtMG; vgl. aber auch §§ 103 Abs. 2 S. 1, 165 Abs. 1, 200 Abs. 1 StGB. Zu der besonderen Konstellation innerhalb § 184 Abs. 1 Nr. 5 StGB vgl. bereits M. Heinrich, ZJS 2016, 297 (304 ff.). 146 Nicht aber in §§ 166 Abs. 1 und 2, 184 Abs. 1 Nr. 5, 186 bzw. 165 Abs. 1, 200 Abs. 1 StGB. 147 In § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB heißt es (ohne sachlichen Unterschied) ein wenig abweichend: [… wer Kennzeichen] „öffentlich, in einer Versammlung oder in von ihm verbreite-ten Schriften“ [verwendet]. 148 Schäfer (Fn. 126), § 130 Rn. 83; Lenckner/Eisele (Fn. 143), § 186 Rn. 19; Kühl, in Lackner/Kühl (Fn. 86), § 80a Rn. 2; Hilgendorf/Valerius (Fn. 24), Rn. 360, 415; siehe auch Franke, GA 1984, 452 (458); Güntge (Fn. 67), § 86a Rn. 7; Laufhütte/Kuschel, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann(Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kom-mentar, Bd. 4, 12. Aufl. 2007, § 90 Rn. 6, sowie Eisele (Fn. 21), 6/108, 6/129; siehe auch BGH NStZ 2015, 81 (83).

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AUFSÄTZE Manfred Heinrich

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„öffentlich“ im Rahmen des bereits besprochenen „Öffent-lich-zugänglich-Machens“ (vgl. oben I. 1. b).

Nichtsdestoweniger aber ist, nachdem gemäß der soeben wiedergegebenen Umschreibung das „öffentliche“ Begehen nicht an die Vornahme an einem öffentlichen Ort gebunden ist149 (nur aufgrund expliziter Regelung insofern anders § 184 Abs. 1 Nr. 5 StGB), auch die Begehung über die Medien erfasst: So ist das Ausstrahlen von Inhalten über den Rund-funk oder das Fernsehen150 (gleichgültig, ob es sich dabei um eine Live-Sendung oder die Wiedergabe einer zuvor gefertig-ten Aufzeichnung handelt151, vgl. bereits oben bei Fn. 119) ebenso als „öffentliches“ Begehen zu begreifen, wie das Bereitstellen von Inhalten, die über das Internet oder sonstige Computernetze für beliebige Benutzer allgemein und ohne Weiteres abrufbar sind152 (näher noch unten bei Fn. 172); nichts anderes gilt für das Präsentieren von Inhalten, die auf Plakaten bzw. Autoaufklebern oder mittels Aufsprühens bzw. Projizierens auf eine Wand der Kenntnisnahme nicht nur durch bestimmte Personen offen stehen153.

Damit sind im Rahmen der Verbreitungstatbestände gera-de jene Varianten der an eine unbestimmte Personenvielzahl gerichteten Übermittlung erfasst, die mangels körperlicher Weitergabe der betreffenden Schrift (mithin als Fälle bloßer Inhaltsvermittlung) dem Verbreitensbegriff nicht154 – oder zumindest nur wenig überzeugend (wie im Hinblick auf das vom BGH angenommene „Verbreiten“ von Schriften im Internet)155 – zu unterstellen sind. Insoweit kommt der Tatbestandlichkeit des „öffentlich“ Begehens dieselbe lü-ckenfüllende Funktion zu, wie in zahlreichen anderen Schrif-tenverbreitungstatbeständen dem (im „öffentlichen“ Begehen enthaltenen) Öffentlich-zugänglich-Machen (vgl. oben I. 1. c).

Natürlich stellt auch das entsprechend breit gefächerte Vermitteln illegaler Inhalte über Presseerzeugnisse wie Zei-tungen und Zeitschriften (insbesondere im Wege des Publi-

149 Vgl. RGSt 63, 431 (432); Lenckner/Eisele (Fn. 143), § 186 Rn. 19; Hilgendorf/Valerius (Fn. 24), Rn. 391, 415; Laufhütte/Kuschel (Fn. 148), § 90 Rn. 6; Güntge (Fn. 67), § 86a Rn. 7; Zaczyk, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 2, 4. Aufl. 2013,§ 186 Rn. 29. 150 Und zwar stets; vgl. Schäfer (Fn. 126), § 130 Rn. 83, die in Fn. 151 Genannten sowie bereits oben im Text nach Fn. 140. 151 Lenckner/Eisele (Fn. 143), § 186 Rn. 19; Fischer (Fn. 39), § 186 Rn. 18; Regge/Pegel, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 186 Rn. 37. 152 Lenckner/Eisele (Fn. 143), § 186 Rn. 19; Fischer (Fn. 39), § 186 Rn. 19; Hilgendorf/Valerius (Fn. 24), Rn. 360, 392, 416. 153 Lenckner/Eisele (Fn. 143), § 186 Rn. 19; Regge/Pegel (Fn. 151), § 186 Rn. 36; Hilgendorf, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Fn. 87), § 186 Rn. 14. 154 Vgl. M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (570 f., 571 ff.). 155 Ausführlich und kritisch hierzu M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (578 ff.).

zierens selbst, aber auch mittels neuerlichen entsprechend weit gefächerten Präsentierens bereits publizierten Materials) ein „öffentliches“ Begehen dar156, erlangt dies aber ange-sichts der in den hier betrachteten Tatbeständen (vgl. oben vor 1.) enthaltenen Verbreitensstrafbarkeit nur dann eigen-ständige Bedeutung, wenn das Druckwerk nicht körperlich weitergereicht (bzw. verteilt) wird – wie bspw. beim Ausle-gen einer Neuerscheinung in einer Buchhandlung oder beim Aushängen einer Zeitung im Schaukasten des Verlagshauses.

Ein Begehen (etwa durch Verlesen eines Textes, Vorzei-gen eines Bildes oder Vorführen eines Films) ist dann nicht „öffentlich“, wenn sich die Wahrnehmung bzw. Wahrneh-mungsmöglichkeit beschränkt auf eine Person, einige wenige Personen oder auf die Mitglieder einer geschlossenen Perso-nengruppe157, wie die Mitglieder eines Vereins, die Teilneh-mer an einer AG-Hauptversammlung158 oder die bei einer öffentlichen Gerichtssitzung anwesenden Verfahrensbeteilig-ten159 – wobei in den letztgenannten Fällen freilich entschei-dend ist, dass nicht auch außenstehende Dritte (gar Medien-vertreter) zugegen und imstande sind, von der Begehung Kenntnis zu nehmen160, wie es i.d.R. etwa beim Erscheinen eines Zuhörers in der Gerichtssitzung der Fall ist161. Ebenso wenig genügt die sukzessive Begehung vor einer Vielzahl von Personen oder das nachträgliche Gelangen einer an sich vertraulichen Mitteilung an die Öffentlichkeit162.

Nicht von Bedeutung für „öffentliches“ Begehen ist, ob überhaupt jemand Kenntnis genommen hat, entscheidend ist allein die tatsächlich bestehende Möglichkeit zur Kenntnis-nahme163. So ist dementsprechend bei Rundfunk- und Fern-sehsendungen das Öffentlichkeitserfordernis stets erfüllt 164 (vgl. bereits oben im Text nach Fn. 140), ebenso, wenn Inhal-te frei zugänglich ins Internet gestellt werden165, aber auch beim Anschlagen von Plakaten im öffentlichen Raum oder beim Führen eines Autoaufklebers166.

In Fällen hingegen, in denen die Möglichkeit zur Kennt-nisnahme nicht bereits in entsprechender Weise generell zu bejahen (bzw. besser: als gegeben zu unterstellen) ist, bedarf es im konkreten Fall des Nachweises, dass jene die Öffent-lichkeit konstituierende Personenvielzahl auch wirklich vor

156 Vgl. Lenckner/Eisele (Fn. 143), § 186 Rn. 19; und Regge/ Pegel (Fn. 151), § 186 Rn. 36 (Zeitungsanzeigen). 157 RGSt 63, 431 (432); Lenckner/Eisele (Fn. 143), § 186 Rn. 19; Sinn, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier (Fn. 45), § 186 Rn. 20. 158 Sinn (Fn. 157), § 186 Rn. 20; Lenckner/Eisele (Fn. 143), § 186 Rn. 19; Regge/Pegel (Fn. 151), § 186 Rn. 35. 159 RGSt 63, 431 (432); Regge/Pegel (Fn. 151), § 186 Rn. 35. 160 Lenckner/Eisele (Fn. 143), § 186 Rn. 19; Zaczyk (Fn. 149), § 186 Rn. 28. 161 RGSt 63, 431; ebenso wohl Sinn (Fn. 157), § 186 Rn. 20. 162 Vgl. zu beidem Lenckner/Eisele (Fn. 143), § 186 Rn. 19; Regge/Pegel (Fn. 151), § 186 Rn. 35 m.w.N. 163 Vgl. Lenckner/Eisele (Fn. 143), § 186 Rn. 19. 164 Vgl. nur etwa Schäfer (Fn. 126), § 130 Rn. 83, sowie die Nennungen in Fn. 151. 165 Lenckner/Eisele (Fn. 143), § 186 Rn. 19. 166 Hilgendorf (Fn. 153), § 186 Rn. 14.

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„Zugänglichmachen“ und „öffentliches Begehen“ als Tathandlungen im Medienstrafrecht STRAFRECHT

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Ort und in der Lage war, das Begehen zur Kenntnis zu neh-men. Die bloße Möglichkeit, dass sie immerhin hätten anwe-send sein können, genügt ebenso wenig167, wie die Anwesen-heit nur einiger weniger außenstehender Personen168.

Insofern ist es durchaus richtig, wenn man mitunter liest, dass ein solcher Personenkreis „im Falle mündlicher Äuße-rungen tatsächlich anwesend sein und die Möglichkeit zur Wahrnehmung haben“ müsse169. Jedoch stellt dies keine über die zuvor erwähnte „Möglichkeit zur Kenntnisnahme“ hin-ausgehende Sondervoraussetzung dar und ist es in Wahrheit auch nicht im Vorliegen (nur) „mündlicher“ (statt schriftli-cher) Äußerungen begründet170. Es trägt vielmehr dem Um-stand Rechnung, dass (anders als beim Begehen über Rund-funk, Fernsehen, Internet etc.) im Falle sowohl örtlich, wie auch zeitlich begrenzter Präsentation – wie etwa dem ebenso ortsgebundenen wie „flüchtigen“ Vorlesen eines Buches, Vorzeigen eines Bildes oder Vorspielens einer Ton- oder Bildaufzeichnung – zwar von einer abstrakten, nicht aber ohne Weiteres auch einer de facto bestehenden Erreichbarkeit der erforderlichen Personenvielzahl ausgegangen werden kann171.

Ins Internet gestellte Inhalte (und das damit verbundene tatbestandliche Begehen) sind „öffentlich“, wenn jedermann Zugang zu ihnen hat – wie auf frei abrufbaren Webseiten oder in offenen Chaträumen und Foren172. Dabei schadet es nicht, dass „dieser Weg ggf. über Links erschlossen […] und […] die Äußerung vom Empfänger durch eigenes Handeln abgerufen werden muss“173.

Anders verhält es sich jedoch bei Bestehen wirksamer Zugangsbeschränkungen, die sicherstellen sollen, dass nur individuell ausgewählte Nutzer Zugriff nehmen können174, Stichwort: „geschlossene Benutzergruppen“ (wozu der recht lockere „Freundes“-Kreis des Inhabers eines Facebook-Profils nicht gehört175, vgl. schon oben I. 1. b). Nicht genügen bloße Scheinhindernisse oder auch zwar ernst gemeinte, aber de facto wirkungslose bzw. wirkungsschwache Hindernisse (auch hierzu bereits oben I. 1. b).

167 So ausdrücklich Hilgendorf (Fn. 153), § 186 Rn. 13; Lenckner/Eisele (Fn. 143), § 186 Rn. 19. 168 Hilgendorf (Fn. 153), § 186 Rn. 13; Lenckner/Eisele (Fn. 143), § 186 Rn. 19. 169 Hilgendorf (Fn. 153), § 186 Rn. 13 (Hervorhebung von mir); ebenso Lenckner/Eisele (Fn. 143), § 186 Rn. 19. 170 Auf diesem Gegensatz aufbauend aber u.a. die in Fn. 169 Genannten sowie Regge/Pegel (Fn. 151), § 186 Rn. 35, 36; noch wieder anders differenzieren Laufhütte/Kuschel (Fn. 148), § 90 Rn. 8 zwischen „mündlichen Äußerungen“ und „optischem Zugänglichmachen der Äußerung“. 171 Durchaus in diesem Sinne spricht Fischer (Fn. 39), § 186 Rn. 16 von der „konkreten Möglichkeit der Wahrnehmung“. 172 Hilgendorf/Valerius (Fn. 24), Rn. 360, 392; siehe auch Sinn (Fn. 157), § 186 Rn. 20 („Betreiben einer Homepage“). 173 So ganz richtig Fischer (Fn. 39), § 186 Rn. 19. 174 Vgl. Hilgendorf/Valerius (Fn. 24), Rn. 392, sowie die Nennungen oben in Fn. 57, 58, 59. 175 So erst jüngst BGH NStZ 2015, 81 (83) zum „öffentli-chen“ Verwenden im Rahmen des § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB.

Auch der Massenversand von E-Mails oder SMS (nicht aber der gezielte Versand an individuell ausgewählte Perso-nen) kann ein „öffentliches“ Begehen darstellen176. 2. Das „öffentliche“ Begehen in §§ 130 Abs. 3 und 4, 130a Abs. 2 Nr. 2 StGB

Wenn in §§ 130 Abs. 3 und 4, 130a Abs. 2 Nr. 2 StGB vom Begehen „ öffentlich oder in einer Versammlung“ die Rede ist, gilt für das „öffentlich“ Begehen letztlich nichts anderes, als in jenen Delikten (vgl. soeben Abschnitt 1.), bei denen es um das Begehen „öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften“ geht177. Erfasst sind damit – neben dem „öffentlichen“ Begehen vor Ort – insbesondere auch wieder die Fälle des Ausstrahlens über Rundfunk und Fernsehen (vgl. oben im Text bei Fn. 150 und Fn. 164) sowie diejenigen des allgemein zugänglichen Bereitstellens im Internet (oben bei Fn. 152 und Fn. 172)178. Dasselbe gilt aber auch für das Begehen im Rahmen von Pressepublikationen, hier nun allerdings – anders als bei jenen zuvor behandelten Verbreitungsdelikten (vgl. oben bei Fn. 156) – ohne Verfüg-barkeit gerade der („passenderen“) Begehensform „durch Verbreiten von Schriften“, so dass auch insoweit „die Last der Strafbarkeit“ auf dem „öffentlich“ Begehen ruht.

In § 130 StGB wird freilich die Strafbarkeit aus Abs. 3, 4 noch flankiert durch die in Abs. 5 S. 1 angeordnete Erstre-ckung der in Abs. 2 Nr. 1, 3 enthaltenen Schriftenverbrei-tungstatbestände auch auf „eine Schrift (§ 11 Absatz 3) des in den Absätzen 3 und 4 bezeichneten Inhalts“ sowie (neuer-dings, seit dem 49. StÄG179) durch Erstreckung des in Abs. 2 Nr. 2 enthaltenen inhaltsorientierten „Zugänglichmachens mittels Rundfunk oder Telemedien“ auch auf „einen in den Absätzen 3 und 4 bezeichneten Inhalt“. Das bedeutet, dass zur Bejahbarkeit „öffentlichen“ Begehens die in § 130 Abs. 2 Nr. 1, 2 StGB kodifizierte eigenständige – und aufgrund des ggf. auch nicht-öffentlichen Verbreitens180 insoweit weiter reichende – Strafbarstellung des Verbreitens und Öffentlich-zugänglich-Machens einschlägiger Schriften bzw. Inhalte noch hinzutritt. 3. Das „öffentliche“ Begehen im Rahmen sonstiger Delikte

Wenn das „öffentliche“ Begehen in anderen als den bereits behandelten (Schriftenverbreitungs-)Tatbeständen (vgl. zu diesen soeben 1. und 2.) aufscheint – wie in § 164 Abs. 1 StGB („wer einen anderen […] öffentlich […] verdächtigt“), aber auch in § 284 Abs. 1 StGB („wer […] öffentlich ein Glücksspiel veranstaltet oder hält“) –, ist mit „öffentlichem“

176 Fischer (Fn. 39), § 186 Rn. 19; Regge/Pegel (Fn. 151), § 186 Rn. 35; Schäfer (Fn. 126), § 130 Rn. 84. 177 Vgl. nur Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 32), § 130 Rn. 22c, mit Pauschalverweisung auf § 186 Rn. 19. 178 So etwa Krauß, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiede-mann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 5, 12 Aufl. 2009, § 130 Rn. 110, § 130a Rn. 32. 179 Vgl. Fn. 14. 180 Näher hierzu M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (576, Abschnitt dd).

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AUFSÄTZE Manfred Heinrich

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ZJS 6/2016 710

Begehen auch wieder das gemeint, was bereits soeben zu den in Abschnitt 2. erwähnten Tatbeständen mitgeteilt werden konnte181: die – neben dem „öffentlichen“ Begehen vor Ort – zu beachtende Erfassung auch der Fälle des Ausstrahlens über Rundfunk und Fernsehen (vgl. oben im Text bei Fn. 150 und Fn. 164) sowie diejenigen des allgemein zugänglichen Bereitstellens im Internet (oben bei Fn. 152 und Fn. 172) und schließlich auch wieder die des „Verbreitens von Schriften“ im Rahmen von Pressepublikationen.

181 Vgl. nur etwa Eisele (Fn. 32), § 183a Rn. 4; Heine/ Hecker, in: Schönke/Schröder (Fn. 32), § 284 Rn. 12.

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Sezession im Bundesstaat – Neun Fragen an das Grundgesetz Von Prof. Dr. Carsten Doerfert, Bielefeld* Im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordir-land ergab eine Volksabstimmung im Juni 2016 eine Mehr-heit für einen Austritt aus der EU. Als eine der Folgen wird nun zum zweiten Mal ein möglicher Austritt von Schottland aus dem Vereinigten Königreich debattiert. In Spanien strebt Katalonien die Unabhängigkeit an, so dass es dort ähnliche Diskussionen gibt. Der Zerfall der UdSSR, Jugoslawiens und der Tschechoslowakei in den 1990er Jahren zeigten bereits, dass die Grenzen in Europa nicht unveränderlich sind. In Kanada kommen aus der Provinz Quebec immer wieder ent-sprechende Forderungen und in den USA brach 1861 der Bürgerkrieg wegen der Abspaltung (Sezession) der Südstaa-ten aus. Auch wenn das in Deutschland derzeit nicht auf der Tagesordnung steht: Wie ist die Position des Grundgesetzes zur Abspaltung von Landesteilen? I. Ergeben sich klare Aussagen bereits aus dem Begriff des „Bundesstaates“? Nein. Zum Teil wird allerdings generalisierend formuliert, dass die Gliedstaaten im Bundesstaat keine Austrittsmöglich-keit hätten, im Staatenbund dagegen schon.1 Ein Verbot der Sezession ergäbe sich dann schon aus dem Begriff des Bun-desstaates, welcher in Art. 20 Abs. 1 GG als eines der Struk-turprinzipien des Grundgesetzes verankert ist. Bei der Be-gründung von Ergebnissen aus dem „Wesen des Bundesstaa-tes“ ist jedoch Vorsicht geboten. Die Gestaltungen der Staa-tenverbindungen sind zu vielfältig, als dass aus diesen Ober-begriffen allgemeingültige Folgerungen abgeleitet werden könnten. So gewährte die bundesstaatliche Verfassung der UdSSR den Unionsrepubliken jedenfalls auf dem Papier ein Austrittsrecht. Hingegen basierte der Deutsche Bund (1815-1866), der als lockerer Staatenbund konzipiert war, auf dem Prinzip der Unauflösbarkeit. Auch der Blick in die USA zeigt, dass pauschale Kategorisierungen nicht weiterhelfen. Die Südstaaten, welche 1861 die USA verlassen wollten, gründeten die „Konföderierten Staaten“, was begrifflich für einen Staatenbund spricht. Die Verfassung, die sich diese Südstaaten gaben, hatte aber durchaus bundesstaatliche Zü-

* Der Verf. unterrichtet öffentliches Recht und Europarecht an der FH Bielefeld. 1 Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber, Beck̓scher Online-Kommentar GG, 2016, Art. 20 Rn. 5. Zur Abgrenzung der beiden Typen dient die Frage nach der „Kompetenz-Kompe-tenz“: Hat die Zentralebene die Befugnis, ihre Zuständigkei-ten (Kompetenzen) auch gegen den Widerspruch einzelner Glieder zu erweitern? Wird diese Frage bejaht, dann handelt es sich um einen Bundesstaat (so im Falle Deutschlands, wo der Bund den Katalog seiner Zuständigkeiten in Art. 73, 74 GG durch Verfassungsänderung auch gegen den Willen eines einzelnen Bundeslandes erweitern kann), anderenfalls um einen Staatenbund/Staatenverbund (wie im Falle der EU mit ihrem Prinzip der begrenzen Einzelermächtigung in Art. 5 EUV).

ge.2 In den Blick zu nehmen ist also immer das konkrete Verfassungsrecht in seiner historischen Entwicklung. Im Grundgesetz sind dem allgemeinen Begriff des Bundesstaates nur wenige grundsätzliche Festlegungen zu entnehmen. Diese beschränken sich auf die Gliederung des Bundes in Länder sowie die Ausstattung von Bund und Ländern mit staatlichen Aufgaben.3 II. Enthält das Grundgesetz Austrittsklauseln oder Aus-trittsverbote? Nein. Ausdrücklich findet sich dazu nichts. Art. 29 GG be-trifft lediglich die Neugliederung des Bundesgebietes. Für seine analoge Anwendung auf den rechtlich nicht geregelten Fall des Austritts fehlt es an einer (planwidrigen) Regelungs-lücke.4 Das Schweigen des Grundgesetzes zu Sezessionen ist nämlich nicht Ausdruck einer versehentlich nicht geregelten Thematik, sondern eine Folge der Festlegung des Grundge-setzes auf einen Staat mit einer unlösbaren Verbindung der Glieder. Schon die Aufzählung der Bundesländer in der Prä-ambel des Grundgesetzes ist dafür ein Indiz. Hier wird der räumliche Geltungsbereich des Grundgesetzes definiert, und dieser kann solange Geltung beanspruchen, wie das Grundge-setz in seiner jetzigen Fassung gilt. Besonders deutlich ist dieser textliche Befund allerdings nicht. Zu ergänzen ist die Auslegung des Normtextes durch eine historische Perspekti-ve. Bei allen Neuanfängen, die das Bonner Grundgesetz 1949 machen musste: Beim Bekenntnis zur bundesstaatlichen Ordnung konnte man auf Bewährtes zurückgreifen. Das Ver-ständnis als dauerhaft konstituierter Bundesstaat entspricht den Grundgedanken des deutschen Staatsdenkens mindestens seit der Reichsgründung von 18715 – die Irrwege des NS-Ein-heitsstaates und des DDR-Zentralismus stehen außerhalb dieser Kontinuität. Die heutige Verfassungsrechtsprechung musste sich mit der Frage einer Sezession noch nicht beschäf-tigen. Die Verneinung eines einseitigen Austrittrechts der

2 Otto Mayer hat das so formuliert: „Die Südstaaten waren einfach eine Union, die sich von der alten nur dadurch unter-scheiden sollte, dass der souveräne Wille dieses neu abge-grenzten Gesamtvolkes die Sklaverei zuliess“, in: AöR 18 (1903), 337 (355 f.). 3 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 2015, Art. 20 Rn. 14. 4 Die „Bayernpartei“ tritt für eine Lösung des Bundeslandes Bayern aus der Bundesrepublik ein und nennt u.a. eine analo-ge Anwendung des Art. 29 GG als möglichen juristischen Weg zu diesem Ziel, http://landesverband.bayernpartei.de/unabhaengigkeit/juristische-wege-zur-eigenstaatlichkeit/ (18.10.2016). 5 Nach h.M. war bereits der Norddeutsche Bund von 1867 ein Bundesstaat, der eine Sezession nicht zuließ. Zur wissen-schaftsgeschichtlichen Einordnung Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II, 1992, S. 365 ff.

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DIDAKTISCHE BEITRÄGE Carsten Doerfert

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ZJS 6/2016 712

Bundesländer ist aber einhellige Meinung in der Staatsrechts-lehre.6 III. Was ist mit vertraglichen Kündigungsrechten? Nein, die gibt es hier nicht. Im Völkerrecht existiert zwar ein Vorbehalt, dass Verträge bei unvorhergesehenen Änderungen ihrer Grundlagen angepasst oder gekündigt werden können (clausula rebus sic stantibus). Aber Kündigungsrechte passen nur für vertragliche Beziehungen.7 Die Gründung der Bun-desrepublik Deutschland im Jahre 1949 war jedoch kein Vertrag zwischen den Bundesländern, sondern ein Willensakt des deutschen Volkes, repräsentiert im Parlamentarischen Rat.8 Gegen eine vertragliche Gründung zwischen den Län-dern spricht auch der Umstand, dass nach Art. 144 GG für das Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht die Zustimmung aller Bundesländer erforderlich war.9 Hingegen beruht die Möglichkeit zum Verlassen der Europäischen Union auf deren vertraglicher Grundlegung. In ihrer Eigenschaft als „Herren der Verträge“ können die Mitgliedstaaten auch über einen Austritt aus der EU entscheiden. Schon unter Geltung der älteren Vertragsfassungen wurde ein Austrittsrecht nach allgemeinen völkerrechtlichen Regeln bejaht.10 IV. Lässt sich mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völ-ker argumentieren? Nein. Dieser Grundsatz ist zwar völkerrechtlich anerkannt und auch in der Charta der Vereinten Nationen verankert. Allerdings ist bereits zweifelhaft, ob der Gedanke innerstaat-lich anwendbar ist. Das Grundgesetz fasst nicht einzelne Landesvölker zu einem Ganzen zusammen, sondern geht von

6 Degenhart, Staatsrecht I, 31. Aufl. 2015, Rn. 474; Gröpl, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2014, Rn. 602; Hanschel, Konfliktlö-sung im Bundesstaat, 2012, S. 298; Huber, in: Sachs, GG-Kommentar, 7. Aufl. 2014, Präambel Rn. 23; Huster/Rux, (Fn. 1), Art. 20 Rn. 5; Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Hand-buch des Staatsrechts VI, 2008, § 126 Rn. 63, 159; Lindner, BayVBl. 2014, 97 (101); v. Münch/Mager, Staatsrecht I, 8. Aufl. 2016, Rn. 686; Stern, Staatsrecht I, 2. Aufl. 1984, S. 654. 7 Ein Beispiel aus der Verfassungsgeschichte ist die Aufkün-digung des Deutschen Bundes durch Preußen 1866. Zwar kannte dieser Staatenbund kein einseitiges Austrittsrecht, aber Preußen berief sich nach einer feindseligen Mobilma-chung auf vorangegangene Vertragsbrüche der Vertragspart-ner, siehe Meyer/Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staats-rechts, 8. Aufl. (Nachdruck) 2005, S. 120 f. 8 Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates sahen sich als „Treuhänder des gesamten deutschen Volkes“, dazu Klein, in: Maunz/Dürig (Fn. 3), Art. 144 Rn. 18. 9 Der bayerische Landtag hatte 1949 gegen das Grundgesetz gestimmt, weil es ihm zu zentralistisch war. Zugleich hatte er die Mehrheitsentscheidung als verbindlich bezeichnet, was aber wegen der ohnehin gegebenen Zweidrittelmehrheit nach Art. 144 GG keine rechtliche Relevanz hatte. 10 Zur Rechtslage vor dem Vertrag von Lissabon Thiele, EuR 2016, 281 (283 f.).

der nationalen Einheit des deutschen Volkes aus.11 Selbst wenn man bei der Bestimmung des maßgeblichen „Volkes“ die Existenz einer hinreichend homogenen und abgegrenzten Teil-Gruppe (wie Bayern, Friesen oder Sorben) annimmt, so begründet dies noch keinen Anspruch auf Abspaltung vom deutschen Gesamtstaat. Das Selbstbestimmungsrecht, einer der heikelsten Grundsätze des Völkerrechts, steht in einem Spannungsfeld mit dem Grundsatz der territorialen Unver-sehrtheit der bestehenden Staaten.12 Ein Recht auf Sezession besteht danach erst, wenn Minderheitenvölker massiv diskri-miniert werden, wovon in Deutschland nicht ernsthaft die Rede sein kann. V. Wäre das einvernehmliche Ausscheiden eines Bundes-landes zulässig? Nein. Der Verstoß gegen das Sezessionsverbot entfällt nicht bei einem einvernehmlichen Handeln. Der Bundesstaat steht nicht zur Disposition des Gesetzgebers. Gleichermaßen unzu-lässig wäre eine staatsvertragliche Vereinbarung zwischen Bund und Ländern über einen Austritt. Auch eine Volksab-stimmung in einem Land, organisiert mit dem Ziel der Lö-sung aus dem Gesamtstaat, dürfte nicht durchgeführt werden. Rechtsvergleichend sei bemerkt, dass ein möglicher Austritt Schottlands aus dem Vereinigten Königreich im Wege ein-vernehmlichen Ausscheidens hingegen möglich wäre. Dies liegt an den anderen verfassungsrechtlichen Vorgaben: Der höchste Grundsatz des britischen Verfassungsrechts ist das Prinzip der Parlamentssouveränität. Wenn das Parlament in London den Weg für ein Referendum in Schottland frei-macht, dann gibt es eben keine höheren Regeln, an denen dieser gesetzgeberische Akt zu messen wäre.13 Das Grundge-setz stellt dagegen einen Verfassungsrahmen auf, an den alle Staatsgewalten gebunden sind. Der Bund dürfte also ein Bun-desland auch nicht einvernehmlich aus der Bundesrepublik entlassen. VI. Und wenn ein Bundesland trotzdem seinen Austritt erklärt? Dann wär das ein Fall für den Bundeszwang nach Art. 37 GG. Die Vorschrift sichert das Bundesstaatsprinzip und er-mächtigt zu Zwangsmaßnahmen gegenüber Ländern, die ihre Bundespflichten nicht erfüllen. Denkbar sind insoweit eine Reihe von Maßnahmen, von Weisungen und Ersatzvornah-men bis zur treuhänderischen Übernahme der Landesge-

11 Isensee (Fn. 6), § 126 Rn. 61. 12 Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 10. Aufl. 2014, S. 117 f. Zu aktuellen Fällen Kirchner, ZJS 2010, 650 (Se-zession des Kosovo); Koppe/Schwarz, ZJS 2016, 353 (Sezes-sion der Krim). 13 Ob es im Zuge der aktuellen „Brexit“-Debatte in näherer Zeit darüber eine zweite Volksabstimmung in Schottland geben kann, ist umstritten. Allgemein zum Prozess der „De-volution“ in Großbritannien Möstl, BayVBl. 2013, 581.

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Sezession im Bundesstaat – Neun Fragen an das Grundgesetz ÖFFENTLICHES RECHT

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walt.14 Der Bundeszwang gegen einzelne Länder ist die ulti-mative Reserve des Bundesstaates und kam in der Geschichte des Grundgesetzes noch nie zur Anwendung. VII. Welche Bedeutung hat hier der Grundsatz der „Bundestreue“? In diesem Zusammenhang: fast keine. Der Grundsatz der Bundestreue (oder: des bundesfreundlichen Verhaltens) ist ein ungeschriebenes Verfassungsgebot, das Bund und Län-dern Handlungs- und Unterlassungspflichten auferlegt. Dazu zählen Pflichten zur gegenseitigen Information, Abstimmung und Rücksichtnahme. Der Grundsatz der Bundestreue kommt aber nur subsidiär zur Anwendung. Er hat dort keine eigen-ständige Bedeutung, wo die Lösung einer Frage bereits dem geschriebenen Recht oder gesicherten Rechtsgrundsätzen entnommen werden kann.15 Im Falle einer Sezession folgt die Rechtswidrigkeit aber bereits aus der historischen Auslegung des deutschen Bundesstaatsbegriffs und die Sanktionen aus dem Instrumentarium des Bundeszwanges. Es verbleiben daher allenfalls gewisse Rücksichtnahmepflichten, etwa zur Anhörung, die mit dem Gebot der Bundestreue begründet werden könnten. VIII. Könnte man das Grundgesetz so ändern, dass Sezes-sionen rechtlich zulässig werden? Ja, mit Einschränkungen. Zwar scheitert nach der hier vertre-tenen Ansicht die Einräumung eines Austrittsrechts nicht schon am „Wesen des Bundesstaates“. Die Schaffung einer Austrittsklausel wäre danach denkbar, wenn eine verfassung-sändernde Mehrheit (unter Beachtung der Vorgaben des Art. 79 Abs. 1 und 2 GG) dies so wollte. Dann könnte ein neuer Grundgesetzartikel die Modalitäten des Ausstiegs re-geln. Allerdings unterliegen einige Aspekte des Bundes-staatsprinzips der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG und können nicht geändert werden. Insbesondere garantiert Art. 79 Abs. 3 GG die Gliederung des Bundes in Länder. Diese wäre zunächst nicht betroffen, wenn einzelne Länder die Entlassung aus der Bundesrepublik betrieben. Eine Gren-ze wäre dann überschritten, wenn von diesem Recht eine Vielzahl von Ländern Gebrauch machen würde. Dann, und zwar spätestens beim Austritt des „vorletzten“ Bundeslandes, würde die Gliederung des Bundes in Länder wegfallen und damit die Sperrklausel des Art. 79 Abs. 3 GG aktiviert wer-den.16 Daher wäre eine offene Austrittsklausel im Hinblick

14 Einen Überblick über zulässige und unzulässige Maßnah-men im Rahmen des Bundeszwanges bei Pieroth, in: Jarass/ Pieroth, GG-Kommentar, 12. Aufl. 2012, Art. 37 Rn. 4 f. 15 Einführend Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1995, Rn. 268 ff. Zum begrenzten Anwendungsbe-reich der Bundestreue auch Herrmann/Sauter, ZJS 2016, 450 (454). 16 Die bisher rein theoretische Frage, ob für die „Gliederung des Bundes in Länder“ mindestens zwei oder drei oder noch mehr Länder fortbestehen müssten, ist umstritten, dazu Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 79 Rn. 22.

auf Art. 79 Abs. 3 GG problematisch.17 Ein anderer Weg zur Ermöglichung legaler Sezessionen könnte über eine Verfas-sungsneuschöpfung nach Art. 146 GG führen, etwa durch Neugründung eines lockeren Staatenbundes auf dem bisheri-gen Bundesgebiet. Bei diesem Prozess wäre die verfassungs-gebende Gewalt des Volkes nicht an das Grundgesetz gebun-den.18 IX. Wie ist es innerhalb eines Bundeslandes, könnten sich da Teilregionen selbstständig machen? Das richtet sich nach Art. 29 GG und ist schon versucht wor-den. 1975 ergaben Volksentscheide Mehrheiten für die Wie-dererrichtung eines Bundeslandes Schaumburg-Lippe und eines Bundeslandes Oldenburg; beide ehemals selbstständi-gen Länder gehörten seit 1946 zu Niedersachsen. Durch Bundesgesetz von 1976 wurde aber bestimmt, dass der Land-kreis Schaumburg-Lippe und der Verwaltungsbezirk Olden-burg bei Niedersachsen verbleiben. Der Gesetzgeber setzte sich also über den in den Volksentscheiden zum Ausdruck gekommenen Willen hinweg.19 Versuche, dieses Gesetz für verfassungswidrig erklären zu lassen, scheiterten vor dem Bundesverfassungsgericht.20 Ebenfalls am Bundesverfas-sungsgericht scheiterte 1997 der Versuch, einen Volksent-scheid zur Gründung eines Bundeslandes Franken durchzu-setzen. Das Gericht verneinte die von Art. 29 GG geforderte Abgrenzbarkeit des Neugliederungsraumes.21 X. Fazit Die behandelten Fragen nach den Möglichkeiten einer Sezes-sion bewegen sich auf einer normativen Ebene, sie behandeln die Rechtslage. Nun hält sich der Lauf der Weltgeschichte nicht immer an Rechtsordnungen. Theoretisch ist auch in Deutschland eine Abspaltungsbewegung denkbar, die auf-grund ihrer politisch-faktischen Dynamik nicht unter Verweis auf fehlende Rechtsgrundlagen zu stoppen ist. Das beste Gegenmittel dagegen ist eine bundesstaatliche Ordnung, die den Gliedstaaten hinreichend Freiräume lässt, um ihre Eigen-heiten zu bewahren. Gelegentlich ist insoweit ein Nachsteu-ern erforderlich, so bei der Föderalismusreform 2006 oder jüngst dem Länderfinanzausgleich, aber der bundesstaatliche Kern des Grundgesetzes ist funktionsfähig.

17 So auch Lindner, BayVBl. 2014, 97 (102). 18 Bindungen ergäben sich zwar aus der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, aber für deren Einhaltung wäre die bundesstaatliche Form keine notwendige Voraussetzung. 19 Nach der 1975 geltenden Fassung des Art. 29 GG war der Bundestag an das Ergebnis des Volksentscheides grundsätz-lich gebunden. Der Verfassungsgeber war aber davon ausge-gangen, dass Art. 29 GG zur Schaffung größerer und leis-tungsstärkerer Länder genutzt werden würde, nicht aber zur Restauration unzeitgemäßer Kleinstaaten. Zur Entwicklung des Neugliederungsartikels Wollenschläger, in: Dreier (Fn. 16), Art. 37 Rn. 6. 20 Die Verfassungsbeschwerden waren unzulässig mangels Verletzung subjektiver Rechte: BVerfGE 49, 15. 21 BVerfGE 96, 139.

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Fortgeschrittenenklausur: Dieselgate Von Prof. Dr. Ivo Bach, Göttingen* Sachverhalt Im April 2014 möchte sich B aus Göttingen einen nagelneuen Seat Alhambra zulegen. Im Internet findet er ein günstiges Angebot von einem Seathändler (H) aus Chemnitz. Er bestellt dort den Wagen und bekommt tags darauf die Auftragsbestä-tigung. H seinerseits bestellt das Auto umgehend bei Seat (genauer: bei der Seat Deutschland GmbH). Anfang Juli ist es soweit: Der Alhambra läuft vom Band, Seat liefert ihn an H, H informiert B, und B reist mit der Bahn nach Chemnitz. Dort zahlt er den vereinbarten Kaufpreis von 25.000 € und nimmt das neue Auto in Empfang.

Ein gutes Jahr lang hat B große Freude an dem Auto. Dann, im September 2015, erfährt er, dass in seinem Auto ein Motor mit „Schummelsoftware“ verbaut ist. Diese Software bewirkt, dass das Auto bei Testläufen weniger Schadstoff (Stickoxid) ausstößt als im normalen Straßenverkehr. Der Schadstoffausstoß im Straßenverkehr ist also höher als im Datenblatt von Seat angegeben (B hat das betreffende Daten-blatt zwar vor seiner Bestellung überflogen; die Angaben zum Stickoxid-Ausstoß haben ihn jedoch – anders als die Kraftstoffverbrauchswerte – nicht sonderlich interessiert). Nach Angaben von Seat kann der Schadstoffausstoß jedoch durch ein Software-Update auf den im Datenblatt angegebe-nen Wert reduziert werden, ohne dass dies zu einer Leis-tungsminderung oder einem Mehrverbrauch des Wagens führen würde. Frage 1 Welche Auskunft hätten Sie dem B gegeben, wenn er Sie im September 2015 gefragt hätte, ob er von H Mängelbeseiti-gung oder gar Ersatzlieferung verlangen kann? Fortsetzung 1 Anfang Oktober 2015 wendet sich B an H und verlangt Nacherfüllung bis zum 31.1.2016. H entgegnet, das Update führe Seat (bzw. deren Mutterkonzern, die Volkswagen AG) selbst durch; er (der H) habe nicht in der Hand, wann dies geschehe. Die von B gesetzte Frist verstreicht fruchtlos. Nicht einmal einen konkreten Termin kann H dem B nennen. Im Juni 2016 möchte B angesichts der drohenden Verjährung nicht länger warten, sondern den Vertrag mit H beenden. Er bitte Sie daher wieder um Rat. Frage 2 Steht dem B tatsächlich ein Rücktrittsrecht zu? Frage 3 Kann B den Vertrag anfechten?

* Der Verf. ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Europäisches Privatrecht an der Georg-August-Universi-tät Göttingen. Der Sachverhalt basiert auf einer wahren Be-gebenheit.

Fortsetzung 2 Angenommen, Seat hätte alle betroffenen Fahrzeuge im Mai 2016 in die Werkstätten zurückgerufen und dort das verspro-chene Software-Update durchgeführt. In der Folge hätte sich allerdings gezeigt, dass das Auto sowohl mehr Kraftstoff (Diesel) als auch mehr Harnstoff (AdBlue) verbraucht als zuvor. Frage 4 Könnte B von H oder von der Seat Deutschland GmbH Er-satz der erforderlichen Mehraufwendungen verlangen? Frage 5 Angenommen, B selbst habe noch kein Software-Update bekommen: Welche Auswirkungen hat der mit dem Update einhergehende Mehrverbrauch auf seine Nacherfüllungsan-sprüche gegen H? Bearbeitervermerk Die Fragen sind jeweils umfassend – notfalls in einem Hilfs-gutachten – zu beantworten.

Sollten im Sachverhalt Angaben fehlen, so liegt dies da-ran, dass B selbst keine entsprechenden Kenntnisse besitzt. Ihm genügt daher zu den betreffenden Aspekten eine abstrak-te Schilderung der Rechtslage.

Unterstellen Sie, dass die Geschäftsführer der Seat Deutschland GmbH von den Manipulationen Kenntnis hat-ten.

Unterstellen Sie ferner, dass sich ein merkantiler Min-derwert des Alhambra nicht nachweisen lässt. Lösungsvorschlag

Zu Frage 1: Anspruch B gegen H auf Nacherfüllung

I. Anspruch auf Mängelbeseitigung, §§ 651, 437 Nr. 1, 439 Abs. 1 BGB B könnte einen Anspruch auf Mängelbeseitigung aus den §§ 651, 437 Nr. 1, 439 Abs.1 BGB gegenüber H haben. 1. Anspruch entstanden

a) Werklieferungsvertrag

B und H haben laut Sachverhalt einen Vertrag geschlossen: Das Angebot des B hat H mit der Auftragsbestätigung ange-nommen. Da das konkrete Fahrzeug zum Zeitpunkt des Ver-tragsschlusses noch nicht produziert war, handelt es sich bei dem Vertrag nicht um einen reinen Kauf-, sondern um einen Werklieferungsvertrag. Auf ihn finden gem. § 651 BGB jedoch die kaufrechtlichen Vorschriften Anwendung. b) Sachmangel bei Gefahrübergang

Der gelieferte Alhambra müsste bereits im Zeitpunkt des Gefahrübergangs einen Sachmangel im Sinne des § 434 BGB aufgewiesen haben.

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Fortgeschrittenenklausur: Dieselgate ZIVILRECHT

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aa) Sachmangel

Ein solcher Sachmangel liegt gem. § 434 Abs. 1 S. 1 BGB immer dann vor, wenn die gelieferte Sache nicht die vertrag-lich vereinbarte Beschaffenheit aufweist. Vorliegend haben B und H jedoch keine besondere Beschaffenheit vertraglich vereinbart; insbesondere haben sie sich nicht auf bestimmte Schadstoffwerte geeinigt.1 Das Datenblatt wurde wohl nicht in den Vertrag einbezogen.

Dass sich der Alhambra für eine besondere Verwendung eignen soll, haben B und H ebenfalls nicht vereinbart, so dass auch ein Mangel nach § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 BGB ausschei-det. Es bleibt § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB. Danach liegt ein Mangel dann vor, wenn die Kaufsache nicht die gewöhnliche Beschaffenheit aufweist oder sich nicht für die gewöhnliche Art der Verwendung eignet.

Von einer mangelnden Eignung für die gewöhnliche Verwendung wird man dabei zunächst einmal nicht ausgehen können; da dem Alhambra bislang nicht die behördliche Zulassung (oder zumindest die grüne Plakette, die zur Ein-fahrt in Umweltzonen berechtigt) entzogen wurde, eignet er sich ohne weiteres für die gewöhnliche Verwendung im Stra-ßenverkehr.2

Demgegenüber wird man ein Abweichen von der ge-wöhnlichen Beschaffenheit schon deshalb bejahen können, weil ein gewöhnliches Kraftfahrzeug nicht mit einer „Schummelsoftware“3 ausgestattet ist.4 Eine solche Software ist sogar ausdrücklich verboten.5

1 Vertiefender Hinweis: Etwas anderes kann etwa dann gel-ten, wenn der Kaufvertrag den Hinweis darauf enthält, das Auto erfülle die sog. Euro-5-Norm. Allerdings läge in diesem Fall nur dann ein Sachmangel vor, wenn der Schadstoffaus-stoß die von der Norm vorgesehenen Grenzwerte überschrit-te. 2 Vertiefender Hinweis: Etwas anderes wäre wohl dann anzu-nehmen, wenn das Fahrzeug seine Betriebserlaubnis ipso iure verloren hätte und das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) lediglich vorübergehend davon absähe, die betreffenden Fahrzeuge aus dem Verkehr zu ziehen. Dies wird in Rechtsprechung und Literatur vereinzelt unter Hinweis auf § 19 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 StVZO angenommen (LG Düsseldorf BeckRS 2016, 15047; Fuhrmann, ZJS 2016, 124 [126]). Nach dieser Vorschrift erlischt die Betriebserlaubnis automatisch, „wenn Änderun-gen vorgenommen werden, durch die das Abgas- oder Ge-räuschverhalten verschlechtert wird“. Die Vorschrift greift jedoch nur dann, wenn nach Erteilung der Betriebserlaubnis Änderungen an dem konkreten Fahrzeug vorgenommen wur-den (Hentschel/König/Dauer, in: Kommentar zum Straßen-verkehrsrecht, 43. Aufl. 2015, § 19 StVZO Rn. 6). Das ist hier aber nicht der Fall (vgl. auch LG Bochum BeckRS 2016, 05964 Rn. 17, das ebenfalls davon ausgeht, die Zulassung bestehe fort; Steenbruck, MDR 2016, 185 [188]). 3 Zur Funktionsweise siehe LG Bochum, BeckRS 2016, 05964 Rn. 2. 4 So etwa LG Bochum BeckRS 2016, 05964 Rn. 3; LG Münster BeckRS 2016, 06090; LG Essen, Urt. v. 14.4.2016 – 7 O 97/15; OLG Hamm BeckRS 2016, 13954; LG Franken-thal, Urt. v. 12.5.2016 – 8 O 205/15 (unter Hinweis darauf,

Fraglich ist, ob ein Abweichen von der gewöhnlichen Be-schaffenheit darüber hinaus deswegen anzunehmen ist, weil der Alhambra im gewöhnlichen Verkehr mehr Schadstoffe ausstößt als im Datenblatt angegeben. Referenz für die ge-wöhnliche Beschaffenheit sind jedoch nicht die Angaben im Datenblatt des konkreten Alhambra-Modells, sondern gem. § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Alt. 2 BGB vielmehr „Sachen der gleichen Art“. Von einem Sachmangel ist daher erst dann auszugehen, wenn der Schadstoffausstoß einen Wert erreicht, der (signifikant) über demjenigen der übrigen (modernen) Dieselfahrzeuge liegt. Ob dies vorliegend der Fall ist, lässt sich dem Sachverhalt nicht entnehmen. Allerdings gehören gem. § 434 Abs. 1 S. 3 BGB zur gewöhnlichen Beschaffen-heit „auch Eigenschaften, die der Käufer nach den öffentli-chen Äußerungen […] des Herstellers […] insbesondere in der Werbung oder bei der Kennzeichnung über bestimmte Eigenschaften der Sache erwarten kann, es sei denn, dass der Verkäufer die Äußerung nicht kannte und auch nicht kennen musste, dass sie im Zeitpunkt des Vertragsschlusses in gleichwertiger Weise berichtigt war oder dass sie die Kauf-entscheidung nicht beeinflussen konnte.“

Vorliegend waren die „offiziellen“ Schadstoffwerte in ei-nem Seat-Datenblatt angegeben. Dafür, dass H dieses Daten-blatt nicht kannte, ergeben sich keine Anhaltspunkte im Sachverhalt; zumindest hätte er es als Fachhändler kennen müssen. Auch waren die im Datenblatt angegebenen Werte bis zum Vertragsschluss nicht berichtigt worden. Fraglich ist allerdings, ob die dritte Ausnahmevariante greift: ob ausge-schlossen werden kann, dass die Kaufentscheidung des B durch die Informationen in dem Datenblatt beeinflusst wurde. Immerhin haben ihn die betreffenden Werte „nicht sonderlich interessiert“. Allerdings verlangt § 434 Abs. 1 S. 3 BGB nicht, dass Kaufentscheidung kausal auf der Äußerung des Herstellers beruht. Vielmehr ist die Äußerung nur dann unbe-achtlich, wenn sie die Kaufentscheidung nicht beeinflussen konnte. Das ist etwa dann der Fall, wenn der Käufer die Äu-ßerung überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hat6 oder Kenntnis von ihrer Unrichtigkeit hatte.7 Ausweislich des Sachverhalts hat B das Datenblatt samt der darin genannten Werte jedoch zumindest gelesen. Eine Beeinflussung der Kaufentscheidung ist dementsprechend nicht ausgeschlossen.

das Kraftfahrt-Bundesamt habe die Durchführung des Soft-ware-Updates verbindlich [für den Fahrzeugeigentümer!] angeordnet); wohl auch LG Paderborn BeckRS 2016, 13271; ferner Riehm, DAR 2016, 12; Steenbruck, MDR 2016, 185 (186). 5 Art. 5 Abs. 2 S. 1 EU-TypengenehmigungsVO (VO 715/2007): „Die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, ist unzulässig.“ 6 Faust, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, Ed. 40, Stand: 1.8.2014, § 434 Rn. 87; Grunewald, in: Erman, Kommentar zum BGB, 14. Aufl. 2014, § 434 Rn. 29; Büdenbender, in: Nomos Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2014, § 434 Rn. 53. 7 Westermann, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 434 Rn. 35; Kasper, ZGS 2007, 172 (180).

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ÜBUNGSFÄLLE Ivo Bach

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ZJS 6/2016 716

Die erhöhten Schadstoffwerte sind folglich ebenfalls als Sachmangel einzustufen. bb) Bei Gefahrübergang

Beide Sachmängel (die „Schummelsoftware“ und der erhöhte Schadstoffausstoß) lagen bereits bei Gefahrübergang vor. c) Zwischenergebnis

Ein Anspruch des B auf Mängelbeseitigung ist entstanden. 2. Anspruch erloschen

Der Anspruch könnte jedoch gem. § 275 Abs. 1 BGB erlo-schen sein, wenn es dem H (subjektiv) unmöglich wäre, das Update zu programmieren und aufzuspielen. In der Tat ist H selbst wohl nicht in der Lage, das Update durchzuführen. Allerdings kann und muss er sich in diesem Fall der Hilfe der Seat Deutschland GmbH (bzw. der Volkswagen AG als deren Mutterkonzern) bedienen. Dementsprechend liegt kein Fall der subjektiven Unmöglichkeit vor.8 3. Anspruch durchsetzbar

Der Anspruch ist im September ohne weiteres durchsetzbar. Insbesondere tritt Verjährung gem. § 438 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 BGB erst zwei Jahre nach Ablieferung der Kaufsache, vorlie-gend also erst im Juli 2016 ein. 4. Ergebnis

B hat einen Anspruch auf Nachbesserung gegenüber H aus den §§ 651, 437 Nr. 1, 439 Abs.1 BGB. II. Anspruch auf Ersatzlieferung 1. Anspruch entstanden und nicht erloschen

Neben dem Anspruch auf Mängelbeseitigung gewährt § 439 Abs. 1 BGB dem Käufer auch noch einen Anspruch auf Lie-ferung einer Ersatzsache. Zwischen diesen beiden Ansprü-chen kann der Käufer grundsätzlich frei wählen. 2. Anspruch durchsetzbar

a) Einrede der relativen Unverhältnismäßigkeit

Allerdings kann der Verkäufer gem. § 439 Abs. 3 S. 1 BGB die gewählte Art der Nacherfüllung verweigern, wenn sie gegenüber der anderen Nacherfüllungsart mit unverhältnis-mäßigen Kosten verbunden wäre, wenn also die Kosten der gewählten Nacherfüllungsart diejenigen der anderen Nacher-füllungsart in einem gewissen Umfang übersteigen. Diesbe-züglich werden in Rechtsprechung und Literatur unterschied-

8 Vertiefender Hinweis: Problematisch ist allerdings, dass das Update durch die Seat Deutschland GmbH respektive Volks-wagen AG nicht absehbar ist. Man könnte daher die Proble-matik der vorübergehenden Unmöglichkeit andenken. Aller-dings liegt eine Annahme im Zeitpunkt „September 2015“ noch fern. Daher sei an dieser Stelle auf die diesbezüglichen Ausführungen zu Frage 2 verwiesen.

liche Grenzwerte genannt – die Vorschläge reichen von 5 % bis 30 % Mehraufwand.9

Ohne dass der Sachverhalt nähere Angaben zu konkreten Werten enthält, dürfte davon auszugehen sein, dass die Kos-ten einer Ersatzlieferung ein Vielfaches derjenigen einer Mängelbeseitigung, also eines bloßen Software-Updates, ausmachen. Dies liegt schon deshalb nahe, weil die „Schummelsoftware“ auch bei potentiellen Ersatzfahrzeugen installiert ist, also auch dort erst per Update entfernt werden müsste. H kann daher eine Ersatzlieferung gem. § 439 Abs. 3 S. 1 BGB verweigern. b) Verjährung

Verjährung tritt gem. § 438 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 BGB zwei Jahre nach Übergabe der Kaufsache, hier also erst im Juli 2016, ein. 3. Ergebnis

Eine Ersatzlieferung kann H wegen Unverhältnismäßigkeit gem. § 439 Abs. 3 S. 1 BGB verweigern. Zu Frage 2: Rücktrittsrecht des B Dem B könnte ein Rücktrittsrecht aus §§ 651, 437 Nr. 2, 323 BGB zustehen. I. Werklieferungsvertrag Einen Werklieferungsvertrag haben B und H geschlossen. II. Sachmangel bei Gefahrübergang Auch stellen sowohl die Existenz der „Schummelsoftware“ als auch der hohe Schadstoffausstoß Sachmängel dar, die jeweils bereits bei Gefahrübergang vorlagen. III. Fristsetzung oder Entbehrlichkeit Gem. § 323 BGB setzt ein Rücktrittsrecht jedoch grundsätz-lich voraus, dass der Gläubiger dem Schuldner eine angemes-sene Frist gesetzt hat und diese Frist erfolglos abgelaufen ist. 1. Entbehrlichkeit

Allerdings ist eine Fristsetzung unter bestimmten Vorausset-zungen ausnahmsweise entbehrlich, nämlich unter anderem dann, wenn dem Käufer die Nacherfüllung nicht zugemutet werden kann (§ 440 S. 1 BGB) oder wenn besondere Um-

9 5 %: Faust (Fn. 6), § 439 Rn. 47 (bei nicht zu vertretenden Mängeln); 10 %: Bitter/Meidt, ZIP 2001, 2114 (2122); Haas, in: Haas/Medicus/Rolland/Schäfer/Wendtland, Das neue Schuldrecht, 2002, Rn. 161; Reinicke/Tiedtke, Kaufrecht, 8. Aufl. 2009, Rn. 446; Tiedtke/Schmitt, DStR 2004, 2060 (2063), wohl auch Huber, NJW 2002, 1004 (1008); Grunewald (Fn. 6), § 439 Rn. 14; 20 %: LG Ellwangen NJW 2003, 517; Kirsten, ZGS 2005, 66 (73); 25 %: v. Westphalen, in: Henssler/Graf v. Westphalen, Praxis der Schuldrechts-reform, 2002, § 439 Rn. 27; 30 %: Westermann (Fn. 7), § 439 Rn. 20; Harke, in: Artz/Gsell/Lorenz, Zehn Jahre Schuld-rechtsmodernisierung, 2014, S. 237 (258).

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stände vorliegen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen einen sofortigen Rücktritt rechtfertigen (§ 323 Abs. 2 Nr. 3 BGB). a) § 440 S. 1 BGB

Ob eine Nacherfüllung dem Käufer unzumutbar im Sinne des § 440 S. 1 BGB ist, bestimmt sich allein aus der Perspektive des Käufers. Vorliegend könnte eine solche Unzumutbarkeit auf dem Umstand gründen, dass H dem B im Juni 2016 noch nicht einmal einen Termin für das Software-Update nennen kann. Eine solche fortdauernde Unsicherheit muss ein Käufer grundsätzlich nicht dulden. Allerdings ist wiederum zu be-rücksichtigen, dass die Nutzungsmöglichkeit des Alhambra durch die „Schummelsoftware“ nicht beeinträchtigt wird. Das Zuwarten stellt daher keine übermäßige Belastung für B dar und ist folglich nicht unzumutbar.10

Nach h.M. soll die Ausnahme des § 440 S. 1 BGB aber auch dann greifen, wenn der Käufer das Vertrauen in die Fähigkeiten des Verkäufers verloren hat.11 Dasselbe muss auch dann gelten, wenn der Käufer das Vertrauen in die Kaufsache bzw. in deren Hersteller verliert – jedenfalls dann, wenn sich der Verkäufer für die Nacherfüllung jenes Herstel-lers bedient.12 In der Tat scheint die Verwendung der „Schummelsoftware“ geeignet, einen solchen Vertrauensver-lust auszulösen. Allerdings erfolgt die Entwicklung des Soft-ware-Updates unter Aufsicht des Kraftfahrt-Bundesamtes; die Gefahr einer neuerlichen illegalen Programmierung besteht daher nicht. Dem B ist die Nacherfüllung in Form eines Software-Updates daher zumutbar. b) § 323 Abs. 2 Nr. 3 BGB

Der Ausnahmetatbestand des § 323 Abs. 2 Nr. 3 BGB wird unter anderem dann als erfüllt angesehen, wenn der Verkäu-fer dem Käufer den Mangel arglistig verschwiegen hat.13 Vorliegend wusste H jedoch selbst nichts von der „Schummelsoftware“. Allenfalls könnte ihm ein mögliches Wissen der Seat Deutschland GmbH14 zuzurechnen sein. Jedoch fehlt es hierfür an einer einschlägigen Rechtsgrundla-ge. Insbesondere ist die Seat Deutschland GmbH nicht als Wissensvertreter (im Sinne des § 166 BGB analog) des H einzustufen.15

10 So auch LG Paderborn, BeckRS 2016, 13271. 11 Faust (Fn. 6), § 440 Rn. 37; Schmidt, in: Prütting/Wegen/ Weinrich, Kommentar zum BGB, 11. Aufl. 2016, § 440 Rn. 9; Weidenkaff, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 75. Aufl. 2016, § 440 Rn. 8. 12 Faust (Fn. 6), § 440 Rn. 33; wohl auch Fuhrmann, ZJS 2016, 124 (126). 13 BGH NJW 2010, 2503; Ernst, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 323 Rn. 127. 14 Genauer: Das Wissen der Geschäftsführer der Seat Deutschland GmbH, das der Seat Deutschland GmbH wiede-rum nach § 166 BGB zuzurechnen ist. 15 So auch LG Düsseldorf BeckRS 2016, 15047; LG Fran-kenthal, Urt. v. 12.5.2016 – 8 O 205/15; im Ergebnis auch LG Paderborn BeckRS 2016, 13271; anders in einem Fall, in

c) § 326 Abs. 5 BGB

Gem. § 326 Abs. 5 BGB wäre eine angemessene Fristsetzung ferner dann entbehrlich, wenn H wegen Unmöglichkeit gem. § 275 Abs. 1 BGB von seiner Leistungspflicht befreit wäre. Dies könnte deswegen anzunehmen sein, weil es der Seat Deutschland GmbH (respektive der Volkswagen AG) bis zum Zeitpunkt Juni 2016 noch nicht gelungen ist, ein Update zu programmieren. Die Nacherfüllung ist also in diesem Zeitpunkt nicht möglich. Zu einer Befreiung nach § 275 Abs. 1 BGB kommt es indes nur dann, wenn die Unmöglich-keit dauerhaft ist, wenn das Update also auch in Zukunft nicht zur Verfügung stehen wird. Bei einer vorübergehenden Unmöglichkeit wird die Leistungspflicht nach ganz h.M. grundsätzlich nur suspendiert und § 326 BGB findet keine Anwendung.16

Allerdings kann eine vorübergehende Unmöglichkeit aus-nahmsweise dann in eine dauerhafte „umschlagen“, wenn Ungewissheit darüber besteht, ob die Leistung in Zukunft möglich sein wird und der einen oder anderen Partei ein Zu-warten nicht zugemutet werden kann.17 Diesbezüglich ist wiederum zu berücksichtigen, dass die Nutzungsmöglichkeit des Alhambra durch die „Schummelsoftware“ nicht beein-trächtigt wird und ein Zuwarten daher keine übermäßige Belastung für B darstellt.18 Dementsprechend ist nicht von einer dauerhaften Unmöglichkeit im Sinne der §§ 275 Abs. 1, 326 BGB auszugehen. d) Zwischenergebnis

Die Fristsetzung ist nicht entbehrlich. 2. Frist bis 31.1.2016

Vorliegend hat B dem H im Oktober 2015 eine Frist bis zum 31.1.2016 gesetzt. Diese Frist ist zwischenzeitlich abgelau-fen, ohne dass H das Software-Update durchgeführt hätte.

dem die Verkäuferin ein hundertprozentiges Tochterunter-nehmen der Volkswagen AG war, LG München BeckRS 2016, 10952 (ohne Nennung einer Rechtsgrundlage). 16 BGH NJW 2007, 3777 (3778 Rn. 24); BGH NZI 2010, 956 (959 Rn. 22); Ernst (Fn. 13), § 275 Rn. 148; Schmidt, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, Ed. 40., Stand: 1.8.2014, § 326 Rn. 6; Westermann, in: Erman, Kom-mentar zum BGB, 14. Aufl. 2014, § 326 Rn. 6; sogar gegen eine Suspendierung Kaiser, in: Festschrift für Walther Hadding zum 70. Geburtstag, 2004, S. 121 ff. 17 BGH NJW 2007, 3777 (3778 Rn. 24); ebenso Medicus, in: Festschrift für Andreas Heldrich zum 70. Geburtstag, 2005, S. 347 (349); Caspers, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2014, § 275 Rn. 53; wohl auch Huber/Faust, 2002, Kap. 8 Rn. 9; Ernst (Fn. 13), § 275 Rn. 144. 18 Vertiefender Hinweis: Die genannte Rechtsprechung zum Umschlagen der vorübergehenden in eine dauerhafte Unmög-lichkeit dient freilich in erster Linie dem Schutz des Schuld-ners (hier also des H): Ihm soll die Bürde genommen werden, sich auf unbestimmte Zeit leistungsbereit halten zu müssen. Der Gläubiger hingegen kann durch Fristsetzung selbst für klare Verhältnisse sorgen.

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Es fragt sich allerdings, ob die gesetzte Frist von drei bis vier Monaten als angemessen eingestuft werden kann. Die Angemessenheit einer Frist muss stets anhand der Umstände des konkreten Einzelfalls beurteilt werden.19 Dabei sind die widerstreitenden Interessen der Parteien in einen angemesse-nen Ausgleich zu bringen. Aus Sicht des H ist zu berücksich-tigen, dass es sich bei der Programmierung des Software-Updates um eine komplexe Aufgabe handelt, die unter Um-ständen einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen kann. Erschwerend kommt hinzu, dass nicht H selbst das Update entwickelt, sondern, dass Seat bzw. deren Mutterkonzern Volkswagen dies tut und dabei Vorgaben des Kraftfahrt-Bundesamtes beachten muss. Und selbst nach erfolgreicher Entwicklung besteht die Schwierigkeit, dass nicht alle betrof-fenen Fahrzeuge gleichzeitig mit dem Update versorgt wer-den können.

Demgegenüber ist auf Seiten des Käufers gemeinhin zu berücksichtigen, dass er an einer raschen Mängelbeseitigung interessiert ist, um die Kaufsache voll nutzen zu können. Genau dies ist aber vorliegend ohne weiteres möglich. Der Wagen verfügt nach wie vor über eine Zulassung im Sinne der StVZO.

Angesichts dieser Interessenlage war die von B gesetzte Frist zu kurz bemessen.

Hinweis: a.A. gut vertretbar.20 3. Frist bis Juni 2016

Allerdings gilt, dass dann, wenn der Schuldner eine zu kurze Frist gesetzt hat, automatisch eine angemessene Frist zu lau-fen beginnt.21 Fraglich ist, ob diese Frist im Juni 2016 abge-laufen ist. Die oben geschilderte Interessenlage hat sich nun nämlich dahingehend geändert, dass die Verjährung der Sachmängelgewährleistungsansprüche unmittelbar bevor-steht. B ist also gezwungen, tätig zu werden. Zwar wäre es ihm auch möglich, seinen Nacherfüllungsanspruch einzukla-gen und so die Verjährung gem. § 204 Nr. 1 BGB zu hem-men. Eine derartige Festlegung auf das Nacherfüllungsrecht ist ihm aber nicht zuzumuten. Sein Interesse daran, seine Rechte zu sichern, ohne Klage erheben zu müssen,22 wiegt

19 Schmidt (Fn. 16), § 323 Rn. 17; Westermann (Fn. 16), § 323 Rn. 15; a.A. aber wohl LG München BeckRS 2016, 10952, das unter Verweis auf § 308 BGB davon ausgeht, dass „eine Nachbesserungsfrist von mehr als 6 Wochen oder mehr als 2 Monaten […] als Verstoß gegen die grundsätzliche gesetzgeberische Wertung unzulässig [sei]“. 20 Angesichts der dargestellten Interessenlage haben ver-schiedene Gerichte eine vom Käufer gesetzte Frist als unan-gemessen kurz eingestuft, z.B. LG Bochum BeckRS 2016, 05964 Rn. 19; LG Münster BeckRS 2016, 06090; OLG Celle BeckRS 2016, 13999 Rn. 8; LG Frankenthal, Urt. v. 12.5.2016 – 8 O 205/15; a.A. LG München BeckRS 2016, 10952. 21 BGH NJW 1985, 2640; Grüneberg, in: Palandt, Kommen-tar zum BGB, 75. Aufl. 2016, § 323 Rn. 14. 22 Vertiefender Hinweis: Der aus einem Rücktritt resultieren-de Rückgewähranspruch des B aus § 346 Abs. 1 BGB ver-

schwerer als die Schwierigkeiten des H bei der Mängelbesei-tigung.23 IV. Ausschluss des Rücktrittsrechts nach § 323 Abs. 5 S. 2 BGB Allerdings könnte ein Rücktrittsrecht des B nach § 323 Abs. 5 S. 2 BGB wegen Unerheblichkeit ausgeschlossen sein. Im Rahmen dieser Erheblichkeitsprüfung ist wiederum eine umfassende Interessenabwägung auf der Grundlage der Um-stände des Einzelfalls vorzunehmen. Als Faustregel gilt da-bei, dass ein behebbarer Mangel dann als unerheblich einzu-stufen ist, wenn die Mängelbeseitigungskosten weniger als 5 % des Sachwertes ausmachen.24 Ob die Kosten im vorlie-genden Fall mehr oder weniger als (5 % von 25.000 € =) 1.250 € betragen, lässt sich dem Sachverhalt nicht entneh-men.25

Allerdings kann auch ein Mangel, der sich nur mit größe-rem Aufwand oder überhaupt nicht beheben lässt, unerheb-lich im Sinne des § 323 Abs. 5 S. 2 BGB sein, nämlich dann, wenn der Mangel die Gebrauchstauglichkeit der Kaufsache

jährt nach h.M. nicht nach § 438 BGB; vielmehr gilt für ihn die allgemeine Verjährung nach §§ 195, 199 BGB (BGH NJW 2007, 674 [677 Rn. 35 ff.]; Westermann [Fn. 7], § 438 Rn. 4; Faust [Fn. 6], § 438 Rn. 49). Auch § 217 BGB greift nach ganz h.M. nicht (Grothe, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 217 Rn. 4; Henrich, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, Ed. 40, Stand: 1.8.2016, § 217 Rn. 12; a.A. Bach, in: Beck’scher Online-Großkommentar, Ed. 1, Stand: 2016, § 217 Rn. 15). 23 H hat es jedoch in der Hand, die Interessenlage wieder zu seinen Gunsten zu verschieben, indem er mit H eine Verlän-gerung der Verjährungsfrist vereinbart oder sogar vollständig auf die Verjährungseinrede verzichtet; vgl. § 202 BGB. Tat-sächlich hat H gegenüber B die Verjährungsfrist bis zum 31.12.2017 verlängert, ohne dass dieser Umstand Eingang in den hiesigen Sachverhalt gefunden hat. 24 Vgl. BGHZ 201, 290; Ernst (Fn. 13), § 323 Rn. 251; Grüneberg (Fn. 21), § 323 Rn. 32. 25 In der Praxis haben viele Verkäufer behauptet, das Auf-spielen der neuen Software nehme nicht mehr als eine halbe Stunde in Anspruch und verursache lediglich Kosten i.H.v. 100 €. Verschiedene Gerichte haben deswegen eine Erheb-lichkeit des Mangels abgelehnt (z.B. LG Bochum BeckRS 2016, 05964 Rn. 18; LG Münster BeckRS 2016, 06090). Diese Angaben beziehen sich aber wohl stets nur auf das bloße Aufspielen des Software-Updates; Zeit und Kosten für die Entwicklung des Updates müssen m.E. aber auch berück-sichtigt werden (ebenso LG München BeckRS 2016, 10952; a.A. LG Münster BeckRS 2016, 06090; offen gelassen LG Bochum BeckRS 2016, 05964 Rn. 18; LG Detmold BeckRS 2016, 14877 Rn. 15). Vor allem aber stand im Zeitpunkt der Rücktrittserklärung jeweils noch nicht fest, ob und wann ein Software-Update überhaupt zur Verfügung stehen würde (und erst recht nicht, mit welchem Kostenaufwand es ver-bunden ist); insofern hätten die Gerichte m.E. von einer Unbehebbarkeit ausgehen müssen (so auch LG Frankenthal, Urt. v. 12.5.2016 – 8 O 205/15).

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nicht berührt und auch nicht zu nennenswerten Wertminde-rungen führt. Zumindest die Gebrauchstauglichkeit wird durch die erhöhten Schadstoffwerte nicht aufgehoben, ja nicht einmal beeinträchtigt. Das wäre erst dann der Fall, wenn dem Fahrzeug die Zulassung oder zumindest die grüne Plakette entzogen würde.26 Auch hat der Mangel laut Bearbeitervermerk nicht zu einem nennenswerten Wertver-lust des Alhambra geführt. Der Mangel ist vorliegend also unabhängig von den Kosten der Nacherfüllung als unerheb-lich einzustufen.

Hinweis: a.A. sehr gut vertretbar27. V. Ergebnis Dem B steht kein Rücktrittsrecht zu.28 Frage 3: Anfechtung

I. Anfechtung wegen Eigenschaftsirrtums In Betracht kommt zunächst ein Anfechtungsrecht wegen eines Irrtums über eine verkehrswesentliche Eigenschaft nach § 119 Abs. 2 BGB. 1. Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft

Eigenschaften einer Sache sind deren natürliche Beschaffen-heit sowie deren Beziehungen zur Umwelt, soweit diese dauerhaft sind und Einfluss auf den Wert oder die Nutzbar-keit der Sache haben.29 Verkehrswesentlich ist eine Sachei-genschaft, wenn sie nach der Parteivereinbarung oder jeden-falls nach der allgemeinen Verkehrsanschauung für den Wert oder die Tauglichkeit der Sache erheblich ist.30 a) Erhöhter Schadstoffausstoß

Der Schadstoffausstoß stellt zwar eine natürliche Beschaf-fenheit der Sache und damit eine Eigenschaft im Sinne des § 119 Abs. 2 BGB dar. Allerdings ist der exakte Ausstoß eines Fahrzeugs wohl nach allgemeiner Verkehrsanschauung 26 In der Praxis hat das Kraftfahrt-Bundesamt einen Rückruf der betroffenen Kraftfahrzeuge verpflichtend angeordnet, vgl. Pressemitteilung des KBA v. 16.10.2015, abrufbar unter http://www.kba.de/DE/Home/infotext_startseite_VW_komplett.html?nn=456892 (2.11.2016); welche Konsequenz eine Nichtbefolgung für den jeweiligen Fahrzeughalter nach sich zieht, ist nicht ganz klar; vgl. Lüftenegger, DAR 2016, 122 (123 ff.). 27 Eine Erheblichkeit bejahend etwa LG München BeckRS 2016, 10952 (unter anderem deshalb, weil das Software-Update vom Kraftfahrt-Bundesamt genehmigt werden müsse und weil möglicherweise trotz des Updates ein merkantiler Minderwert bleibe). 28 Dem B bleibt aber die Möglichkeit einer Minderung des Kaufpreises, vgl. § 441 Abs. 1 S. 2 BGB. 29 BGHZ 88, 240 (245); Ellenberger, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 75. Aufl. 2016, § 119 Rn. 24. 30 BGH NJW 2001, 226; Wendtland, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, Ed. 40, Stand: 1.8.2016, § 119 Rn. 40.

nicht als wesentlich einzustufen. Vielmehr ist für den Durch-schnittskäufer nur ausschlaggebend, ob die einschlägigen Grenzwerte eingehalten werden. Ob diese Grenzwerte vorlie-gend überschritten werden, lässt sich dem Sachverhalt nicht entnehmen. Selbst wenn man den (exakten) Schadstoffaus-stoß an sich für eine verkehrswesentliche Eigenschaft hielte, stünde dem B kein Anfechtungsrecht aus § 119 Abs. 2 BGB zu: Da den B die betreffenden Werte im Datenblatt „nicht sonderlich interessierten“, dürfte er keine Vorstellung vom Schadstoffausstoß gehabt haben – und damit auch keine Fehlvorstellung. b) Existenz der „Schummelsoftware“

Demgegenüber wird man die (Nicht-)Existenz einer „Schummelsoftware“ ohne weiteres als verkehrswesentliche Eigenschaft einstufen können, und zwar schon deshalb, weil sie nach Art. 5 der EU-TypengenehmigungsVO verboten ist.31 Auch hier stellt sich jedoch die Frage nach dem Irrtum des B. Auch über die Existenz einer solchen Software wird sich B wohl keine Gedanken gemacht haben. Allenfalls ließe sich von einer Art sachgedanklichem Mitbewusstsein32 da-hingehend ausgehen, alles sei in Ordnung. Tut man dies, wird man den Irrtum auch als kausal für den Vertragsschluss anzu-sehen haben. 2. Ausschluss des Anfechtungsrechts nach Treu und Glauben

Allerdings ist eine Anfechtung wegen Eigenschaftsirrtums ohnehin nach Treu und Glauben ausgeschlossen. Nach stän-diger Rechtsprechung des BGH33 und ganz h.M. in der Lite-ratur34 darf das Anfechtungsrecht aus § 119 Abs. 2 BGB nicht dazu genutzt werden, die Regelungen des Mängelge-währleistungsrechts zu umgehen. In concreto würde, ließe man eine Anfechtung zu, das Erheblichkeitserfordernis des § 323 Abs. 2 S. 2 BGB ausgehebelt. II. Anfechtung wegen arglistiger Täuschung 1. Kein Ausschluss des Anfechtungsrechts

Eine Anfechtung nach § 123 BGB ist nicht nach Treu und Glauben ausgeschlossen: Anders als bei § 119 Abs. 2 BGB sind bei § 123 BGB der Anfechtungsgrund und der Grund für die Mängelgewährleistungsansprüche nicht identisch.35 2. Arglistige Täuschung

Fraglich ist, ob dem B ein Anfechtungsrecht wegen arglisti-ger Täuschung nach § 123 BGB zusteht. Zwar hatte vorlie-

31 Siehe oben Fn. 6. 32 Dieser Begriff ist der entsprechenden Problematik im deut-schen Betrugsstrafrecht entlehnt; vgl. Beukelmann, in: Beck’scher Online-Kommentar zum StGB, Ed. 32, Stand: 1.6.2016, § 263 Rn. 25. 33 BGH, Urt. v. 16.3.1973 – V ZR 118/71; BGH, Urt. v. 16.3.1973 – V ZR 118/71; BGHZ 60, 319 (320); 34, 32. 34 Siehe nur Westermann (Fn. 7), § 437 Rn. 53; Singer, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2016, § 119 Rn. 85. 35 BGH NJW 2009, 1266 (1268 Rn. 35); Ellenberger (Fn. 29), § 123 Rn. 29; Faust (Fn. 6), § 437 Rn. 184.

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gend H selbst keine Kenntnis von der „Schummelsoftware“ (und kann ihm auch eine mögliche Kenntnis der Seat Deutschland GmbH nicht nach § 166 BGB analog zugerech-net werden36), so dass eine arglistige Täuschung durch ihn selbst ausscheidet. Allerdings steht eine Täuschung durch Seat im Raum, weil nach dem Bearbeitervermerk zu unter-stellen ist, dass deren Geschäftsführer von der „Schummel-software“ wussten; 37 dieses Wissen ist der Seat Deutschland GmbH nach § 166 BGB zuzurechnen.

Stuft man Seat als Dritten im Sinne des § 123 Abs. 2 BGB ein, so wäre eine solche Täuschung zwar unerheblich, weil H selbst keine Kenntnis von jener Täuschung hatte und haben musste. Etwas anderes würde jedoch gelten, wenn man Seat dem Lager des H zurechnete. Der BGH geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass solche Personen, die im Rahmen der Vertragsverhandlungen als Vertrauenspersonen des Anfechtungsgegners auftreten, nicht als Dritte im Sinne des § 123 Abs. 2 BGB einzustufen sind; eine durch sie verüb-te Täuschung begründet daher auch bei Unkenntnis des An-fechtungsgegners ein Anfechtungsrecht.38 Davon wird man vorliegend jedoch nicht auszugehen haben. Seat hat nur inso-fern Einfluss auf die Vertragsverhandlungen genommen, als sie ein Datenblatt zur Verfügung gestellt hat. Das genügt nicht, um sie als Vertrauensperson des H dessen Lager zuzu-rechnen (a.A. vertretbar39). 3. Ergebnis

B kann den Vertrag auch nicht wegen arglistiger Täuschung gem. § 123 BGB anfechten. Frage 4: Schadensersatzansprüche des B

I. Ansprüche gegen H 1. Anspruch aus §§ 651, 437 Nr. 3, 280 ff. BGB

a) Werklieferungsvertrag

Ein Werklieferungsvertrag zwischen B und H liegt vor.

36 Siehe oben Frage 2 III. 1. b). 37 In der Realität ist bislang nicht klar, wer wann von der „Schummelsoftware“ wusste. Ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Braunschweig wegen Betrugs nach § 263 StGB richtet sich derzeit wohl nur gegen Mitarbeiter der VW AG; vgl. Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Braun-schweig v. 29.9.2015 (abrufbar unter http://www.staatsanwaltschaften.niedersachsen.de/startseite/staats-an-walt-schaf-ten/braunschweig/presseinformationen/ermittlungsverfahren-in-der-vw-abgasaffaere-eingeleitet-137314.html [2.11.2016]) und v. 8.10.2015 (abrufbar unter http://www.staatsanwaltschaften.niedersachsen.de/startseite/staatsanwaltschaften/braunschweig/presseinformationen/vw-abgasmanipulationen-137584.html [2.11.2016]). Zur Frage, wann der Vorstand der Volkswagen AG von der Software Kenntnis erlangt hat, siehe auch das KapMuG-Verfahren: LG Braunschweig BeckRS 2016, 14509. 38 BGH NJW 1962, 2195; Ellenberger (Fn. 29), § 123 Rn. 13. 39 Stufte man Seat als Nicht-Dritten ein, würde wiederum die Frage virulent, ob die Täuschung zu einem Irrtum bei B ge-führt hat (siehe oben I. 1. b).

b) Sachmangel bei Gefahrübergang

Auch stellen sowohl die Existenz der „Schummelsoftware“ als auch der hohe Schadstoffausstoß Sachmängel dar, die jeweils bereits bei Gefahrübergang vorlagen. c) Vertretenmüssen

H müsste diesen Mangel zu vertreten haben. Grundsätzlich hat der Schuldner gem. § 276 Abs. 1 BGB Vorsatz und Fahr-lässigkeit zu vertreten. aa) Eigenes Verschulden des H

Vorliegend hat H den Mangel jedoch weder vorsätzlich noch fahrlässig herbeigeführt. Auch hat er es weder vorsätzlich noch fahrlässig unterlassen, den Mangel vor Gefahrübergang zu beheben: Er kannte den Mangel nicht und hätte ihn auch nicht kennen müssen. bb) Zurechnung eines Verschuldens der Seat Deutschland GmbH

Fraglich ist jedoch, ob ihm ein mögliches Verschulden der Seat gem. § 278 BGB zuzurechnen ist. Dies wäre dann der Fall, wenn Seat als Erfüllungsgehilfe im Sinne dieser Vor-schrift einzustufen wäre. Erfüllungsgehilfe ist, wer nach den tatsächlichen Gegebenheiten mit dem Willen des Schuldners bei der Erfüllung einer diesem obliegenden Verbindlichkeit als seine Hilfsperson tätig wird.40 Ob der Hersteller nach diesem Maßstab als Erfüllungsgehilfe eines Verkäufers anzu-sehen ist, ist umstritten.

Nach Ansicht des BGH41 und der h.M. in der Literatur42 ist das nicht der Fall. Der Verkäufer schulde lediglich die Übergabe und Übereignung der Kaufsache, nicht aber ihre Herstellung. Das gelte selbst dann, wenn die Sache bei Ver-tragsschluss noch nicht hergestellt sei: Weil § 651 BGB auf § 433 BGB verweise, sei auch hier nicht die Herstellung, sondern wiederum nur Übergabe und Übereignung der herzu-stellenden Sache geschuldet.43

40 BGH, Urt. v. 21.4.1954 – VI ZR 55/53, BGHZ 13, 111 (113); Unberath, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, Ed. 40, Stand: 1.3.2011, § 278 Rn. 11. 41 BGH NJW 1967, 1903; BGH NJW 1968, 2238 (2239); BGH, Urt. v. 15.7.2008 – VIII ZR 211/07, BGH NJW 2008, 2837 (2840 Rn. 29 – Buchenparkettstäbchen); BGH NJW 2009, 1660 (1661 Rn. 11 – Bodenfliesen); ebenso bereits das Reichsgericht, vgl. etwa RGZ 101, 152 (154 f.). 42 U. Huber, AcP 177 (1977), 281 (305); Schmidt-Salzer, BB 1979, 1 (3); Huber/Faust (Fn. 19), Kap. 13 Rn. 123; Lorenz, ZGS 2004, 408 (410); Reinicke/Tiedtke (Fn. 9), Rn. 566; Schubel/Koch, DB 2004, 119 (123); Schwarze, Das Recht der Leistungsstörungen, 2008, § 34 Rn. 50 und 54; Caspers (Fn. 17), § 278 Rn. 37. 43 BGH NJW 1967, 1903 (1904, zum – insoweit inhaltsglei-chen – alten Schuldrecht); ebenso nun BGH NJW 2014, 2183 (zum neuen Schuldrecht); zustimmend für den (Regel-)Fall, dass der Vertrag den Schuldner nicht zur persönlichen Her-stellung verpflichtet Schwenker, in: Erman, Kommentar zum BGB, 14. Aufl. 2014, § 651 Rn. 10; Voit, in: Beck’scher

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Fortgeschrittenenklausur: Dieselgate ZIVILRECHT

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Die Gegenansicht44 argumentiert, dass der Verkäufer sei-ne Pflicht zur Übergabe und Übereignung einer Sache nicht erfüllen könne, ohne dass die Sache zuvor hergestellt worden sei. Besonders deutlich werde dies beim Werklieferungsver-trag, bei dem die zu liefernde Sache im Zeitpunkt des Ver-tragsschlusses noch nicht existiere; es gelte aber auch beim Kaufvertrag. Hier wird insbesondere darauf verwiesen, dass § 433 Abs. 1 S. 1 BGB seit der Schuldrechtsreform ausdrück-lich eine Pflicht zur Lieferung einer mangelfreien Sache normiere. Insofern müsse der Hersteller als Erfüllungsgehilfe angesehen werden.

Folgt man der h.M. ist Seat vorliegend nicht als Erfül-lungsgehilfe des H einzustufen. d) Ergebnis

B hat gegen H keinen Schadensersatzanspruch aus §§ 280 ff. BGB.45 2. § 823 Abs. 1 BGB

Auch ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB scheidet aus. Zum einen liegt schon keine Eigentumsverlet-zung bei B vor: Er hat von Beginn an mangelhaftes Eigentum bekommen.46 Zum anderen fehlt es wiederum an einem (ei-genen) Verschulden des H.

Online-Kommentar zum BGB, Ed. 40, Stand: 1.2.2015, § 651 Rn. 13; Busche, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 651 Rn. 5; Peters/Jacoby, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2013, § 651 Rn. 10. 44 Grundmann, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2016, § 278 Rn. 31; Schmidt-Kessel, in: Prütting/ Wegen/Weinreich, Kommentar zum BGB, 11. Aufl. 2016, § 278 Rn. 21; Peters, ZGS 2010, 24; Schroeter, JZ 2010, 495 (497 ff.); Klees, MDR 2010, 305; Weller, NJW 2012, 2312 (2315); Bach, Leistungshindernisse, § 2 C. III. 2. b) cc) (im Erscheinen). 45 Vertiefender Hinweis: Wer eine Zurechnung des Verschul-dens mit der Gegenansicht bejaht, muss noch die Frage klä-ren, ob B Schadensersatz statt oder neben der Leistung ver-langt – ob also die besonderen Voraussetzungen der §§ 281-283 BGB vorliegen müssen oder nicht. M.E. wird man nach allen hierzu vertretenen Ansichten von einem Schadensersatz neben der Leistung ausgehen können, weil es sich bei dem Mehrverbrauch (a) um einen Mangelfolgeschaden handelt, weil der Mehrverbrauch (b) nicht durch eine (weitere) Nach-erfüllung beseitigt werden kann und weil durch das Scha-densersatzverlangen nicht das Recht des H zur zweiten An-dienung beeinträchtigt wird; vgl. zur Abgrenzung des Scha-densersatzes neben vom Schadensersatz statt der Leistung Bach, ZJS 2013, 1. 46 Vertiefender Hinweis: Überlegen ließe sich allerdings, ob die im Rahmen der Nacherfüllung vorgenommenen Ände-rungen an der Software einen sog. Weiterfressermangel dar-stellen. Immerhin hat das Auto im Zeitpunkt der Lieferung weniger Kraft- und Harnstoff verbraucht. Im Ergebnis wird man einen solchen Weiterfressermangel jedoch zu verneinen haben. Letztlich war der Motor von Beginn an so ausgelegt,

3. § 831 BGB

Eine Haftung des H aus § 831 BGB scheidet jedenfalls des-halb aus, weil Seat – mangels Weisungsgebundenheit – nicht als dessen Verrichtungsgehilfe einzustufen ist. II. Ansprüche gegen Seat 1. §§ 280 ff. BGB

Mangels eines Schuldverhältnisses zwischen B und der Seat Deutschland GmbH scheiden vertragliche Schadensersatzan-sprüche aus.47 2. § 823 Abs. 1, 31 BGB

Ein Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB scheitert wiederum am Fehlen einer Eigentumsverletzung. 3. § 823 Abs. 2, 31 BGB i.V.m. § 263 Abs. 1 StGB

In Betracht kommt daher lediglich ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 Abs. 1 StGB.48

dass er nur entweder die angegebenen Schadstoffwerte oder den angegebenen Kraft- und Harnstoffverbrauch einhalten konnte (wenn die angegebenen Leistungsparameter erfüllt werden sollten). Der Mangel nach Nacherfüllung ist also mit demjenigen vor Nacherfüllung „stoffgleich“ (so auch Riehm, DAR 2016, 12 [13]). Demgegenüber scheitert die Annahme eines Weiterfressermangels m.E. nicht daran, dass der Käufer in die Veränderung einwilligt, wenn er das Software-Update aufspielen lässt (so aber Riehm, DAR 2016, 12 [13]). Denn diese Einwilligung erfolgt nicht freiwillig, sondern aufgrund einer gegenüber dem Käufer verpflichtenden Anordnung des Kraftfahrt-Bundesamtes. 47 Vertiefender Hinweis: Andenken ließe sich eine Anwen-dung der Grundsätze über den Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter. Allerdings dient dieses Institut dem Schutz des Integritätsinteresses (des Dritten); vorliegend ist aber das Äquivalenzinteresse des B verletzt, zumindest im weitesten Sinne: der Schaden des B liegt darin, dass er, um das gekauf-te Fahrzeug vertragsgemäß nutzen zu können, Mehraufwen-dungen für Kraft- und Harnstoff aufbringen muss. 48 Vertiefender Hinweis: Neben § 263 StGB kommt eine weitere Vorschrift als Schutzgesetz in Betracht, nämlich § 5 PkwEnVKV („Hersteller und Händler, die Werbeschriften erstellen, erstellen lassen, weitergeben oder auf andere Weise verwenden, haben sicherzustellen, dass in den Werbeschrif-ten Angaben über den offiziellen Kraftstoffverbrauch und die offiziellen spezifischen CO2-Emissionen der betreffenden Modelle neuer Personenkraftwagen nach Maßgabe von Ab-schnitt I der Anlage 4 gemacht werden.“). Zwar dürfte es sich bei dieser Vorschrift tatsächlich um ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB handeln, weil es speziell die Interessen eines Pkw-Käufers im Blick hat. Allerdings ist der Hersteller eines Pkw nach dieser Vorschrift nur verpflichtet, den „offiziellen CO2-Ausstoß“ in der Werbung anzugeben. Zum einen ist von der „Schummelsoftware“ aber wohl nicht der CO2-Ausstoß, sondern ausschließlich der Stickoxid-Ausstoß betroffen; zum anderen muss nur der „offizielle“ Ausstoß angegeben werden, also derjenige, der „im EG-

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a) § 263 Abs. 1 StGB als Schutzgesetz

§ 263 Abs. 1 StGB bezweckt den Schutz eines Einzelnen, nämlich desjenigen, dessen Vermögen durch den Betrug gemindert wird. Die Vorschrift stellt daher ein taugliches Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB dar.49 b) Zurechnung eines Betrugs durch die Geschäftsführer

Fraglich ist jedoch, ob § 263 Abs. 1 StGB im konkreten Fall tatsächlich verletzt wurde. Daran lässt sich bereits deshalb zweifeln, weil die Vorschriften des StGB nur das Verhalten natürlicher Personen sanktionieren. Auf die Seat Deutschland GmbH als juristische Person ist das StGB an sich nicht an-wendbar. Dennoch kommt eine Haftung juristischer Personen nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. Vorschriften des StGB in Betracht: Ihnen kann die Verletzung des betreffenden Straf-gesetzes durch ein Organ bzw. einen Repräsentanten gem. § 31 BGB zugerechnet werden. Vorliegend ist also zu prüfen, ob die Geschäftsführer der Seat Deutschland GmbH einen Betrug im Sinne des § 263 StGB50 begangen haben.51 c) Objektiver Tatbestand des § 263 StGB

Nach dem Bearbeitervermerk ist zu unterstellen, dass die Geschäftsführer der Seat Deutschland GmbH Kenntnis von der „Schummelsoftware“ hatten.52 Die falschen Angaben im Datenblatt stellen daher eine Täuschung dar. Allerdings ist fraglich, ob diese Täuschung einen Irrtum bei B erregt hat. Hieran lässt sich deshalb zweifeln, weil B die Angaben im Datenblatt laut Sachverhalt zwar überflogen hat, sie ihn aber nicht sonderlich interessiert haben. Insofern liegt die Annah-me nahe, B habe sich keine Vorstellungen über den Schad-stoffausstoß gemacht und sei dementsprechend auch keinem Irrtum unterlegen.53

Allerdings greift die isolierte Betrachtung der Schad-stoffwerte zu kurz. Vielmehr muss spätestens nach dem Up-

Fahrzeugtypgenehmigungsbogen oder in der Konformitätsbe-scheinigung angegeben ist“ (vgl. § 2 Nr. 5 EnVKV i.V.m. Art. 2 Nr. 5 der Richtlinie 1999/94/EG). 49 BGH NJW 2012, 601 (602 Rn. 13); Sprau, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 75. Aufl. 2016, § 823 Rn. 70. 50 In Betracht kommt hier nur ein Dreiecksbetrug an B zu-gunsten der Seat Deutschland GmbH. 51 In der Realität umfasst die Zurechnungsdimension wohl noch (mindestens) einen Schritt mehr. Hier scheint es mög-lich, dass nur der Vorstand (bzw. zumindest einzelne Mitar-beiter) des Mutterkonzerns Volkswagen AG von der „Schummelsoftware“ Kenntnis hatte, nicht aber auch die Geschäftsführer der Seat GmbH. Dann stellt sich die kompli-zierte Frage nach einer Wissenszurechnung im Konzern; siehe hierzu etwa Spindler, Unternehmensorganisations-pflichten, 2. Aufl. 2011, S. 963 ff.; Schüler, Die Wissenszu-rechnung im Konzern, 2000; Bork, ZGR 1994, 237; Drexl, ZHR 161 (1997), 491; Verse, AG 2015, 413. 52 Siehe zur Frage, wer wann in der Realität von der „Schummelsoftware“ Kenntnis hatte, oben Fn. 31. 53 Jedenfalls aber dürfte es an einer Kausalität des Irrtums für die Vermögensverfügung (Kauf des Alhambra bei H) fehlen.

date der gestiegene Kraft- und Harnstoffverbrauch in die Betrachtung einbezogen werden. Dem steht nicht entgegen, dass dieser Mehrverbrauch erst aufgrund der Nachbesserung eingetreten ist;54 denn die Täuschung richtete sich letztlich auf den Motor als solchen: Er sei imstande, mit dem angege-benen Verbrauch und dem angegebenen Schadstoffausstoß die angegebene Leistung zu erreichen.

Auf Basis dieser Täuschung ist der Irrtum des B darin zu sehen, dass er bei Vertragsschluss zumindest davon ausging, der Motor könne die angegebene Leistung dauerhaft mit dem angegeben Kraft- und Harnstoffverbrauch erzielen. Dieser Irrtum war auch kausal für die Vermögensverfügung: Hätte B gewusst, dass ein Software-Update nötig werden würde, das den Verbrauch erhöht, hätte er den Wagen wohl nicht (oder zumindest nicht zum selben Preis) gekauft.55

Fraglich ist jedoch, ob dem B ein Vermögensschaden ent-standen ist. Das wäre der Fall, wenn der Alhambra aufgrund der „Schummelsoftware“ einen geringeren Wiederverkaufs-wert erreichen würde. Ein solcher merkantiler Minderwert lässt sich aber laut Bearbeitervermerk nicht nachweisen. Allerdings stellen auch die Mehraufwendungen für Kraft- und Harnstoff einen Vermögensschaden dar. d) Subjektiver Tatbestand

Die Seat-Geschäftsführer müssten ferner vorsätzlich und mit (Fremd-) Bereicherungsabsicht gehandelt haben.

Der Vorsatz muss sich auf sämtliche Tatbestandsmerkma-le beziehen.56 Zumindest hinsichtlich des Schadens dürfte es jedoch an einem solchen Vorsatz fehlen:57 Man wird nämlich annehmen können, dass die Seat-Geschäftsführer davon aus-gingen, die „Schummelsoftware“ werde nie entdeckt. Ohne Entdeckung wäre es aber nicht zu dem Update und ohne Update nicht zum Mehrverbrauch des Alhambra gekommen.

Zumindest aber fehlt es an einer Bereicherungsabsicht. Zwar handelten die Geschäftsführer in der Absicht, den Ab-satz der Seat-Fahrzeuge und damit auch den Gewinn der Seat-GmbH zu steigern. Allerdings muss die von der Absicht umfasste Bereicherung stoffgleich mit dem eingetretenen Schaden sein.58 Der Schaden liegt vorliegend jedoch, wie gesagt, in dem Mehrverbrauch – und nicht in einem etwaigen Minderwert des Alhambra.

Der subjektive Tatbestand des § 263 Abs. 1 StGB ist demnach nicht erfüllt.

54 So aber Riehm, DAR 2016, 12 (13). 55 Vertiefender Hinweis: Dem steht m.E. nicht entgegen, dass B das Update freiwillig durchführen ließ. Immerhin hat Seat den Alhambra zurückgerufen, um das Software-Update auf-zuspielen. B durfte sich jedenfalls zu diesem Update heraus-gefordert fühlen. In der Realität war er sogar zur Durchfüh-rung des Updates verpflichtet, vgl. oben Fn. 37. 56 Fischer, in: Fischer, Kommentar zum StGB, 63. Aufl. 2016, § 16 Rn. 3. 57 Vgl. Riehm, DAR 2016, 12 (13). 58 Beukelmann, in: Beck’scher Online-Kommentar zum StGB, Ed. 32, Stand: 1.6.2016, § 263 Rn. 78; Fischer (Fn. 56), § 263 Rn. 187.

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e) Ergebnis

B hat keinen Anspruch auf Schadensersatz aus §§ 823 Abs. 2, 31 BGB i.V.m. § 263 Abs. 1 StGB gegen die Seat Deutsch-land GmbH. 4. § 1 ProdHG

Mangels Verletzung von Eigentum oder Körper des B schei-det eine Haftung der Seat Deutschland GmbH nach dem ProdHG aus. Frage 5: Auswirkungen auf den Nacherfüllungsanspruch

I. Anspruch auf Mängelbeseitigung Wenn der Schadstoffausstoß nur auf Kosten eines erhöhten Kraft- und/oder Harnstoffverbrauchs reduziert werden kann, ist es unmöglich, im Wege der Mängelbeseitigung ein man-gelfreies Fahrzeug herzustellen.59 Dementsprechend scheint der Anspruch des B auf Mängelbeseitigung gem. § 275 Abs. 1 BGB ausgeschlossen zu sein.

Allerdings ist es immerhin möglich, den bestehenden Mangel gegen einen anderen Mangel auszutauschen. Fraglich ist, ob dem Käufer ein Anspruch auf einen solchen Mangel-tausch zusteht. Dagegen spricht, dass man den Verkäufer mit einem – aus objektiver Sicht – unsinnigen Reparaturaufwand belegen würde.60 Dafür spricht, dass es dem Käufer möglich sein sollte, denjenigen Mangel zu wählen, der für ihn subjek-tiv die geringste Beeinträchtigung darstellt.61 So ist gemein-hin anerkannt, dass der Käufer dann, wenn sich ein Mangel zwar nicht vollständig, wohl aber teilweise beseitigen lässt, einen Anspruch auf jene partielle Mängelbeseitigung hat.62 Auch hat er nach h.M. einen Anspruch darauf, dass der Ver-

59 Vertiefender Hinweis: Die neue Motorengeneration kommt wohl ohne „Schummelsoftware“ aus und ist dabei ähnlich leistungsstark und sparsam wie die Schummelmotoren. Inso-fern liegt die Frage nahe, ob H im Rahmen der Mängelbesei-tigung zum Austausch des Motors verpflichtet ist. Grundsätz-lich stellt der Austausch von Einzelteilen eine Form der Mängelbeseitigung dar (vgl. Faust [Fn. 6], § 439 Rn. 26). Allerdings stellt der Motor kein Einzelteil des gekauften Wagens dar, sondern dessen Hauptbestandteil, zumal bei einem Austausch auch noch viele andere Bauteile an den neuen Motor angepasst werden müssen (Abgasanlage, Ge-triebe, Elektrik etc.). Insofern ist fraglich, ob im Fall eines Motorenaustauschs noch von Mängelbeseitigung gesprochen werden kann oder ob schon eine (partielle) Ersatzlieferung vorliegt. Jedenfalls aber stellt sich die unten im Rahmen der Ersatzlieferung angesprochene Frage nach der „Erfüllungs-tauglichkeit“ auch bei einem Motoraustausch. Auf die dorti-gen Ausführungen sei also an dieser Stelle verwiesen (unten II. 2.). 60 Gegen einen Anspruch Faust (Fn. 6), § 439 Rn. 37; Grunewald (Fn. 6), § 439 Rn. 4; wohl auch OLG Celle BeckRS 2016, 13999 Rn. 7. 61 Für einen Anspruch Matusche-Beckmann, in: Staudinger, 2014, § 439 Rn. 100; Schmidt (Fn. 11), § 439 Rn. 24; Reinicke/Tiedtke (Fn. 9), Rn. 442; Gutzeit, NJW 2007, 956. 62 BGH NJW 2013, 1365 Rn. 12; Faust (Fn. 6), § 439 Rn. 37.

käufer das geschuldete Ergebnis auf anderem als dem ver-traglich vereinbarten Weg herstellt.63

Der BGH64 geht deswegen zu Recht davon aus, dass dem Käufer grundsätzlich ein Anspruch auf Mangeltausch zusteht. Allerdings soll sich der Verkäufer unter Umständen auf die Einrede der Unerschwinglichkeit aus § 275 Abs. 2 BGB berufen können, nämlich dann, wenn durch den neuen Man-gel Folgeschäden drohen, die zu tragen dem Verkäufer nicht zugemutet werden kann.

Eine solche Unzumutbarkeit dürfte vorliegend zu bejahen sein: H kann den Schadstoffausstoß nur um den Preis beseiti-gen, dass der Kraft- und Harnstoffverbrauch steigt. Die Fol-gekosten können – abhängig von der Laufleistung des Wa-gens – immens sein, so dass H die Mangelbeseitigung (res-pektive den Mangeltausch) gem. § 275 Abs. 2 BGB verwei-gern kann.65 II. Anspruch auf Ersatzlieferung 1. Auswirkungen auf die Möglichkeit einer Ersatzlieferung

Zunächst ist fraglich, ob eine Ersatzlieferung unter den hier in Rede stehenden Umständen überhaupt möglich ist. Zwar haben H und B eine Gattungsschuld vereinbart. Jedoch wei-sen alle Exemplare der vereinbarten Gattung denselben (unterstelltermaßen unbehebbaren) Mangel auf.

Es fragt sich also, ob B unter § 439 Abs. 1 BGB die Lie-ferung eines Exemplars aus einer vergleichbaren Gattung verlangen kann. Diese Frage ist eng mit derjenigen eines Ersatzlieferungsanspruchs bei vereinbarter Stückschuld ver-wandt. Diesbezüglich herrscht Streit.

Ein beachtlicher Teil der Literatur lehnt einen Ersatzliefe-rungsanspruch im Fall einer Stückschuld pauschal ab.66 Ar-gumentiert wird dabei insbesondere mit der Parteivereinba-rung: Zum einen sei danach nur eine einzige Sache „erfül-lungstauglich“ und eine Ersatzlieferung deswegen von vorn-herein unmöglich im Sinne des § 275 Abs. 1 BGB. Zum anderen dürfe ein Schuldner, der sich vertraglich lediglich zur Lieferung einer bestimmten Sache verpflichtet hat, nicht von Gesetzes wegen gezwungen werden, eine andere Sache zu liefern.

Der BGH67 und die wohl h.M. in der Literatur68 lassen ei-nen Ersatzlieferungsanspruch hingegen – zu Recht – grund-

63 Faust (Fn. 6), § 439 Rn. 37 unter Berufung auf BGH NJW 1981, 1448 (zum alten Schuldrecht). 64 BGH NJW 2005, 2852 (Operation eines Hundewelpen). 65 In der Realität wird man eine Unzumutbarkeit wohl des-halb zu verneinen haben, weil das Kraftfahrt-Bundesamt ein Softwareupdate angeordnet hat, siehe oben Fn. 26. 66 Faust, ZGS 2004, 252 (253 ff.); Gruber, in: Jahrbuch jun-ger Zivilrechtswissenschaftler, 2001, S. 187 (191); P. Huber, NJW 2002, 1004 (1006); U. Huber, in: Festschrift für Peter Schlechtriem zum 70. Geburtstag, 2003, S. 521 (523 Fn. 9); Jacobs, Die kaufrechtliche Nacherfüllung, S. 377 ff.; Lorenz/ Riehm, Lehrbuch zum neuen Schuldrecht, 2002, Rn. 505; Musielak, NJW 2008, 2801 (2804); Pfeiffer, ZGS 2002, 23 (29 Fn. 38); Reinicke/Tiedtke (Fn. 9), Rn. 422 ff. 67 BGH, Urt. v. 7.6.2006 – VIII ZR 209/05; BGHZ 168, 64.

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sätzlich zu. Hierfür spricht vor allem der Wille des Reform-gesetzgebers, dem es gerade darum ging, die vor der Reform bestehende Differenzierung zwischen Stück- und Gattungs-schulden aufzuheben. Auch die Verbrauchsgüterkaufrichtli-nie, die der Regelung in § 439 BGB zugrunde liegt, unter-scheidet nicht zwischen Stück- und Gattungsschulden. Aller-dings kann ein Ersatzlieferungsanspruch nur dann bestehen, wenn dies dem Parteiwillen (bei Vertragsschluss) entspricht, wenn die Kaufsache nach dem Willen der Parteien also im Falle ihrer Mangelhaftigkeit durch eine gleichartige und gleichwertige Sache ersetzt werden kann.69

Nichts anderes sollte gelten, wenn die Parteien zwar keine Stück-, sondern eine Gattungsschuld vereinbart haben, dann aber die gesamte Gattung untergeht (bzw. von einem unbe-hebbaren Mangel betroffen ist). Auch in diesem Fall muss es also auf den Parteiwillen ankommen, genauer gesagt darauf, ob nach diesem Parteiwillen die Kaufsache aus einer be-stimmten Gattung im Falle der Mangelhaftigkeit jedes ein-zelnen Gattungsexemplars durch eine Kaufsache aus einer gleichartigen und gleichwertigen Gattung ersetzt werden kann.

Dies wird man vorliegend jedoch wohl zu verneinen ha-ben. In Betracht käme nur die Lieferung eines anders motori-sierten Alhambra – entweder mit einem neuen Diesel-Aggre-gat oder mit einem „alten“ Benzinmotor. Da der Motor aber einen entscheidenden Bestandteil eines Fahrzeugs darstellt, wird man wohl ein anders motorisiertes Fahrzeug nicht mehr als dem gelieferten Fahrzeug vergleichbar ansehen können.70

Ein Ersatzlieferungsanspruch des B wäre demnach abzu-lehnen

Hinweis: a.A. gut vertretbar. 2. Auswirkungen auf die Einrede der Unverhältnismäßigkeit nach § 439 Abs. 3 BGB

Zudem hat der mit dem Update einhergehende Mehrver-brauch Auswirkungen auf die Einrede der Unverhältnismä-ßigkeit (unterstellt eine Ersatzlieferung wäre an sich als mög-lich einzustufen): Durch die Unmöglichkeit (bzw. Uner-schwinglichkeit) der Mängelbeseitigung entfällt das Recht des H, die Ersatzlieferung wegen relativer Unverhältnismä-ßigkeit zu verweigern.71 Ohne das Vergleichsobjekt „Män-

68 Westermann (Fn. 7), § 439 Rn. 11; Matusche-Beckmann (Fn. 61), § 439 Rn. 60 ff.; Bitter/Meidt, ZIP 2001, 2114 (2119 f.); Büdenbender, in: Schulte u.a., Handkommentar zum BGB, 8. Aufl. 2014, § 439 Rn. 29; Canaris, JZ 2003, 831 (833 ff.); Grunewald (Fn. 6), § 439 Rn. 5; Oechsler, NJW 2004, 1825 (1828 f.); Oetker/Maultzsch, Vertragliche Schuldverhältnisse, 4. Aufl. 2013, § 2 Rn. 202 ff.; Spickhoff, BB 2003, 589 (590); Ball, NZV 2004, 217 (220); Gsell, JuS 2007, 97; Roth, NJW 2006, 2953. 69 BGHZ 168, 64. 70 So im Ergebnis auch Steenbruck, MDR 2016, 185 (186). 71 Vertiefender Hinweis: Im hiesigen Kontext ist davon aus-zugehen, dass die Mängelbeseitigung unmöglich ist; die Möglichkeit des Mangeltauschs muss unbeachtlich bleiben. Zwar hat B, wie gesagt, das Recht, einen solchen Mangel-

gelbeseitigung“ ist für eine relative Unverhältnismäßigkeit kein Raum.

Es fragt sich daher, ob K die Ersatzlieferung wegen abso-luter Unverhältnismäßigkeit nach § 439 Abs. 3 S. 3 Hs. 2 BGB verweigern kann. Der BGH geht jedenfalls dann von einer solchen absoluten Unverhältnismäßigkeit aus, wenn die Nacherfüllungskosten mehr als 200 % des mangelbedingten Minderwertes oder mehr als 100 % des Werts der Sache in mangelfreiem Zustand ausmachen.72 Laut Bearbeitervermerk mindert die „Schummelsoftware“ den Wert des Alhambra nicht in nennenswertem Umfang. Dementsprechend dürften die Kosten für eine Ersatzlieferung ohne Weiteres über dem Grenzwert von 200 % des mangelbedingten Minderwerts liegen.

Allerdings scheidet im vorliegenden Fall eine Einrede der absoluten Unverhältnismäßigkeit von vornherein aus. Da es sich bei H um einen Unternehmer im Sinne des § 14 BGB und bei B um einen Verbraucher im Sinne des § 13 BGB handelt, fällt der Kaufvertrag in den Anwendungsbereich der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie. Diese sieht als Einschränkung des Nacherfüllungsanspruchs eines Verbrauchers ausschließ-lich die Einrede der relativen Unverhältnismäßigkeit vor, nicht aber diejenige der absoluten Unverhältnismäßigkeit. § 439 Abs. 3 S. 3 Hs. 2 BGB ist dementsprechend richtli-nienwidrig.73 Da der deutsche Gesetzgeber bei der Schaffung des § 439 Abs. 3 BGB nicht vorsätzlich gegen die Richtli-nienvorgaben verstoßen wollte, sondern die Richtlinienwid-rigkeit seiner Regelung schlichtweg nicht erkannt hat, erweist sich das deutsche Recht an dieser Stelle als planwidrig zu weit. § 439 Abs. 3 S. 3 Hs. 2 BGB ist daher im Wege der teleologischen Reduktion auf Fälle zu beschränken, die nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen.74

Dementsprechend kann H die Ersatzlieferung vorliegend nicht nach § 439 Abs. 3 BGB verweigern.

tausch zu verlangen, nicht aber auch die Pflicht. Lehnt er ihn ab, führt dies zu einer Unmöglichkeit der Mängelbeseitigung (wobei wiederum darauf hinzuweisen ist, dass das Kraftfahrt-Bundesamt das Update in der Realität verpflichtend angeord-net hat, siehe oben Fn. 5 und 26). 72 BGH NJW 2015, 468 (472 Rn. 40 ff.). 73 EuGH, Urt. v. 16.6.2011 – verb. Rs C-65/09 und 87/09 (Putz/Weber) = Slg. I 2011, 5257. 74 BGH NJW 2012, 1073.

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Fortgeschrittenenklausur: Und am Ende nichts als Ärger Von RiAG Prof. Dr. Ulf P. Börstinghaus, Wiss. Mitarbeiter Dennis Pielsticker, Bielefeld* Der nachfolgende Fall wurde im Wintersemester 2015/2016 an der Universität Bielefeld als Semesterabschlussklausur zu der Vorlesung Aufbau- und Vertiefungskurs AGB und Miet-recht gestellt und beruht auf einem wahren Sachverhalt. Die Lösung orientiert sich an dem dazugehörigen Urteil des AG Dortmund1 unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BGH.2 Sachverhalt Magnus (M) ist auf der Suche nach einer Wohnung. In der Tageszeitung wird er auf die Anzeige der 88-jährigen Vero-nika (V) aufmerksam und vereinbart einen Termin zur Be-sichtigung der in der Fröhlichstraße in Dortmund gelegenen Wohnung. Bei der Besichtigung erscheint anstelle der V ihre Tochter Trude (T). M ist begeistert von den Räumlichkeiten und erklärt der T, dass er die Wohnung mieten wolle. T, die von ihrer Mutter – was auch zutrifft – zur Vermietung der Wohnung in ihrem Namen berechtigt wurde, erklärt sich einverstanden. T unterzeichnet daraufhin im Namen der V mit M am 8.6.2008 den Mietvertrag. Das Mietverhältnis soll zusammen mit der Übergabe der Wohnung am 1.8.2008 beginnen.

In § 18 des aus dem Internet stammenden Mietvertrag-Vordrucks heißt es:

1. Der Mieter ist verpflichtet, auf seine Kosten die Schön-heitsreparaturen durchzuführen.

2. Zu den Schönheitsreparaturen gehören insbesondere der Anstrich von Decken, Wänden, Holzteilen, Heizkörpern mit Heizrohren sowie das Tapezieren innerhalb der Mieträu-me. Die Arbeiten sind fachgerecht durchzuführen. Die Räu-me müssen beim Auszug in einer Farbgestaltung zurückge-geben werden, die dem durchschnittlichen und üblichen Ge-schmacksempfinden entspricht. Der Mieter kann sich nicht darauf berufen, dass bei Anmietung der Räume notwendige Schönheitsreparaturen nicht durchgeführt waren.

3. Bei Beendigung des Mietverhältnisses hat der Mieter die Wohnung in fachgerecht renoviertem Zustand zu überge-ben.

Ferner hat T in § 28 „Sonstige Vereinbarungen“ aufgrund der bei vorherigen Mietern gesammelten, schlechten Erfah-rung und zur künftigen Vermeidung bestimmter Probleme handschriftlich eingetragen:

Der Mieter verpflichtet sich, den verlegten Teppichboden bei Auszug zu reinigen. Liegen zwischen Einzug und Auszug mehr als 5 Jahre, ist der Teppichboden vom Mieter zu erneu-ern.

* Der Verf. Prof. Dr. Ulf P. Börstinghaus ist Richter am Amtsgericht Dortmund und Honorarprofessor an der Univer-sität Bielefeld. Der Verf. Dennis Pielsticker ist wiss. Mitar-beiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Markus Artz an der Univer-sität Bielefeld. 1 AG Dortmund NZM 2014, 826 = NJW-RR 2014, 1482 = WuM 2015, 27. 2 Insbesondere BGH NJW 2015, 1594.

Nachdem M die Wohnungsschlüssel sodann am 1.8.2008 übergeben wurden, renovierte er die renovierungsbedürftige Wohnung und verbrachte ein paar glückliche Jahre in der Wohnung, bis er eines Tages ein Schreiben der V in seinem Briefkasten fand. Mit dem Schreiben vom 29.6.2013 erklärte V die Kündigung des Mietvertrags wegen Eigenbedarfs zum 30.9.2013. Die Rückgabe der Wohnung und der Schlüssel erfolgten sodann am 25.9.2013. Jedoch musste die V bei genauerer Begutachtung feststellen, dass M sich keinesfalls an die im Mietvertrag enthaltenen Regelungen zu der Schön-heitsreparaturpflicht gehalten hat und auch sonst nicht sorg-sam mit der Wohnung umgegangen ist.

So wiesen die Fliesen im Bad an mehreren Stellen Bohr-löcher auf, die von M gesetzt wurden, um Seifenhalter, Spie-gel und Handtuchhalter anzubringen. Die Toilettenschüssel wies zahlreiche Haarrisse und das Waschbecken mehrere tiefe Sprünge auf. Der Teppichboden war verschmutzt und abgenutzt. Decken und Wände der Räume bedurften eines Anstrichs.

Mit Schreiben vom 26.9.2013 fordert sie den M daher auf, die in einer Liste als Anlage zum Schreiben aufgeführten Mängel bis zum 30.9.2013 fachmännisch zu beseitigen. M antwortete der V am 15.10.2013, dass ihn das Schreiben erst am 2.10.2013 erreicht habe und er im Übrigen sämtliche Ansprüche der V zurückweise.

Infolge des Schreibens des M ergreift V sodann auf ihre Kosten selbst Maßnahmen zur Beseitigung der Mängel. Sie wendet 1.150 € für einen neuen Teppichboden und dessen Verlegung auf, 150 € für die Erneuerung beschädigter Flie-ßen sowie 800 € für das Streichen der Wände und Decken. Für den Austausch der Toilettenschüssel und des Waschbe-ckens gibt sie 300 € aus.

Nach der Durchführung der Arbeiten wendet sich V am 24.3.2014 an M und verlangt die ihr für die Mängelbeseiti-gung entstandenen Kosten ersetzt. V meint, M sei durch die im Mietvertrag enthaltene Schönheitsreparaturvereinbarung zur Vornahme der Arbeiten verpflichtet gewesen. Auch sei er unsachgemäß mit der Wohnung umgegangen, indem er Lö-cher in die Fliesen im Bad gebohrt und Haarrisse in der Ke-ramik der Toilette sowie Sprünge in dem Waschbecken ver-ursacht habe. M entgegnet, dass er die Schönheitsreparatur-klausel für unwirksam halte und daher nicht zur Vornahme der Arbeiten verpflichtet gewesen sei. Außerdem seien die „Abnutzungen“ an Toilette und Waschbecken üblich. Hilfs-weise rechne er mit seinem Anspruch auf Rückzahlung der Kaution in Höhe von 500 € auf, deren Rückzahlung V – was zutrifft – bis heute schuldig geblieben ist. Fallfrage Hat V einen Anspruch auf Erstattung der Kosten gegenüber M?

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ÜBUNGSFÄLLE Ulf P. Börstinghaus/Dennis Pielsticker

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ZJS 6/2016 726

Bearbeitungshinweis Bei den der V entstandenen Kosten ist davon auszugehen, dass sie dem objektiven Wert der jeweiligen Sache entspre-chen. Lösungsvorschlag Fraglich ist, ob V gegen M einen Anspruch auf Erstattung der ihr durch die Renovierung entstandenen Kosten i.H.v. 2.400 € hat. I. Anspruch entstanden 1. Anspruch der V gegen M auf Zahlung von 2400 € aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB

V könnte gegen M einen Anspruch auf Zahlung von 2400 € aus den §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB haben. a) Schuldverhältnis

M und V könnten einen Mietvertrag geschlossen haben. Wenn gleich eine direkte Kommunikation zwischen M und V zwar nicht stattfand, könnte ein Mietvertrag jedoch geschlos-sen worden sein, indem T, welche Kontakt zu M hatte, die V bei Abschluss des Vertrages wirksam vertreten hat. T hat eine eigene Willenserklärung im Namen der V, mithin in fremdem Namen, im Rahmen ihrer von V erteilten Vertretungsmacht abgegeben und dem M mit Zugang dieser Erklärung so mit Wirkung für und gegen V (§ 164 Abs. 1 BGB) ein Angebot auf Abschluss eines Mietvertrags gemacht. Die seitens des M gegenüber T erklärte Annahme wirkt aufgrund der Stellver-tretereigenschaft der T für V nach § 164 Abs. 3 BGB auch unmittelbar für und gegen V, sodass zwischen M und V ein Mietvertrag geschlossen wurde.

Hinweis: Die wirksame Stellvertretung der V durch T ist offensichtlich und bedarf keiner detaillierten Prüfung. Auch ist der Umstand, dass der Mietvertrag zwischenzeit-lich beendet wurde, für den hier betrachteten Zeitpunkt der Pflichtverletzung irrelevant: V geht es um eventuelle Pflichtverletzungen während des laufenden Mietverhält-nisses.

b) Pflichtverletzung

Fraglich ist, ob M eine Pflicht aus dem Mietvertrag verletzt hat. Eine solche könnte grundsätzlich in der Verschmutzung und Abnutzung des Teppichs, der Streichbedürftigkeit von Wänden und Decken nach Auszug des M sowie der Beschä-digung der Fliesen durch das Bohren von Löchern in selbige zu sehen sein. Verschlechterungen, die durch den vertrags-gemäßen Gebrauch der Sache entstehen hat der Mieter nach § 538 BGB jedoch nicht zu vertreten. Mithin kann eine Pflichtverletzung nur bzgl. solcher Abnutzungen bzw. Be-schädigungen angenommen werden, die durch einen vertrags-widrigen Gebrauch entstanden sind.

Die Verschmutzung und Abnutzung des Teppichs ist mangels anderweitiger Hinweise (unüblich starke Abnutzung/ Verschmutzung) auf vertragsgemäßen Verbrauch zurückzu-führen und stellt damit keine Pflichtverletzung dar.

Selbiges gilt für die streichbedürftigen Wände und De-cken.

Problematisch ist die Qualifizierung des infolge des Boh-rens von Löchern erforderlichen Austauschs von Fliesen im Badezimmer. Durch das Bohren in die Fliesen werden diese, mithin in der Regel das Eigentum des Vertragspartners des M, unmittelbar in ihrer Substanz beschädigt, sodass fraglich erscheint, ob ein solches noch als vertragsgemäßer Gebrauch zu werten ist.3 Jedoch handelt es sich auch bei einer Miet-wohnung um den Lebensmittelpunkt des Mieters. Innerhalb dieses muss es ihm möglich sein, sich frei entfalten zu kön-nen – sein Lebensumfeld so zu gestalten, dass er sich wohl fühlt.4 Hierzu gehört auch die Einrichtung des Bades nach seinen eigenen Bedürfnissen und seinem Geschmack. Ein solches kann es erforderlich machen, dass zur Montage ge-wisser Gegenstände des Haushalts Löcher in die Wand ge-bohrt werden.5 Solange dies in einem vernünftigen Rahmen und Maß geschieht, liegt das Verhalten eines Mieters, der Löcher in die Wände bohrt, noch in den Grenzen des ver-tragsgemäßen Gebrauchs.6 Mithin hat M auch durch das Bohren der Löcher keine Pflicht aus dem Schuldverhältnis verletzt.

Fraglich ist, ob eine Pflichtverletzung nicht deswegen an-zunehmen ist, weil Toilette und Waschbecken – im Gegen-satz zum Zeitpunkt der Überlassung an M – nunmehr – bei der Rückgabe der Wohnung an V – Risse und Sprünge auf-weisen. Aber auch für diese gilt, dass eine Pflichtverletzung nicht angenommen werden kann, solange sie auf einem ver-tragsgemäßen Gebrauch beruhen, sind sie doch Teil der Wohnung, d.h. der gemieteten Sache.7 Solange sich die Risse und Sprünge also aus Altersgründen und infolge des tägli-chen Gebrauchs gebildet haben (Verschleißerscheinung), kann man keinen vertragswidrigen Gebrauch und damit auch keine Pflichtverletzung annehmen.

M hat die Wohnung lediglich 5 Jahre bewohnt, weshalb man annehmen könnte, dass sich die Risse in der aus Kera-mik bestehenden Toilette in dieser kurzen Zeit nicht durch den normalen Gebrauch bilden konnten. Nicht vergessen werden darf jedoch, dass es keine Angaben dazu gibt, wie alt das WC vor der Vermietung der Wohnung an M bereits war, sodass die Risse grundsätzlich auch eine altersbedingte Er-müdungserscheinung darstellen könnten. Auch Sprünge in der Keramik des Waschbeckens können bis zu einem gewis-sen Maß – abhängig von der Mietdauer – als gewöhnliche Abnutzung erscheinen.8 Aufgrund der großen Anzahl an

3 Langenberg, in: Schmidt-Futterer, Kommentar zum Miet-recht, 12. Aufl. 2015, § 538 BGB Rn. 368 f. 4 Eisenschmid, in: Schmidt-Futterer, Kommentar zum Miet-recht, 12. Aufl. 2015, § 535 BGB Rn. 230. 5 Eisenschmid (Fn. 4), § 535 BGB Rn. 317. 6 Blank, in: Blank/Börstinghaus, Kommentar zum Mietrecht, 4. Aufl. 2014, § 535 BGB Rn. 515. 7 Eisenschmid (Fn. 4), § 535 BGB Rn. 63. 8 LG Köln, Urt. v. 14.11.1996 – 6 S 55/96; zur ungefähren Lebensdauer verschiedener mitvermieteter Installationen in einer Mietwohnung siehe Langenberg (Fn. 3), § 538 BGB Rn. 377.

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Rissen und Sprüngen, die innerhalb des relativ geringen Mietzeitraums aufgetreten sind, kann jedoch weder von Er-müdungserscheinungen noch von üblicher Abnutzung ge-sprochen werden. M hat hinsichtlich der Toilette und des Waschbeckens seine gem. § 241 Abs. 2 BGB bestehende Rücksichtnahmepflicht verletzt. c) Vertretenmüssen

Nach § 280 Abs. 1 S. 2 BGB wird das Vertretenmüssen der Pflichtverletzung vermutet. M kann sich vorliegend nicht exkulpieren, sodass er die Pflichtverletzung zu vertreten hat. d) Kausaler Schaden

Die durch die Pflichtverletzung verursachte Substanzverlet-zung an Toilette und Waschbecken stellen für V eine unfrei-willige Vermögenseinbuße und damit einen kausalen Scha-den dar. e) Zwischenergebnis

Ein Anspruch der V gegen M auf Schadensersatz aus §§ 280 Abs. 1, 249 Abs. 2 BGB i.H.v. 300 € ist entstanden.

Hinweis: Bei entsprechender Argumentation ist hinsicht-lich Beschädigungen an Toilette und Waschbecken auch eine andere Auffassung vertretbar.

2. Anspruch der V gegen M auf Zahlung von 2.400 € aus §§ 280 Abs. 1, 3, 281 Abs. 1 BGB

V könnte ferner einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von 2.400 € gegen M aus den §§ 280 Abs. 1, 3, 281 Abs. 1 BGB haben. a) Schuldverhältnis

Ein Schuldverhältnis liegt in Form eines Mietvertrages vor (siehe oben). b) Pflichtverletzung

M müsste aber auch eine Pflicht aus diesem Schuldverhältnis verletzt haben, indem er eine fällige und durchsetzbare Leis-tung nicht erbracht hat. Dies wäre der Fall, wenn M, obwohl zur Vornahme der Instandsetzungsmaßnahmen verpflichtet, diese nicht vorgenommen hat.

Nach § 535 Abs. 1 S. 2 BGB trifft die Pflicht zur Instand-haltung des Mietobjektes grundsätzlich den Vermieter, hier also V. Dies gilt jedoch nicht in Bezug auf Mängel, welche der Mieter zu vertreten hat (arg. e § 538 BGB).9 Aufgrund des Umstandes, dass Mieter M die Substanzschäden an Waschbecken und Toilette zu vertreten hat (siehe oben), V als Vermieter daher nicht zur Instandsetzung verpflichtet ist und die dem M unter Umständen übertragene Instandset-zungspflicht nicht weiter gehen kann als die des Vermieters

9 Häublein, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 535 Rn. 106.

selbst10 sowie der Tatsache, dass der Austausch der Armatu-ren im Übrigen auch keine Schönheitsreparaturen darstellen würde,11 kommt eine Pflichtverletzung seitens des M bezüg-lich des unterlassenen Austausches der betroffenen Installati-onen im Bad – unabhängig von der Frage, ob die Instandhal-tungspflicht in Bezug auf die Schönheitsreparaturen wirksam auf M übertragen wurde – nicht in Betracht.

Die Übrigen von V vorgenommenen Arbeiten könnten sich jedoch aufgrund der §§ 18 und 28 des Mietvertrages als solche aus dem Pflichtenkreis des M darstellen, sodass dieser sie hätte vornehmen müssen. Nach den Vereinbarungen soll M die Schönheitsreparaturlast tragen, d.h. hier hätte ihn die Pflicht zur Vornahme der von V durchgeführten Maßnahmen getroffen, soweit es sich um Schönheitsreparaturen handelt.12 Fraglich ist aber, ob die Abwälzung der Pflicht auf ihn wirk-sam erfolgte.

Der wirksamen Übertragung der Pflicht zur Vornahme der Schönheitsreparaturen könnten die §§ 307 ff. BGB entge-genstehen. aa) AGB im Sinne des § 305 Abs. 1 BGB

Dafür müsste es sich bei den in Frage stehenden Klauseln um AGB im Sinne des § 305 Abs. 1 BGB handeln. Dies ist der Fall, wenn es sich um eine für eine Vielzahl an Verträgen vorformulierte Vertragsbedingung handelt, die von einer Partei (Verwender) der anderen bei Vertragsschluss gestellt wird.

§ 18 befindet sich in einem im Internet frei verfügbaren und damit der Allgemeinheit zur Verfügung gestellten Miet-vertrag. Mithin handelt es sich um eine Vertragsbedingung, die – aufgrund von mindestens dreimaliger Verwendungsab-sicht des Erstellers13 durch das Zur-Verfügung-Stellen im Internet – für eine Vielzahl von Verträgen vorformuliert wurde. Der Umstand, dass V die Klausel nicht selbst formu-

10 BGH NJW 2004, 2586; Häublein (Fn. 9), § 535 Rn. 118; ders., ZMR 2000, 139 (141); Sternel, NZM 2007, 545. 11 In Anlehnung an die zwar nur für preisgebundenen Wohn-raum geltende, in § 28 Abs. 4 S. 4 II. BV enthaltene Definiti-on von Schönheitsreparaturen versteht die h.M. unter diesen das „Tapezieren, Anstreichen oder Kalken der Wände und Decken, das Streichen der Fußböden, Heizkörper einschließ-lich Heizrohre, der Innentüren sowie der Fenster und Außen-türen von innen“, Langenberg (Fn. 3), § 538 BGB Rn. 71. 12 Ob der hier erforderliche Austausch des Teppichs unter den Begriff der Schönheitsreparaturen fällt, ist nicht abschließend geklärt – kann hier aber auch, wie im Folgenden zu sehen sein wird, dahinstehen. Nach wohl überwiegender Ansicht zählt der Austausch eines nicht mehr zu reinigenden Tep-pichs nicht zu den Schönheitsreparaturen, vgl. Blank (Fn. 6), § 535 BGB Rn. 437 unter Verweis auf OLG Braunschweig OLGR 1997, 85; OLG Celle NZM 1998, 158; OLG Stuttgart NJW-RR 1995, 1101; OLG Hamm NJW-RR 1991, 844; LG Regensburg ZMR 2003, 933; LG Kiel WuM 1993, 175; AG Dortmund NJWE-MietR 1996, 76; a.A. OLG Düsseldorf NJW-RR 1989, 663. 13 BGH NJW 2002, 138; Schulte-Nölke, in: Schulze u.a., Handkommentar zum BGB, 9. Aufl. 2016 § 305 Rn. 4.

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liert hat ist ohne Belang: Klauseln sind gerade immer dann für eine Vielzahl an Verträgen vorformuliert, wenn diese von einem Dritten formuliert und der Allgemeinheit zur Verfü-gung gestellt werden.14 Durch die Verwendung des Mietver-trages aus dem Internet hat V dem M die in dem Vertrag enthaltene Klausel – mangels zur Dispositionstellung15 – auch als Verwender bei Abschluss des Vertrages gestellt.

Problematisch erscheint jedoch, ob es sich auch bei den in § 28 des Mietvertrages handschriftlich ergänzten Regelungen um eine AGB handelt. Zweifel ergeben sich in Anbetracht der handschriftlichen Ergänzung bezüglich des Erfordernisses der Vorformuliertheit für eine Vielzahl von Verträgen sowie des Merkmals der einseitigen Stellung durch den Verwender.

Vorformuliert ist eine Klausel dann, wenn sie zeitlich vor dem Vertragsabschluss fertig formuliert vorliegt und bei-spielsweise in künftige Verträge einbezogen werden soll.16 Gegen die Bejahung des Merkmals der Vorformuliertheit könnte hier sprechen, dass die Klausel handschriftlich von T im Namen der V bei Abschluss des Vertrages in das ansons-ten maschinell erstellte Dokument eingetragen wurde. Jedoch setzt das Merkmal nicht zwingend voraus, dass die in Frage stehende Klausel schriftlich vorformuliert wurde. Ebenso ist es möglich, dass eine Klausel „im Kopf“ des Verwenders vorformuliert wurde und später dann beim Abschluss des Vertrages gestellt wird.17 Hier haben sich T und/oder V die Klausel ausgedacht, nachdem sie zuvor schlechte Erfahrun-gen mit Mietern hinsichtlich des Teppichs gemacht haben. Somit handelt es sich bei den handschriftlichen Ergänzungen – auch wenn sie erst bei Abschluss des Vertrages zu Papier gebracht wurden – um eine vorformulierte Klausel.

Sie müsste jedoch auch für eine Vielzahl an Verträgen be-stimmt sein. Schon aus dem Wortlaut ergibt sich, dass es nicht auf die tatsächliche Anzahl an Verwendungen in Ver-trägen ankommen kann. Entscheidend ist die Absicht im Zeitpunkt der Formulierung. Dabei kann eine formelhaft verwendete Klausel den Anschein der Mehrverwendungsab-sicht erwecken, mit der Folge, dass dieser bis zum Beweis des Gegenteils gilt.18 Hier wurde die aufgrund des fehlenden Bezugs zum konkreten Vertragspartner o.ä. – allgemein for-mulierte und somit formelhaft verwendete Klausel in § 28 des Mietvertrages von T aufgenommen, um künftig die Probleme aus der Vergangenheit mit Mietern zu vermeiden. Es kann daher vermutet werden, dass die Klausel für eine Vielzahl von Verträgen vorformuliert ist. T und V hatten im Übrigen die Absicht, die Klausel in einer unbestimmten Anzahl von Mietverträgen künftig zu verwenden, sodass auch aufgrund

14 Basedow, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2016, § 305 Rn. 14, 19. 15 Stadler, in: Jauernig, Kommentar zum BGB, 16. Aufl. 2015, § 305 Rn. 6; ausführlich zum Begriff des „Stellens“ von AGB Schmidt, NZM 2016, 377. 16 Basedow (Fn. 14), § 305 Rn. 13. 17 Basedow (Fn. 14), § 305 Rn. 13; Martinek, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, Neubearbeitung 2013, § 305 Rn. 22; Becker, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, Ed. 40, Stand: 1.5.2016, § 305 Rn. 16. 18 Basedow (Fn. 14), § 305 Rn. 18.

der wohl mehr als dreimaligen Verwendungsabsicht davon ausgegangen werden darf, dass die Klausel für eine Vielzahl von Verträgen vorformuliert wurde.19

Die Klausel wäre von V als Verwender der Klausel ge-stellt, wenn diese ihr zuzurechnen wäre. Das ist der Fall, wenn die betroffene Klausel vom Verwender selbst, einem Vertreter, Berater oder sonstigen Abschlussgehilfen dem Vertragspartner einseitig auferlegt wird.20 Hier hat T als Ver-treterin (siehe oben) der V die Klausel in den Vertrag einge-führt ohne sie zur Disposition zu stellen. Folglich wurde die Klausel – mangels aushandeln – auch von V bei Abschluss des Vertrages einseitig gestellt.

Somit handelt es sich auch bei § 28 des Mietvertrages um eine AGB im Sinne des § 305 Abs. 1 BGB.

Hinweis: Es ist auch vertretbar § 28 des Mietvertrages als Individualvereinbarung zu qualifizieren. In diesem Fall wäre im Anschluss an die AGB-rechtliche Wirksamkeits-kontrolle des Mietvertrages zu prüfen, ob die §§ 18 und 28 ein einheitliches Rechtsgeschäft im Sinne des § 139 BGB darstellen, welches bei Nichtigkeit eines Teils (ggf. §18, siehe unten) im Zweifel insgesamt nichtig ist.

bb) Wirksame Einbeziehung

M wurde auf die AGB hingewiesen, hatte die Möglichkeit der Kenntnisnahme und war mit ihnen einverstanden, sodass die Voraussetzungen einer wirksamen Einbeziehung nach § 305 Abs. 2 BGB vorliegen. Auch handelt es sich nicht – weder aufgrund ihres Inhalts noch aufgrund ihrer Stellung im Vertragsgefüge21 – um eine überraschende Klausel im Sinne des § 305c BGB, sodass die Klauseln wirksam in den Vertrag einbezogen wurden. cc) Vorrangige Individualabrede, § 305b BGB

Eine nach § 305b BGB vorrangige Individualabrede besteht nicht. dd) Eröffnung der Inhaltskontrolle, § 307 Abs. 3 BGB

Damit die Inhaltskontrolle vollumfänglich nach den §§ 307 ff. BGB (und nicht nur nach § 307 Abs. 1 BGB) er-öffnet ist, müsste durch die Klauseln gem. § 307 Abs. 3 S. 1 BGB von geltenden Rechtsvorschriften abgewichen oder diese ergänzt werden.

Die Klauseln schaffen insofern eine von den geltenden Rechtsvorschriften abweichende Regelung, als dass sie dem Mieter die Pflicht zur Vornahme der Schönheitsreparaturen auferlegen, obgleich von Gesetzeswegen der Vermieter gem. § 535 Abs. 1 S. 2 BGB zu deren Vornahme verpflichtet wäre und der Mieter nach § 538 BGB die durch den vertragsgemä-ßen Gebrauch eingetretenen Verschlechterungen gerade nicht zu vertreten hat. Damit ist die Inhaltskontrolle vollumfäng-lich eröffnet.

19 AG Dortmund, NJW-RR 2014, 1482 (1484). 20 Basedow (Fn. 14), § 305 Rn. 21. 21 Stadler (Fn. 15), § 305c Rn. 2.

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ee) Verstoß gegen §§ 309, 308 BGB

Ein Verstoß gegen die §§ 309 und 308 BGB ist nicht ersicht-lich. ff) Verstoß gegen § 307 BGB

Die Klauseln könnten jedoch wegen eines Verstoßes gegen § 307 Abs. 1 BGB unwirksam sein. Dafür müssten die Klau-seln zu einer unangemessenen Benachteiligung des Vertrags-partners des Verwenders führen. Eine unangemessene Be-nachteiligung liegt dann vor, wenn der Verwender durch einseitige Vertragsgestaltung auf Kosten des Vertragspartners seine Interessen durchzusetzen sucht.22 (1) § 28 des Mietvertrages

§ 28 des Mietvertrages verpflichtet den Mieter zur Durchfüh-rung von Schönheitsreparaturen bzw. Renovierungsarbeiten unabhängig vom Grad der Abnutzung. Der Mieter könnte daher – bei kundenfeindlichster Auslegung – dazu verpflich-tet sein, die Wohnung bei Auszug zu renovieren, obwohl überhaupt kein Bedarf danach besteht. Eine solche sog. End-renovierungsklausel legt dem Mieter die Pflicht auf, kostspie-lige Maßnahmen zu ergreifen, ohne dass diese erforderlich wären.23 Indem die Klausel den Mieter unabhängig vom Bedarfsfall zur Vornahme der Reinigung oder Erneuerung des Teppichs verpflichtet, obwohl die Wohnung nur sehr kurz genutzt worden sein kann oder der Mieter sich nur zeitweise in dieser aufgehalten haben kann, sodass der Zustand des Teppichs seit Mietbeginn nicht verändert hat, wird der Mieter unangemessen benachteiligt, sodass die Klausel nach § 307 Abs. 1 BGB unwirksam ist.24 (2) § 18 Nr. 1 und 2 des Mietvertrages

Die Erbringung der Schönheitsreparaturen wird als Teil der geschuldeten Miete verstanden, für welche der Mieter als Gegenleistung die Überlassung des Wohnraums bekommt.25 Die in § 18 Nr. 1 und 2 des Mietvertrages enthaltene Rege-lung, wonach den Mieter die Pflicht zur Vornahme der Schönheitsreparaturen trifft, begegnet für sich genommen insofern keinen Bedenken. Sie enthält weder starre Fristen-pläne noch ergibt sich ihre Unwirksamkeit in anderer Weise aus der Formulierung.

Bei der Prüfung der Vereinbarkeit einer Klausel mit § 307 BGB ist jedoch der gesamte Vertragsinhalt zu würdigen und bei der Wirksamkeitsprüfung einer formularvertraglichen Klausel einzubeziehen. Eine unangemessene Benachteiligung

22 St. Rspr., vgl. BGH NJW 2001, 2331; BGH NJW 2000, 1110 (1112); BGH NJW 1997, 3022, vgl. Schmidt, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, Ed. 40, Stand: 1.8.2016, § 307 Rn. 27. 23 Blank (Fn. 6), § 535 BGB Rn. 489. 24 Blank (Fn. 6), § 535 BGB Rn. 489; AG Dortmund NJW-RR 2014, 1482 (1483). 25 Sog. „Entgelttheorie“ des BGH, BGH NJW 2009, 2590; BGH NJW 1985, 480; BGH NJW 1965, 151; vgl. auch Klotz-Hörlin, in: Beck’scher Online-Kommentar zum Mietrecht, Ed. 5, Stand: 15.8.2016, § 548 BGB Rn. 22.

im Sinne des § 307 BGB könnte sich daher aus der kumulati-ven Verwendung mehrerer Klauseln ergeben (sog. Summie-rungseffekt). Ein solcher liegt vor, wenn für sich, d.h. einzeln betrachtet u.U. unbedenkliche, aber inhaltlich zusammen gehörende Klauseln, in ihrer Gesamtwirkung eine unange-messene Benachteiligung des Vertragspartners des Verwen-ders ergeben.26 Dabei ist es aufgrund der erforderlichen Ge-samtbetrachtung des Vertrages (siehe oben) ausreichend, wenn nur eine der in Frage stehenden Klauseln eine AGB ist und die übrigen Klauseln – wie es hinsichtlich § 28 des Miet-vertrages auch vertretbar ist – individualvertraglich verein-bart wurden.27 Vorliegend handelt es sich bei den in Frage stehenden Paragraphen 18 und 28 um eine einheitliche Rege-lung über die Abwälzung der Schönheitsreparaturen, mittels derer die Vermieterin versucht die Wohnung in genau dem Zustand zurück zu erhalten, in dem sie die Wohnung überlas-sen hatte. Sie stehen also inhaltlich im Zusammenhang. Da-bei handelt es sich auch zumindest hinsichtlich eines Para-graphen (§ 18 des Mietvertrages) um AGB. Indem die Ver-mieterin versucht, die Wohnung mittels der mehrerer Klau-seln in einem Zustand zurück zu erhalten, die dem anfängli-chen Zustand entspricht, obwohl ein solches im Mietrecht nach § 538 BGB nicht vorgesehen ist und dies einem wesent-lichen Grundgedanken einer gesetzlichen Regelung wider-spricht, benachteiligt sie die Vertragspartnerin in ungemesse-ner Weise. Mithin ergibt sich die Unwirksamkeit von § 18 des Mietvertrages gem. § 307 Abs. 1, 2 Nr. 1 BGB zumindest aus der Summierung der den Mieter treffenden Verpflichtun-gen.28

Eine unangemessene Benachteiligung könnte sich ferner – unabhängig von der Frage, ob tatsächlich Renovierungsbe-dürftigkeit besteht – daraus ergeben, dass der Mieter – bei der im AGB-Recht anzuwendenden kundenfeindlichsten Ausle-gung – dazu verpflichtet sein könnte, die Wohnung zu reno-vieren, obwohl er sie in unrenoviertem Zustand übergeben bekommen hat. Der Mieter wäre dann nämlich verpflichtet, nicht nur seine im Laufe des Mietverhältnisses entstandenen Abnutzungen zu beseitigen, sondern auch die durch Vormie-ter verursachten, ohne dass er dafür eine Gegenleistung er-hält.29 Jedenfalls aber liegt eine unangemessene Benachteili-gung in den Fällen vor, in denen der Mieter die Wohnung tatsächlich in renovierungsbedürftigem Zustand übergeben bekommen hat, ohne einen finanziellen Ausgleich für die zu Beginn notwendige Renovierung zu erhalten. In diesen Fällen ist der Mieter aufgrund der Renovierungspflicht tatsächlich verpflichtet, Abnutzungen zu beseitigen, die er nicht verur-sacht hat, sondern der Vormieter, ohne dass er dafür eine Gegenleistung erhält.30 Die Regelung widerspricht somit einem wesentlichen Grundgedanken des Mietrechts, wonach

26 Langenberg (Fn. 3), § 538 BGB Rn. 177; AG Dortmund NJW-RR 2014, 1482 (1484) unter Verweis auf BGH NJW 1993, 532; BGH NJW 2003, 2234; BGH NJW 2006, 2116. 27 Langenberg (Fn. 3), § 538 BGB Rn. 180; AG Dortmund NJW-RR 2014, 1482 (1484); BGH NJW 2006, 2116. 28 AG Dortmund NJW-RR 2014, 1482 (1485). 29 AG Dortmund NJW-RR 2014, 1482 (1483). 30 BGH NJW 2015, 1594 (1597).

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gem. § 535 Abs. 1 S. 2 BGB grundsätzlich den Vermieter die Schönheitsreparaturlast trifft, und benachteiligt den Mieter, der nunmehr auch Abnutzungen des Vormieters zu beseitigen hätte, in unangemessener Weise, § 307 Abs. 1, 2 Nr. 1 BGB. (3) § 18 Nr. 3 des Mietvertrages

§ 18 Nr. 3 des Mietvertrages verpflichtet den Mieter zur Durchführung von Schönheitsreparaturen bzw. Renovie-rungsarbeiten unabhängig vom Grad der Abnutzung und verpflichtet den Mieter nach der kundenfeindlichsten Ausle-gung dazu, die Wohnung bei Auszug zu renovieren, obwohl überhaupt kein Bedarf danach besteht. Indem eine solche Endrenovierungsklausel dem Vertragspartner des Verwen-ders, sprich dem Mieter, die Pflicht auferlegt, kostspielige Maßnahmen zu ergreifen, ohne dass diese erforderlich wären, benachteiligt sie den Mieter unangemessen, § 307 Abs. 1 BGB.31

Im Übrigen ergibt sich eine unangemessene Benachteili-gung aus der kumulativen, formularmäßigen Verwendung einer Renovierungsklausel (§ 18 Nr. 2) und der hier begut-achteten, formularmäßigen Endrenovierungsklausel (§ 18 Nr. 3).32 (4) Zwischenergebnis

Die Klauseln der §§ 18 Nr. 1-3 und 28 des Mietvertrages sind nach § 307 Abs. 1 BGB und § 307 Abs. 1, 2 Nr. 1 BGB un-wirksam. gg) Rechtsfolge, § 306 BGB

Anstelle ihrer gelten die gesetzlichen Regelungen, § 306 Abs. 2 BGB. Demnach kam V als Vermieter die Pflicht zur Instandhaltung der Wohnung zu, vgl. § 535 Abs. 1 S. 2 BGB. Eine Pflichtverletzung des M liegt daher nicht vor.

Hinweis: Versteht man § 28 des Mietvertrages als Indivi-dualvereinbarung, welche der AGB-Prüfung auch bei ei-nem solchen Zusammentreffen nicht unterliegt,33 wäre an dieser Stelle nunmehr noch zu prüfen, ob die §§ 18 und 28 dergestalt voneinander abhängig sind, dass die Un-wirksamkeit der formularvertraglichen Regelungen zwangsläufig auch die Unwirksamkeit der formularver-traglichen Regelungen zur Folge hat oder ob die Rege-lungen zumindest ein einheitliches Rechtsgeschäft im Sinne des § 139 BGB darstellen, welches bei Nichtigkeit des einen Teils (§18, siehe oben) nach § 139 BGB im Zweifel insgesamt nichtig ist. Ersteres ist aufgrund des Fehlens einer erkennbaren Abhängigkeit der beiden Rege-lungen voneinander wohl nicht der Fall. Die formularver-tragliche und die individualvertragliche Regelung wurden

31 AG Dortmund NJW-RR 2014, 1482 (1483); BGH NJW 2007, 3776; Blank (Fn. 6), § 535 BGB Rn. 489. 32 Blank (Fn. 6), § 535 BGB Rn. 492 unter Verweis auf BGH NJW 2003, 2234; BGH NJW 2003, 3192 = NZM 2003, 755 = WuM 2003, 561; BGH NJW 2004, 2087. 33 BGH NJW 2009, 1075 = NZM 2009, 233 = WuM 2009, 173.

jedoch beide gleichzeitig bei Vertragsschluss vereinbart und haben denselben Regelungsgegenstand (Wiedererhalt der Wohnung am Ende der Mietzeit in dem gleichen Zu-stand wie bei Überlassung der Wohnung zu Beginn des Mietverhältnisses), sodass sie ein einheitliches Rechtsge-schäft darstellen.34 Wäre § 28 des Mietvertrages nicht nach § 139 BGB ebenfalls unwirksam, würde dies zu der paradoxen Situation führen, dass im laufenden Mietver-hältnis der Vermieter verpflichtet ist, die Schönheitsrepa-raturen einschließlich evtl. eines Austauschs des Teppichs vorzunehmen, während der Mieter am Ende des Mietver-hältnisses renovieren muss. Dies entspricht jedoch nicht dem Willen der Parteien, insbesondere nicht dem des Vermieters, der mit der Renovierung überhaupt nichts zu tun haben wollte.35 Mithin ist § 28 des Mietvertrages – so-fern man diesen als Individualvereinbarung versteht – nach § 139 BGB ebenfalls unwirksam.

c) Zwischenergebnis

V hat keinen Anspruch auf Zahlung von 2.400 € aus §§ 280 Abs. 1, 3, 281 Abs. 1 BGB. 3. Anspruch der V gegen M auf Zahlung von 300 € aus § 823 Abs. 1 BGB

Ein Anspruch der V gegen M auf Zahlung von 300€ wegen Beschädigung des Waschbeckens und der Toilette aus § 823 Abs. 1 BGB scheitert am fehlenden Verschulden des M, welches – anders als beim Vertretenmüssen im Rahmen des § 280 Abs. 1 – nicht vermutet wird. 4. Zwischenergebnis

V hat gegen M lediglich einen Anspruch auf Schadensersatz i.H.v. 300 € aus den §§ 280 Abs. 1, 249 Abs. 2 BGB. II. Anspruch nicht erloschen Der Anspruch des V könnte jedoch durch Aufrechnung sei-tens des M mit einem ihm zustehenden Kautions-Rück-zahlungsanspruch nach § 389 BGB erloschen sein. 1. Aufrechnungslage

a) Gegenseitige Forderungen

V hat gegen M einen Anspruch auf Zahlung von Schadenser-satz i.H.v. 300 € aus §§ 280 Abs. 1, 249 Abs. 2 BGB, M laut Sachverhalt einen Anspruch auf Rückzahlung von Kaution i.H.v. 500 €.36 Mithin bestehen gegenseitige Forderungen.

34 Dazu tendierend wohl auch BGH NJW 2006, 2116 (2117) = NZM 2006, 623 (624); BGH NJW 2009, 1075. Entschei-dend ist danach der Umstand, dass die formular- und die individualvertragliche Regelung zeitgleich vereinbart werden. So auch Blank (Fn. 6), § 535 BGB Rn. 493. 35 So in einem gleich gelagerten Fall auch das AG Hannover NZM 2010, 278 = WuM 2010, 146. 36 Der Anspruch auf Rückzahlung der Kaution kann sich aus dem Mietvertrag ergeben. Fehlt eine diesbezügliche Rege-lung, ergibt er sich aus der ergänzenden Auslegung der Kau-

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Fortgeschrittenenklausur: Und am Ende nichts als Ärger ZIVILRECHT

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b) Gleichartigkeit der Forderungen

Beide Forderungen sind als Zahlungsansprüche auf Geld gerichtet und damit gleichartig.37 c) Durchsetzbarkeit der Gegenforderung

Die Forderung des die Aufrechnung erklärenden M ist fällig und durchsetzbar. d) Erfüllbarkeit der Hauptforderung

Die Hauptforderung der V ist auch erfüllbar. e) Zwischenergebnis

Eine Aufrechnungslage liegt damit vor. 2. Aufrechnungserklärung, § 388 BGB

M hat die Aufrechnung gem. § 388 BGB gegenüber V er-klärt. 3. Kein Ausschluss

Die Aufrechnung ist vorliegend auch nicht ausgeschlossen. 4. Zwischenergebnis

Der Anspruch der V ist damit erloschen. III. Ergebnis Somit hat V hat keinen Anspruch auf Zahlung von 2.400 € gegen M.

tionsabrede, vgl. Kaiser/Kaiser/Kaiser, Materielles Zivilrecht im Assessorexamen, 7. Aufl. 2014, S. 140; fehlt es gänzlich an einer Regelung zur Kaution im Mietvertrag, wurde eine solche aber gleichwohl geleistet, ergibt sich der Rückzah-lungsanspruch auf gleiche Weise aus der Sicherungsabrede, vgl. BGHZ 141, 160 (161); daneben steht der gesetzliche Anspruch aus § 812 Abs. 1 S. 2 BGB, vgl. Schwab, in: Mün-chener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2013, § 812 Rn. 352. 37 Schlüter, in: Münchener Kommentar zu BGB, 7. Aufl. 2016, § 387 Rn. 30.

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Klausur: Flüchtlinge in den Leerstand! Von Prof. Dr. Kristin Pfeffer , Dr. Volker Steffahn, Hamburg* Schwerpunkte der Klausur sind der Einstweilige Rechts-schutz, Maßnahmen bei drohender Obdachlosigkeit von Flüchtlingen, das Verhältnis von Sicherstellung und polizei-rechtlicher Generalklausel und die Haftung von „Nichtstö-rern“. Sachverhalt A ist Eigentümer eines Grundstücks in der Freien und Hanse-stadt Hamburg (FHH). Das Grundstück ist mit einem Gebäu-de bebaut, das bis vor wenigen Jahren als Kinderheim genutzt wurde und seither leer steht. A hat das Grundstück im Jahre 2014 erworben, um das Gebäude abzureißen und Wohnungen im Luxussegment zu errichten. Der Voreigentümer hatte einen Teil der Installationen, die Einbauten und die Zähleran-lagen für Gas und Wasser und Strom entfernt. Nachdem im Mai 2015 der Besitz auf A übertragen worden war, stimmte A mit der FHH das zukünftige Baukonzept für die Wohnbe-bauung ab.

Mit Bescheid vom 3.8.2015 beschlagnahmt die Behörde für Inneres der FHH das Grundstück des A zur Vermeidung drohender Obdachlosigkeit der ihr zur Unterbringung zuge-wiesenen Flüchtlinge. Zugleich verfügt sie die Einweisung von 50 Flüchtlingen und befristet beide Maßnahmen auf sechs Monate nach Bekanntgabe des Beschlusses. Vorherige Verhandlungen mit A über eine Nutzungsvereinbarung über das Grundstück zum Zwecke der Flüchtlingsunterbringung waren gescheitert.

Die Behörde führte zur Begründung des Bescheides an: Zwar würden derzeit die Kapazitäten in Hamburg noch aus-reichen, um Flüchtlinge unterzubringen. Das Objekt werde aber vorsorglich beschlagnahmt, um bis Ende des Jahres zugewiesene Flüchtlingen auch noch unterbringen zu können. Weitere Sporthallen könnten zwar ebenfalls noch herangezo-gen werden, doch sei diese „Unterbringungspolitik“ den be-troffenen Schülern und Sportlern nicht länger zuzumuten.

Zugleich enthält der Bescheid die Festsetzung einer Ent-schädigung in Höhe von 4 EUR/m² monatlich. Die sofortige Vollziehung der Beschlagnahme und Einweisung wird ange-ordnet.

Hiergegen erhebt A Widerspruch und zugleich einen An-trag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Darin bringt A vor, dass Gebäude wäre in seinem derzeitigen Zustand nur mit erheblichem finanziellem Aufwand für mehrmonatige Baumaßnahmen bewohnbar zu machen und müsste nach Auszug der Flüchtlinge für die von ihm geplante Art von Wohnungen wieder weitgehend umgebaut werden. Das be-hördliche Handeln sei auch schon deshalb rechtswidrig, da weder die Beschlagnahmeregelung einschlägig sei noch die

* Die Autorin Prof. Dr. Kristin Pfeffer ist Professorin für Öffentliches Recht an der Hochschule der Akademie der Polizei Hamburg. Der Autor Dr. Volker Steffahn ist Studien-leiter für Öffentliches Recht und fächerübergreifendes Me-thodentraining am Zentrum für juristisches Lernen der Buce-rius Law School in Hamburg.

ordnungsrechtliche Generalklausel für einen solchen Eingriff eine rechtsstaatlich hinreichende Rechtsgrundlage bilde. Aufgabe Hat der Antrag des A auf einstweiligen Rechtsschutz gegen den Bescheid Aussicht auf Erfolg? Bearbeitungshinweise 1. Es ist zu allen aufgeworfenen Rechtsfragen – notfalls hilfsweise – Stellung zu nehmen. Auf die Rechtmäßigkeit der Entschädigungsverfügung ist nicht einzugehen.

2. Es ist davon auszugehen, dass Unterbringungsmöglich-keiten in Objekten des Beherbergungsgewerbes nicht in nen-nenswertem Umfang zur Verfügung stehen und Zelte den Anforderungen an eine menschenwürdige Unterkunft im Winterhalbjahr nicht entsprechen.

3. In der FHH existiert im Zeitpunkt des Erlasses des Be-scheides keine spezielle Ermächtigungsgrundlage für Be-schlagnahme- bzw. Einweisungsverfügungen zum Schutz von Flüchtlingen vor Obdachlosigkeit. Abwandlung Die FHH hat mit Geltung ab 1.11.2015 den nachfolgenden Paragraphen § 14a SOG in das Sicherheits- und Ordnungsge-setz eingefügt. Ändert sich die Rechtslage, wenn der Be-scheid erst nach diesem Zeitpunkt erlassen wurde? Bearbeitungshinweis Von der Vereinbarkeit des § 14a SOG mit dem Grundgesetz ist auszugehen. Auszug § 14a SOG

„(1) Die zuständige Behörde kann zum Zwecke der Unter-bringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden zur Ab-wehr von bevorstehenden Gefahren für Leib und Leben Grundstücke und Gebäude sowie Teile davon sicherstellen. Die Sicherstellung ist nur zulässig, wenn 1. das Grundstück, Gebäude oder ein Teil davon ungenutzt ist; der Nichtnutzung steht eine Nutzung gleich, die aus-schließlich oder weit überwiegend den Zweck verfolgt, eine Sicherstellung nach Satz 1 zu vereiteln und 2. die in den vorhandenen Erstaufnahme- oder Folgeeinrich-tungen zur Verfügung stehenden Plätze zur angemessenen Unterbringung der Flüchtlinge oder Asylbegehrenden nicht ausreichen. Die Beauftragten der zuständigen Behörde sind berechtigt, Grundstücke sowie Gebäude oder Teile davon zur Prüfung der Frage, ob die Voraussetzungen für eine Sicherstellung nach diesem Absatz vorliegen, zu betreten. Die Betretung ist vorher anzukündigen und darf nicht während der Nachtzeit (§ 104 Absatz 3 der Strafprozessordnung) erfolgen. Die Sicher-stellung darf nur solange und soweit erfolgen, wie dies zum in Satz 1 genannten Zwecke erforderlich ist. […]

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(4) Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Sicherstel-lung nach Absatz 1 haben keine aufschiebende Wirkung.“ Lösungsvorschlag

Teil 1: Ausgangsfall Für die Beurteilung der Erfolgsaussichten ist zu prüfen, ob ein Antrag des A vor dem Verwaltungsgericht zulässig und begründet wäre. A. Zulässigkeit

I. Verwaltungsrechtsweg (§ 40 VwGO) Voraussetzung für die Gewährung verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutzes ist, dass der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist, also zunächst eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit im Sinne des § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO vorliegt. Streitentschei-dende Normen sind Ermächtigungsgrundlagen nach dem Hamburger SOG; in Betracht kommt jedenfalls die polizeili-che Generalklausel gem. § 3 Abs. 1 SOG.1 Diese Normen berechtigen und verpflichten die FHH gerade in ihrer Eigen-schaft als Trägerin von Hoheitsgewalt und sind damit öffent-lich-rechtlich. Die Streitigkeit ist auch nichtverfassungsrecht-licher Art; eine Sonderzuweisung ist nicht ersichtlich. Der Verwaltungsrechtsweg ist somit eröffnet. II. Beteiligten- und Prozessfähigkeit (§§ 61, 62 VwGO) A und die FHH sind nach § 61 Nr. 1 VwGO beteiligtenfähig. A ist nach § 62 Nr. 1 VwGO prozessfähig, die FHH wird nach § 62 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 4 Abs. 2 Nr. 8, 6 Abs. 1 HmbVerwBehG durch die Behörde für Inneres vertreten.2 III. Statthaftigkeit des Antrags In Betracht kommt ein Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 Var. 2 VwGO auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen die Beschlagnahme und Einwei-sung. Dieser ist – in Abgrenzung zum Antrag auf eine einst-weilige Anordnung, vgl. § 123 Abs. 5 VwGO – nur statthaft, wenn die Klage in der Hauptsache eine Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) wäre, sich der Antragsteller also gegen die Vollziehung belastender Verwaltungsakte wendet.

A wendet sich hier gegen den Vollzug der Beschlagnah-me und Einweisung, welche behördliche Einzelfall-Regelungen mit Außenwirkung im Sinne des LVwVfG dar-stellen. In der Hauptsache wäre folglich eine Anfechtungs-klage statthaft.

1 Für die anderen Bundesländer vgl. § 3 PolG BW; Art. 1 Abs. 1 BayPAG; § 17 ASOG Berl; § 10 Abs. 1 BrandPolG, § 13 Abs. 1 BrandOBG; § 10 Abs. 1 BremPolG; § 11 HessSOG; § 13 SOG MV; § 11 NdsSOG; § 8 PolG NRW, § 14 OBG NRW; § 9 Abs. 1 POG RhPfl; §§ 174, 176 LVwG SH; § 8 Abs. 1 PolG Saar; § 3 Abs. 1 SächsPolG, § 13 SOG SachsAnh; § 12 Abs. 1 ThürPAG, § 5 Abs. 1 ThürOBG. 2 Der Prüfungspunkt ist auch verzichtbar, da es um allgemei-ne Sachentscheidungsvoraussetzungen geht, die hier (wie meist) völlig unproblematisch sind.

Hinweis: Der Bescheid enthält eine Beschlagnahme-verfügung, eine Einweisungsverfügung und eine Entschä-digungsverfügung. Bei den Bescheiden handelt es sich jeweils um eigenstän-dige Verwaltungsakte im Sinne von § 35 LVwVfG, die in einem Bescheid zusammengefasst wurden. Die Fallfrage, die auf die Rechtmäßigkeit des Bescheids gerichtet ist, zielt somit auf die Rechtmäßigkeit aller Verwaltungsakte ab. Nur die Entschädigungsverfügung ist laut Bearbeiter-vermerk von der Fallfrage nicht umfasst. Die Beschlagnahme- und Einweisungsverfügung hängen im Hinblick auf die materielle Rechtmäßigkeit eng zu-sammen. Die Beschlagnahme ist ersichtlich kein Selbst-zweck, sondern darauf gerichtet, die Einweisungsverfü-gung zu ermöglichen. Die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Beschlagnahmeverfügung kann inhaltlich nicht von der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Einweisungsverfü-gung getrennt werden.3 Die beiden Verwaltungsakte Be-schlagnahmeverfügung und Einweisungsverfügung kön-nen daher zusammengeprüft werden.

Nachdem die FHH in Ziffer 4 der Beschlagnahme- und Ein-weisungsverfügung gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehbarkeit angeordnet hatte, ist damit ein An-trag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 S. 1, Alt. 2 VwGO statthaft. IV. Antragsbefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO analog) Vorläufiger Rechtsschutz ist nur zu gewähren, wenn auch ein Hauptsacheverfahren zulässig wäre, so dass § 42 Abs. 2 VwGO auf das Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO analog anzuwenden ist. A müsste also durch die Beschlagnahme- und Einweisungsverfügung möglicherweise in seinen Rech-ten verletzt sein.

Indem die Verfügung die Verfügungs- und Nutzungsmög-lichkeiten seines Grundstückseigentums beeinträchtigt, kann A hier zumindest in seinem Recht aus Art. 14 GG verletzt sein. Daneben betreffen behördliche Betretungsrechte das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, Art. 13 GG. Er ist insoweit auch antragsbefugt. V. Richtiger Antragsgegner (§ 78 VwGO analog) Um ein Auseinanderfallen des Antragsgegners im Hauptsa-cheverfahren und im Verfahren des vorläufigen Rechtsschut-zes zu vermeiden, ist § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO analog anzu-wenden.4 Dementsprechend ist im vorliegenden Fall die FHH als Rechtsträgerin der Behörde für Inneres richtige Antrags-gegnerin.

3 Dazu auch Hebeler, JA 2016, 318. 4 Siehe Kintz, in: Posser/Wolff (Hrsg.) Beckʼscher Online-Kommentar VwGO, 38. Ed., Stand: 1.7.2016, § 78 Rn. 9.

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ÜBUNGSFÄLLE Kristin Pfeffer/Volker Steffahn

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VI. Rechtsschutzbedürfnis A hat gleichzeitig mit seinem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO Widerspruch gegen die Verfügungen eingelegt.5 Der Widerspruch ist hier auch nicht offensichtlich unzulässig.

Auch ein vorheriger Antrag bei der FHH auf Aussetzung der Vollziehung muss in den Fällen des § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO nicht gestellt werden (Umkehrschluss aus § 80 Abs. 6 S. 1 VwGO).6 B. Begründetheit Für die Frage, wann ein Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO begründet ist, gibt die Regelung direkt keinen Ent-scheidungsmaßstab vor. Gewisse Rückschlüsse lassen sich jedoch aus § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO und der dort gefor-derten Interessenabwägung sowie aus § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO ziehen7.

Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung hat Erfolg, wenn die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit formell rechtswidrig ist. Der Antrag hat fer-ner Erfolg, wenn sich der Verwaltungsakt bei summarischer Prüfung als rechtswidrig erweist oder die Rechtmäßigkeit offen ist, aber das Vollzugsinteresse der Allgemeinheit oder Dritter das Rechtsschutzinteresse des Antragsstellers nicht überwiegt. Schließlich hat in den Fällen des § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO der Antrag Aussicht auf Erfolg, wenn zwar keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwal-tungsakts bestehen, jedoch kein besonderes öffentliches Inte-resse an der sofortigen Vollziehung besteht, mithin ein Dring-lichkeitsinteresse fehlt. I. Formelle Rechtmäßigkeit der Anordnung der soforti-gen Vollziehung 1. Zuständigkeit

Zuständig für die Vollziehungsanordnung ist gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO die Behörde, die den Verwaltungs-akt erlassen hat oder die über den Widerspruch zu entschei-den hat. Hier hat die Behörde für Inneres den Verwaltungsakt erlassen; sie ist daher auch für den Erlass der Vollziehungs-anordnung zuständig. 2. Verfahren

Fraglich ist, ob bei Erlass einer Vollziehungsanordnung eine Anhörung nach § 28 Abs. 1 VwVfG erforderlich ist. Aller-dings stellt die Vollziehbarkeitsanordnung mangels eines der

5 Damit kann offen bleiben, ob dies überhaupt notwendig ist, vgl. einerseits etwa VGH Mannheim, Beschl. v. 18.10.1988 – 8 S 2797/88 = VBlBW 1989, 146; OVG Koblenz, Beschl. v. 2.5.1989 – 13 B 27/89 = DVBl. 1989, 892; v. Mutius, VerwArch 66 (1975), 405 (412); andererseits BVerfG, Beschl. v. 16.3.1993 – 2 BvR 202/93 = NJW 1993, 3190; Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, § 80 Rn. 137, 139. 6 Erichsen, Jura 1984, 478 (483); Schmidt, in: Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 80 Rn. 62; Huba, JuS 1990, 805 (807); Kopp/Schenke (Fn. 5), § 80 Rn. 138; Gersdorf, in: Posser/Wolff (Fn. 4), § 80 Rn. 163. 7 Gersdorf (Fn. 6.), § 80 Rn. 177 ff.

Bestandskraft fähigen Regelungsinhalts keinen Verwaltungs-akt dar.8 Eine Analogie zu § 28 VwVfG würde eine Regelun-glücke und vergleichbare Interessenlage voraussetzen. Gegen eine Regelungslücke spricht die ausführliche Verfahrensrege-lung in § 80 Abs. 3 VwGO Verfahren, die offenbar abschlie-ßend gedacht ist. Auch aus rechtsstaatlichen Gründen ist über die bereits erfolgte Anhörung vor Erlass der Verfügung hin-aus keine weitere Anhörung die Vollziehbarkeitsanordnung betreffend erforderlich.9 Damit besteht kein Bedürfnis für eine Analogie. 3. Form, insbesondere Begründungserfordernis nach § 80 Abs. 3 VwGO

Nach § 80 Abs. 3 VwGO bedarf die Anordnung der soforti-gen Vollziehbarkeit einer schriftlichen Begründung. An die Begründung sind keine übermäßig hohen Anforderungen zu stellen10. Sie darf sich andererseits auch nicht in der Wieder-holung der Begründung des Verwaltungsaktes oder in allge-meinen Floskeln erschöpfen. Vielmehr muss sie erkennen lassen, dass sich die Behörde einzelfallbezogen des besonde-ren Eingriffs bewusst war.11

Die Behörde für Inneres hatte auf den kurzfristigen Be-darf an Unterbringungsmöglichkeiten angesichts der bevor-stehenden kalten Jahreszeit und den vom A angekündigten Abriss des Gebäudekomplexes auf seinem Grundstück ver-wiesen. Die Gemeinde hat damit dem Begründungserforder-nis entsprochen.

Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Beschlag-nahme- und Einweisungsverfügung ist formell rechtmäßig. II. Erfolgsaussichten der Hauptsache Fraglich ist, ob die Beschlagnahme- und Einweisungsverfü-gung im Sinne des § 113 Abs. 1 VwGO rechtswidrig ist und A in seinen Rechten verletzt. Denn dann hätte eine Klage des A in der Hauptsache Aussicht auf Erfolg.

8 Emrich, DÖV 1985, 396 f.; Gersdorf (Fn. 6), § 80 Rn. 80; Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 14. Aufl. 2014, Rn. 972, 977; Weides, JA 1984, 648 (655). 9 VGH Mannheim, Beschl. v. 11.6.1990 – 10 S 797/90 = VBlBW 1990, 386; VGH Mannheim, Beschl. v. 29.6.1994 – 10 S 2510/93 = NVwZ 1995, 292 (293); OVG Münster, Beschl. v. 1.7.1994 – 11 B 620/ = BauR 1995, 69; Schmaltz, DVBl. 1992, 230 (232); Schenke (Fn. 8), Rn. 977; zweifelnd hingegen OVG Lüneburg, Beschl. v. 10.6.1992 – 7 M 3839/91 = NVwZ-RR 1993, 585 (586); Hamann, DVBl. 1989, 969 f.; Müller, NVwZ 1988, 702 (703). 10 Vgl. Kopp/Schenke (Fn. 5), § 80 Rn. 85. 11 VGH Mannheim, Beschl. v. 11.6.1990 – 10 S 797/90 = VBlBW 1990, 386; VGH Mannheim, Beschl. v. 29.6.1994 – 10 S 2510/93 = NVwZ 1995, 292 (293); OVG Münster, Beschl. v. 8.6.1993 – 1 B 828/93 = DVBl. 1994, 120 (121 f.); OVG Weimar, Beschl. v. 14.6.1994 – 1 EO 125/94 = LKV 1995, 296 (298); Kopp/Schenke (Fn. 5), § 80 Rn. 85.

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1. Rechtsgrundlage

Für die den A belastende Maßnahme der Beschlagnahme- und Einweisungsverfügung ist nach dem Vorbehalt des Ge-setzes eine Ermächtigungsgrundlage erforderlich.

Eine Rechtsgrundlage in einem Spezialgesetz ist nicht er-sichtlich.12

Hier kommt zunächst ein Handeln auf Grundlage des § 14 Abs. 1 S. 1 lit. a SOG13 als Spezialbefugnis zur Sicherstel-lung von Sachen in Betracht. Subsidiär könnte sonst die poli-zeiliche Generalklausel § 3 Abs. 1 SOG14 greifen. Da A er-sichtlich nicht als Verhaltens- oder Zustandsstörer verant-wortlich ist, sind beide Rechtsgrundlagen mit § 10 Abs. 1 SOG15 (Maßnahmen gegen Nichtstörer) zu verbinden. a) Sicherstellung, § 14 Abs. 1 S. 1 lit. a SOG

Fraglich ist zunächst, ob eine solche vorsorgliche Maßnahme zum Schutz von Flüchtlingen vor Obdachlosigkeit unter den Begriff der Sicherstellung fällt und damit § 14 Abs. 1 S. 1 lit. a SOG anwendbar ist.

Eine Sicherstellung liegt jedenfalls dann vor, wenn die Sache selbst in einen gefahrenabwehrrechtlich sicheren Zu-stand versetzt wird, sei es als Sicherstellung einer gefährli-chen Sache oder einer gefährdeten Sache.16 In der vorliegen-den Fallkonstellation besteht aber keine Gefahr für die Woh-nung, vor der sie geschützt werden müsste. Die Wohnung

12 Das Wohnraumbewirtschaftungsgesetz (BGBl. I 1953, S. 97) ist aufgehoben worden. In Niedersachsen ist die Be-schlagnahme von Grundstücken aufgrund § 106 Abs. 1 S. 1 NdsSOG bzw. § 29 Abs. 1 S. 1 NKatSG jeweils i.V.m. § 2 Bundesleistungsgesetz möglich. Diese Vorschriften ermäch-tigen ausschließlich die Polizeidirektionen bzw. die Land-kreise und kreisfreien Städte, § 2 NKatSG. 13 Für die anderen Bundesländer vgl. §§ 32 Abs. 2, 60 Abs. 3 PolG BW; Art. 25 BayPAG; § 38 ASOG Berl; § 25 BrandPolG, § 23 BrandOBG; § 23 BremPolG; § 40 HessSOG; § 61 SOG MV; § 26 NdsSOG; § 24 Nr. 13 OBG NRW i.V.m. § 43 PolG NRW; § 22 Abs. 1 POG RhPfl; § 210 LVwG SH; § 21 Abs. 1 PolG Saar; § 26 Abs. 1 SächsPolG, § 45 SOG SachsAnh; § 27 ThürPAG, § 22 Abs. 1 ThürOBG. 14 Vgl. auch § 3 PolG BW; Art. 11 BayPAG; § 17 ASOG Berl; § 10 Abs. 1 BrandPolG, § 13 Abs. 1 BrandOBG; § 10 Abs. 1 BremPolG; § 11 HessSOG; § 13 SOG MV; § 11 NdsSOG; § 8 PolG NRW, § 14 OBG NRW; § 9 Abs. 1 POG RhPfl; §§ 174, 176 LVwG SH; § 8 Abs. 1 PolG Saar; § 3 Abs. 1 SächsPolG, § 13 SOG SachsAnh; § 12 Abs. 1 ThürPAG, § 5 Abs. 1 ThürOBG. 15 Vgl. auch § 9 PolG BW; Art. 10 Abs. 1 BayPAG; § 16 Abs. 1 ASOG Berl; § 7 Abs. 1 BrandPolG, § 18 Abs. 1 BrandOBG; § 7 Abs. 1 BremPolG; § 9 Abs. 1 HessSOG; § 71 Abs. 1 SOG MV; § 8 NdsSOG; § 6 Abs. 1 PolG NRW, § 19 Abs. 1 OBG NRW; § 7 Abs. 1 POG RhPfl; § 220 Abs. 1 LVwG SH; § 6 Abs. 1 PolG Saar; § 7 Abs. 1 SächsPolG, § 10 Abs. 1 SOG SachsAnh; § 10 Abs. 1 ThürPAG, § 13 Abs. 1 ThürOBG. 16 Vgl. Fischer, NVwZ 2016, 1644.

soll vielmehr genutzt werden, um eine Gefahr abzuwenden.17 Auf dieser Basis ist § 14 Abs. 1 S. 1 lit. a SOG also nicht anwendbar.

Gerade in Bundesländern wie Hamburg, die in ihren Poli-zeigesetzen neben der Sicherstellung keine Regelung einer Beschlagnahme vorsehen18, wäre es aber auch denkbar, die Standardermächtigung der „Sicherstellung“ weit zu verstehen und jeden zwangsweisen Entzug der tatsächlichen Verfü-gungsgewalt über eine Sache zu erfassen.19

Hiergegen spricht aber möglicherweise eine systemati-sche Auslegung des § 14 Abs. 1 S. 1 lit. a SOG: Insbesondere der Abs. 3 des § 14 SOG zeigt, dass die Sicherstellung auf die Begründung einer öffentlich-rechtlichen Verwahrung abstellt20, also auf die Begründung neuer tatsächlicher Sach-herrschaft durch die zuständige Behörde.21 Zwangseinwei-sungen erfolgen nicht zur öffentlich-rechtlichen Verwahrung, sondern zur Begründung der Sachherrschaft für die eingewie-senen Personen. Damit könnte die Sicherstellung als Ermäch-tigungsgrundlage ausscheiden.22 Dem ließe sich entgegenhal-ten, dass jedenfalls in der vorliegenden Konstellation bei der Beschlagnahme größerer Immobilien nicht die Flüchtlinge, sondern vielmehr die zuständigen Behörden als Hausherren auftreten. Außerdem sehen die Regelungen zur Sicherstellung auch eine Verwahrung durch Dritte23 vor („Die Verwahrung kann auch einer dritten Person übertragen werden“), § 14

17 Vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 1.12.2015 – 11 ME 230/15 = DVBl. 2016, 116 (117); Dombert, LKV 2015, 529 (530); Erichsen/Biermann, Jura 1998, 371 (376 f.); Gornig/Jahn, Fälle zum Polizei- und Ordnungsrecht, 4. Aufl. 2014, S. 22; Hebeler, JA 2016, 318. 18 Anders etwa in Baden-Württemberg und Sachsen, § 33 BWPolG und § 27 SächsPolG. 19 Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 8. Aufl. 2013, Rn. 162; Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungs-recht, 8. Aufl. 2014, § 19 Rn. 5; Reitzig, Die polizeirechtliche Beschlagnahme von Wohnraum zur Unterbringung Obdach-loser, 2004, S. 96 ff.; Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, 9. Aufl. 2014, Rn. 343; Rachor, in: Lisken/Denninger, Hand-buch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, Kap. E Rn. 751. 20 § 14 Abs. 3 S. 1 HmbSOG: „Eine sichergestellte Sache wird amtlich oder in sonst zweckmäßiger Weise so lange verwahrt, […]“; vgl. auch etwa § 27 Abs. 1 S. 1 NdsSOG: „Sichergestellte Sachen sind in Verwahrung zu nehmen.“ 21 Vgl. Gusy (Fn. 19), Rn. 284; Ipsen, Niedersächsisches Polizei- und Ordnungsrecht, 4. Aufl. 2010, Rn. 449. 22 So für derartige Fallkonstellationen Volkmann, JuS 2001, 888 (890); Erichsen/Biermann, Jura 1998, 371 (376 f.); Masing, DÖV 1999, 573 (574); Hebeler, JA 2016, 318; auch das OVG Lüneburg (Beschl. v. 1.12.2015 – 11 ME 230/15 = DVBl. 2016, 116 [117]) geht gar nicht auf die Sicherstellung als mögliche Ermächtigungsgrundlage ein, sondern unter-sucht allein die polizeiliche Generalklausel als Ermächti-gungsgrundlage. 23 Dazu Schenke (Fn. 19), Rn. 162, Pieroth/Schlink/Kniesel (Fn. 19), § 19 Rn. 5.

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Abs. 3 S. 2 SOG.24 Allerdings ändert dies nichts daran, dass Einweisungsverfügungen über den klassischen Anwendungs-bereich von Verwahrungen hinausgehen. Ein Raum wird nicht zum Wohnen „verwahrt“. Und auch wenn der Gesetz-geber in § 14a HmbSOG ebenfalls von „Sicherstellung“ spricht: Dass der Gesetzgeber später die Notwendigkeit einer Sonderregelung in § 14a SOG gesehen hat, spricht systema-tisch ebenfalls gegen die Subsumtion solcher Fälle unter die klassische Sicherstellungsermächtigung.

Danach ist hier keine Sicherstellung nach § 14 Abs. 1 S. 1 lit. a SOG anzunehmen.

Hinweis: Hier wäre auch eine andere Auffassung (An-nahme einer Sicherstellung) vertretbar.25

b) Polizeiliche Generalklausel, § 3 Abs. 1 SOG

Fraglich ist mit Blick auf das Rechtsstaatsprinzip (Vorbehalt des Gesetzes), ob die polizeiliche Generalklausel für einen derart weitreichenden und atypischen Eingriff eine hinrei-chende Ermächtigungsgrundlage bildet. An die Zulässigkeit von Beschlagnahmen von Grundstücken Privater zur Unter-bringung der von Obdachlosigkeit unmittelbar bedrohten Personen sind wegen des damit verbundenen massiven Ein-griffs in das Eigentumsrecht der Grundstückseigentümer gemäß Art. 14 Abs. 1 GG grundsätzlich hohe Anforderungen zu stellen26, die sich in den schlichten Voraussetzungen der Generalklausel nicht widerspiegeln.

So spricht einiges dafür, dass bei intensiven und nicht nur kurzzeitig wirkenden Grundrechtseingriffen der Gesetzgeber diese als solche ausdrücklich regeln muss27. Anderes gilt dann, wenn im Fall gegenwärtig drohender Obdachlosigkeit eines Mieters ausnahmsweise der Mieter für einen zeitlich eng begrenzten Zeitraum auf der Grundlage der polizeilichen Generalklausel wieder in seine Wohnung eingewiesen wird28; möglicherweise auch in anderen seltenen Fällen, die sich einer Typisierung durch den Gesetzgeber entziehen.29

Im vorliegenden Fall handelt es sich aber um eine Situati-on, die nicht auf seltene Einzelfälle begrenzt ist. Die hier in Rede stehende Beschlagnahme und Einweisungsverfügung dient dem Ziel, für eine Vielzahl von Fällen eine sich ab-zeichnende Notlage bei der Beschaffung von menschenwür-

24 Vgl. auch § 27 Abs. 1 S. 2 NdsSOG unter der Vorausset-zung, dass „die Verwahrung bei der Verwaltungsbehörde oder der Polizei unzweckmäßig“ erscheint. 25 Vgl. Schenke (Fn. 19), Rn. 162; Pieroth/Schlink/Kniesel (Fn. 19), § 19 Rn. 5; Reitzig (Fn. 19), S. 96 ff.; Gusy (Fn. 19), Rn. 343; Rachor (Fn. 19), Kap. E Rn. 751. 26 OVG Lüneburg, Beschl. v. 1.12.2015 – 11 ME 230/15 = DVBl. 2016, 116 (117). 27 Rachor (Fn. 19), Kap. E Rn. 723; OVG Lüneburg, Beschl. v. 1.12.2015 – 11 ME 230/15 = DVBl. 2016, 116 (117). 28 Dombert, LKV 2015, 529 (530); Erichsen/Biermann, Jura 1998, 371 (376 f.); Gornig/Jahn (Fn. 17), S. 22; Masing, DÖV 1999, 573; OVG Lüneburg, Beschl. v. 14.12.2009 – 11 ME 316/09 = NJW 2010, 1094. 29 OVG Lüneburg, Beschl. v. 1.12.2015 – 11 ME 230/15 = DVBl. 2016, 116 (117).

digen Unterkünften für Flüchtlinge abzuwenden. Eine solche grundsrechtsintensive Maßnahme ist daher hinsichtlich der Eingriffsvoraussetzungen grundsätzlich vom Gesetzgeber näher zu umschreiben, um der Verpflichtung, wesentliche Entscheidungen selbst zu treffen, und damit dem rechtsstaat-lichen Parlamentsvorbehalt zu genügen.30 Erschwerend kommt hier hinzu, dass es sich um eine bloß vorsorgliche Beschlagnahme- und Einweisungsverfügung handelte. Eine solche erhebliche Erweiterung der Eigentümerverantwortung bedarf umso eher grundsätzlich einer speziellen gesetzlichen Ermächtigung im allgemeinen oder besonderen Gefahrenab-wehrrecht.31

Hinweis: Hier wäre auch schon grundsätzlich eine andere Auffassung vertretbar, insbesondere dass die aktuellen Flüchtlingsunterbringungsfälle wie die bisherigen sog. Obdachlosenfälle auf die Generalklausel zu stützen sind.32

Es fragt sich aber, ob nicht dann eine vorübergehende Aus-nahme von diesen Anforderungen zu machen ist, wenn auf-grund einer Art staatlichen Notstandslage, bei der zeitweise im Ausmaß nicht vorhersehbare, systemische Gefahren für das Gemeinwohl, ja geradezu chaotische Zustände entstehen können. Auch wenn sich aufgrund nachlassender Zahlen jetzt die Flüchtlings(unterbringungs)krise etwas entspannt hat, drohte deutschlandweit angesichts von neu ankommenden Flüchtlingen in einer Größenordnung von Zehntausend pro Tag Ende 2015/Anfang 2016 eine geradezu einmalige natio-nale Krisensituation, bei der es gerade in den Metropolen zunehmend zu prekären bis chaotischen Zuständen hinsicht-lich der Unterbringung kam. In einem solchen absoluten Sonderfall sollte für eine Übergangszeit bis zur Neuregelung die Heranziehung der Generalklausel für die notwendigen Maßnahmen erlaubt sein. Vermieden wird dadurch ein Zu-stand, welcher der Verfassungs- und Rechtsordnung weniger entsprechen würde als die vorübergehende Hinnahme materi-ell rechtfertigungsfähiger, formellgesetzlich aber nicht aus-reichend legitimierter Eingriffe.33 Jedenfalls gilt dies dann, wenn wie hier die Geltung einer dem Gesetzesvorbehalt ge-nügenden Spezialermächtigung – § 14a SOG – zur Zeit des Erlassbescheides relativ kurz (knapp 3 Monate) bevorsteht.

Dieses Ergebnis wird noch zusätzlich in maßgeblicher Weise dadurch gestützt, dass es bei der angeordneten Einwei-sung von Flüchtlingen in private Wohnobjekte praktisch durchweg um Eingriffe gegen Nichtstörer geht. Bei solchen Maßnahmen gegen Notstandspflichtige gilt die ordnungs-rechtliche Generalklausel nur unter weiteren Voraussetzun-

30 OVG Lüneburg, Beschl. v. 1.12.2015 – 11 ME 230/15 = DVBl. 2016, 116 (117). 31 OVG Lüneburg, Beschl. v. 1.12.2015 – 11 ME 230/15 = DVBl. 2016, 116 (117). 32 Vgl. Dombert, LKV 2015, 529 (530); Fischer, NVwZ 2016, 1644; Hebeler, JA 2016, 318 (319). 33 Vgl. dazu – andere Problemlagen, aber gewisse argumenta-tive Parallelen – BVerwG, Beschl. v. 24.10.2001 – 6 C 3/01 = NVwZ 2002, 598 (602); BVerfG, Beschl. v. 27.2.2012 – 1 BvR 22/12 = BeckRS 2012, 51046.

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gen des § 10 Abs. 1 SOG. Dieser ist zwar auch relativ gene-ralklauselartig verfasst, enthält aber etwas dezidiertere und verschärfte Anforderungen.

Hinweis: Eine andere Auffassung ist hier ebenso vertret-bar.

Damit ist § 3 Abs. 1 i.V.m. § 10 Abs. 1 SOG als Ermächti-gungsgrundlage anwendbar. 2. Formelle Rechtmäßigkeit

Im Gegensatz zur Prüfung der formellen Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung (siehe oben) gilt in Hinblick auf den zu vollziehenden Verwaltungsakt regelmä-ßig das Anhörungsgebot des § 28 Abs. 1 VwVfG. Davon kann nur ausnahmsweise nach Maßgabe des § 28 Abs. 2 VwVfG abgesehen werden.

Im vorliegenden Fall war die Anhörung nicht durchge-führt worden. Fraglich ist, ob die Voraussetzungen für ein ausnahmsweises Absehen von der Anhörung nach § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG vorlagen. Nach § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG kann von einer Anhörung insbesondere abgesehen werden, wenn eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug oder im öffentlichen Interesse notwendig erscheint. Gefahr im Verzug im Sinne dieser Vorschrift liegt vor, wenn durch eine vorherige Anhörung auch bei Gewährung kürzes-ter Anhörungsfristen ein Zeitverlust einträte, der mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Folge hätte, dass die durch den Ver-waltungsakt zu treffende Regelung zu spät käme, um ihren Zweck zu erreichen, was in jedem Einzelfall „ex ante“ zu beurteilen ist.34

Hier hatte die Behörde im Vorfeld erfolglos mit dem A über eine Anmietung des Objektes verhandelt. Zu diesem Zeitpunkt war der Bedarf an weiteren Flüchtlingsunterkünf-ten bekannt. Es ist daher nicht ersichtlich, dass eine kurzfris-tige Anhörung des A den Zweck der Verfügung vereitelt hätte.

Dieser Mangel ist aber im anhängigen Widerspruchsver-fahren, und selbst noch im nachfolgenden gerichtlichen Ver-fahren gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 VwVfG heilbar. 3. Materielle Tatbestandsvoraussetzungen für die Inan-spruchnahme des Grundstücks

a) Tatbestandvoraussetzungen des § 3 Abs. 1 SOG

aa) Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung

Das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit umfasst den Schutz der gesamten objektiven Rechtsordnung, der Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates sowie der subjektiven Rech-te und Rechtsgüter des Einzelnen.

Unfreiwillige Obdachlosigkeit gefährdet die Gesundheit und stellt die Betroffenen schutzlos gegenüber Angriffen

34 BVerwG, Urt. v. 15.12.1983 – 3 C 27.82 = NVwZ 1984, 577; VG Oldenburg, Urt. v. 22.5.2012 – 7 A 3069/12 = BeckRS 2012, 53072.

Dritter.35 Damit ist Art. 2 Abs. 2 GG als Bestandteil der ob-jektiven Rechtsordnung, aber auch als Individualrecht und somit die öffentliche Sicherheit betroffen. bb) Konkrete Gefahr im Sinne von § 3 Abs. 1 SOG

Eine (einfache) konkrete Gefahr ist anzunehmen, wenn eine Sachlage vorliegt, die bei ungehindertem Geschehensablauf aus dem Blickwinkel eines objektiven Beobachters ex ante in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden an einem ordnungsrechtlich geschützten Rechtsgut führt.36

Fraglich ist, ob hier der Schadenseintritt hinreichend wahrscheinlich war. Der Anlass zum Handeln der Ordnungs-behörde muss sich mithin aus einem konkreten, nach Ort und Zeit bestimmten oder bestimmbaren Sachverhalt ergeben.

Zur Annahme eines zeitlich hinreichend konkreten Scha-denseintritts ist im Rahmen des einfachen Gefahrenbegriffs – im Gegensatz zu den gesteigerten Anforderungen an das Merkmal der Unmittelbarkeit bei § 10 Abs. 1 SOG – nicht die Feststellung erforderlich, welche und wie viel Personen zu welcher Zeit von der Antragsgegnerin als von Obdachlo-sigkeit bedrohte Flüchtlinge unterzubringen sind.37 Hier hat die Behörde dargelegt, dass sie in absehbarer Zeit eine bisher nicht bestimmte bzw. näher bestimmbare Zahl von Flüchtlin-gen aufnehmen muss, für deren Unterbringung sie zuständig ist. Von einer sehr angespannten Lage hinsichtlich der Unter-bringungsmöglichkeiten weiterer Flüchtlinge ist auszugehen, worauf auch der entsprechende Bearbeitungshinweis (Nr. 2) hindeutet. Eine Gefahr liegt damit vor. cc) Inanspruchnahme von Nichtstörern § 10 Abs. 1, 2 SOG

A ist weder Verhaltensstörer im Sinne des § 8 SOG, noch Zustandsstörer gemäß § 9 SOG, so dass eine Inanspruchnah-me nur unter den erhöhten Anforderungen des § 10 Abs. 1 SOG in Betracht kommt. Nach § 10 Abs. 1 SOG ist eine unmittelbar bevorstehende Gefahr für die öffentliche Sicher-heit oder Ordnung erforderlich (1), die nicht auf andere Wei-se abgewehrt werden kann und die Verwaltungsbehörde darf

35 Vgl. OVG Greifswald, Beschl. v. 21.7.2009 – 3 M 92/09 = NJW 2010, 1096 (1097); OVG Lüneburg, Beschl. v. 1.12.2015 – 11 ME 230/15 = DVBl. 2016, 116 (117); Urteils-besprechung bei Hebeler, JA 2016, 318; OVG Lüneburg, Beschl. v. 14.12.2009 – 11 ME 316/09 = NJW 2010, 1094 (1095); VGH Mannheim, Urt. v. 2.12.1996 – 1 S 1520/96 = NJW 1997, 2832 (2833); VG Oldenburg, Beschl. v. 5.9.2013 – 7 B 5845/13 = NVwZ-RR 2014, 195; siehe auch Dombert, LKV 2015, 529 (530 f.); Eckstein, VBlBW 1994, 306 f.; Ewer/v. Detten, NJW 1995, 353; Erichsen/Biermann, Jura 1998, 371 (372 ff.); Fischer, NVwZ 2015, 1644 (1645); Ruder, NVwZ 2012, 1283 (1284 f.). 36 BVerwG, Urt. v. 26.2.1974 – I C 31/72 = NJW 1974, 807; VGH Mannheim, Beschl. v. 20.9.1982 – 1 S 2484/81 = VBlBW 1984, 20; Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 11. Aufl. 2007, Rn. 87 f. 37 OVG Lüneburg, Beschl. v. 1.12.2015 – 11 ME 230/15 = DVBl. 2016, 116 (117).

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nicht über ausreichende eigene Kräfte und Mittel verfügen (2). (1) Unmittelbar bevorstehende Gefahr

Eine unmittelbar bevorstehende Gefahr liegt vor, wenn das schädigende Ereignis sofort oder in allernächster Zeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.38 Ob die gegenüber dem einfachen Gefahrenbegriff erhöhten Anforderungen an die Eintrittswahrscheinlichkeit hier vorlie-gen, ist fraglich.

Zum einen stehen derzeit noch andere freie Kapazitäten in der Stadt zur Verfügung. Eine wirkliche Unterbringungs-Notlage wird von der FHH erst zum Jahresende erwartet. Zum anderen muss das streitgegenständliche Objekt mit nicht unerheblichen eigenen Finanzmitteln in einem zeitlichen Rahmen von mehreren Wochen erst wieder bezugsfertig gemacht werden. Ob und wann das Gebäude für die Unter-bringung von Flüchtlingen genutzt werden soll, ist daher offen. Damit steht bei einer solchen, bloß vorsorglichen Inan-spruchnahme fremdem Eigentums weder eine Gefahrenlage in allernächster Zeit bevor noch wäre dieses Gebäude ange-sichts der erforderlichen, mehrmonatigen Umbaumaßnahmen geeignet, eine solche unmittelbar bevorstehende Gefahr der Obdachlosigkeit zu verhindern39.

Hinweis: Die unterschiedlichen Gefahrenbegriffe bei der Sicherstellung in § 14 Abs. 1 S. 1 lit. a SOG (unmittelbar bevorstehende Gefahr) und der polizeilichen Generalklau-sel in § 3 Abs. 1 SOG wirken sich wegen des Gefahren-begriffs in § 10 Abs. 1 SOG (ebenfalls unmittelbar bevor-stehende Gefahr) hier nicht aus.

(2) Keine anderweitige Möglichkeit zur Abwendung, keine eigenen ausreichenden Kräfte und Mittel

Zusätzlich könnte es an der weiteren Voraussetzung des § 10 Abs. 1 SOG fehlen. Die Inanspruchnahme nichtverantwortli-cher Personen setzt auch voraus, dass die Verwaltungsbehör-de die Gefahr nicht oder nicht rechtzeitig selbst oder durch Beauftragte abwehren kann und sie über keine eigenen aus-reichenden Kräfte und Mittel verfügt.

Als anderweitige Möglichkeit gegenüber der Beschlag-nahme eines Grundstücks kommt zunächst eine Nutzungs-vereinbarung mit dem Grundstückseigentümer in Betracht.40 Die Verhandlungen der zuständigen Behörde hierüber waren jedoch gescheitert.

Der zuständigen Behörde dürfen zudem keine gemeinde-eigenen Unterkünfte zur Verfügung stehen und die Beschaf-fung geeigneter anderer Unterkünfte bei Dritten darf ihr zeit-nah nicht möglich sein. In jedem Fall ist dabei zu berücksich-tigen, dass die zuständige Behörde lediglich für eine Unter-bringung des von Obdachlosigkeit Betroffenen zu sorgen hat,

38 BVerwG, Urt. v. 26.2.1974 – I C 31/72 = NJW 1974, 807 (809). 39 Vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 1.12.2015 – 11 ME 230/15 = DVBl. 2016, 116 (117). 40 Vgl. dazu Gesetzesbegründung zu § 14a HmbSOG Drs. 21/1753, S. 8.

die den Mindestanforderungen an eine menschenwürdige Unterkunft genügt.41 Nach dem Bearbeiterhinweis trifft dies für Zelte nicht zu und Hotelzimmer o.ä. stehen nicht in nen-nenswertem Umfang zur Verfügung.

Die Beherbergung von Flüchtlingen in einer Sporthalle wäre allerdings auch möglich, bringt aber gewichtige Nach-teile mit sich. Eine solche Nutzung wäre zwar in Hinblick auf die Flüchtlinge für einen begrenzten Zeitraum hinzunehmen, da die zuständige Behörde zur Abwehr der Gefahr einer aku-ten Obdachlosigkeit eben keine wohnungsmäßige Vollver-sorgung zu gewährleisten hat und Sporthallen grundsätzlich den Mindestanforderungen an eine menschenwürdige Unter-bringung für Obdachlose genügen.

Andererseits sind die Interessen der betroffenen Schüler und Sportler zu berücksichtigen. Die Gewährung sozialer Fürsorge, die grundsätzlich der Allgemeinheit obliegt42, darf zumindest dann nicht auf eine Privatperson abgewälzt wer-den, solange – wie hier mit den Sporthallen – nicht nur eine menschenwürdige Unterbringungsmöglichkeit für den bisher nicht eingetretenen Fall der Erschöpfung aller anderen Be-herbergungsmöglichkeiten zur Verfügung steht, sondern nach den eigenen Bekundungen der Antragsgegnerin außerdem noch offen ist, ob das Gebäude des Antragstellers überhaupt während der Zeit der Beschlagnahme für eine Unterbringung von Flüchtlingen genutzt werden soll. Dies gilt jedenfalls dann, wenn wie hier umfangreiche Umbaumaßnahmen am Objekt des Betroffenen (A) notwendig wären, die dann nach Ablauf der sechs Monate wieder weitgehend rückgängig gemacht werden müssten. (3) Zwischenergebnis

Die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nichtstö-rern nach § 10 Abs. 1 SOG liegen damit nicht vor. 4. Ermessensfehler, insb. Unverhältnismäßigkeit der Maß-nahme

Schließlich könnten auch Ermessensfehler im Sinne der § 40 LVwVfG, § 114 S. 1 VwGO vorliegen, insbesondere Unver-hältnismäßigkeit gemäß § 4 SOG. Dass das in Anspruch genommene Grundstück zur Beseitigung einer wirklich un-mittelbar bevorstehenden Gefahr angesichts der nötigen Um-baumaßnahmen schon nicht geeignet ist, hat schon die Prü-fung der qualifizierten Gefahr ergeben. Die fehlende Erfor-derlichkeit der Heranziehung des A mit Blick auf anderweiti-ge Unterbringungsmöglichkeiten und die drohenden aufwän-digen Umbaumaßnahmen ist ebenfalls schon auf Tatbe-standsebene thematisiert worden. In zeitlicher Hinsicht ist eine Beschlagnahme nicht auf Dauer, sondern lediglich für einen kurzen Zeitraum möglich, währenddessen sich die Ordnungsbehörde nachhaltig und nachweisbar um eine Unterbringungsalternative zu bemühen hat. In Hinblick auf die Angemessenheit der Maßnahme stellt sich daher noch die Frage der zumutbaren Dauer, gerade im Rahmen der Inan-

41 OVG Lüneburg, Beschl. v. 1.12.2015 – 11 ME 230/1 = DVBl. 2016, 116 (117 m.w.N.). 42 OVG Lüneburg, Urt. v. 14.12.2009 – 11 ME 316/09 = NJW 2010, 1094.

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spruchnahme eines nicht verantwortlichen Notstandspflichti-gen nach § 10 Abs. 1 SOG. Wäre die Maßnahmen im Übri-gen rechtmäßig, erschiene die überschaubare Dauer von 6 Monaten noch zumutbar (eine noch kürzere Dauer würde wiederum keinesfalls aufwändige Umbaumaßnahmen recht-fertigen). Isoliert gesehen überschreitet die Dauer der Maß-nahme damit nicht den Ermessensspielraum. C. Ergebnis Die Verfügung entbehrt insbesondere einer die Sicherstellung und Einweisung abdeckenden Rechtsgrundlage und erfüllt nicht die Voraussetzungen des gesteigerten Gefahrenbegriffs („Unmittelbarkeit“) sowie fehlender Abwendungsalternativen des § 10 Abs. 1 SOG. Sie ist damit (materiell) rechtswidrig und verletzt A auch in seinem Recht aus Art. 14 Abs. 1 GG. Wegen der notwendigen staatlichen Betretungsrechte43 gilt Gleiches für Art. 13 Abs. 1 GG. Somit wäre eine Anfech-tungsklage in der Hauptsache erfolgreich. Es besteht daher schon aus diesem Grund kein legitimes Interesse an der An-ordnung der sofortigen Vollziehung.

Der Antrag des A nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO ist zulässig und begründet und hat somit Aussicht auf Erfolg. Teil 2: Abwandlung Für die Beurteilung der Erfolgsaussichten ist zu prüfen, ob ein Antrag des A vor dem Verwaltungsgericht zulässig und begründet wäre. A. Zulässigkeit In Abweichung von dem Ausgangsfall könnte hier ein Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 Var. 1 VwGO auf Anordnung der auf-schiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen die Be-schlagnahme und Einweisung statthaft sein. Das Fehlen der aufschiebenden Wirkung einer Anfechtung wird hier durch § 14a Abs. 4 SOG angeordnet. Damit liegt ein Fall des § 80 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO vor. Hinsichtlich der Zulässigkeit des Antrages ergeben sich im Übrigen keine Änderungen zum Ausgangsfall. B. Begründetheit Auch für den Begründetheitsmaßstab kann auf oben verwie-sen werden; entscheidend sind wiederum die Erfolgsaussich-ten in der Hauptsache.

Diese hätte nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die for-mellen und materiellen Tatbestandsvoraussetzungen für die Verfügungen sowie keine Ermessensfehler vorliegen. I. Rechtsgrundlage Als Ermächtigungsgrundlage dient hier der neue § 14a Abs. 1 SOG44, von dessen Vereinbarkeit mit dem GG nach dem Bearbeitervermerk auszugehen ist.

43 Vgl. auch § 14a Abs. 1 S. 3 SOG der Neuregelung. 44 Neben Hamburg sieht auch Bremen für die Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbewerbern inzwischen eigenstän-dige Ermächtigungsgrundlagen für die Wohnungsbeschlag-

II. Formelle Rechtmäßigkeit Hinsichtlich der formellen Rechtmäßigkeit kann auf den Ausgangsfall verwiesen werden. III. Materielle Tatbestandsvoraussetzungen für die Inan-spruchnahme des Grundstücks 1. Tatbestandvoraussetzungen des § 14a Abs. 1 SOG

Fraglich ist, ob die Tatbestandsvoraussetzungen der Stan-dardermächtigung des § 14a Abs. 1 SOG vorliegen. a) Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden

Die Maßnahmen dienen ersichtlich der Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden. b) Bevorstehende Gefahr für Leib und Leben

Nach § 14a Abs. 1 S. 1 SOG ist eine „bevorstehende“ Gefahr für Leib und Leben dieser Personen erforderlich. Fraglich ist, ob dieses Merkmal hier weiter auszulegen ist als das Merk-mal der „unmittelbar bevorstehenden Gefahr“ in § 10 Abs. 1 SOG.45 Dafür spricht, dass der Begriff „unmittelbar“ in diese Vorschrift nicht mitübernommen wurde und damit mögli-cherweise die Anforderungen abgesenkt werden sollten. Die Möglichkeit einer in Grenzen auch vorsorglichen Heranzie-hung von privaten Wohnraum verringert das Risiko, dass in einem Extremszenario, wie es Ende 2015/Anfang 2016 be-vorstand, eben doch vorübergehend auf Zelte und ähnlich prekäre Unterkünfte ausgewichen werden müsste. Dagegen spricht allerdings, dass § 14a Abs. 1 S. 1 SOG grundsätzlich einen Personenkreis betrifft, der weder als Verhaltens- noch als Zustandsstörer verantwortlich ist. Einen Notstandspflicht-igen heranzuziehen ist ohnehin ultima ratio. Die Anforderun-gen an eine notstandsmäßige Inanspruchnahme nicht verant-wortlicher Eigentümer abzusenken wäre aus rechtsstaatlicher Sicht und mit Blick auf Art. 14 GG sehr bedenklich, was für eine verfassungskonform enge Auslegung des Merkmals „bevorstehende“ Gefahr spricht. Dies wird durch die Überle-gung gestützt, dass die Vorschrift zumindest in erster Linie erlassen worden ist, um den Bedenken an der Heranziehung der Generalklausel mit Blick auf den Gesetzesvorbehalt zu entsprechen. Entspricht also das Merkmal der bevorstehenden Gefahr in § 14a Abs. 1 S. 1 SOG dem der „unmittelbar be-vorstehenden Gefahr“ in § 10 Abs. 1 SOG, könnte nichts anderes als oben im Grundfall gelten und die Maßnahme wäre wiederum rechtswidrig. Letztlich braucht die Problema-tik hier aber nicht entschieden zu werden, wenn es jedenfalls an weiteren Tatbestandsvoraussetzungen fehlt bzw. ermes-sensfehlerhaft gehandelt worden ist.

nahme vor (§ 26a BremPolG). Zur Verfassungsmäßigkeit der Gesetze Froese, JZ 2016, 176. 45 Vgl. zum Folgenden Gusy/Worms, in: Möstl/Kugelmann, Beck̓ scher Online-Kommentar Polizei- und Ordnungsrecht Nordrhein-Westfalen, 1. Ed., Stand: 1.7.2016, § 1 Rn. 152.

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ÜBUNGSFÄLLE Kristin Pfeffer/Volker Steffahn

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ZJS 6/2016 740

c) Ungenutztes Grundstück bzw. Gebäude

Zwar wurden das Grundstück und Gebäude im Zeitpunkt der Inanspruchnahme nicht genutzt, so dass die entsprechende Anforderung nach § 14a Abs. 1 S. 2 Ziff. 1 SOG erfüllt ist. d) Plätze in den vorhandenen Erstaufnahme- oder Folgeein-richtungen reichen nicht aus

Erforderlich ist aber auch, dass die in den vorhandenen Erst-aufnahme- oder Folgeeinrichtungen zur Verfügung stehenden Plätze zur angemessenen Unterbringung der Flüchtlinge oder Asylbegehrenden nicht ausreichen, § 14a Abs. 1 S. 2 Ziff. 2 SOG. Hinsichtlich ausreichender Folgeeinrichtungen kann auf das entsprechende Merkmal bei § 10 Abs. 1 SOG („keine eigenen ausreichenden Kräfte und Mittel“) verwiesen werden und damit auf die entsprechende obige Prüfung im Grundfall. Dort hatte sich ergeben, dass Sporthallen zur Verfügung stehen, deren weitere Heranziehung zwar angesichts der Interessen der betroffenen Schüler und Sportler sehr bedenk-lich ist. Auch hier gilt aber, dass Private dann nicht vorrangig im Verhältnis zu weiteren Sporthallen heranzuziehen sind, wenn der Unterbringungsbedarf noch nicht sicher feststeht, jedenfalls aber die Inanspruchnahme ausscheidet, wenn wie hier umfangreiche Umbaumaßnahmen notwendig wären, die dann möglicherweise ins Leere laufen und ggf. – nach einer bloßen Nutzungsdauer von 6 Monaten – wieder rückgängig gemacht werden müssten. 2. Ermessensfehler, insb. Unverhältnismäßigkeit der Maß-nahme

Hinsichtlich der Ermessensausübung ergeben sich zum Aus-gangsfall ebenfalls keine Abweichungen: Der genannte As-pekt der Umbaumaßnahmen führt auch zur Unverhältnismä-ßigkeit der Maßnahme (vgl. oben). C. Ergebnis Die Verfügungen sind damit auch in dieser Abwandlung (materiell) rechtswidrig und verletzen A auch in seinem Recht aus Art. 14 Abs. 1 GG sowie Art. 13 Abs. 1 GG. Somit wäre eine Anfechtungsklage in der Hauptsache erfolgreich. Das Interesse des A an der Aussetzung der Vollziehung (Suspensivinteresse) überwiegt also auch hier das Interesse der Allgemeinheit an der sofortigen Vollziehung (Vollzugsin-teresse).

Der Antrag des A nach § 80 Abs. 5 S. 1, Var. 1 VwGO ist zulässig und begründet und hat auch in der Abwandlung Aussicht auf Erfolg.

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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 741

Übungshausarbeit: Brennende Neugier Von Ref. iur. Jan-Marcel Drossel, Wiss. Mitarbeiter Volker Herbolsheimer, Berlin/Bochum* Der vorliegende Fall wurde im Sommersemester 2012 an der Ruhr-Universität Bochum in leicht abgewandelter Form als Hausarbeit zur Vorlesung Staatsorganisationsrecht im Grundstudium gestellt. Er widmet sich der – examensrelevan-ten – Thematik der Einsetzung von Untersuchungsausschüs-sen und behandelt in diesem Zusammenhang zum einen die verfassungsprozessualen Probleme einer sogenannten Min-derheitenenquête und zum anderen die Frage eines Eingriffs in den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung durch den Bundestag vermittels parlamentarischer Untersuchung. Studierende können anhand dieses Falles nicht nur ihre Kenntnisse in diesem Bereich auf den Prüfstand stellen, son-dern sich auch darin üben, mittels exakter Subsumtion und allgemeinem systematischen Verständnis unbekannte und zum Teil ungewöhnliche Konstellationen zu meistern. Sachverhalt Nach dem Ausbruch der weltweiten Finanzkrise verschlech-tert sich auch die wirtschaftliche Situation in der Bundesre-publik Deutschland. Um der zunehmenden Stagnation Herr zu werden, beschließt der Bundestag – nach einer Gesetzes-initiative der Bundesregierung – am 1.9.2010 das „Gesetz zur Wirtschaftsförderung“ (WFG), mit dem diverse bundesweite Konjunkturförderungsmaßnahmen ergriffen werden sollen.

Kurz nach dem Inkrafttreten des WFG berichtet das Nachrichtenmagazin „Der Titel“, dass wesentliche Teile des WFG aus der Feder der wirtschaftsrechtlich orientierten Großkanzlei G stammen würden und von dem an der Geset-zesinitiative der Bundesregierung maßgeblich beteiligten Bundeswirtschaftsministerium ohne Änderungen übernom-men worden seien.

Der Bundestagsabgeordnete B ist ob dieses Umstands empört. Seiner Meinung nach sei es verfassungsrechtlich – insbesondere mit Blick auf Art. 33 Abs. 4 GG – höchst be-denklich, wenn seitens der Bundesregierung ein Outsourcing von Gesetzesentwürfen an Kanzleien stattfinde und damit eine Verschiebung staatlicher Aufgaben auf ein privates Unternehmen vorgenommen werde. B mobilisiert daraufhin ihm bekannte Bundestagsabgeordnete, mit deren Hilfe er das Geschehen genauer untersuchen möchte.

Zur Aufklärung der Umstände des Gesetzgebungsverfah-rens des WFG beantragen daher in einer Bundestagssitzung am 6.9.2010 154 Bundestagsabgeordnete (Gesamtzahl der Bundestagsabgeordneten: 615) aus verschiedenen Fraktionen die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu dem

* Jan-Marcel Drossel ist Rechtsreferendar am Kammerge-richt und Doktorand bei Prof. Dr. Stefan Magen, M. A., an dessen Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtsphilosophie und Rechtsökonomik an der Ruhr-Universität Bochum er bis 2015 als Wiss. Mitarbeiter beschäftigt war. Volker Herbols-heimer ist Wiss. Mitarbeiter an der Professur für Öffentliches Recht, Verfassungstheorie und interdisziplinäre Rechtsfor-schung von Prof. Dr. Julian Krüper an der Ruhr-Universität Bochum.

Thema „Gesetzgebungsoutsourcing im Rahmen des WFG-Gesetzgebungsverfahrens und daraus resultierende verfas-sungsrechtliche Probleme“. Schnell zeigen sich im Plenum des Bundestags jedoch Widerstände gegen den beantragten Untersuchungsausschuss. Der Vorsitzende der regierungsna-hen R-Fraktion führt in einer Rede aus, dass er die Einset-zung des Untersuchungsausschusses seines Gegenstands wegen für verfassungswidrig halte. Seines Erachtens stelle die Einsetzung des Untersuchungsausschusses einen Eingriff in den Kernbereich exekutiver Aufgaben der Bundesregie-rung dar, die selbst entscheiden dürfe, wie und von wem sie ihre Gesetzesentwürfe erstellen lasse. Die Willensbildung im Kabinett unterliege gerade nicht parlamentarischer Kontrolle, weswegen auch ein Untersuchungsausschuss sich dieser nicht widmen dürfe.

In der darauffolgenden Abstimmung über den Beschluss zur Einsetzung des beantragten Untersuchungsausschusses stimmen 320 Bundestagsabgeordnete gegen den Antrag, da sie – auf Basis der Argumentation des Vorsitzenden der R-Fraktion – von der Verfassungswidrigkeit der Einsetzung überzeugt sind.

Gegen diese Weigerung rufen die 154 Bundestagsabge-ordneten gemeinsam das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) an. Sie führen aus, dass die Weigerung der Bundestagsmehr-heit verfassungswidrig sei und sie in ihren Rechten verletze. Es sei bereits fraglich, ob die Bundestagsmehrheit überhaupt die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses aufgrund seiner Verfassungswidrigkeit verweigern dürfe. Zumindest aber sei eine Einsetzung in diesem Fall verfassungsgemäß. Die Arbeit der Bundesregierung unterliege aus Gründen der demokratischen Legitimation grundsätzlich der Kontrolle durch den Bundestag, der sie daher auch zum Inhalt eines Untersuchungsausschusses machen dürfe. Etwas anderes gelte zwar für den Kernbereich exekutiver Aufgaben. Dieser umfasse jedoch nur laufende Regierungsentscheidungen. Das vorliegende Gesetzgebungsoutsourcing falle jedoch als abge-schlossener Vorgang nicht darunter. Es sei darüber hinaus bereits fraglich, ob die Mitwirkung der Bundesregierung im Gesetzgebungsverfahren via Gesetzesinitiative überhaupt als exekutive Tätigkeit der Bundesregierung zu qualifizieren sei. Da die Einsetzung des Untersuchungsausschusses verfas-sungskonform sei, sei der Bundestag dazu verpflichtet, ihn antragsgemäß einzusetzen. Aufgabenstellung Hat der – form- und fristgerecht eingereichte – Antrag der 154 Bundestagsabgeordneten (zum BVerfG) Aussicht auf Erfolg? Bearbeitervermerk Gehen Sie – gegebenenfalls hilfsgutachtlich – auf alle im Sachverhalt aufgeworfenen Rechtsfragen ein. Von der Ver-bandskompetenz des Bundes ist auszugehen. Eine Verletzung der Grundrechte der G ist nicht zu prüfen. Europarechtliche

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ÜBUNGSFÄLLE Jan-Marcel Drossel/Volker Herbolsheimer

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ZJS 6/2016 742

Bezüge sind nicht zu erörtern. Es ist nicht auf § 126a GOBT einzugehen. Lösungsvorschlag Der Antrag der 154 Bundestagsabgeordneten hat Aussicht auf Erfolg, wenn er zulässig und soweit er begründet ist. A. Zulässigkeit

I. Zuständigkeit des BVerfG Einschlägig ist das Organstreitverfahren, für das gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG das BVerfG zuständig ist. Eine Zuständigkeit des Bundesgerichtshofs (BGH) nach § 36 Abs. 1 PUAG ist nicht gegeben. Diese richtet sich nur auf Streitigkeiten im Rahmen des Untersu-chungsausschusses, soweit diese nicht dem BVerfG zugewie-sen sind.1 Nicht davon umfasst ist die (nach dem Verfas-sungsrecht zu beurteilende) Frage der Verfassungsmäßigkeit der Einsetzung des Untersuchungsausschusses,2 wie bereits § 36 Abs. 2 PUAG zeigt. § 36 Abs. 1 PUAG soll dem BGH keine Kompetenz zur Entscheidung verfassungsrechtlicher Fragen zuweisen.3 II. Beteiligtenfähigkeit, § 63 BVerfGG Beim Organstreit handelt es sich um ein kontradiktorisches Verfahren, so dass die Beteiligtenfähigkeit sowohl für den Antragsteller als auch für den Antragsgegner gesondert fest-zustellen ist. 1. Antragssteller (154 Abgeordnete)

Die 154 Bundestagsabgeordneten müssten nach § 63 BVerfGG beteiligtenfähig sein. Bereits auf den ersten Blick unterfallen sie nicht den dort ausdrücklich aufgeführten An-tragstellern. Es könnte sich bei ihnen jedoch als einzelne Abgeordnete um einen im Grundgesetz oder in den Ge-schäftsordnungen des Bundestages und des Bundesrates mit eigenen Rechten ausgestatteten Teil des in § 63 BVerfGG genannten Bundestags handeln. Voraussetzung dafür, dass ein Organteil vorliegt, ist aber bereits dem Wortsinn nach eine funktional-organisatorische Mindesteinheit: Die Abge-ordneten müssten eine Organisationsinstanz darstellen bzw. zumindest Organisationsaufgaben wahrnehmen, was nicht der Fall ist.4 Ein einzelner Abgeordneter ist daher kein Teil, sondern nur Mitglied des Bundestags. Etwas anderes könnte höchstens gelten, wenn die antragstellenden Abgeordneten derselben Fraktion angehören und geschlossen als Fraktion das BVerfG anrufen. Denn eine einzelne Fraktion stellt un-problematisch eine organisatorische Mindesteinheit und da-

1 Pieper/Spoerhase, Untersuchungsausschussgesetz, 2012, § 36 Rn. 1. 2 Siehe auch Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Bd. IV – Art. 23-53a, 76. Lfg., Stand: 2015, Art. 44 Rn. 248. 3 BVerfGE 113, 113 (123); 124, 78 (104); Pieper/Spoerhase (Fn. 1), § 36 Rn. 3. 4 Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 10. Aufl. 2015, Rn. 88; Ehlers, in: Ehlers/Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 17 Rn. 15.

mit ein Organteil des Bundestags dar.5 Hier sind die Abge-ordneten jedoch verschiedenen Fraktionen angehörig. Das sie verbindende Element ist vielmehr ausschließlich der Antrag auf Einrichtung des Untersuchungsausschusses.

Hinweis: Man könnte die Beteiligtenfähigkeit zwar nun über Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG herleiten, der gerade nicht die Eigenschaft eines Organteils erfordert, so dass die Parteifähigkeit – auch nach Ansicht des BVerfG – einzel-ner Abgeordneter in einem Organstreit letztlich nicht ab-gestritten werden kann.6 Dies wäre jedoch nicht zielfüh-rend. Zum einen gilt der Anwendungsvorrang des einfa-chen Rechts, so dass zunächst geprüft werden muss, ob die 154 Abgeordneten in diesem konkreten Fall nicht doch ausnahmsweise als Organteil heranzuziehen sind (siehe sogleich). Zum anderen aber ist offensichtlich, dass eine Rechtsverletzung nicht über Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG oder über andere allgemeine Rechte des einzelnen Abge-ordneten zu begründen ist, mithin spätestens die Antrags-befugnis fehlt, da sich aus diesen Rechten in Anbetracht der von Art. 44 Abs. 1 GG geforderten qualifizierten Minderheit gerade kein Recht des einzelnen Abgeordne-ten auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses her-leiten lässt.7 Insgesamt wäre es daher auch unschädlich gewesen, gar nicht oder nur sehr knapp auf die einzelnen Abgeordneten als Antragsteller einzugehen. Die meisten Bearbeiter stellten demgegenüber allerdings ausschließ-lich die Beteiligtenfähigkeit der einzelnen Abgeordneten fest und sorgten damit – sofern sie in der Antragsbefugnis auf ein möglicherweise verletztes Recht auf Einsetzung aus Art. 44 Abs. 1 GG eingingen und dies bejahten – für Inkohärenzen in ihrer Arbeit.

Die 154 Abgeordneten könnten jedoch gemeinsam als „Or-ganteil“ im Sinne von § 63 BVerfGG zu qualifizieren sein, bedenkt man, dass sie eine vom Grundgesetz mit Rechten und Pflichten versehene besondere Minderheit in einem Or-gan (hier: Bundestag) darstellen. Hintergrund ist, dass Abge-ordnete in bestimmten Fällen – insbesondere im Hinblick auf den vom Demokratieprinzip aufgestellten Minderheiten-schutz – besondere Funktionen erfüllen –, die es folglich auch prozessual zu schützen gilt. Daraus würde folgen, dass parlamentarischen Minderheiten zumindest in dem vom GG vorgesehenen Fällen, in denen ihnen eigene Rechte zugewie-sen werden, als Organteil zu qualifizieren wären.

Das ist vorliegend der Fall. Gemäß Art. 44 Abs. 1 GG hat der Bundestag auf Antrag mindestens eines Viertels seiner Mitglieder die Pflicht, einen Untersuchungsausschuss einzu-setzen (sog. Minderheitenenquête).8 Im Gegensatz zu bloßen Abstimmungsmehrheiten dient ein konkret in Hinsicht auf die Einsetzung erfolgter Zusammenschluss dieser Zahl von

5 BVerfGE 45, 1 (28); 67, 100 (125); 123, 267 (337 f.); 124, 78 (106); 131, 152 (190). 6 BVerfGE 62, 1 (32); 80, 180 (208 f.); 94, 351 (362 f.). 7 Vgl. dazu BVerfG, Urt. v. 3.5.2016 – 2 BvE 4/14, Rn. 92. 8 BVerfGE 67, 100 (126); vgl. BVerfGE 105, 197 (223); Klein (Fn. 2), Art. 44 Rn. 74.

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Übungshausarbeit: Brennende Neugier ÖFFENTLICHES RECHT

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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 743

Abgeordneten dabei einer konkreten demokratischen Funkti-on, nämlich der parlamentarischen Kontrolle der Regierung durch das Parlament.9 Abgeordnete in (wenigstens) dieser Zahl bilden damit – in Bezug speziell auf den Beschluss über die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses – gemein-sam einen Teil des Bundestages im Sinne des § 63 BVerfGG. Das insoweit konstituierende Element ist die Antragstellung durch die in Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG geforderte qualifizierte Minderheit von wenigstens einem Viertel der Bundestags-mitglieder.10 Diesen Abgeordneten als Teil des Bundestages stehen dabei zusammen auch eigene Rechte zu. Art. 44 Abs. 1 GG statuiert spiegelbildlich zu der normierten Pflicht, auf Antrag eines Viertels der Mitglieder des Bundestages einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, das subjektive Recht derselben auf eben jene Einsetzung.

Vorliegend stellen 154 von 615 Bundestagsabgeordneten den Antrag. Dabei handelt es sich um mehr als ein Viertel der Bundestagsmitglieder (Einsetzungsminderheit). Mithin sind sie gemeinsam beteiligtenfähig.11

Vertiefender Hinweis: Bei der Frage der Beteiligtenfähig-keit ist nach h.M. grundsätzlich eine abstrakte Betrach-tungsweise anzuwenden. Die Frage, ob der Antragssteller (oder -gegner) tatsächlich beteiligtenfähig ist, hängt damit also nicht vom konkreten Fall bzw. von den konkret be-troffenen Rechten ab, sondern allein davon, ob der An-tragsteller allgemein beteiligtenfähig sein kann. Davon wird hier eine Ausnahme gemacht, weil eine Beteiligten-fähigkeit einer Minderheitenenquête nur für den Fall überzeugend ist, dass ihre auf die demokratische Funktion ausgerichtete Rechte berührt sind (insb. Einsetzung des Untersuchungsausschusses; Mitwirkungsrechte).12

2. Antragsgegner (Bundestag)

Antragsgegner ist der nach § 63 BVerfGG beteiligtenfähige Bundestag.13

9 Siehe BVerfG, Urt. v. 3.5.2016 – 2 BvE 4/14, Rn. 90; Schneider, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1995, § 13 Rn. 99 ff.; Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck-OK GG, 28. Aufl. 2016, Art. 38 Rn. 25 f.; Klein, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hand-buch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 50 Rn. 33 ff. 10 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), BVerfGG, 37. Lfg., Stand: 2012, § 63 Rn. 48; Glauben, in: Glauben/Brocker (Hrsg.), Das Recht der parla-mentarischen Untersuchungsausschüsse, 2. Aufl. 2011, § 8 Rn. 1 ff.; vgl. BVerfGE 67, 100 (124). 11 Siehe dazu auch Glauben (Fn. 10), § 8 Rn. 1 ff.; knapp bejahend BVerfGE 113, 113 (120) sowie BVerfGE 124, 78 (106 f. m.w.N.) 12 Siehe dazu BVerfGE 84, 304 (318); vgl. auch Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2001, Rn. 1004; Bethge (Fn. 10), § 63 Rn. 35 f. 13 Glauben (Fn. 10), § 8 Rn. 13; BayVerfGHE 34, 119 (121).

III. Antragsgegenstand, § 64 Abs. 1 BVerfGG Antragsgegenstand kann nach § 64 Abs. 1 BVerfGG jede rechtserhebliche Maßnahme des Antragsgegners in Form eines Handelns, Duldens oder Unterlassens sein. Rechtser-heblich ist eine Maßnahme dann, wenn sie „geeignet ist, die Rechtsstellung des Antragstellers zu beeinträchtigen“.14 Bei einem Unterlassen ist die Rechtserheblichkeit bei der Mög-lichkeit einer bestehenden Rechtspflicht zum entsprechenden Handeln zu bejahen.15 Hier hat der Bundestag die Einsetzung des Untersuchungsausschusses durch seinen Beschluss abge-lehnt. Es liegt daher – zumindest schwerpunktmäßig – ein Unterlassen vor. Nach Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG besteht auf „Antrag eines Viertels seiner Mitglieder“ die Pflicht des Bundestags, den Untersuchungsausschuss einzusetzen. Infol-gedessen könnte die entsprechende Weigerung hier gegen diese Pflicht verstoßen. Das Unterlassen war mithin auch rechtserheblich und ist daher ein tauglicher Antragsgegen-stand. IV. Antragsbefugnis, § 64 Abs. 1 BVerfGG Die Antragsbefugnis ist gegeben, wenn der Antragsteller geltend macht, dass er in eigenen verfassungsmäßigen (Or-gan-)Rechten verletzt ist, § 64 Abs. 1 BVerfGG. Dabei reicht es für die Antragsbefugnis aus, wenn die Rechtsverletzung nicht von vorneherein ausgeschlossen, mithin möglich er-scheint.16 Dadurch sollen sowohl Popularklagen sowie aus prozessökonomischen Gründen offensichtlich unbegründete Klagen ausgeschlossen werden.17 Die Einsetzungsminderheit hat hier geltend gemacht, durch das verfassungswidrige Un-terlassen der Einsetzung des Untersuchungsausschusses durch den Bundestag in ihren Rechten verletzt zu sein. Dies erscheint vorliegend nicht von vorneherein als aussichtslos. Durch die Ablehnung der Einsetzung des Untersuchungsaus-schusses könnte der Bundestag insbesondere das subjektive Recht der Einsetzungsminderheit aus Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG (vgl. oben) missachtet haben, das sich spiegelbildlich aus der Pflicht zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses auf Antrag von mindestens einem Viertel der Bundestagsmitglie-der ergibt. V. Form (§ 23 Abs. 1 BVerfGG) und Frist (§ 64 Abs. 3 BVerfGG) Der Antrag ist form- und fristgerecht gestellt. VI. Zwischenergebnis Der Organstreit der Einsetzungsminderheit ist zulässig.

14 BVerfGE 118, 277 (317); vgl. auch Schlaich/Korioth (Fn. 4), Rn. 93. 15 BVerfGE 96, 264 (277); vgl. Ehlers (Fn. 4), § 17 Rn. 25. 16 BVerfGE 104, 14 (19); 108, 251 (271); Schlaich/Korioth (Fn. 4), Rn. 94, 94a m.w.N. 17 Bethge (Fn. 10), § 64 Rn. 53 f.

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ÜBUNGSFÄLLE Jan-Marcel Drossel/Volker Herbolsheimer

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ZJS 6/2016 744

B. Begründetheit Der Antrag ist begründet, wenn der Beschluss des Bundes-tags gegen das Grundgesetz verstößt (vgl. § 67 S. 1 BVerfGG) und die Antragsteller in ihren Rechten verletzt (vgl. § 64 Abs. 1 BVerfGG). I. Verfassungsverstoß Der Bundestagsbeschluss müsste gegen das Grundgesetz verstoßen. Dies setzt voraus, dass der Bundestag entweder nicht berechtigt ist, die Einsetzung von Untersuchungsaus-schüssen insgesamt zu verweigern, oder die Verweigerung im Einzelfall verfassungswidrig war. 1. Prüfungsrecht des Bundestags

Der Bundestagsbeschluss könnte bereits deshalb verfas-sungswidrig sein, weil der Bundestag nach Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG ohne jedwede materielle Prüfung zu einer Einset-zung von Untersuchungsausschüssen verpflichtet ist. Fraglich ist daher, ob der Bundestag die Einsetzung verweigern darf.18

Für eine uneingeschränkte Einsetzungspflicht spricht zu-nächst der Wortlaut des Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG, der aus-drücklich von einer „Pflicht“ des Bundestags spricht. Ge-stützt wird dies durch eine teleologische Betrachtung der Norm. Ein Untersuchungsausschuss folgt dem Ziel parlamen-tarischer Kontrolle vor allem der Regierung und hat damit insbesondere eine demokratische Funktion. Das moderne demokratische System ist geprägt von einem Reibungsver-hältnis zwischen der von der Mehrheit der Abgeordneten gestützten Regierung und der die Minderheit bildenden Op-position, so dass das Recht der Untersuchungsausschüsse ein klassisches Minderheitenrecht und als solches Ausprägung des Demokratieprinzips ist.19 Dieses Recht würde konterka-riert, sobald die Mehrheit im Bundestag die Einsetzung des Kontrollorgans verhindern dürfte.

Gegen eine uneingeschränkte Einsetzungspflicht sprechen aber systematische Überlegungen, namentlich der Grundsatz der „Einheit der Verfassung“ bei einem Blick auf die Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG. Denn auch der Bundestag ist gemäß diesen Normen bei der Einsetzung des Untersuchungsaus-schusses als Akt hoheitlicher Gewalt zumindest an die Ver-fassung gebunden. Daraus kann abgeleitet werden, dass Untersuchungsausschüsse bzw. -gegenstände, die mit der Verfassung materiell nicht übereinstimmen, nicht von der Einsetzungspflicht umfasst sind. Dementsprechend darf der Bundestag die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses verweigern, sofern sie verfassungswidrig ist.20 Teilweise wird

18 Siehe dazu insbesondere Glauben (Fn. 10), § 6 Rn. 17 ff. 19 Vgl. dazu insgesamt Klein (Fn. 2), Art. 44 Rn. 74 ff.; Reinhardt, NVwZ 2014, 991; Huber, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 9), § 47 Rn. 50 ff. 20 Klein (Fn. 2), Art. 44 Rn. 77 f., mit Hinweis auf BayVerfGH 47, 87 (124); So auch Wiefelspütz, DÖV 2002, 803 (805); Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Bd. II, 6. Aufl. 2010, Art. 44 Rn. 87; Gärditz, in: Waldhoff/Gärditz (Hrsg.), PUAG, 2015, § 2 Rn. 7 f.;

hierbei – analog zum Prüfungsrecht des Bundespräsidenten – ein Ablehnungsrecht des Parlaments nur dann bejaht, wenn die Verfassungswidrigkeit des Untersuchungsgegenstandes bzw. -antrages offensichtlich ist.21

Hinweis: Mit derselben Argumentation lässt sich die Fra-ge klären, inwieweit der Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses von der Mehrheit des Bundes-tags geändert werden darf. Denn auch hier besteht die Ge-fahr der Vereitelung des Minderheitenrechts, wenn die Minderheit nicht selbst den Untersuchungsgegenstand be-stimmen darf. Bei verfassungswidrigen Untersuchungs-gegenständen ist jedoch auch hier eine Ausnahme auf-grund von Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG zuzulassen.22

2. Verfassungsmäßigkeit der Einsetzung des Untersuchungs-ausschusses

Die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zum Thema „Gesetzgebungsoutsourcing im Rahmen des WFG-Gesetz-gebungsverfahren und daraus resultierende verfassungsrecht-liche Probleme“ müsste daher verfassungsgemäß sein. Dies ist sie, wenn sie auf einer tauglichen Rechtsgrundlage beruht und formell wie materiell den verfassungsrechtlichen An-sprüchen genügt. Zu beachten ist, dass insoweit auf die hypo-thetische Einsetzung abgestellt wird, da der Bundestag gerade beschlossen hat, keinen Untersuchungsausschuss einzusetzen. a) Rechtsgrundlage

Rechtsgrundlage der Einsetzung eines Untersuchungsaus-schusses ist Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG. b) Formelle Voraussetzungen der Einsetzung

Die hypothetische Einsetzung des Untersuchungsausschusses müsste formell verfassungsgemäß sein, d.h. die verfassungs-rechtlichen Anforderungen hinsichtlich Zuständigkeit, Ver-fahren und Form müssten vorliegen. aa) Zuständigkeit

Die Verbandskompetenz ist laut Sachverhalt gegeben. Die Organkompetenz zur Einrichtung von Untersuchungsaus-schüssen liegt nach Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG beim Bundestag, an den der Antrag gestellt wurde.23 bb) Verfahren

Gemäß Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG bedarf eine Minderheiten-enquête eines Antrags von mindestens einem Viertel der

Caspar, DVBl. 2004, 845 (849); Geis, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 9), § 55 Rn. 22. 21 Scholz, AöR 105 (1980), 564 (565); vgl. Glauben (Fn. 10), § 6 Rn. 20. 22 Brocker, in: Epping/Hillgruber (Fn. 9), Art. 44 Rn. 33 f.; Glauben (Fn. 10), § 6 Rn. 26 ff. 23 Morlok/Michael, Staatsorganisationsrecht, 2. Aufl. 2015, § 11 Rn. 118; vgl. Glauben, in: Glauben/Brocker (Hrsg.), PUAG, 2011, § 1 Rn. 16; Klein (Fn. 2), Art. 44 Rn. 86 f.; Achterberg/Schulte (Fn. 20), Art. 44 Rn. 86 f.

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Mitglieder des Bundestags. Vorliegend haben 154 Bundes-tagsabgeordnete – mehr als ein Viertel der 615 Bundestags-abgeordneten (siehe oben) – einen Antrag gestellt. Auf weite-re Verfahrensfragen kann wegen der hypothetischen Prü-fungssituation nicht eingegangen werden. cc) Form

Der Untersuchungsgegenstand müsste auch hinreichend be-stimmt sein.24 Dazu muss erkennbar sein, welcher konkrete Sachverhalt behandelt wird und welche Zielrichtung der Untersuchungsausschuss verfolgen soll.25 Der Untersu-chungsausschuss soll hier die Thematik „Gesetzgebungsout-sourcing im Rahmen des WFG-Gesetzgebungsverfahren und daraus resultierende verfassungsrechtliche Probleme“ behan-deln. Dabei wird der zu untersuchende Sachverhalt einge-grenzt, nämlich auf das Gesetzgebungsoutsourcing in einem konkreten Gesetzgebungsverfahren. Auch die Zielrichtung ist vermittels des Bezugs auf verfassungsrechtliche Probleme genau festgelegt. Der Untersuchungsgegenstand ist damit hinreichend bestimmt. dd) Zwischenergebnis

Die hypothetische Einsetzung des Untersuchungsausschusses wäre formell verfassungsgemäß. c) Materielle Verfassungsmäßigkeit der Einsetzung

Die hypothetische Einsetzung des Untersuchungsausschusses müsste auch materiell verfassungsgemäß sein.26 aa) Gewaltenteilung/Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 3 GG

(1) Grundsatz: Kein Eingriff in den Kernbereich einer ande-ren Gewalt

Nach der sogenannten Korollartheorie darf der Untersu-chungsausschuss als Untergliederung des Bundestags nicht über weitergehende Kompetenzen als der Bundestag selbst verfügen.27 Dies gilt sowohl auf vertikaler wie auch auf hori-

24 Teils wird dies auch als materielle Anforderung geprüft, siehe nur Heinze, Systematisches Fallrepetitorium Verfas-sungsrecht, 2014, S. 201. 25 Glauben (Fn. 10), § 6 Rn. 8 f.; Waldhoff, in: Waldhoff/ Gärditz (Fn. 20), § 1 Rn. 40; Caspar, DVBl. 2004, 845 (847). 26 Das Prüfungsschema für die materielle Verfassungsmäßig-keit der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen wird in den verschiedenen Lehr- und Fallbüchern sehr unterschied-lich gehandhabt. Sinnvoll ist es, zu überlegen, auf welche Prüfungspunkte es im konkreten Fall ankommt und diese dann je nach Relevanz zu diskutieren. Eine zu schematisch vorgenommene Bearbeitung sollte in jedem Fall vermieden werden – vor allem vor dem Hintergrund, dass keine Einset-zung erfolgt ist, so dass zum Beispiel die Prüfung der richti-gen Zusammensetzung des Untersuchungsausschusses, die häufig in Schemata genannt wird, fehl am Platze wäre. 27 Der Begriff geht zurück auf Zweig, ZfP 6 (1913), 265; siehe dazu insbesondere Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 44 Rn. 19 f.; Brocker (Fn. 22), Art. 44 Rn. 5; Glauben (Fn. 23), § 1 Rn. 23; Achterberg/

zontaler Ebene. Der Untersuchungsgegenstand darf daher weder das Bundesstaatsprinzip (vertikal) verletzen, d.h. in den Kompetenzbereich der Länder eingreifen, was hier offen-sichtlich nicht der Fall ist, noch den Gewaltenteilungsgrund-satz (horizontal) aus Art. 20 Abs. 3 GG missachten, d.h. in die Kompetenzen eines anderen Verfassungsorgans oder einer anderen Gewalt eingreifen. In Betracht kommt hier eine Verletzung des Gewaltenteilungsgrundsatzes.

Dabei ist zu bedenken, dass dem GG keine strenge Ge-waltenteilung,28 sondern vielmehr eine Gewaltengliederung zu Grunde liegt.29 Das bedeutet, dass die jeweiligen Gewalten nach der grundgesetzlichen Konzeption nicht nur über eige-ne, nur ihrer Direktion unterworfene Kompetenzbereiche verfügen, sondern es insbesondere zu Verschränkungen zwi-schen den Gewalten kommen soll. Angesichts dieser nicht starren Gewaltengliederung kann das GG dem Untersu-chungsausschuss nur insoweit eine Grenze setzen, als tatsäch-lich ein ausschließlich einer anderer Gewalt zugeordneter Kompetenzraum betroffen wäre. Vor dem parlamentarischen Untersuchungsrecht kann in diesem Zusammenhang mit Blick auf die Bundesregierung nur der Kernbereich ihres Handelns geschützt sein.30 Der Untersuchungsausschuss darf daher nicht Kernaufgaben exekutiver Eigenverantwortung der Bundesregierung untersuchen oder gar wahrnehmen. Nicht ausgeschlossen ist indes eine parlamentarische Kontrolle außerhalb dieses Kernbereichs; im Gegenteil: Bereits auf-grund des Demokratieprinzips aus Art. 20 Abs. 1, 2 GG ge-hört es zu den Aufgaben des Bundestags, die Tätigkeit der Bundesregierung zu kontrollieren.31 (2) Gesetzgebungsoutsourcing als Kernbereich der Exekuti-ve?

Fraglich ist daher, ob der Untersuchungsausschuss diesen Kernbereich – zumeist als „Arkanbereich“32 bezeichnet – verletzt. Hintergrund des Kernbereichs exekutiver Eigenver-antwortung ist, dass ein Übergriff der Gesetzgebung in den originär der Bundesregierung zustehenden Entscheidungsbe-reich verhindert werden soll. Die Idee des Kernbereichs soll dabei die Beantwortung der Frage nach der Zulässigkeit des Untersuchungsgegenstandes insoweit erleichtern, als dadurch die Prüfung auf eine speziellere Frage gelenkt und damit konkretisiert wird („Handelt es sich um den Kernbereich?“ statt „Verstößt der Untersuchungsgegenstand gegen das Ge-waltenteilungsprinzip?“) und infolgedessen ein scheinbar „festeres“ Prüfungsprogramm entwickelt wird.

Was genau dem Kernbereich exekutiver Eigenverantwor-tung unterfällt, ist aber wiederum in den Einzelheiten umstrit-ten. Insgesamt handelt es sich nicht um einen sachlich fest

Schulte (Fn. 20), Art. 44 Rn. 2; Waldhoff (Fn. 25), § 1 Rn. 62 f. 28 Siehe nur BVerfGE 124, 78 (120) sowie 137, 185 (232, 234). 29 Möllers, Gewaltengliederung, 2005. 30 Vgl. BVerfGE 67, 100 (139); 124, 78 (120 f.). 31 BVerfGE 137, 185 (232 f.). 32 Glauben (Fn. 10), § 5 Rn. 48; Morlok (Fn. 27), Art. 44 Rn. 27.

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konturierten Bereich, dessen Inhalte enumerativ feststehen. Es geht letztlich vielmehr um die Frage, welche Gegenstände und Fragestellungen im Verhältnis zum Aufklärungsinteresse des Parlaments respektive der Öffentlichkeit mit Blick auf die Funktionsfähigkeit der Regierung als übergeordnet anzusehen sind, mithin um die Abwägung der beiderseitigen Funktions-interessen.33 Auf der einen Seite stehen das Interesse und die Aufgabe des Bundestages, die Bundesregierung in Verwirkli-chung des Demokratieprinzips zu kontrollieren und Miss-stände – möglichst frühzeitig – aufzudecken. Diese Aufgabe effektiv wahrzunehmen ist Hintergrund der Möglichkeit, Untersuchungsausschüsse einzurichten, denen diese Aufklä-rung gerade obliegt.34 Auf der anderen Seite steht demgegen-über das Interesse der Bundesregierung, die ihr funktional zustehenden Aufgaben effizient und autonom auszuüben.35 Der Bundestag soll gerade nicht die Möglichkeit haben, eine Art „Mitregierung“ zu bilden und den originären Verantwor-tungsbereich der Bundesregierung zu usurpieren. Beide Inte-ressen sind (offenkundig) gegenläufig: Optimal ließe sich die Kontrolle vor allem dann gestalten, wenn jedwede Entschei-dung unmittelbar überwacht würde. Eine eigenverantwortli-che Aufgabenwahrnehmung der Bundesregierung wäre hin-gegen ohne irgendeine Form der Kontrolle am effizientesten möglich, die ihren Handlungsspielraum einengt. Diese Lö-sungsszenarien liefen indes beide auf ihre Art der Gewalten-gliederung entgegen, nämlich entweder, indem gar keine Aufteilung der Staatsgewalt (zumindest der Exekutive und Legislative) mehr erfolgte oder sie demgegenüber zu einer vollumfänglichen Gewaltentrennung ohne Checks and Balances würde. Dementsprechend ist ein Mittelweg in Form eines Ausgleichs zu finden, welcher der Bundesregierung mit Blick auf ihre wesentlichen Aufgaben umfassende eigene Entscheidungsbefugnisse belässt, wenn auch die parlamenta-rische Kontrolle nicht vollumfänglich zurückgedrängt wird. Genau darum geht es bei dem Kern- oder Arkanbereich exe-kutiver Eigenverantwortung, in den von Seiten des Bundesta-ges jedenfalls prinzipiell nicht eingegriffen werden darf und der zumeist als „grundsätzlich nicht ausforschbarer Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich der Exekutive“36 definiert wird.

Da diese Definition ihrerseits wiederum kaum Anhalts-punkte gibt, wann ein dazugehöriger Eingriff anzunehmen ist, ist es notwendig, verschiedene genau spezifizierte Kriterien heranzuziehen, um festzustellen, ob ein solcher vorliegt. Häufig wird vorrangig darauf abgestellt, ob der zu untersu-chende Vorgang noch andauert oder ob bereits abgeschlossen

33 BVerfGE 124, 78 (123); Glauben (Fn. 23), § 1 Rn. 32; ders. (Fn. 10), § 5 Rn. 55; Morlok/Michael (Fn. 23), § 11 Rn. 120. 34 BVerfGE 124, 78 (116). 35 Klein (Fn. 2), Art. 44 Rn. 151. 36 BVerfGE 67, 100 (139); 124, 78 (121); 137, 185 (234/235); vgl. auch Morlok/Michael (Fn. 23), § 11 Rn. 120; Glauben (Fn. 10), § 5 Rn. 49; ders. (Fn. 23), § 1 Rn. 31; Brocker (Fn. 22), Art. 44 Rn. 12; Gärditz (Fn. 20), § 2 Rn. 9.

ist.37 Seine Begründung findet dieses Vorgehen in obiger Funktionsabwägung und der Frage nach der übergreifenden Ausübung des parlamentarischen Kontrollrechts des Parla-ments.38 Dieses Kontrollrecht soll zumindest grundsätzlich eine nachträgliche Untersuchung von Vorgängen umfassen, damit das Handeln der Bundesregierung insgesamt auf Miss-stände hin untersucht werden kann.39 Zu noch andauernden Vorgängen soll die Einsetzung eines Untersuchungsaus-schusses hingegen unzulässig sein, damit ein aktives „Mitre-gieren“ durch den Untersuchungsausschuss verhindert wird.40 Die dahinterstehende Idee ist letztlich, dass die Bundesregie-rung durch einen Untersuchungsausschuss, der ihre laufenden Maßnahmen näher in den Blick nimmt, in ihrem Handlungs-bereich bei ihrer eigenen Arbeit aktiv eingeschränkt werden könnte und sie somit keinen Spielraum mehr hätte, um diese eigenverantwortlich zu erledigen. Die Rückbindung an ein letztlich parlamentarisches Gremium bei laufenden Prozessen könnte eine funktionelle Wahrnehmung der Regierungsarbeit durch den Bundestag bedeuten. Demgegenüber steht einer nachträglichen Überprüfung prinzipiell nichts entgegen: Der Bundestag kann seiner Kontrollaufgabe nachkommen und die Bundesregierung ist durch die Möglichkeit späterer Bean-standung ihres Fehlverhaltens dazu gezwungen, jedenfalls verfassungs- und rechtswidrige Lösungen zu vermeiden. Freilich bedeutet auch die nachträgliche Kontrolle eine Ein-schränkung der Bundesregierung, namentlich vor allem mit Blick auf zukünftige Entscheidungen. Das ist aber insoweit hinnehmbar, als dies einerseits gerade der Sinn der demokra-tischen Kontrolle ist und andererseits jedenfalls keine Einmi-schung in die Erledigung konkret anstehender Sachverhalten erfolgt.

Hinweis: In Literatur und Rechtsprechung herrscht Unei-nigkeit über die Frage, in welchem Umfang bereits abge-schlossene Sachverhalte exekutiven Handelns vom Kont-rollrecht des Parlaments umfasst sind. Einerseits wird pauschal eine umfängliche Kontrollmöglichkeit bejaht,41 andererseits wird teilweise auch bei bereits abgeschlosse-nen Sachverhalten unter bestimmten Umständen eine Kontrollsperre favorisiert.42 Das BVerfG hat sich der zu-letzt genannten Ansicht angeschlossen, nimmt aber letzt-

37 BVerfGE 67, 100 (139); 137, 185 (234 f.); Pieper/ Spoerhase (Fn. 1), § 1 Rn. 15; Glauben (Fn. 10), § 5 Rn. 50; Morlok/Michael (Fn. 23), § 11 Rn. 120; Schröder, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspra-xis, 1989, § 46 Rn. 16; Klein (Fn. 2), Art. 44 Rn. 147 f. 38 BVerfGE 62, 1 (40  ff.); 67, 100 (129  ff.); vgl. auch Klein (Fn. 2), Art. 44 Rn. 149. 39 BVerfGE 124, 78 (123); Edinger, ZParl 35 (2004), 305 (308). 40 BVerfGE 67, 100 (139); 137, 185 (234 f.); Degenhart, Staatsrecht I, 31. Aufl. 2015, Rn. 640; anders Klein ([Fn. 2], Art. 44 Rn. 149 f.), der das „Mitregieren“ als ein Wesens-merkmal des Untersuchungsausschusses ansieht; vgl. auch Waldhoff (Fn. 25), § 1 Rn. 20. 41 BremStGH DVBl. 1989, 453 (455 ff.). 42 Scholz, AöR 105 (1980), 564 (565).

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lich regelmäßig eine Abwägungsentscheidung im Einzel-fall vor.43

Welche Kriterien darüber hinaus herangezogen werden kön-nen, ist nicht abschließend festgelegt. Entscheidend ist inso-weit, ob die Funktionsfähigkeit der Bundesregierung an sich unmöglich wird, sie handlungsunfähig wird oder ihr keine eigenen Kompetenzen mehr verbleiben.44 Maßgeblich kön-nen dafür zunächst vom GG selbst getroffene Zuordnungen sein: Wo das GG eine eigenständige Kompetenz der Bundes-regierung in Bezug auf Einzelfragen vorsieht – verwiesen werden kann beispielsweise auf Art. 26 Abs. 2 GG –45, spricht vieles dafür, nur eine eingeschränkte Kontrolle zuzu-lassen. Darüber hinaus kann die funktionelle Einordnung der untersuchten Tätigkeit zu den Gewalten entscheidend sein – vor allem also die Frage, ob die Bundesregierung eigene exekutive Aufgaben wahrnimmt, oder es sich eher um Tätig-keiten handelt, die von der Art her einer anderen Gewalt zuzuordnen sind und beispielsweise aus Effektivitätsgründen in dem nicht komplett auf Trennung ausgerichteten System des GG der Bundesregierung zugewiesen werden. Auch kann grundsätzlich darauf abgestellt werden, ob es sich um Fragen der internen Willensbildung der Bundesregierung handelt.46 Gerade wenn diese durch Untersuchungsausschüsse unter-sucht würde, würde direkt auf die institutionelle Funktionsfä-higkeit der Bundesregierung eingewirkt. Informationen über Erörterungen im Kabinett sollen in diesem Zusammenhang beispielsweise eine hohe Schutzwürdigkeit zukommen.47 Umfasst sein können aber auch dazugehörige Vorbereitungs-maßnahmen von Entscheidungen der Bundesregierung. Das BVerfG stellt insoweit allerdings fest, dass bezüglich Vorbe-reitungsprozessen und -unterlagen ein nachträgliches Infor-mationsrecht bestehen kann, da dieses ansonsten leer liefe, wenn lediglich die letztendliche Entscheidung mitgeteilt werden müsste,48 womit das Gericht auch in diesem Zusam-menhang insbesondere auf die zeitliche Komponente abstellt. Hintergrund dieser Überprüfungsmöglichkeit ist vor allem, dass Fehler in der Entscheidungsfindung aufgedeckt werden können und sollen.49 Insgesamt sind nach der Recht-sprechung des BVerfG bei der Abwägung Informationen über den Willensbildungsprozess umso schutzwürdiger, je näher sie der ureigenen Entscheidungskompetenz der Regierung stehen.50

Bei der Einsetzung des Untersuchungsausschusses zum Thema „Gesetzgebungsoutsourcing im Rahmen des WFG-Gesetzgebungsverfahrens und daraus resultierende verfas-

43 BVerfGE 124, 78 (121); 67, 100 (139); vgl. Waldhoff (Fn. 25), § 1 Rn. 21 ff. 44 Glauben (Fn. 10), § 5 Rn. 53 f.; Morlok (Fn. 27), Art. 44 Rn. 27; Klein (Fn. 2), Art. 44 Rn. 152 f.; Busse, DÖV 1989, 45 (49). 45 Siehe dazu nur BVerfGE 137, 185. 46 Vgl. BVerfGE 67, 100 (139). 47 BVerfGE 124, 78 (121). 48 BVerfGE 124, 78 (121 f.). 49 Vgl. BVerfGE 124, 78 (121). 50 BVerfGE 124, 78 (121).

sungsrechtliche Probleme“ handelt es sich nach diesen Maß-stäben nicht um einen Eingriff in den Arkanbereich der Ei-genverantwortung der Bundesregierung.

Eingangs ist festzuhalten, dass ein abgeschlossener Vor-gang – in tatsächlicher Hinsicht geht es um das mit dem In-krafttreten schon beendete WFG-Gesetzgebungsverfahren – untersucht werden soll. Bereits das streitet dafür, tendenziell keinen Übergriff des Bundestags in die Kompetenzen der Bundesregierung anzunehmen, besteht doch nicht die Gefahr eines Mitregierens.

Auch aus einer rechtlichen Bewertung der funktionalen Zuordnung der Tätigkeiten ergibt sich nichts anderes: Bei der Erstellung eines Gesetzesentwurfs handelt es sich nicht um eine Tätigkeit der Bundesregierung, die der Kontrolle durch den Bundestag entzogen ist, um die Funktionsfähigkeit zu gewährleisten oder die Aufteilung der Staatsgewalt zu si-chern.

Für einen Eingriff in den Kernbereich spricht zunächst, dass das Gesetzgebungsoutsourcing vorliegend der Vorberei-tung einer Entscheidung der Bundesregierung diente, nämlich der Initiierung eines Gesetzgebungsverfahrens. Auf den ers-ten Blick könnte es sich damit um die Vorarbeiten für eine Maßnahme der internen Willensbildung handeln, die deswe-gen zu schützen sein müsste. Bei einer Gesetzesinitiative durch die Bundesregierung nach Art. 76 Abs. 1 GG handelt es sich um eine ihr eigens zustehenden Entscheidung: Sie selbst hat formal das Recht, ein Gesetzgebungsverfahren zu initiieren, ohne dass genauere verfassungsrechtliche Vorga-ben bestünden, wie sie zu dieser Entscheidung gelangt. Es handelt sich um eine politische Entscheidung, die zu treffen ihr selbst obliegt. Die Art und Weise der Vorbereitung dieses Aktes ist daher grundsätzlich ihr überlassen. Das vorliegende Gesetzgebungsoutsourcing diente dabei der Erstellung eines eigenen Vorschlags der Bundesregierung und steht der Vor-bereitung einer Kabinettsentscheidung damit strukturell nahe. Die Untersuchung der Konzeption und Erstellung von Geset-zesentwürfen der Bundesregierung durch den Bundestag könnte in diesem Zusammenhang zuletzt die Funktionsfähig-keit der Regierung gefährden, da sie nicht mehr frei in der Erarbeitung ihrer eigenen Entscheidung wäre.

Demgegenüber spricht bereits der Grundcharakter der Ini-tiierung des Gesetzgebungsverfahrens gegen die Annahme einer der Kontrolle durch die Legislative entzogenen Ent-scheidung: Mit der Gesetzesinitiative leitet die Bundesregie-rung nämlich einen legislativen Akt ein und arbeitet nur der gesetzgebenden Gewalt zu. Die Bundesregierung ist im poli-tischen System der Bundesrepublik Deutschland zwar grund-sätzlich als exekutive Gewalt einzuordnen,51 indes weist die konkret vorbereitete Entscheidung eher legislativen Charakter auf. Das zu untersuchende Gesetzgebungsoutsourcing diente der Vorbereitung einer Gesetzesinitiative durch die Bundes-regierung nach Art. 76 Abs. 1 GG, mit der das Gesetzge-bungsverfahren – die Handlungsform der legislativen Gewalt – in Gang gesetzt wurde. Dies vermag schon Zweifel zu begründen, ob es sich bei der Gesetzesinitiative überhaupt um

51 Vgl. nur Heun, Die Verfassungsordnung der Bundesrepub-lik Deutschland, 2012, S. 149 ff.

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einen Teil des Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung handeln kann. Zwar ist die Entscheidung über die jeweiligen Initiativen der Bundesregierung als Organ zugeordnet, es ist aber keine ureigene exekutive Funktion, die wahrgenommen wird. Gleiches gilt damit auch für die Vorbereitung speziell dieses Akts der Bundesregierung. Darüber hinaus ist wenigs-tens zweifelhaft, ob das Gesetzgebungsoutsourcing in diesem Fall überhaupt als Teil des Willensbildungsprozesses der Bundesregierung anzusehen ist. Genau besehen dient es dem Entschluss der Bundesregierung lediglich beim Finden des Ausgangspunkts der eigenen Beratung, ist dem eigentlichen Willensbildungsprozess innerhalb des Ressorts und Kabinetts also vorgeschaltet. Insoweit kann in Bezug auf die Mitwir-kung außenstehender Dritter im Vorhinein eine regierungsin-terne Willensbildung nicht angenommen werden.

Des Weiteren ist zu beachten, dass sich die Initiative der Bundesregierung im Regelfall in erheblichem Maße inhalt-lich auf das Gesetzgebungsverfahren auswirkt.52 Der Frage nach den Umständen der Erstellung von Gesetzesentwürfen respektive nach dem Gesetzgebungsoutsourcing kommt daher erhebliche demokratische Bedeutung zu, die ein gesteigertes Eigeninteresse des Parlaments an der Untersuchung der tat-sächlichen Umstände der Mitwirkung der Bundesregierung im Gesetzgebungsverfahren begründet. Dies gilt insbesonde-re, wenn Dritte den Entwurf eines Gesetzes erstellen, das sie später selbst betrifft. Die mögliche Gefahr einer „Fraternisie-rung“ von Regierung und betroffenen Dritten ist für das Par-lament als „Zentralorgan der Demokratie“53 von großer Be-deutung und kann überdies delegitimierende Wirkung entfal-ten, wenn nur noch ein von Privaten erstellter Legislativakt gleichsam „durchgewunken“ wird. Auch könnte es für Ände-rungen des Gesetzesentwurfes durch den Bundestag im lau-fenden Gesetzgebungsverfahren von Bedeutung sein, ob er von Dritten erstellt wurde. Dies legt nämlich nahe, ihn einer genauen Überprüfung hinsichtlich der Umsetzung sachfrem-der Interessen zu unterziehen.

Schließlich ist die Frage des Ablaufs der Gesetzesinitiati-ve mittelbar entscheidend für die rechtliche Beurteilung des Gesetzgebungsverfahrens selbst. Je nachdem, wie die Zu-sammenarbeit abgelaufen ist, könnte ein Verstoß gegen die Art. 76 ff. GG vorliegen.54 Auch wenn der Untersuchungs-ausschuss keine rechtlichen, sondern nur tatsächlichen Fragen klären darf, bilden die faktischen Abläufe und Gegebenheiten die Grundlage für eine entsprechende spätere verfassungs-rechtlichen Wertung. Da die Praxis des Gesetzgebungsout-sourcings verfassungsrechtlich umstritten ist, kann freilich ein berechtigtes Bedürfnis daran bestehen, seine Zulässigkeit – auch und vor allem mit Blick auf zukünftige Gesetzge-bungsvorhaben – zu klären.

52 Siehe Heun (Fn. 51), S. 126 f., 155. 53 Morlok/Hientzsch, JuS 2011, 1. 54 Zur Verfassungsmäßigkeit des Gesetzgebungsoutsourcing Krüper, JZ 2010, 655; Battis, ZRP 2009, 201; Degenhart (Fn. 40), Rn. 220 f.; Kloepfer, Gesetzgebungsoutsourcing, 2011; Kersten, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Bd. III – Art. 38-91, 61. Lfg., Stand: 2011, Art. 76 Rn. 41.

Insgesamt liegt angesichts des hohen Aufklärungsinteres-ses des Parlaments und der nur geringen Auswirkungen auf die Funktions- und Handlungsfähigkeit der Regierung sowie aufgrund des Charakters der durch das Gesetzgebungsout-sourcing vorbereiteten Entscheidung als der legislative zuzu-ordnenden Maßnahme kein Eingriff in den Kernbereich exe-kutiver Tätigkeit vor (a.A. bei entsprechender Argumentation vertretbar).

Hinweis: Eine andere Ansicht ist bei guter Argumentation vertretbar. Es können auch andere/weitere Kriterien zur Untersuchung der Frage, ob der Kernbereich der exekuti-ven Tätigkeit verletzt wird, herangezogen werden. Wich-tig ist, dass die Bearbeiter sich mit dieser Problemstellung auseinandersetzen und sie fundiert juristisch bewältigen. Dabei kann als Hauptargument durchaus gelten, dass der zu untersuchende Vorgang – die Erstellung des Gesetzes-entwurfes durch die Bundesregierung – bereits abge-schlossen ist, sofern dies argumentativ gut begründet wird.

bb) Öffentliches Interesse

Fraglich ist, ob für die Einsetzung des Untersuchungsaus-schusses ein öffentliches Interesse gegeben sein muss.55 Ein öffentliches Interesse ist gegeben, wenn Vorgänge im staatli-chen Bereich untersucht werden oder wenn zwar Vorgänge im privaten Bereich des Bürgers untersucht werden, hier aber ein besonderer Bezug zum Gemeinwohl festzustellen ist.56 Ob ein solches notwendige Voraussetzung eines Untersu-chungsausschusses ist,57 kann jedoch dahinstehen, wenn es ohnehin vorliegt. Im vorliegenden Fall geht es um die Unter-suchung des Gesetzgebungsoutsourcings und damit um den Ablauf des „inneren“ Gesetzgebungsverfahrens. Private Be-lange sind nicht berührt. Allein eine staatliche Angelegenheit ist Untersuchungsgegenstand, so dass ein öffentliches Inte-resse unproblematisch vorliegt. cc) Zwischenergebnis

Die hypothetische Einsetzung des Untersuchungsausschusses wäre materiell verfassungsgemäß.

55 Schneider (NJW 2001, 2604 [2605]) behauptet allerdings dem entgegenstehend, dass das PUAG auf das Erfordernis eines öffentlichen Interesses verzichte und dieses bereits der Antragstellung eines Viertels der Bundestagsmitglieder indi-ziert sei. 56 Glauben (Fn. 23), § 1 Rn. 25 f.; Morlok/Michael (Fn. 23), § 11 Rn. 121; Degenhart (Fn. 40), Rn. 685; Maurer, Staats-recht I, 6. Aufl. 2010, § 13 Rn. 139 ff. 57 Dies wird nach h.M. verlangt, vgl. BVerfGE 77, 1 (44). Dagegen wird häufig angeführt, dass der Begriff des öffentli-chen Interesses zum einen zu unbestimmt sei, zum anderen das Interesse durch den Antrag von mindestens ein Viertel der Abgeordneten begründet und das Merkmal daher insge-samt überflüssig sei, siehe dazu Schneider, NJW 2001, 2604 (2605); vgl. auch Morlok/Michael (Fn. 23), § 11 Rn. 121.

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d) Zwischenergebnis

Die hypothetische Einsetzung des Untersuchungsausschusses wäre verfassungsgemäß. Die Bundestagsmehrheit durfte die Einsetzung daher nicht verweigern. 3. Zwischenergebnis

Ein Verfassungsverstoß liegt vor, da der Untersuchungsaus-schuss hätte eingesetzt werden müssen. III. Rechtsverletzung Die Verweigerung der Einsetzung müsste auch ein Recht der 154 Bundestagsabgeordneten verletzen. Das ist der Fall, da sie das Recht auf Einsetzung nach Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG haben. IV. Ergebnis Der Antrag der 154 Bundestagsabgeordneten ist zulässig und begründet und hat daher Aussicht auf Erfolg.

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Übungsfall: Untreue mit bitterem Ende Von Wiss. Mitarbeiterin Annabell Blaue, Halle-Wittenberg* Schwerpunkte der Klausur sind vor allem: Kausalität, objek-tive Zurechnung, eigenverantwortliches Dazwischentreten eines Dritten, hinterlistiger Überfall, lebensgefährdende Behandlung, Heimtücke sowie sonstige niedrige Beweggrün-de. Sachverhalt Die T trifft bei einem Spaziergang im Park ihren Arbeitskol-legen O. Da O im Büro wesentlich angesehener und beliebter ist als T, sehnt diese sich schon lange nach einer „Abrei-bung“. Sie beschließt die günstige Gelegenheit zu nutzen: T greift einen am Wegesrand liegenden Ast und geht von hinten langsam an den O heran. Als T direkt hinter ihm steht, holt sie kräftig aus und schlägt O auf den Hinterkopf. O erleidet eine große blutende Platzwunde und sinkt bewusstlos zu-sammen. T ist zufrieden: ihr kam es gerade darauf an, O erhebliche Verletzungen zuzufügen. Dass O hierdurch stirbt, möchte sie aber nicht. T rennt rasch davon.

Einige Augenblicke später passiert E, die Exfreundin von O, den Tatort. Sie hat das Vorgehen von T beobachtet und sieht O bewusstlos am Boden liegen. E wittert ihre „Chance“. O hatte E in ihrer Beziehung mehrfach betrogen. Letztlich war O mit seiner Sekretärin durchgebrannt. Diese Demüti-gung hat E bis heute nicht verkraftet. Sie ist immer noch gekränkt und enttäuscht. Dass T schon so gute Vorarbeit geleistet hat, ermutigt E das Werk nun zu Ende zu bringen. Ohne die Vorarbeit von T hätte sie sich das nie getraut. Aber nun zückt E schnell ihr Taschenmesser und sticht es dem O kräftig in den Bauch. Der bis dahin noch bewusstlose O stirbt sofort in Folge des Stichs. Bearbeitervermerk Wie haben sich T und E strafbar gemacht? Unterlassungs-delikte sind nicht zu prüfen. Lösungsvorschlag

A. Strafbarkeit der T

I. Strafbarkeit nach § 212 Abs. 1 StGB T könnte sich nach § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht ha-ben, indem sie O mit dem Ast auf den Hinterkopf geschlagen hat. 1. Tatbestand

a) Objektiver Tatbestand

aa) Erfolgseintritt

O, ein anderer Mensch, ist tot. bb) Kausalität

Hierfür müsste T’s Verhalten aber auch kausal sein.

* Die Autorin ist Wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Straf-recht und Strafprozessrecht bei Herrn Prof. Dr. Christian Schröder an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Hinweis: Kausal sind immer Handlungen. Zu fragen ist im objektiven Tatbestand immer danach, ob die Handlung des Täters für den Erfolg kausal ist und ob der Erfolg dem Täter objektiv zugerechnet werden kann.

Kausal ist eine Handlung nach der condicio-sine-qua-non-Formel dann, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfällt.1 Der Schlag von T allein hätte nicht gereicht, um O zu töten. Hätte T den O aber nicht mit dem Ast niedergeschlagen, so hätte E den O später nicht am Boden liegend gefunden und sich nicht dazu ermutigt gefühlt, das „Werk“ zu vollenden. E hätte O dann nicht mit dem Messer in den Bauch gestochen, worauf-hin dieser gestorben ist. Denkt man also die Handlung von T hinweg, so wäre der Todeserfolg bei O nicht eingetreten. Somit ist das Handeln der T für den eingetretenen Erfolg kausal. cc) Objektive Zurechnung

Fraglich ist aber, ob der eingetretene Todeserfolg der T auch objektiv zuzurechnen ist. Objektiv zuzurechnen ist ein vom Täter verursachter Erfolg ihm dann, wenn er eine rechtlich relevante Gefahr geschaffen hat, die sich im tatbestandlichen Erfolg realisiert.2

Hier könnte die objektive Zurechnung des Todeserfolges an T wegen eines eigenverantwortlichen Dazwischentretens eines Dritten, der E, ausgeschlossen sein. Das ist dann der Fall, wenn ein Dritter vollverantwortlich eine neue, selbst-ständig auf den Erfolg hinwirkende Gefahr begründet, die sich allein im Erfolg realisiert.3 Die Gefahr, dass O erstochen wird, wird noch nicht durch das Zuschlagen mit einem Ast begründet. Diese Gefahr hat E selbst und ohne Absprache mit T geschaffen. T hat in keiner Weise auf das Erstechen des O hingewirkt, sodass E eigenverantwortlich gehandelt hat. E verfolgt ganz eigene Ziele mit ihrem Handeln und nutzt le-diglich die von T geschaffene Ausgangslage für sich aus. Das Verhalten von E ist nicht schon typischerweise in der von T geschaffenen Ausgangsgefahr angelegt. Damit hat sich letzt-lich allein das Zustechen mit dem Messer im Todeserfolg bei O realisiert, sodass hier ein eigenverantwortliches Dazwi-schentreten eines Dritten vorliegt. b) Zwischenergebnis

Damit ist die objektive Zurechnung des Erfolgs an T ausge-schlossen.

1 Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2012, § 4 Rn. 9; Rengier, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2016, § 13 Rn. 3; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 45. Aufl. 2015, Rn. 218. 2 Kühl (Fn. 1), § 4 Rn. 60; Rengier (Fn. 1), § 13 Rn. 46; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 1), Rn. 251. 3 Rengier (Fn. 1), § 13 Rn. 88 ff.; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 1), Rn. 276 ff.

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Hinweis: Zu dem gleichen Ergebnis gelangt man, wenn man den Ausschluss der objektiven Zurechnung wegen des Vorliegens eines atypischen Kausalverlaufs prüft. Beide Fallgruppen können – müssen aber nicht (!) – zu-sammenfallen.4 Ein atypischer Kausalverlauf liegt vor, wenn der eingetretene Erfolg völlig außerhalb dessen liegt, womit nach dem allgemeinen Lauf der Dinge zu rechnen ist.5 Dass jemand T beobachtet und sich durch deren Vorgehen „angestachelt“ fühlt und letztlich den hilflosen O ersticht, anstatt ihm zu helfen, liegt außerhalb dessen, womit nach der allgemeinen Lebenserfahrung zu rechnen ist. Somit liegt ein atypischer Kausalverlauf vor, der die objektive Zurechnung ausschließt. Auch dieser Lösungsweg ist sehr gut vertretbar! Wichtig ist, dass ein atypischer Kausalverlauf die Kausalität nicht ausschließt. Vielmehr wirkt sich das Vorliegen eines solchen erst bei der objektiven Zurechnung aus.

Hinweis: Alternativ ist es denkbar, § 212 Abs. 1 StGB in einem Satz kurz abzulehnen. T handelt unproblematisch ohne Tötungsvorsatz. In diesem Fall müssen Bearbeiter im Anschluss an die Prüfung der §§ 223, 224 StGB dann § 227 Abs. 1 StGB prüfen und dort die Zurechnungsprob-leme ansprechen. Beginnt man, wie hier, mit § 212 Abs. 1 StGB, ist eine Prüfung von § 227 Abs. 1 StGB im An-schluss an die Körperverletzungsdelikte überflüssig, weil auch dort die objektive Zurechnung des Erfolges an T wegen des eigenverantwortlichen Dazwischentretens von E scheitert.

2. Ergebnis

T hat sich nicht nach § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht. II. Strafbarkeit nach §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 3, Nr. 5 StGB T könnte sich aber durch dieselbe Handlung nach §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 3, Nr. 5 StGB strafbar gemacht haben.

Hinweis: Die Prüfung kann hier nicht etwa deswegen knapp ausfallen, weil eine Körperverletzung ein notwen-diges Durchgangsstadium zum Totschlag/Mord ist. O ist zwar am Ende tot, jedoch noch nicht zum Zeitpunkt des Zuschlagens mit dem Ast bzw. unmittelbar danach in des-sen Folge. Aber nur auf diesen Zeitpunkt kommt es an, weil das Zuschlagen mit dem Ast die Tathandlung ist, die T vorgeworfen werden soll und der Prüfung hier zugrunde liegt.

4 Vgl. Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 1), Rn. 278. 5 Kühl (Fn. 1), § 4 Rn. 61 ff.; Rengier (Fn. 1), § 13 Rn. 62 ff.; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 1), Rn. 289 f.

1. Tatbestand

a) Objektiver Tatbestand

aa) Grunddelikt

Zunächst müsste das Grunddelikt erfüllt sein. Hierzu müsste T den O zunächst körperlich misshandelt oder an der Ge-sundheit geschädigt haben, § 223 Abs. 1 StGB. (1) Körperliche Misshandlung

Eine körperliche Misshandlung ist jede üble und unangemes-sene Behandlung, durch die das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit mehr als nur unerheblich beeinträchtigt wird.6

Das körperliche Wohlbefinden ist der Zustand des Kör-perempfindens des Opfers im Vergleich zu vor der Tat.7 Nach dem Schlag mit dem Ast hat O sein Bewusstsein verlo-ren. Die Vitalfunktionen des O sind somit massiv einge-schränkt. Diese Beeinträchtigung hält über einen längeren Zeitraum an, sodass das Körperempfinden des O mehr als nur unerheblich beeinträchtigt ist.

Die körperliche Unversehrtheit ist der Zustand des Kör-pers des Opfers im Vergleich zu vor der Tat hinsichtlich seiner somatischen Funktionsfähigkeit und seiner körperli-chen Inte-grität.8 Nach dem Schlag fällt O in die Bewusstlo-sigkeit. Eine Sinneswahrnehmung ist nicht mehr möglich und auch diverse Körperfunktionen können nicht mehr bewusst von O gesteuert werden. Somit ist die somatische Funktions-fähigkeit beeinträchtigt. Auch diese Beeinträchtigung dauert an, ist mithin erheblich. Außerdem erleidet O eine große Platzwunde am Hinterkopf, sodass Blut austritt. Blutgefäße sind mithin verletzt. Damit ist auch die körperliche Integrität des O erheblich beeinträchtigt.

Also hat T den O körperlich misshandelt. (2) Gesundheitsschädigung

Ferner könnte T den O an der Gesundheit geschädigt haben. Eine Gesundheitsschädigung ist das Hervorrufen, Steigern oder Aufrechterhalten eines pathologischen Zustandes.9 Pa-thologisch ist der Zustand, wenn er vom körperlichen Nor-malzustand negativ abweicht.10 Eine blutende Platzwunde und der Verlust des Bewusstseins stellen einen krankhaften Zustand dar, sodass T den O auch an seiner Gesundheit ge-schädigt hat.

Mithin hat T den O körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt. Damit ist das Grunddelikt nach § 223 Abs. 1 StGB erfüllt.

6 Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 17. Aufl. 2016, § 13 Rn. 7; Wessels/Hettinger, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 39. Aufl. 2015, Rn. 255. 7 Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 63. Aufl. 2016, § 223 Rn. 6. 8 Fischer (Fn. 7), § 223 Rn. 7. 9 Fischer (Fn. 7), § 223 Rn. 8; Rengier (Fn. 6), § 13 Rn. 11; Wessels/Hettinger (Fn. 6), Rn. 257. 10 Rengier (Fn. 6), § 13 Rn. 11; Wessels/Hettinger (Fn. 6), Rn. 257.

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bb) Qualifikationsmerkmale

(1) § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB, gefährliches Werkzeug

T könnte die Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeugs begangen haben. Ein Werkzeug ist ein Gegen-stand, mittels dessen durch Einwirkung auf den Körper Ver-letzungen zugefügt werden können.11 Gefährlich ist es, wenn es nach Art seiner Benutzung und objektiven Beschaffenheit zur Zufügung ernsthafter Körperverletzungen geeignet ist.12 T schlägt O mit dem Ast auf den Hinterkopf. Ein Ast ist schwer und von harter Beschaffenheit. Außerdem schlägt T auf den Hinterkopf des O, eine empfindliche Körpergegend. Somit ist der Gegenstand sowohl nach seiner objektiven Beschaffenheit als auch nach seiner konkreten Verwendung zur Zufügung schwerer Verletzungen geeignet. Mithin begeht T die Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeu-ges. Das Qualifikationsmerkmal des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist erfüllt. (2) § 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB, hinterlistiger Überfall

Des Weiteren könnte T die Körperverletzung mittels eines hinterlistigen Überfalls begangen haben. Ein Überfall ist ein Angriff auf den Verletzten, dessen er sich nicht versieht und auf den er sich nicht vorbereiten kann.13 Hier nähert sich T von hinten dem O. Hinterrücks schlägt sie mit dem Ast zu. In diesem Moment geht O spazieren und versieht sich keines Angriffs. Somit liegt ein Überfall vor.

Fraglich ist aber, ob T hier hinterlistig vorgeht. Hinterlis-tig ist der Überfall, wenn der Täter seine wahren Absichten planmäßig berechnend verdeckt.14 Das bloße Ausnutzen eines Überraschungsmoments genügt hierzu nicht.15 Im Unter-schied zum Mordmerkmal der Heimtücke, reicht das bloße Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit nicht aus für ein plan-mäßig berechnendes Verdecken.16 Insofern ist das Merkmal des hinterlistigen Überfalls in § 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB en-ger.17 Hier hat T zur Verschleierung ihres Vorgehens keine weiteren Vorkehrungen getroffen, wie z.B. dem O aufzulau-ern. Sie nutzt lediglich die günstige Gelegenheit aus. Das Vorgehen von T beruht allein auf einem kurzerhand gefassten Entschluss. Dieser Entschluss resultiert daraus, dass T den O zufällig beim Spaziergang getroffen hat. Von einem planmä-ßigen Vorgehen kann daher nicht gesprochen werden. T macht sich lediglich den günstigen Moment zu Nutze. Einen

11 Wessels/Hettinger (Fn. 6), Rn. 274; Fischer (Fn. 7), § 224 Rn. 8 f. 12 Rengier (Fn. 6), § 14 Rn. 27; Wessels/Hettinger (Fn. 6), Rn. 275; Fischer (Fn. 7), § 224 Rn. 9. 13 Rengier (Fn. 6), § 14 Rn. 44; Wessels/Hettinger (Fn. 6), Rn. 279; Fischer (Fn. 7), § 224 Rn. 10. 14 Rengier (Fn. 6), § 14 Rn. 44; Wessels/Hettinger (Fn. 6), Rn. 279; Fischer (Fn. 7), § 224 Rn. 10. 15 Wessels/Hettinger (Fn. 6), Rn. 279; Rengier (Fn. 6), § 14 Rn. 44 f.; LG Mannheim NStZ 2004, 93; LG Frankenthal NStZ 2007, 702; LG Essen NStZ 2005, 97; LG Hildesheim NStZ 2012, 698. 16 Rengier (Fn. 6), § 14 Rn. 44. 17 Rengier (Fn. 6), § 14 Rn. 44.

eigenen Überraschungsmoment schafft T nicht, sondern nutzt einen zufällig vorgefundenen lediglich aus. Dies ist klar von einem Auflauern zu unterscheiden. Somit liegt hier im Er-gebnis kein hinterlistiger Überfall vor. Damit ist das Qualifi-kationsmerkmal nach § 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht erfüllt. (3) § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB, lebensgefährdende Behandlung

Letztlich könnte T die Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung begangen haben. Voraus-setzung ist eine Begehungsweise, die nach den Umständen des Einzelfalls wie Art, Dauer und Intensität der Einwirkung geeignet ist, das Opfer in Lebensgefahr zu bringen.18 Ob diese Behandlung konkret oder abstrakt lebensgefährlich sein muss, ist umstritten.

Nach einer Ansicht genügt es, wenn die Behandlung abs-trakt lebensgefährlich ist.19 Schwere Schläge gegen den Hin-terkopf einer Person enden nicht selten im Tod und begrün-den somit eine abstrakte Lebensgefährdung. Hier schlägt T dem O mit einem Ast heftig gegen den Hinterkopf. Dadurch begründet sie eine abstrakte Lebensgefahr, sodass nach dieser Ansicht die Körperverletzung mittels einer das Leben gefähr-denden Behandlung begangen wurde.

Eine andere Ansicht sieht das Qualifikationsmerkmal nur dann als verwirklicht an, wenn eine Behandlung vorliegt, die das Opfer in konkrete Lebensgefahr versetzt.20 Nach dem Schlag von T ist O bewusstlos. Von einer Bewusstlosigkeit kann nicht automatisch auf eine konkrete Lebensgefahr ge-schlossen werden. Dass O diesen Zustand überlebt, hängt nicht allein vom Zufall ab. Dem Sachverhalt sind keine An-gaben zu entnehmen, dass O in konkreter Lebensgefahr schwebt, sodass nach dieser Ansicht das Qualifikations-merkmal nicht verwirklicht ist.

Hinweis: Der Sachverhalt deutet in keiner Weise darauf hin, dass die Bewusstlosigkeit eine für O konkrete Le-bensgefahr bedeutet. Dies wird im Sachverhalt häufig umschrieben mit: „Das Opfer konnte nur noch knapp ge-rettet werden.“, oder „Das Opfer schwebte in akuter Le-bensgefahr.“, oder „Dass das Opfer überlebte, grenzt an Zufall.“. Dass O am Ende stirbt, spielt hier keine Rolle. Abgestellt wird auf das Zuschlagen mit dem Ast, welches die relevante Tathandlung für diese Prüfung darstellt.

Da die Ansichten zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen, muss der Streit entschieden werden. Für die erstgenannte Ansicht spricht, dass die anderen Alternativen in § 224 Abs. 1 StGB ebenfalls auf eine gefährliche Begehungsweise

18 Rengier (Fn. 6), § 14 Rn. 50; Wessels/Hettinger (Fn. 6), Rn. 282. 19 Rengier (Fn. 6), § 14 Rn. 50; Wessels/Hettinger (Fn. 6), Rn. 282; Fischer (Fn. 7), § 224 Rn. 12; Stree/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 224 Rn. 12. 20 Paeffgen, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), No-mos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 2, 4. Aufl. 2013, § 224 Rn. 28.

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abstellen und nicht etwa verlangen, dass ein schwererer Ver-letzungserfolg eingetreten ist.21 Da der Strafrahmen innerhalb der Varianten des § 224 Abs. 1 StGB der gleiche ist, muss ähnlich schweres Unrecht bestraft werden, sodass dies dafür spricht, eine abstrakte Lebensgefährdung ausreichen zu las-sen.22 Würde man eine konkrete Lebensgefährdung verlan-gen, so gäbe es darüber hinaus kaum noch einen eigenständi-gen Anwendungsbereich für § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB gegen-über § 222 StGB.23 Maßgeblich ist die Lebensgefährlichkeit der Behandlung und nicht, dass es zu einer faktischen Le-bensgefahr beim Opfer gekommen ist.24 Somit ist letztlich die erste Ansicht vorzugswürdig, sodass eine abstrakt lebensge-fährdende Behandlung genügt. Damit hat T die Körperverlet-zung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung be-gangen. Mithin ist § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB erfüllt.

Hinweis: Die a.A. ist mit entsprechender Argumentation auch vertretbar. Dann müsste das Qualifikationsmerkmal hier abgelehnt werden, weil O nach dem Schlag von T nicht in konkreter Lebensgefahr schwebte.

b) Subjektiver Tatbestand

T müsste vorsätzlich gehandelt haben. Vorsatz ist der Wille zur Verwirklichung eines Straftatbestandes in Kenntnis aller Tatumstände.25 aa) Grunddelikt

Zunächst müsste T bzgl. des Grunddelikts vorsätzlich gehan-delt haben. T kam es im Sinne von zielgerichtetem Handeln gerade darauf an, O schwer zu verletzen. Sie wollte O körper-lich misshandeln und an der Gesundheit schädigen. Hinsicht-lich der Körperverletzung handelte T also mit Vorsatz. bb) Qualifikationsmerkmale

Darüber hinaus müsste Vorsatz bzgl. der Qualifikations-merkmale gegeben sein. T wollte dazu gerade einen schweren und harten Ast zum Schlagen benutzen, sodass sie auch vor-sätzlich im Hinblick auf die Begehung mittels eines gefährli-chen Werkzeuges handelte. Außerdem war sie sich der abs-trakt lebensgefährdenden Behandlung bewusst und wollte eine solche. Somit handelte T auch in Bezug auf die abstrakt lebensgefährdende Behandlung vorsätzlich. Vorsatz hinsicht-lich der Qualifikationsmerkmale liegt vor. 2. Rechtswidrigkeit und Schuld

Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe liegen nicht vor, sodass T rechtswidrig und schuldhaft gehandelt hat.

21 Hardtung, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kom-mentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 224 Rn. 1. 22 Rengier (Fn. 6), § 14 Rn. 50. 23 Rengier (Fn. 6), § 14 Rn. 50. 24 Fischer (Fn. 7), § 224 Rn. 12. 25 Rengier (Fn. 1), § 14 Rn. 5; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 1), Rn. 306; Kühl (Fn. 1), § 5 Rn. 6.

3. Ergebnis

T hat sich nach §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 5 StGB wegen gefährlicher Körperverletzung strafbar gemacht. Die Strafbarkeit nach § 223 Abs. 1 StGB tritt im Wege der Subsi-diarität hinter der Strafbarkeit nach §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 5 StGB zurück. B. Strafbarkeit von E

I. Strafbarkeit nach § 212 Abs. 1 StGB E könnte sich nach § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht ha-ben, indem sie mit dem Messer in Os Bauch gestochen hat. 1. Tatbestand

a) Objektiver Tatbestand

Der Tod ist bei O, einem anderen Menschen, eingetreten. Das Handeln der E ist für diesen Erfolg auch kausal. Ferner ist der Erfolg E auch objektiv zuzurechnen.

Hinweis: Bei E stellen sich keinerlei Kausalitätsprobleme oder Probleme in der objektiven Zurechnung. Daher reicht hier eine knappe Feststellung, die von einer guten Schwerpunktsetzung zeugt.

b) Subjektiver Tatbestand

E müsste vorsätzlich gehandelt haben. Zur Definition siehe oben. E wollte O in den Bauch stechen, um sie zu töten. So-mit handelte E mit Vorsatz. 2. Rechtswidrigkeit und Schuld

In Ermangelung von Rechtfertigungs- und Entschuldigungs-gründen handelte E rechtswidrig und schuldhaft. 3. Ergebnis

E hat sich nach § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht. II. Strafbarkeit von E nach §§ 212 Abs. 1, 211 Abs. 1, Abs. 2 Alt. 4, Alt. 5 StGB E könnte sich durch dieselbe Handlung nach §§ 212 Abs. 1, 211 Abs. 1, Abs. 2 Alt. 4, Alt. 5 StGB strafbar gemacht ha-ben. 1. Tatbestand

a) Objektiver Tatbestand

aa) Erfolgseintritt

Wie oben im Rahmen von § 212 Abs. 1 StGB geprüft, ist O tot, sodass E einen anderen Menschen getötet hat. bb) Objektive Mordmerkmale, § 211 Abs. 2 StGB

Hinweis: Wichtig ist, dass nur die objektiven Mordmerk-male im objektiven Tatbestand geprüft werden!

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(1) Heimtücke

E könnte das Mordmerkmal der Heimtücke verwirklicht haben. Unter Heimtücke versteht man das bewusste Ausnut-zen der auf Arglosigkeit beruhenden Wehrlosigkeit.26 O müsste also arglos und infolgedessen wehrlos gewesen sein und E müsste dies bewusst ausgenutzt haben.

Hinweis: Genau hier wird der Unterschied zum hinterlis-tigen Überfall in § 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB deutlich: bei der Heimtücke genügt das bewusste Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers. Beim hinterlistigen Über-fall genügt dies nicht! Das bewusste Ausnutzen eines Überraschungsmoments reicht nicht für dieses Qualifika-tionsmerkmal, vielmehr verlangt es ein planmäßig be-rechnendes Verdecken der wahren Absichten des Täters.

Arglos ist, wer sich im Zeitpunkt des Todes keines wesentli-chen Angriffs auf sein Leben oder seine körperliche Unver-sehrtheit versieht.27 Wehrlos ist, wer infolgedessen in seiner natürlichen Abwehrbereitschaft und -fähigkeit herabgesetzt ist.28 Fraglich ist, ob O zum Tatzeitpunkt arglos ist. Abzustel-len ist hier auf den Moment, in dem E auf ihn einsticht (also die konkrete Tathandlung). Als E dem O in den Bauch sticht, ist dieser bewusstlos. Ob Bewusstlose arglos im Sinne des § 211 StGB sind, ist umstritten.

Die h.M. vertritt, dass Bewusstlose nicht arglos sind.29 Der Bewusstlose wird im Unterschied zu Schlafenden, die sich bewusst in diesen Zustand versetzen, von einem unnatür-lichen Zustand überrascht.30 Er kann somit nicht bewusst seine Arglosigkeit mit in diesen Zustand nehmen. Außerdem können Bewusstlose im Gegensatz zu Schlafenden nicht freiwillig aus diesem Zustand erwachen. Bei einem Besin-nungslosen lassen sich dessen Argwohn und Verteidigungs-bereitschaft nicht wecken. Somit ist O nach dieser Ansicht nicht arglos, sodass das Mordmerkmal der Heimtücke hier-nach nicht erfüllt ist.

Nach anderer Auffassung kann zwischen Bewusstlosen und Schlafenden kein Unterschied gemacht werden.31 Die Konsequenzen dieser Ansicht beurteilen Vertreter unter-schiedlich: das eine Lager gelangt zu dem Ergebnis, dass Bewusstlose ebenso wie Schlafende arglos sein können, das andere Lager vertritt, dass weder Schlafende noch Bewusst-lose arglos sein können.32

26 Rengier (Fn. 6), § 4 Rn. 23; Wessels/Hettinger (Fn. 6), Rn. 107. 27 Rengier (Fn. 6), § 4 Rn. 24; Wessels/Hettinger (Fn. 6), Rn. 110. 28 Rengier (Fn. 6), § 4 Rn. 31; Wessels/Hettinger (Fn. 6), Rn. 112. 29 Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2014, § 211 Rn. 7; Wessels/Hettinger (Fn. 6), Rn. 110, 120. 30 Rengier (Fn. 6), § 4 Rn. 29a; Wessels/Hettinger (Fn. 6), Rn. 110. 31 Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Fn. 20), § 211 Rn. 57; Kutzer, NStZ 1994, 110. 32 Küper, JuS 2000, 740 (745).

Die Ansichten gelangen zu unterschiedlichen Ergebnis-sen, sodass ein Streitentscheid nötig ist. Für die Gleich-behandlung von Schlafenden und Bewusstlosen spricht, dass es in beiden Fällen darum geht, dass der Täter eine situations-bedingte besondere Schutzlosigkeit des Opfers ausnutzt.33 Für die erste Ansicht streitet dagegen, dass es Voraussetzung für eine Arglosigkeit ist, dass das Opfer Argwohn empfinden kann.34 Bewusstlose aber können die Absichten des Täters nicht erkennen.35 Die zweite Ansicht würde dazu führen, dass jede Tötung konstitutionell Argloser als Mord anzusehen wäre und zwar unabhängig von der konkreten Tatsituation.36 Führt die Konstitution des Opfers dazu, dass es über eine längere Zeitspanne gerade wegen dieser Konstitution nicht beurteilen kann, ob ihm vom Täter eine Gefahr droht, erge-ben sich Arg- und Wehrlosigkeit allein aus der Opferkonsti-tution.37 Das steht aber im Widerspruch zur erhöhten Strafan-drohung und der besonderen Gefährlichkeit des Heimtücke-mordes.38 Somit ist die erstgenannte Ansicht vorzugswürdig. Bewusstlose können demnach nicht arglos sein.

Hinweis: Die a.A. ist mit entsprechender Argumentation sehr gut vertretbar. Bejaht man auf dieser Grundlage die Arglosigkeit von O, muss man den Streit darstellen, wie das Mordmerkmal der Heimtücke einzuschränken ist.39

(2) Zwischenergebnis

Das Mordmerkmal der Heimtücke hat E demzufolge nicht erfüllt. b) Subjektiver Tatbestand

aa) Vorsatz

Weiterhin müsste E vorsätzlich gehandelt haben. Wie bereits oben geprüft, handelte E hinsichtlich des Todes von O mit Vorsatz. bb) Subjektive Mordmerkmale

Ferner könnte E subjektive Mordmerkmale erfüllt haben. In Betracht kommt vorliegend das Mordmerkmal der sonstigen niedrigen Beweggründe. Ein sonstiger niedriger Beweggrund liegt vor, wenn die Motive des Täters nicht im Ansatz menschlich nachvollziehbar sind, wenn die Beweggründe sittlich auf tiefster Stufe stehen und damit besonders verach-tenswert sind.40 E sticht auf O ein, weil er sie während der Beziehung mehrfach betrogen hat. Bis heute hat E die Tren-nung und die vorherigen wiederholten Demütigungen nicht

33 Neumann (Fn. 31), § 211 Rn. 57. 34 Wessels/Hettinger (Fn. 6), Rn. 110, 120. 35 Eser/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 19), § 211 Rn. 25c. 36 Bürger, JA 2004, 298. 37 Bürger, JA 2004, 298. 38 Bürger, JA 2004, 298. 39 Vgl. dazu Rengier (Fn. 6), § 4 Rn. 33 ff.; Wessels/Hettin-ger (Fn. 6), Rn. 107 ff. 40 Rengier (Fn. 6), § 4 Rn. 16; Wessels/Hettinger (Fn. 6), Rn. 95.

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überwunden. Somit ist ihr Handeln von Enttäuschung und Gefühlen der Verzweiflung und Demütigung getragen. Ent-täuschung und Kränkungen nach einer Trennung, zumal E von O mehrfach betrogen wurde, sind im Ansatz menschlich nachvollziehbar, sodass die Beweggründe der E nicht sittlich auf tiefster Stufe stehen. Somit handelte E nicht aus sonstigen niedrigen Beweggründen.

Hinweis: Das Mordmerkmal der sonstigen niedrigen Be-weggründe muss restriktiv ausgelegt werden!41 Gefühle wie Enttäuschung und Kränkung sind grundsätzlich nach-vollziehbarer, als eine Tötung, weil der Expartner nach der Trennung nun erst Recht keinen anderen mehr haben soll.42 Das bagatellisiert die Tötung keineswegs! Es macht sie „nur“ nicht zum Mord. Hier kann man sagen, dass das Handeln der E aus den eben genannten Emotionen heraus nicht von purer hemmungsloser Eigensucht zeugt und deshalb im Ansatz menschlich nachvollziehbar ist. Insbe-sondere weil E in ihrer Beziehung von O mehrfach betro-gen wurde und sich gedemütigt fühlt, stehen ihre Motive im Ergebnis nicht sittlich auf tiefster Stufe. Das Mord-merkmal der sonstigen niedrigen Beweggründe ist damit nicht erfüllt.

b) Zwischenergebnis

Es liegen keine Mordmerkmale vor. 2. Ergebnis

E hat sich nicht nach §§ 212 Abs. 1, 211 Abs. 1, Abs. 2 Alt. 4, Alt. 5 StGB wegen Mordes strafbar gemacht. III. Ergebnis Die zugleich verwirklichte gefährliche Körperverletzung nach §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 5 StGB tritt subsi-diär hinter § 212 Abs. 1 StGB zurück.

41 Vgl. nur Rengier (Fn. 6), § 4 Rn. 16. 42 BGHSt 3, 180 (183); 22, 12 (13).

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Examensklausur: Die freundlich gierigen Bankmitarbeiter Von Wiss. Mitarbeiter Tobias Günther, Wiss. Mitarbeiterin Nicole Selzer, Halle (Saale)* Die Klausur wurde im WS 2015/2016 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Examensklausurenkurs ge-stellt. Der Klausur liegen die BGH-Entscheidungen BGH, Beschl. v. 16.7.2015 – 2 StR 15/15 (LG Frankfurt a.M.) und BGH, Beschl. v. 22.10.2013 –3 StR 69/13 (LG Hildesheim) zugrunde. Der Zusatzfrage diente das Urteil vom AG Nien-burg v. 20.1.2015 – 4 Ds 155/14, 4 Ds 520 Js 39473/14.

Die Examensklausur ist aufgrund der Betrugsthematik, der Problematik um die sukzessive Täterschaft bzw. Teilnah-me sowie aufgrund des Umfangs als mittelschwer einzustu-fen. Die Klausur wurde von 87 Studierenden bearbeitet. Der Notendurchschnitt beträgt 5 Punkte bei einer Durchfallquote von 27,6 %.∗ Sachverhalt Die sich in Geldnöten befindenden A und B beschließen ihre finanzielle Situation ein wenig aufzubessern. Sie verabreden, einer Vielzahl von älteren Personen deren Bankkarten sowie die dazugehörigen Geheimzahlen abzunehmen, um damit an Geldautomaten die maximal mögliche Tagesabhebung von den Konten vorzunehmen. Andere Straftaten wollen sie in diesem Zusammenhang nicht begehen. A und B schauen im örtlichen Telefonbuch nach und rufen bei der 72-jährigen O an. Dabei geben sie sich als Abteilungsleiter der S-Bank aus, bei der auch die O ihr Konto führt. A und B behaupten, dass in der letzten Woche ein großer Hackerangriff auf das Com-putersystem der S-Bank stattgefunden habe und seitdem auf dem Konto der O Unregelmäßigkeiten in Form von Aus-landsüberweisungen festgestellt worden sind und die Bank-karte daraufhin überprüft werden müsse. Sie behaupten wei-ter, dass das restliche Guthaben der O in großer Gefahr sei, aber die S-Bank speziell für ältere Bankkunden einen Vorort-Service anbiete, bei denen Bankmitarbeiter die betroffenen Kontoinhaber zu Hause aufsuchen, um die weitere Vorge-hensweise in dieser Angelegenheit zu besprechen.

Bereits der erste Anruf war für A und B ein Glücksgriff, denn die O gab auf Nachfrage am Telefon an, ein Überwei-sungs- und Abhebungslimit von 25.000 € täglich zu haben und aufgrund dessen sehr um ihr Vermögen besorgt zu sein. A und B erscheinen wenige Stunden später vor der Wohnung der O und werden hineingebeten. Sie lassen sich alsbald die Bankkarte – die im Eigentum der O steht – aushändigen und entlocken der O die dazugehörige Geheimzahl unter dem Vorwand, dass sie diese für die Aufklärung und Rückverfol-gung der getätigten Auslandsüberweisung benötigen.

Als A und B die Wohnung der O gerade wieder verlassen wollen, entdeckt B den auf der Flurkommode liegenden Au-toschlüssel. Diesen steckt er im Vorbeigehen in seine Jacken-tasche, ohne das A etwas davon mitbekommt. Während A die O nochmals um Entschuldigung für diese Vorkommnisse

* Tobias Günther und Nicole Selzer sind Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie von Prof. Dr. Kai-D. Bussmann, Martin-Luther-Universität Halle-Witten-berg.

bittet und sich gerade von dieser verabschiedet, hat B bereits den zehn Meter von der Wohnung entfernt geparkten Klein-wagen (Wert: 15.000 €) der O angelassen und ist vorgefah-ren. Noch während A in den Wagen steigt, erklärt er sich mit dem „Coup“ des B einverstanden und fasst sogleich den Plan, den Kleinwagen in seiner Garage zu verstecken, um ihn aus dem Sichtfeld erst einmal verschwinden zu lassen bis sie beschließen, was sie mit dem Kleinwagen anstellen. A hilft zunächst dem ortsfremden B den Kleinwagen sicher wegzu-fahren, indem er ihn zum geplanten Zwischenstopp bei der S-Bank navigiert und nach Polizeifahrzeugen Ausschau hält.

A und B betreten das Bankgebäude und heben gemeinsam mit der Bankkarte und Geheimzahl der O 25.000 € am Geld-automaten ab. Die Geldscheine stecken sie sogleich in ihre Hosentaschen. Die Bankkarte lassen sie, ebenfalls wie von vornherein geplant, im Einschub des Automaten zurück, so dass sie an den Eigentümer zurück gelangt. Anschließend navigiert A den B zu seiner abseits der Stadt gelegenen Gara-ge.

Weil die finanziellen Nöte des A und B anhalten, wollen sie den Kleinwagen der O nun zu Geld machen. Deswegen überzeugen die beiden ihren alten Kumpel K einen Käufer für den Kleinwagen zu suchen. K hielt es für möglich, dass es sich entgegen der Behauptung von A und B bei dem Fahr-zeug nicht um das der Ehefrau von A handelt, sondern um eines aus einer Diebestour. Dem K ist dies jedoch wegen der versprochenen Provision von 10 % des Verkaufserlöses gleichgültig. K fertigt einige Bilder des Kleinwagens an, um diese lokalen Gebrauchtwagenhändlern zeigen zu können. Noch bevor es dazu kommt, wird K von der Polizei festge-nommen. Bearbeitervermerk I Wie haben sich A, B und K strafbar gemacht? §§ 123, 202a, 248b, 266, 267, 269, 274, 281, 303a StGB sind nicht zu prü-fen. Die erforderlichen Strafanträge sind gestellt. Prozessuale Zusatzfrage Auf dem Weg zur Garage befuhren A und B die Autobahn. Hierbei wollte B zugleich austesten, wie schnell er mit dem Kleinwagen fahren kann. Auf der zweispurigen Autobahn fuhr B mit 180 km/h, als der vor ihm fahrende I ein ord-nungsgemäßes Überholmanöver durchführt, wodurch B aber gezwungen wurde abzubremsen. B war hierüber so erbost, dass er dicht auf das Fahrzeug des I auffuhr und mehrfach Lichthupe gab. Als sich I wieder auf der rechten Fahrbahn einordnete, gab B zunächst Vollgas setze sich sodann jedoch vor I und bremste abrupt und stark ab. I konnte nur durch ein Ausweichmanöver auf die linke Fahrbahn einen Unfall ver-hindern. B fuhr kurzweilig dicht neben I und drängte diesen an den Rand der linken Fahrspur, während er ihn wild gesti-kulierend beschimpfte.

Nachdem B dicht auffuhr und wiederholt Lichthupe gab, aktivierte I zum Zwecke der Beweissicherung für den etwai-gen Fall eines Zusammenstoßes eine neben seinem Innen-

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spiegel angebrachte Kamera (sog. Dashcam). Diese Kamera filmte sodann den Straßenbereich vor der Kühlerhaube des Fahrzeugs des I und speicherte die Aufnahmen digital auf einer SD-Speicherkarte. Die Bildabfolge hat eine Länge von vier Minuten und beinhaltet das jeweilige Datum und die Uhrzeit. Aus der Bildfolge ist der objektive Fahrverlauf, nach dem B den I überholte, im Einzelnen klar ersichtlich. Dabei lässt die Bildfolge lediglich das Fahrzeug nebst Nummern-schild, nicht aber die Insassen erkennen.

Nachdem K festgenommen wurde, konnten alsbald auch A und B ermittelt werden. B wird u.a. als Fahrer wegen Nöti-gung, § 240 Abs. 1, Abs. 2 StGB in Tateinheit mit Gefähr-dung des Straßenverkehrs, § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. b und Beleidigung, § 185 StGB angeklagt. Bearbeitervermerk II Ist die Aufzeichnung der „Dashcam“ im Strafverfahren ver-wertbar? Gehen Sie davon aus, dass ein Beweiserhebungs-verbot nicht vorliegt. Lösungsvorschlag

Anmerkung 1: Die Lösungsskizze erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, andere gangbare Lösungswege sind vertretbar. Zudem geht die Lösungsskizze an einigen Stel-len darüber hinaus, was von Studenten in einer Klausur erwartet werden kann. Dementsprechend großzügig sollte die Punktevergabe vorgenommen werden. Es ist sinnvoll nach Tatkomplexen zu trennen.

1. Tatkomplex: Wohnung der O

A. Strafbarkeit von A und B

I. §§ 242 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB A und B könnten sich wegen mittäterschaftlichen Diebstahls gem. §§ 242 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB strafbar gemacht haben, indem sie die Bankkarte der O an sich nahmen. 1. Tatbestand

a) Objektiver Tatbestand

aa) Fremde bewegliche Sache

Für A und B müsste die Bankkarte – eine bewegliche Sache – fremd gewesen sein. Fremd ist eine Sache, wenn sie zumin-dest auch im Eigentum einer anderen Person steht und nicht herrenlos ist.1 Die Bankkarte stand im Eigentum der O. Somit war die Bankkarte für A als auch B fremd. bb) Wegnahme

Des Weiteren müssten A und B diese Bankkarte weggenom-men haben. Eine Wegnahme ist der Bruch fremden und die 1 Kindhäuser, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 3, 4. Aufl. 2013, § 242 Rn. 15; Eser/Bosch, in: Schönke/Schröder, Strafgesetz-buch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 242 Rn. 12; Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 63. Aufl. 2016, § 242 Rn. 5.

Begründung neuen Gewahrsams.2 Gewahrsam ist die von einem natürlichen Herrschaftswillen getragene tatsächliche Sachherrschaft, deren Reichweite sich nach der Anschauung des Verkehrs bestimmt.3 Zunächst hatte O die tatsächliche Sachherrschaft über die Bankkarte, mithin Gewahrsam inne. Mit dem Ergreifen der Bankkarte bzw. mit dem Einstecken dieser in die Kleidung (sog. Gewahrsamsenklave) übten A und B die tatsächliche Sachherrschaft über diese aus. Der Gewahrsamswechsel von O auf A und B bezüglich der Bank-karte müsste sich im Wege des Bruchs vollzogen haben. Ein Bruch des Gewahrsams liegt vor, wenn sich der Gewahr-samswechsel gegen oder zumindest ohne den Willen des bisherigen Gewahrsamsinhabers vollzieht.4 Hier hat die O die Bankkarte zwar täuschungsbedingt aber doch willentlich, d.h. freiwillig, an A und B ausgehändigt. Damit erfolgte der Gewahrsamsübergang mit Einverständnis der O. Somit liegt keine Wegnahme vor. b) Zwischenergebnis

Der objektive Tatbestand ist nicht erfüllt. 2. Ergebnis

A und B haben sich nicht wegen mittäterschaftlichen Dieb-stahls gem. §§ 242 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB strafbar gemacht. II. §§ 263 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB A und B könnten sich wegen mittäterschaftlichen Betrugs gem. §§ 263 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB gegenüber und zu Las-ten der O strafbar gemacht haben, indem sie vorspiegelten, dass das Bankguthaben der O gefährdet sei, woraufhin die O dem A und B ihre Bankkarte aushändigte und die Geheim-zahl offenbarte. 1. Tatbestand

a) Objektiver Tatbestand

aa) Täuschung

A und B müssten die O getäuscht haben. Eine Täuschung ist die (bewusste) irreführende Einwirkung auf das Vorstel-lungsbild eines anderen.5 A und B gaben sich zum einen als Bankangestellte der S-Bank aus und behaupteten zum ande-ren, dass das Bankguthaben der O durch einen Hackerangriff gefährdet sei. Diese Behauptungen durch A und B waren bewusst auf die Erregung einer Fehlvorstellung und damit

2 Kindhäuser (Fn. 1), § 242 Rn. 27; Schmidt, in: Matt/Renzi-kowski (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2013, § 242 Rn. 11; Wessels/Hillenkamp, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 38. Aufl. 2015, Rn. 82. 3 Eser/Bosch (Fn. 1), § 242 Rn. 23; Rengier, Strafrecht, Be-sonderer Teil, Bd. 1, 18. Aufl. 2016, § 2 Rn. 23. 4 Wessels/Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 115; Schmitz, in: Joecks/ Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetz-buch, Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 242 Rn. 81. 5 Rengier (Fn. 3), § 13 Rn. 9; Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2014, § 263 Rn. 6; Fischer (Fn. 1), § 263 Rn. 14.

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ÜBUNGSFÄLL E Tobias Günther/Nicole Selzer

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eines Irrtums bei O gerichtet. Der Streit, ob ein Täuschungs-bewusstsein als subjektive Komponente erforderlich ist, braucht – da A und B über ein solches verfügten – hier nicht entschieden werden. Somit täuschten A und B die O. bb) Irrtum

O müsste infolgedessen einem Irrtum unterlegen sein. Ein Irrtum ist jede der Wirklichkeit nicht entsprechende Vorstel-lung über Tatsachen.6 O glaubte, dass A und B Mitarbeiter der S-Bank sind und dass ihr Bankguthaben durch den Ha-ckerangriff gefährdet sei. Somit unterlag O infolge der Täu-schung einer der Wirklichkeit nicht entsprechenden Vorstel-lung über Tatsachen. Mithin irrte sich O. cc) Vermögensverfügung

O müsste sodann über ihr Vermögen verfügt haben. Eine Vermögensverfügung ist jedes Handeln, Dulden oder Unter-lassen des Getäuschten, das bei diesem eine unmittelbare Verringerung des Vermögens bewirkt.7 O hat infolge ihres Irrtums über die Gefährdung ihres Bankguthabens durch einen Hackerangriff die Bankkarte bewusst an A und B aus-gehändigt. Dadurch verlor O den Besitz an der Bankkarte als vermögenswerte Position8. Dieses Verhalten der O wirkte sich damit unmittelbar vermögensmindernd aus. Folglich liegt eine Vermögensverfügung vor. dd) Vermögensschaden

Des Weiteren müsste O infolge der Vermögensverfügung einen Vermögensschaden erlitten haben. Ein Vermögens-schaden liegt vor, wenn die Vermögenslage vor und nach der Vermögensverfügung einen Negativsaldo aufweist.9 (1) Bankkarte

Zunächst könnte sich ein Vermögensschaden aus dem Verlust des Besitzes an der Bankkarte ergeben. Infolge der Verfü-gung durch O ist der Besitz an der EC-Karte auf A und B übergegangen, ohne dass es dafür gleichzeitig, d.h. durch die Verfügung selbst eine Kompensation gab. Dem Besitz an der Bankkarte müsste aber auch ein Vermögenswert zukommen, durch dessen Verlust ein messbarer Schaden eintritt. Die Bankkarte als Plastik ist ein wirtschaftlich wertloser Gegen-stand. Dies wird ebenso überwiegend für Personalausweise und Führerscheine angenommen.10 Auch die Rechtsprechung hat in der Überlassung einer Zahlungskarte noch keinen

6 Perron, in: Schönke/Schröder (Fn. 1), § 263 Rn. 33; Wittig, Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl. 2014, § 14 Rn. 47; Wessels/ Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 510. 7 Beukelmann, in: v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar, Strafgesetzbuch, Stand: 2.6.2015, § 263 Rn. 31; Wessels/Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 515. 8 Vgl. zum Besitz als vermögenswerten Position Fischer (Fn. 1), § 263 Rn. 91; Rengier (Fn. 3), § 13 Rn. 122. 9 Wessels/Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 538; Fischer (Fn. 1), § 263 Rn. 110; Lackner/Kühl (Fn. 5), § 263 Rn. 36. 10 Fischer (Fn. 1), § 263 Rn. 97.

Schaden erblickt.11 Damit fällt die Bankkarte nicht unter den Schutz des § 263 StGB. Folglich stellt der Besitzverlust an der Bankkarte keinen Vermögensschaden dar.

Anmerkung 2: Andere Ansicht vertretbar, wenn man da-rauf abstellt, dass der Bankkarte zumindest ein marginaler Wert (weniger als einen Euro) zukommt und damit ein messbarer Substanzwert gegeben ist.

(2) Bankguthaben

Anders könnte die Sachlage jedoch zu beurteilen sein, wenn – wie es hier der Fall ist – neben der Bankkarte auch die dazugehörige Geheimnummer erlangt wird.12 A und B haben durch die Erlangung der Bankkarte sowie der Geheimnum-mer eine jederzeitige Zugriffsmöglichkeit auf das Bankkonto der O, sodass eine konkrete Vermögensgefährdung bezüglich ihres Bankguthabens eingetreten sein könnte. Nennenswerte Hindernisse stehen einer Abhebung des Geldes an einem Bankautomaten nicht entgegen. Mit wirtschaftlichen Nachtei-len ist ernsthaft zu rechnen. Das BVerfG fordert, um einer Tatbestandsüberdehnung entgegen zu wirken, dass über die bloße Möglichkeit des Schadens hinaus, dieser der Höhe nach beziffert und wirtschaftlich darlegbar sein muss.13 Der Ge-fährdungsschaden lässt sich auch schon entsprechend dem Tageslimit, dass vom Konto der O abgehoben werden kann, in Höhe von 25.000 € beziffern.

Zwar lässt die Formulierung „Vermögensgefährdung“ da-rauf schließen, dass das Vermögen lediglich konkret gefähr-det sein muss. Tatsächlich muss damit aber bereits eine ge-genwärtige Verschlechterung der Vermögenslage verbunden sein.14 Stellt man also darauf ab, dass es zu einem unmittelba-ren Vermögensschaden erst durch weiteres Handeln von A und B kommt, muss eine konkrete Vermögensgefährdung durch Erlangung der Bankkarte mitsamt Geheimnummer der O abgelehnt werden. A und B mussten erst noch zum Bank-automaten fahren und haben dort aufgrund eines zusätzlichen Willensentschlusses Geld abgehoben. Durch die Übergabe der Bankkarte sowie der Offenbarung der Geheimnummer durch O wurde nur die tatsächliche Möglichkeit für A und B eröffnet, einen Schaden durch eine zeitlich spätere Abhebung am Geldautomaten herbeizuführen.15 Durch die erforderli-chen Zwischenschritte fehlt es aber an der Unmittelbarkeit des Vermögensschadens. Auch liegt keine gegenwärtige Ver-schlechterung der Vermögenslage vor, sodass keine tatbe-standsrelevante Vermögensgefährdung gegeben ist.

Für letztere Sichtweise spricht, dass durch das Festhalten am Kriterium der Unmittelbarkeit des Vermögensschadens der Charakter des Betrugs als Selbstschädigungsdelikt ge-

11 Vgl. OLG Jena wistra 2007, 236 (237). 12 In diesem Sinne BGH NStZ 2011, 212 (213); Graul, Jura 2000, 204 (208); Fischer (Fn. 1), § 263 Rn. 173. 13 BVerfGE 126, 170 (211, 228 ff.). 14 In diesem Sinne Rengier (Fn. 3), § 13 Rn. 185a; Wessels/ Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 572. 15 In diesem Sinne Rengier (Fn. 3), § 13 Rn. 67; Jäger, JA 2016, 151 (152), Wessels/Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 579.

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Examensklausur: Die freundlich gierigen Bankmitarbeiter STRAFRECHT

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wahrt wird.16 Auch entstehen in aller Regel keine Strafbar-keitslücken.17 Der Unrechtsgehalt der Geldabhebung kann adäquat über § 263a Abs. 1 StGB bzw. § 246 Abs. 1 StGB aufgefangen werden.

Anmerkung 3: Andere Ansicht gut vertretbar. Diejenigen Bearbeiter prüfen dann weiter: eine gemeinschaftliche Tatbegehung durch bewusstes und gewolltes Zusammen-wirken (gemeinsamer Tatplan sowie gemeinsame Tataus-führung) wäre kurz zu erörtern und ggf. von der Teilnah-me abzugrenzen. Der subjektive Tatbestand, die allge-meine Rechtswidrigkeit und Schuld wären gegeben. Im Rahmen der Strafzumessung müsste dann auf § 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 Alt. 1 und Nr. 2 Alt. 1 und 2 StGB ein-gegangen werden.18

b) Zwischenergebnis

Der objektive Tatbestand ist nicht erfüllt. 2. Ergebnis

A und B haben sich nicht wegen mittäterschaftlichen Betru-ges gem. §§ 263 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB strafbar gemacht. III. §§ 246 Abs. 1, (2), 25 Abs. 2 StGB A und B könnten sich wegen mittäterschaftlicher (veruntreu-ender) Unterschlagung gem. §§ 246 Abs. 1, (2), 25 Abs. 2 StGB strafbar gemacht haben, indem sie die Bankkarte der O einsteckten. 1. Tatbestand

a) Objektiver Tatbestand

aa) Fremde bewegliche Sache

Die Bankkarte war für A und B eine fremde bewegliche Sa-che.19 bb) Manifestation des Zueignungswillens

Des Weiteren müsste eine Zueignung vorliegen. Die Zueig-nung ist die Manifestation des Zueignungswillens.20 Dieser setzt sich zusammen aus dem Vorsatz zumindest zeitweiliger Aneignung und einen solchen bezüglich der dauerhaften Enteignung.21

A und B müssten mit dem Willen zur dauerhaften Enteig-nung gehandelt haben. Enteignung ist die dauerhafte Ver-drängung des Berechtigten aus seiner Sachherrschaftspositi-on.22 Fraglich ist, auf welchen tauglichen Gegenstand sich

16 Beukelmann (Fn. 7), § 263 Rn. 32; Rengier (Fn. 3), § 13 Rn. 198a und § 11 Rn. 50; Wessels/Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 613; Perron (Fn. 6), § 263 Rn. 64. 17 Siehe sogleich. 18 Siehe sogleich. 19 Siehe vorherige Diebstahlprüfung: A. I. 1. a) aa). 20 Wessels/Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 309. 21 Hohmann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Fn. 1), § 246 Rn. 48; Rengier (Fn. 3), § 5 Rn. 18. 22 Rengier (Fn. 3), § 2 Rn. 90.

der Enteignungsvorsatz von A und B bezog. Nach der sog. Vereinigungslehre kann Gegenstand der Zueignung entweder die physische Substanz der Sache sein oder der unmittelbar in der Sache selbst verkörperte Wert.23 A und B ließen die Bankkarte – wie von vornherein gewollt – nach dem Abhebe-vorgang im Automaten stecken. Sie wollten gerade, dass der Eigentümer – die O – die Bankkarte in ihrer Substanz zurück-erlangt. Es könnte jedoch angenommen werden, dass das Kontoguthaben der O ein der Bankkarte innewohnender Wert sei. Hierfür müsste es sich aber bei der Bankkarte um ein mit einem Sparbuch vergleichbares Legitimationspaper im Sinne des § 808 BGB handeln. Die S-Bank wird durch Aushändi-gung der Bankkarte am Bankschalter nicht zur Leistung an jedermann verpflichtet, sie will vielmehr nur dem Karten- bzw. Kontoinhaber oder einen Berechtigten gegenüber ver-pflichtet sein, der sich durch Geheimnummer richtig auswei-sen kann.24 Die Bankkarte ist demzufolge kein Inhaberpapier im Sinne des § 808 BGB.25 Die Bankkarte verkörpert allen-falls den geringen Wert der Plastik. A und B hatten jedoch nicht vor, den Karteneigentümer aus dieser Herrschaftspositi-on zu verdrängen. Somit handelten A und B ohne Enteig-nungsvorsatz. b) Zwischenergebnis

Der Tatbestand ist nicht erfüllt. 2. Ergebnis

A und B haben sich nicht wegen Unterschlagung gem. §§ 246 Abs. 1, (2), 25 Abs. 2 StGB strafbar gemacht. B. Strafbarkeit des B

I. § 242 Abs. 1 StGB B könnte sich wegen Diebstahls gem. § 242 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem er die Autoschlüssel der O an sich nahm und mit dem Kleinwagen davonfuhr.

Anmerkung 4: Autoschlüssel und Pkw können hier zu-sammen geprüft werden. Auf Seiten der Konkurrenzen stellt der Diebstahl an den Autoschlüsseln allerdings eine mitbestrafte Vortat zum Diebstahl am Kfz dar.

1. Tatbestand

a) Objektiver Tatbestand

B müsste die Autoschlüssel und den Kleinwagen – fremde bewegliche Sachen – weggenommen26 haben. Es müsste da-für fremder Gewahrsam27 an dem Autoschlüssel und Klein-wagen bestanden haben. Der Autoschlüssel befand sich in der Wohnung und damit in der Gewahrsamssphäre28 der O. Die

23 Wessels/Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 147. 24 BGHSt 35, 152 (157). 25 BGHSt 35, 152 (157). 26 Zur Definition siehe Fn. 2. 27 Zur Definition siehe Fn. 3. 28 Welzel, GA 1960, 257 (264); OLG Düsseldorf NJW 1990, 1492.

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ÜBUNGSFÄLL E Tobias Günther/Nicole Selzer

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ZJS 6/2016 760

Verkehrsauffassung rechnet dem Wohnungsinhaber, hier der O, die Sachherrschaft an allen Gegenständen innerhalb des maßgeblichen Herrschaftsbereichs zu, so auch an den Auto-schlüsseln. O hatte zudem einen generellen Gewahrsams-willen29 an allen Gegenständen innerhalb des maßgeblichen Herrschaftsbereichs. Folglich hatte sie auch Gewahrsam an dem Autoschlüssel.

Fraglich könnte aber sein, ob O auch Sachherrschaft be-züglich ihres Kleinwagens besaß, der zehn Meter entfernt von ihrer Wohnung stand. Als O den Kleinwagen parkte, hatte sie tatsächliche Sachherrschaft. Mit dem Entfernen vom Fahr-zeug und Betreten der Wohnung kann O zwar rein faktisch das Fahrzeug nicht mehr fortbewegen. Als Korrektiv der rein faktischen Betrachtung gilt aber die Verkehrsauffassung, die normative Zuordnung vornimmt. Danach liegt die tatsächli-che Sachherrschaft auch dann vor, wenn der Berechtigte auf die Sache unter normalen Umständen einwirken kann und seiner Herrschaft keine Hindernisse entgegenstehen.30 Die O hat den Kleinwagen unmittelbar vor ihrer Wohnung abge-stellt und die Autoschlüssel in ihrer Gewahrsamssphäre auf-bewahrt, sodass sie jederzeitige Zugriffsmöglichkeit auf ihren Kleinwagen hatte. Man spricht in solchen Fällen von einem gelockerten Gewahrsam.31 In derartigen Fällen genügt ein genereller Herrschaftswille, den O auch besaß.

O hatte demnach die tatsächliche Sachherrschaft sowohl über die Autoschlüssel als auch über den Kleinwagen.

B könnte neuen Gewahrsam begründet haben. B ergriff zunächst den Autoschlüssel und steckte diesen ein. Damit übte er spätestens mit dem Einstecken, durch das er die Auto-schlüssel in eine Gewahrsamsenklave verbrachte, die tatsäch-liche Sachherrschaft über diesen aus. B wollte dies auch, hatte folglich einen natürlichen Herrschaftswillen gebildet.

Auch begründete B spätestens beim Einsteigen und An-lassen des Kleinwagens neuen Gewahrsam am Kleinwagen. Dieser Gewahrsamswechsel vollzog sich auch ohne den Wil-len der O und damit im Wege des Bruchs32. Folglich hat B fremden Gewahrsam an dem Autoschlüssel und Kleinwagen gebrochen. b) Subjektiver Tatbestand

aa) Vorsatz

B müsste auch vorsätzlich gehandelt haben. Vorsatz ist der Wille zur Verwirklichung eines Straftatbestandes in Kenntnis aller seiner objektiven Tatbestandsmerkmale.33 B handelte mit Wissen und Wollen hinsichtlich der Wegnahme der fremden beweglichen Sachen – Autoschlüssel und Kleinwa-gen.

29 Wessels/Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 87. 30 Rengier (Fn. 3), § 2 Rn. 27. 31 Wessels/Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 92; Rengier (Fn. 3), § 2 Rn. 27. 32 Zur Definition siehe Fn. 4. 33 Rengier (Fn. 3) § 14 Rn. 5.

bb) Absicht rechtswidriger Zueignung

B müsste auch mit Zueignungsabsicht gehandelt haben. Nach überwiegender Ansicht setzt die Zueignungsabsicht im Sinne des § 242 StGB voraus, dass der Täter zumindest bedingt vorsätzlich hinsichtlich der dauerhaften Enteignung und ab-sichtlich hinsichtlich einer zumindest vorübergehenden An-eignung handelt.34 B wollte die O hinsichtlich des Auto-schlüssels und des Kleinwagens dauerhaft aus ihrer Sachherr-schaftsposition verdrängen und dem Zugriff entziehen. Einen Rückführungswillen besaß B nicht. Zudem hatte er die Ab-sicht, die Sachen zumindest vorübergehend seinem und dem Vermögen des A einzuverleiben.

Die erstrebte Zueignung war auch rechtswidrig. B stand kein einredefreier Anspruch auf Übereignung des Auto-schlüssels und des Kleinwagens zu. Folglich liegt die Absicht rechtswidriger Zueignung vor. 2. Rechtswidrigkeit und Schuld

B handelte auch rechtswidrig und schuldhaft. 3. Strafzumessung

Es könnte ein besonders schwerer Fall des Diebstahls ein-schlägig sein. In Betracht kommt zunächst die Verwendung eines falschen Schlüssels gem. § 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StGB. Falsch ist ein Schlüssel, der zur Zeit der Tat nicht vom Be-rechtigten zur Öffnung bestimmt ist.35 Bei dem von B ver-wendeten Schlüssel handelt es sich um den Originalauto-schlüssel der O. Damit dieser falsch ist, müsste O dem Schlüssel die Bestimmung zur ordnungsgemäßen Öffnung ihres Kleinwagens entzogen haben. Dies war nicht der Fall. O hat das Abhandenkommen des Schlüssels nicht mitbekom-men, sodass sie ihn auch nicht entwidmen konnte. Der be-sonders schwere Fall im Sinne des § 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StGB ist demnach nicht einschlägig.

B könnte aber durch die Inbetriebnahme des Kraftfahr-zeugs eine andere Schutzvorrichtung im Sinne des § 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 überwunden haben. Bei einem Zündschloss handelt es sich um eine andere Schutzvorrichtung im Sinne des § 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StGB. Fraglich ist allerdings, ob B diese Schutzvorrichtung auch überwunden hat. B verwen-dete den Originalschlüssel und setzte damit das Fahrzeug in Gang. Das Ingangsetzen unterschied sich hierbei jedoch nicht vom „normalen“ Ingangsetzen, sodass die Verneinung dieses Regelbeispiels konsequent sein könnte.36 Allerdings steckte weder der Schlüssel im Schloss noch war dieser einfach zu-gänglich. B entwendete ihn zuvor aus der Wohnung der O. Damit war er nicht leicht erreichbar, sodass die besondere Sicherung im Sinne des § 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StGB auch überwunden wurde.37 Damit ist der besonders schwere Fall

34 Eser/Bosch (Fn. 1), § 242 Rn. 60 f.; Rengier (Fn. 3), § 2 Rn. 89; Streng, JuS 2007, 422 (424). 35 Fischer (Fn. 1), § 243 Rn. 8; Küper/Zopfs, Strafrecht, Be-sonderer Teil, 9. Aufl. 2015, Rn. 440 m.w.N. 36 So Otto, Jura 1989, 200. 37 BGH NJW 2010, 3175 mit zustimmender Anm. Kudlich, JA 2011, 153 (154 f.); OLG Karlsruhe NStZ-RR 2010, 48

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des Diebstahls im Sinne des § 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StGB erfüllt.

Anmerkung 5: Eine andere Ansicht ist mit entsprechender Begründung vertretbar. Im Falle einer Verneinung könnte man hier aber einen unbenannten schweren Fall vertretbar annehmen.38

II. Ergebnis B hat sich wegen Diebstahls in einem besonders schweren Fall am Autoschlüssel und Kleinwagen der O gem. §§ 242 Abs. 1, 243 Abs. 1, S. 2 Nr. 2 StGB strafbar gemacht. C. Strafbarkeit des A

I. §§ 242 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB A könnte sich wegen mittäterschaftlichen Diebstahls gem. §§ 242 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB strafbar gemacht haben, in-dem er in das Fahrzeug der O stieg und B half das Fahrzeug sicher wegzufahren und in seiner Garage unterzustellen. 1. Tatbestand

a) Objektiver Tatbestand

aa) Wegnahme einer fremden, beweglichen Sache

A hat weder eigenhändig den Gewahrsam am Autoschlüssel noch am Fahrzeug gebrochen. bb) Zurechnung nach § 25 Abs. 2 StGB

Die Wegnahme könnte A aber im Wege der Mittäterschaft gem. § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet werden. Erforderlich ist, dass eine gemeinschaftliche Tatbegehung durch bewusstes und gewolltes Zusammenwirken aufgrund eines gemeinsa-men Tatplans sowie einer gemeinsamen Tatausführung vor-liegt.39 Ein konkludentes Einvernehmen genügt hierfür.40 (1) Gemeinsamer Tatentschluss

A stieg unverzüglich in den durch B vorgefahrenen Kleinwa-gen ein und erklärte sich dabei mit dem „Coup“ des B einver-standen. Er navigierte den ortsfremden B, hielt nach Polizei-fahrzeugen Ausschau und stellte seine Garage für den Klein-wagen zur Verfügung. Hierin ist die konkludente Entwick-lung eines gemeinsamen Tatplans zu sehen, der auch auf einem gemeinsamen Tatentschluss fußt.

mit krit. Anm. Bosch, JA 2009, 905 (906: tatsächliche Er-schwerung der Wegnahme nötig). Ebenso (anders nur für den berechtigten Schlüsselinhaber) OLG Hamm NJW 1982, 777; Schmitz (Fn. 4), § 243 Rn. 36; Wessels/Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 234; jeweils m.w.N. 38 Fischer (Fn. 1), § 243 Rn. 16. 39 Frister, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2015, Kap. 26 Rn. 1. 40 Kindhäuser, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 7. Aufl. 2015, § 40 Rn. 10.

(2) Gemeinsame Tatausführung

Fraglich ist, ob A und B auch gemeinsam die Tat ausgeführt haben. Problematisch könnte diesbezüglich der Zeitpunkt sein, als A hinzu stieß. Durch das Ingangsetzen des Kleinwa-gens könnte der Diebstahl bereits vollendet sein. Zwar gilt, dass bei schweren Gegenständen die Vollendung erst mit dem Abtransport eintritt.41 Bei Kraftfahrzeugen ist jedoch regelmäßig dann die Vollendung der Wegnahme gegeben, wenn der Täter den Pkw von dem Platz fortbewegt, auf wel-chem der Gewahrsamsinhaber ihn zuvor abstellte.42 Gleich-gültig ist hierbei, dass B den Pkw zunächst vor die Haustür der O fuhr, sich also dem vormaligen Gewahrsamsinhaber näherte. Die Wegnahme war also vollendet als A in das Fahr-zeug stieg.

Demnach könnte A die Wegnahme des Kleinwagens nur im Wege der sukzessiven Mittäterschaft zugerechnet werden. Das Konstrukt der sukzessiven Mittäterschaft nach Vollen-dung der Tat ist jedoch umstritten.

Nach st. Rspr. ist die sukzessive (Mit-)Täterschaft auch in der Phase zwischen Vollendung und Beendigung noch mög-lich.43 Eine solche liegt vor, „wenn jemand in Kenntnis und Billigung des bisher Geschehenen als Mittäter eintritt, so bezieht sich sein Einverständnis auf einen verbrecherischen Gesamtplan, und das Einverständnis hat die Kraft, dass ihm auch das einheitliche Verbrechen als solches strafrechtlich zugerechnet wird“.44 Das hierfür erforderliche wechselseitige Einvernehmen zwischen den Beteiligten vor Beendigung der Tat45 lag zwischen A und B wie dargestellt vor.

Entscheidend für die Zurechnung der Mittäterschaft ist zudem, dass der Hinzutretende „durch seine Handlung nicht nur fremdes, tatbestandsverwirklichendes Unrecht fördern will, sondern seinen Tatbeitrag im Sinne gleich geordneten, arbeitsteiligen Vorgehens als Teil einer gemeinschaftlichen Tätigkeit verstanden wissen will.46 Insoweit ist eine wertende Betrachtung der gesamten Umstände erforderlich, wobei das eigne Interesse am Erfolg, der Umfang der Tatbeteiligung und die Teilhabe an der Tatherrschaft von Bedeutung sind.“47

A erklärte sich noch beim Einsteigen mit dem „Coup“ des B einverstanden und fasste sogleich den Plan, den Kleinwa-gen in seiner Garage zu verstecken, um ihn aus dem Sichtfeld

41 Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 1, 12. Aufl. 2007, § 25 Rn. 197; Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 2003, § 25 Rn. 222. 42 BGH NStZ 1982, 420. 43 BGHSt 2, 344 (345); BGH NStZ 2000, 594. 44 BGH NStZ 2008, 280 (281); BGHSt 2, 344 (346). 45 BGH NStZ 1999, 510 f.; BGH NStZ 1996, 227 (228); ebenso OLG Naumburg, Urt. v. 10.6.2013 – 2 Ss 71/13, Rn. 9 (juris), das darüber hinaus einen kommunikativen Akt verlangt. 46 BGH wistra 2004, 105 (107); OLG Hamm, Beschl. v. 18.11.2004 – Ss 409/04, Rn. 14 (juris). 47 OLG Hamm, Beschl. v. 18.11.2004 – Ss 409/04, Rn. 14 (juris); BGH wistra 2004, 105 (107); BGH wistra 1994, 57; BGH NJW 2011, 2375; BGH NStZ-RR 2010, 236; BGH NStZ-RR 2013, 40 (41).

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erst einmal verschwinden zu lassen, bis sie über das weitere Vorgehen entschieden haben. A hat demnach ein Eigeninte-resse am Taterfolg.

Hinsichtlich des Umfangs der Tatbeteiligung ist festzu-stellen, dass A keine eigenen tatbestandlichen Ausführungen vorgenommen hat. Dementsprechend konnte er die Verwirk-lichung des tatbestandlichen Erfolges weder hemmen noch fördern. A hatte folglich auch keine Tatherrschaft inne. Eben-so wenig konnte er einen Willen zur Tatherrschaft fassen. A leistete erst im Rahmen der Beutesicherung einen Beitrag, der keinerlei Einfluss auf den tatbestandlichen Erfolg hatte. Zu-dem stellt die Hilfe beim Abtransport der Beute regelmäßig nur eine Gehilfentätigkeit dar. B hätte auch ohne Hinzutreten des A das Fahrzeug fortbewegen können. Im Rahmen der Beutesicherung übte A allerdings neben B Herrschaft über das Geschehen aus, indem er B zur Garage navigierte und nach Polizeifahrzeugen Ausschau hielt.

Zwar ist innerhalb der Rechtsprechung teils anerkannt, dass eine Vorbereitungs- oder Unterstützungshandlung aus-reichend ist,48 die bei starkem Eigeninteresse am Taterfolg die fehlende Tatherrschaft während der Ausführungsphase kompensiert.49 Diese Sichtweise würde jedoch zu einer Überbewertung des Interesses am Taterfolg und der Unter-stützungshandlung bei der Beutesicherung gelangen. A er-klärte sich lediglich mit dem „Coup“ einverstanden und er-kannte die Vorteile, ein „starkes“ Eigeninteresse lässt sich hieraus nicht ableiten. Im Rahmen der Gesamtbetrachtung zeigt sich, dass ein Mangel bei der Tatherrschaft als auch beim Willen zur Tatherrschaft vorliegt. Zudem ist der Um-fang der Tatbeteiligung als gering anzusehen, da lediglich ein Beitrag im Rahmen der Beutesicherung vorliegt. Trotz Kenntnis, Billigung und Ausnutzung der geschaffenen Lage durch B, ist hier keine Mittäterschaft zu sehen. Hier kommt allenfalls eine sukzessive Beihilfe in Betracht.

Anmerkung 6: Vertretbar ist auch die Annahme der suk-zessiven Mittäterschaft, wenn argumentiert wird, dass A ein überragendes Interesse am Taterfolg inne hatte und

48 BGH wistra 2004, 105 (107); BGH NStZ 1995, 120; OLG Hamm, Beschl. v. 18.11.2004 – Ss 409/04, Rn. 14 (juris). 49 Ähnlich BGH wistra 1994, 57; BGH wistra 2004, 105 (107); ebenso BGH wistra 2001, 378, OLG Hamm, Beschl. v. 18.11.2004 – Ss 409/04, Rn. 14 (juris), wonach aber unge-ordnete Tätigkeiten nicht genügen; insgesamt a.A. BGH NStZ 1984, 548 f.; BGH NStZ 1998, 565 f.; BGH NStZ 1997, 272; BGH, Beschl. v. 23.2.1994 – 2 StR 674/93, Rn. 10 (juris); BGH NStZ 2003, 85; Dallinger, MDR 1975, 365 (366) – die einen ursächlichen Beitrag für die Tatbe-standsverwirklichung verlangen. „Kann er dagegen die weite-re Tatausführung nicht mehr fördern, weil für die Herbeifüh-rung des tatbestandsmäßigen Erfolges schon alles getan ist und weil das Verhalten des Eintretenden auf den weiteren Ablauf des tatbestandsmäßigen Geschehens ohne jeden Ein-fluß bleibt, kommt mittäterschaftliche Mitwirkung trotz Kenntnis, Billigung und Ausnutzung der durch einen anderen geschaffenen Lage nicht in Betracht“.

die Tatbeteiligung im Rahmen der Beutesicherung erheb-lich war.

Nach der Tatherrschaftslehre ist Täter, wer das Geschehen als Zentralgestalt planvoll lenkend in den Händen hält und ar-beitsteilig einen Beitrag im Ausführungsstadium leistet. Teil-nehmer ist hingegen, wer als Randfigur des Geschehens nicht mitgestaltend auf dieses einwirken kann.50 Wie festgestellt, hat A lediglich in der Phase der Beutesicherung, also nach Vollendung der Tat, einen Tatbeitrag geleistet und damit nicht in der Ausführungsphase. Dementsprechend konnte er nicht Zentralgestalt des Geschehens sein und den Ablauf auch nicht in den Händen halten. Eine Beherrschung des Tatgeschehens durch eine nachträgliche Billigung ist nach der Tatherrschaftslehre nicht möglich.51 Der Vorsatz muss im Zeitpunkt der Vornahme der Tathandlung bestehen.52 Das heißt, es kann keinen rückwärtsgerichteten Tatentschluss geben53 und damit auch keine sukzessive Mittäterschaft. 54 Folglich fehlt es auch nach dieser Ansicht an dem Kriterium der Täterschaft.

Beide Ansichten kommen zum gleichen Ergebnis, sodass keine Stellungnahme erforderlich ist. Mangels Zurechnung der Wegnahmen im Wege der sukzessiven Mittäterschaft fehlt es auch an einer gemeinsamen Tatausführung im Sinne des § 25 Abs. 2 StGB.

Anmerkung 7: Wurde die sukzessive Mittäterschaft be-jaht, war eine Stellungnahme erforderlich: Zur Begründung der sukzessiven Mittäterschaft auch nach Vollendung wird angeführt, dass mit der Beutesicherung ein erneuter Anknüpfungspunkt für einen gemeinsamen Tatentschluss geschaffen wird und diesbezüglich auch ei-ne arbeitsteilige Tatausführung möglich ist.55 Zudem pro-fitiert auch der später Hinzutretende von den Bemühun-gen des anderen, sodass er auch strafrechtlich zur Ver-antwortung gezogen werden muss. Dagegen wird aber vorgebracht, dass die Beutesicherung kein vertieftes Un-

50 Roxin (Fn. 41), § 25 Rn. 198 ff. 51 Rengier (Fn. 3), § 7 Rn. 47; Heine/Weißer, in: Schönke/ Schröder (Fn. 1), § 25 Rn. 96; Schünemann (Fn. 41), § 25 Rn. 200; Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2012, § 20 Rn. 128. 52 Schünemann (Fn. 41), § 25 Rn. 200; Roxin (Fn. 41), § 25 Rn. 227. 53 Schünemann (Fn. 41), § 25 Rn. 200; Kühl (Fn. 51), § 20 Rn. 129; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2011, § 12 Rn. 88. 54 Geppert, Jura 2011, 30 (35); Roxin (Fn. 41), § 25 Rn. 221; Joecks, Strafgesetzbuch, Studienkommentar, 11. Aufl. 2014, § 25 Rn. 88 f.; Krey/Esser, Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2012, § 28 Rn. 957, 964; Gropp, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2015, § 10 Rn. 212; Stratenwerth/ Kuhlen (Fn. 53), § 12 Rn. 88; Schünemann (Fn. 41), § 25 Rn. 197; Lackner/Kühl (Fn. 5), § 25 Rn 12; Kühl (Fn. 51), § 20 Rn. 127; Rengier, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2016, § 44 Rn. 35 ff. 55 Vgl. BGH NStZ 2003, 85.

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recht darstelle.56 Der Diebstahl erfasse als Tatbestands-merkmal nur die Wegnahme und nicht die Beutesiche-rung.57 Zudem bilde die Kausalität die Grundlage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit.58 An der kausalen Er-folgsherbeiführung fehle es aber bei einem Hinzutreten nach Vollendung des Delikts, da eine nachträgliche Billi-gung die Kausalität nicht ersetzen könne.59

2. Ergebnis

A hat sich des Diebstahls am Autoschlüssel und Kleinwagen in Mittäterschaft gem. §§ 242 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB nicht strafbar gemacht. II. §§ 242 Abs. 1, 27 StGB A könnte sich wegen der gleichen Handlung der Beihilfe zum Diebstahl gem. §§ 242 Abs. 1, 27 StGB strafbar gemacht haben. 1. Tatbestand

a) Objektiver Tatbestand

aa) Fremde rechtswidrige Tat

Eine solche liegt mit dem Diebstahl des B am Autoschlüssel sowie Kleinwagen gem. § 242 Abs. 1 StGB vor. bb) Hilfeleisten

Die Hilfeleistung tritt auch hier erst nach Vollendung des Diebstahls ein, sodass nur eine sukzessive Beihilfe in Be-tracht kommt. Streitig ist, ob eine sukzessive Beihilfe aner-kannt wird. (1) Rspr. & Teile der Lit.

Vertreter60, die die sukzessive Beihilfe anerkennen, argumen-tieren, dass eine Förderung der Tat auch nach Vollendung dieser vorliegen könne, da die Beihilfe keinen gemeinsamen Tatentschluss und keine gemeinschaftliche Tatbegehung verlange.61 Hiernach würde die Handlung des A als Hilfe zur Beutesicherung dem Beihilfetatbestand unterfallen. (2) Lit.

Dagegen lehnen andere62 die sukzessive Beihilfe mit der Begründung ab, dass der Gehilfenbeitrag den tatbestandsmä-

56 Kühl (Fn. 51), § 20 Rn. 128. 57 Krey/Esser (Fn. 54), § 28 Rn. 964; Kühl (Fn. 51), § 20 Rn. 127; Rengier (Fn. 3), § 7 Rn. 48. 58 Kühl (Fn. 51), § 20 Rn. 107. 59 Vgl. Joecks (Fn. 54), § 25 Rn. 88 f. 60 BGHSt 2, 344 (346); Cramer/Pascal, in: Joecks/Miebach (Fn. 4), § 257 Rn. 24; Lackner/Kühl (Fn. 5), § 27 Rn. 3; Krey/Esser (Fn. 54), § 28 Rn. 1088; Seelmann, JuS 1983, 32 (33); Baumann, JuS 1963, 51 (54). 61 Krey/Esser (Fn. 54), § 28 Rn. 1088. 62 Geppert, Jura 2011, 30 (35); Rengier (Fn. 54), § 45 Rn. 124; ders. (Fn. 3), § 2 Rn. 94, § 7 Rn. 48; Schünemann (Fn. 41), § 27 Rn. 42 f.; Rudolphi, in: Vogler (Hrsg.), Fest-schrift für Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag,

ßigen Erfolg mitverursacht haben müsse.63 Hieran fehle es aber, wenn der Beitrag erst nach Tatvollendung geleistet werde. B hatte sich bereits des Fahrzeugs der O ermächtigt, als A hinzutrat. Zur Vollendung der Tat konnte A durch seine Handlung also nicht mehr beitragen, es fehlt der kausale Zusammenhang. (3) Stellungnahme

Für die letzte Ansicht spricht, dass der Hinzutretende nach Vollendung der Tat nicht mehr kausal zur Rechtsgutsverlet-zung beitragen kann. Die gesetzgeberische Wertung – die Straflosigkeit der versuchten Beihilfe – würde umgangen. Des Weiteren unterfallen Handlungen zur Beutesicherung auch dem § 257 StGB, der, wie §§ 258 ff. StGB, Hilfeleis-tungen nach Vollendung der Tat spezialgesetzlich regelt.64 Würde man gleichwohl die Handlung nach Vollendung der Tat von der Beihilfestrafbarkeit umfasst wissen wollen, wür-de der mildere Strafrahmen des § 257 StGB umgangen wer-den.65 Dies wäre, ebenso wie die Ausdehnung der Beihilfe-strafbarkeit66, verfassungsrechtlich bedenklich.67 Die Argu-mente sprechen für die letzte Ansicht, sodass die Figur der sukzessiven Beihilfe abzulehnen ist. Damit ist der objektive Tatbestand nicht erfüllt.

Anmerkung 8: Gut vertretbar ist hier auch die Bejahung der sukzessiven Beihilfe. Dann muss gleichwohl noch eine Abgrenzung zur Be-günstigung erfolgen: Nach einer Ansicht ist Abgrenzungskriterium die innere Willensrichtung.68 Hiernach liege eine sukzessive Beihilfe vor, wenn der Gehilfe die noch nicht beendete Haupttat fördern und zu einem guten Ende führen wolle. Dagegen liege Begünstigung vor, wenn es dem Helfer maßgeblich um die Vorteilssicherung zugunsten des Vortäters gehe.69 A möchte dem B helfen die Beute zu sichern, also die Tat zu beenden, sodass nach dieser Ansicht Beihilfe vorliegt. Nach einer anderen Ansicht, soll die Beihilfe stets vorge-hen und die Begünstigung im Sinne des § 257 Abs. 3 S. 1

Bd. 1, 1985, S. 559 (567 f.); Renzikowski, in: Maurach/ Gössel/Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 8. Aufl. 2014, § 52 Rn. 51; Roxin (Fn. 41), § 26 Rn. 259. 63 Renzikowski (Fn. 62), § 52 Rn. 15; Fischer (Fn. 1), § 27 Rn. 14a; Heine/Weißer (Fn. 51), § 27 Rn. 6. 64 Geppert, Jura 2011, 30 (35). 65 Roxin (Fn. 41), § 26 Rn. 260. 66 Renzikowski (Fn. 62), § 52 Rn. 51; Roxin (Fn. 41), § 26 Rn. 259; Geppert, Jura 2011, 30 (35); Rudolphi (Fn. 62), S. 567 f. 67 Geppert, Jura 2011, 30 (35); Rudolphi (Fn. 62), S. 568 f. 68 RGSt 71, 193; BGHSt 4, 132 f.; OLG Köln NJW 1990, 587 f.; Rengier (Fn. 3), § 20 Rn. 18; Cramer/Pascal (Fn. 60), § 257 Rn. 24; a.A. Renzikowski (Fn. 62), § 52 Rn. 49; Roxin (Fn. 41), § 26 Rn. 261; Seelmann, JuS 1983, 32 (33). 69 Rengier (Fn. 3), § 20 Rn. 18.

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StGB als straflos behandelt werden.70 Folglich würde auch nach dieser Ansicht Beihilfe vorliegen. Damit kä-men beide Ansichten zum gleichen Ergebnis, sodass eine Stellungnahme entbehrlich ist.

b) Zwischenergebnis

Der objektive Tatbestand ist nicht verwirklicht. 2. Ergebnis

A hat sich nicht wegen Beihilfe zum Diebstahl gem. §§ 242 Abs. 1, 27 StGB strafbar gemacht. III. § 257 Abs. 1 StGB A könnte sich jedoch wegen dieser Handlung der Begünsti-gung gem. § 257 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben. 1. Tatbestand

a) Objektiver Tatbestand

aa) Ein durch die rechtswidrige Vortat eines anderen erlang-ter, noch vorhandener Vorteil

Der Kleinwagen der O ist durch einen Diebstahl des B er-langt worden und ein noch vorhandener Vorteil des B. bb) Hilfeleisten

A müsste aber auch Hilfe geleistet haben. Die Voraussetzun-gen des Hilfeleistens sind umstritten. Einerseits wird vertre-ten, dass der Begriff des Hilfeleistens weit zu interpretieren ist. Für ein Hilfeleisten würde hiernach jedes Handeln in subjektiver Hilfstendenz genügen, das nach der Vorstellung des Täters zur Vorteilssicherung geeignet ist.71 Dagegen verlangt eine andere Ansicht, dass die Handlung auch objek-tiv zur Vorteilssicherung geeignet sein muss und subjektiv mit dieser Tendenz vorgenommen wird.72

A half dem ortsfremden B das Fahrzeug sicher wegzufah-ren, indem er nach Polizeifahrzeugen Ausschau hielt und ihn navigierte. Zudem stellte er auch seine Garage zur Verfü-gung, um sich und dem B den Vorteil des Diebstahls zu er-halten. Beide Ansichten kommen zu dem gleichen Ergebnis. Die Handlung des A war geeignet, die Vorteile der Tat zu sichern, sodass hier keine Stellungnahme erforderlich ist. A hat dem B Hilfe geleistet. b) Subjektiver Tatbestand

A müsste vorsätzlich gehandelt haben. A wusste, als er in den Kleinwagen der O stieg, dass B den Pkw entwendet hatte. Dies wollte er auch. Zudem handelte A auch in der Absicht, die Vorteile der Tat zu sichern, weswegen er B half den Pkw sicher wegzufahren und in der Garage unterzustellen.

70 Stree/Hecker, in: Schönke/Schröder (Fn. 1), § 257 Rn. 7; Cramer/Pascal (Fn. 60), § 257 Rn. 24; Seelmann, JuS 1983, 32 (33). 71 Seelmann, JuS 1983, 32 (34). 72 Stree/Hecker (Fn. 70), § 257 Rn. 11; Lackner/Kühl (Fn. 5), § 257 Rn. 3; Geppert, Jura 2007, 589 (592).

2. Rechtswidrigkeit & Schuld

A handelte rechtswidrig und schuldhaft. 3. Ergebnis

A hat sich wegen Begünstigung gem. § 257 Abs. 1 StGB strafbar gemacht. 2. Tatkomplex: Abhebung am Geldautomaten

A. Strafbarkeit von A und B

I. §§ 263a Abs. 1 Var. 3, 25 Abs. 2 StGB A und B könnten sich wegen mittäterschaftlichen Computer-betrugs gem. §§ 263a Abs. 1 Var. 3, 25 Abs. 2 StGB strafbar gemacht haben, indem sie mit der Bankkarte und Geheimzahl der O 25.000 € am Geldautomaten der S-Bank abhoben. 1. Tatbestand

a) Objektiver Tatbestand

aa) Verwendung unbefugter Daten

A und B müssten mittäterschaftlich durch die Einführung der Bankkarte in den Geldautomaten und der Eingabe der Ge-heimnummer der O die auf der Bankkarte gespeicherten Daten unbefugt verwendet haben. Hier haben A und B eine Absprache der Art getroffen, nach Erhalt der Bankkarte so-wie der Geheimnummer der O gemeinsam am Geldautoma-ten das maximal mögliche Tageslimit abzuheben. Ein ge-meinsamer Tatplan liegt damit vor. Fraglich ist aber, ob A und B gemeinschaftlich in Form der Mittäterschaft agiert haben. Es ist die Täterschaft von der Teilnahme abzugren-zen73. Sowohl A als auch B sind direkt am Tatort anwesend, sie nehmen auch arbeitsteilig die Tathandlung, d.h. die unbe-fugte Verwendung von Daten, vor. Jeder der beiden kann die Ausführung der Tat hemmen oder in einer bestimmten Art und Weise ablaufen lassen. Folglich hat sowohl A als auch B nach der strengen Tatherrschaftslehre Tatherrschaft inne.

Anmerkung 9: Auf die funktionale oder sog. „weite“ Tat-herrschaftslehre braucht nicht eingegangen werden, da selbst die „engere“ sog. strenge Tatherrschaftslehre für A und B eine Mittäterschaft annimmt.

Nach der eingeschränkt subjektiven Theorie74 der Recht-sprechung wird der Tatherrschaftswille anhand einer werten-den Gesamtbetrachtung bestimmt. Sowohl A als auch B hat-ten ein hohes Eigeninteresse am Erfolg der Tat. Beiden kam es direkt auf die Erlangung der Geldscheine an. A und B waren beide vor Ort in der Bankfiliale und haben gemeinsam den Geldautomaten bedient. Beide haben sich durchgängig an der Tat beteiligt. In einer wertenden Gesamtschau lässt sich sowohl ein Wille des A als auch des B zur Tatherrschaft ausmachen. Mithin liegt auch nach dieser Auffassung eine Mit-täterschaft vor. Eine Stellungnahme ist folglich nicht erforderlich. A und B handelten mittäterschaftlich im Sinne des § 25 Abs. 2 StGB.

73 Siehe zur Definition Fn. 50. 74 Siehe zur Definition Fn. 46, 47.

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Indem A und B die Original-Bankkarte der S-Bank in den Geldautomaten einschoben, könnten sie die darauf gespei-cherten Daten unbefugt verwendet haben. (1) Computerspezifische Auslegung

Nach dieser Auslegung ist die Datenverwendung unbefugt, wenn sie im Widerspruch zum Willen des Betreibers steht, der sich in der konkreten Programmgestaltung niedergeschla-gen haben muss.75 Hier haben A und B eine Original-Bankkarte der S-Bank in den Geldautomaten eingeschoben, sowie die dazugehörige Geheimnummer richtig, d.h. ord-nungsgemäß eingegeben. Auch wenn der entgegenstehende Wille der S-Bank in den allgemeinen Geschäftsbedingungen zum Ausdruck kommt (die Kartenbenutzung durch andere als den Kontoinhaber, also vertraglich verbieten), so hat sich dieser Wille der S-Bank nicht in der Programmgestaltung niedergeschlagen, da die Identität der Eingabeperson nicht weiter abgeprüft wird. Die Programmsperre (PIN-Abfrage) wurde nicht funktionswidrig überwunden. Somit liegt nach der computerspezifischen Auffassung keine unbefugte Ver-wendung von Daten durch A und B vor. (2) Subjektive Auslegung

Nach einer subjektiven Ansicht ist jede Datenverwendung „unbefugt“, die dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Verfügungsberechtigten widerspricht.76 Als Verfügungs-berechtigten der Datenverarbeitungsanlage (Geldautomat) kann man hier zum einen die S-Bank ansehen, auf deren mutmaßlichen Willen es dann ankommt. Berücksichtigt man den Aspekt, dass Banken regelmäßig in Allgemeinen Ge-schäftsbedingungen den Kontoinhaber verbieten, die Bank-karte und die dazugehörige Geheimnummer an andere Perso-nen zu übergeben, kann man daraus schließen, dass die S-Bank ebenfalls nicht mit der Datenverwendung von A und B einverstanden war. Somit war die Datenverwendung von A und B unbefugt.

Zum anderen könnte man die Kontoinhaberin O als Ver-fügungsberechtigte ansehen und dann auf deren erklärten bzw. mutmaßlichen Willen abstellen. Die O erklärte nur mit einer Kartenprüfung aber nicht mit einer Geldabhebung am Automaten einverstanden zu sein. Damit war auch nach die-ser Lesart der subjektiven Auffassung die Datenverwendung von A und B unbefugt. (3) Betrugsspezifische Auslegung

Unbefugt ist jede Verwendung von Daten, wenn sie täu-schungsäquivalent ist. Eine Täuschungsäquivalenz liegt vor, wenn das Täterverhalten bei Hinzudenken eines Menschen

75 Lenckner/Winkelbauer, CR 1986, 654 (657); Altenhain, JZ 1997, 752 (758); Achenbach, JR 1994, 289 (295); ders., in: Dölling/Erb (Hrsg.), Festschrift für Karl Heinz Gössel zum 70. Geburtstag am 16. Oktober 2002, 2002, S. 481 (494 f.). 76 Hilgendorf, JuS 1997, 130 (132); Mitsch, JZ 1994, 877 (883); Scheffler/Dressel, NJW 2000, 2645 (2646) auch noch BGHSt 40, 331 (334 f.).

eine ausdrückliche oder konkludente Täuschung darstellt.77 Würden A und B einen Bankmitarbeiter an einem Bankschal-ter gegenüber unter Vorlage der Bankkarte und der Preisgabe der Geheimnummer die Auszahlung der 25.000 € verlangen, würden sie zumindest konkludent behaupten, zu diesem Geldabhebevorgang berechtigt oder bevollmächtigt zu sein.78 Eine Täuschung läge damit vor.

Berücksichtigt man hingegen die Funktionsweise der Kar-te – die Bankkarte ist zwar kein Inhaberpapier im Sinne des § 808 BGB, aber im Zusammenhang mit der Geheimnummer ein ausreichender Zugangsschlüssel79 – so würden A und B nicht über die Berechtigung zur Abhebung täuschen. A und B würden gegenüber einem fiktiven Schalterangestellten durch das Vorzeigen der Bankkarte und der Offenbarung der Ge-heimnummer weder ausdrücklich noch konkludent behaup-ten, zu dieser konkreten Geldabhebung berechtigt oder be-vollmächtigt zu sein. Dies würde nicht der Funktion der Bankkarte im heutigen Massenverkehr entsprechen. Die neuere Rechtsprechung des BGH – die sich formal auch der betrugsspezifischen Auslegung angeschlossen hat – stellt ebenso darauf ab, dass bei dem fiktiven Prüfvorgang des Bankmitarbeiters nur dieselben Aspekte abgefragt würden, wie es an einem Geldautomat der Fall wäre (Bankkarte und richtige Geheimnummer).80 Eine Täuschung würde danach nicht vorliegen.

Anmerkung 10: Die betrugsspezifische Auslegung in der Lesart der Rechtsprechung kommt damit inhaltlich der computerspezifischen Auffassung sehr nahe.81

Anmerkung 11: Die neuere Rechtsprechung nimmt bei ei-ner Geldabhebung am Automaten zudem eine Gesamt-betrachtung des Geschehens vor, bei der berücksichtigt werden muss, wie der Täter die Bankkarte sowie Geheim-nummer (deliktisch) erlangt hat.82 Eine unbefugte Ver-wendung von Daten soll dann nicht gegeben sein, wenn der Täter die Bankkarte sowie Geheimnummer vom Be-rechtigten mit dessen Willen, wenn auch täuschungs-bedingt, erlangt hat.83 Anders sieht es aus, wenn die Bankkarte im Wege eines Diebstahls84 oder einer räuberi-schen Erpressung85 erlangt wurden. A und B haben die Bankkarte sowie Geheimnummer der O zwar täuschungs-

77 Rengier (Fn. 3), § 14 Rn. 19; Wessels/Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 613; BGH NJW 2013, 1017 (1018); OLG Karlsruhe NJW 2009, 1287 (1288); OLG Düsseldorf NStZ-RR 1998, 137. 78 In diesem Sinne Rengier (Fn. 3), § 14 Rn. 28; Wessels/ Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 613. 79 BGH NJW 1988, 979 (980). 80 BGHSt 47, 160 (163 f.) und BGH, Beschl. v. 16.7.2015 – 2 StR 15/15, Rn. 10 (juris). 81 Ebenso Rengier (Fn. 3), § 14 Rn. 22. 82 BGH, Beschl. v. 16.7.2015 – 2 StR 15/15, Rn. 11 (juris). 83 BGH, Beschl. v. 16.7.2015 – 2 StR 15/15, Rn. 8 (juris). 84 So aber BGH NStZ 2001, 316 f. 85 So BGH, Urt. v. 17.8.2001 – 2 StR 197/01, Rn. 9 (juris).

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bedingt, aber mit deren Willen erhalten. Eine Täuschung würde ausscheiden. Überzeugend ist diese Gesamtbetrachtung im Rahmen des § 263a StGB nicht86, da einzig und allein für die betrugs-spezifische Auslegungsvariante relevant ist, welcher Er-klärungswert die Handlung des Täters hat. Die Einheit der Rechtsordnung als auch das Bestimmtheitsgebot sprechen eher dafür, dass Tatbestandsmerkmal „unbefugt“ einheit-lich, d.h. losgelöst von vorher begangenen Unrecht, aus-zulegen.

(4) Stellungnahme

Da die Ansichten zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, ist eine Stellungnahme notwendig. Eine unbefugte Verwen-dung von Daten würden die computerspezifische als auch die betrugsspezifische Auffassung in der Lesart der neueren Rechtsprechung (die auf die Funktionsweise der Bankkarte im Massenverkehr abstellt) verneinen. Gegen die computer-spezifische Auffassung spricht, dass dadurch die Reichweite der dritten Variante des § 263a Abs. 1 StGB sehr stark einge-engt würde.87 Zum einen würde diese Theorie nicht die Kon-stellation erfassen, indem ein berechtigter Karteninhaber seine Bankkarte (mitsamt richtiger Geheimnummer) dafür „missbraucht“, um mittels Abhebungen am Geldautomaten sein Konto zu überziehen.88 Noch würde die in der Praxis häufig vorkommende Konstellation erfasst, dass Täter fremde aber originale Bankkarten mitsamt richtiger Geheimnummer benutzen, um am Geldautomaten Barmittel abzuheben. Gera-de diese letzte Fallkonstellation wollte der Gesetzgeber von der dritten Variante des § 263a Abs. 1 StGB ausdrücklich erfasst wissen.89

Die gesetzliche Bezeichnung Computer„betrug“ könnte als (wenn auch schwaches) Wortlautargument für die be-trugsspezifische Auffassung in der Lesart der Literatur ange-führt werden.90 Ebenso könnte die Stellung im Gesetz (direkt hinter dem Betrugstatbestand) sowie die gleiche Paragrafen-nummer (nur mit dem Zusatz „a“) ein Beleg für eine betrugs-spezifische Auslegung des Computerbetrugs sein. Vor dem Hintergrund, dass mit der betrugsspezifischen Auslegung des Merkmals „unbefugt“ gerade die Strafbarkeitslücken ge-schlossen werden sollten, die dadurch entstehen, dass man Computer nicht täuschen kann, erscheint die Beschränkung der Prüfungskompetenz eines fiktiven Schalterangestellten auf eben nur solche Aspekte, die auch der Geldautomat prüft, nicht nachvollziehbar. Im Ergebnis würde die betrugsspezifi-sche Auslegung in der Lesart der Rechtsprechung über die Hintertür doch zu einer computerspezifischen Auslegung um-gedeutet.91 Vorzugswürdig erscheint daher die betrugsspezi-fische Auslegung in der Lesart der Literatur. Aufgrund der Tatsache, dass die subjektive Auffassung hier zum gleichen

86 Ebenso Jäger, JA 2016, 151 (152). 87 Wessels/Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 613; Rengier (Fn. 3), § 14 Rn. 17. 88 Wessels/Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 613. 89 BT-Drs. 10/5058, S. 30. 90 Achenbach (Fn. 75), S. 486 m.w.N. 91 Rengier (Fn. 3), § 14 Rn. 22.

Ergebnis kommt, braucht der Streit nicht weiter entschieden werden. Somit liegt eine unbefugte Verwendung von Daten vor.

Anmerkung 12: Die Bearbeiter können mit sehr guten Ar-gumenten auch die „herkömmliche“ betrugsspezifische (die eine konkludente Täuschung annimmt) bzw. subjek-tive Auffassung ablehnen und sich der computerspezifi-schen Auslegung für § 263a Abs. 1 StGB anschließen. Argumentieren ließe sich folgendermaßen: Die Überein-stimmung des § 263a Abs. 1 StGB zum Betrugstatbestand des § 263 Abs. 1 StGB bezieht sich nur auf das objektive Tatbestandsmerkmal des Vermögensschaden sowie auf die im subjektiven Tatbestand zu prüfende Bereiche-rungsabsicht.92 Die objektiven Tatbestandsmerkmale der Täuschung, des Irrtums und der Vermögensverfügung sind durch grundsätzlich eigenständige den Tatbestand des § 263a Abs. 1 StGB kennzeichnende bzw. prägende Tatbestandsmerkmale wie z.B. der „Beeinflussung des Ergebnisses eines Datenverarbeitungsprozesses“ ersetzt worden.93 Gegen die subjektive Auffassung spricht, dass sie den Anwendungsbereich der dritten Variante des § 263a Abs. 1 StGB sehr stark erweitert und unter Umständen sogar den vertragswidrigen Gebrauch z.B. einer Bankkar-te unter Strafe stellt.94 Für Vertragsverletzungen ist per se das Zivilrecht zuständig. Eine strafrechtliche Hypertro-phie des Computerbetrugs sollte vermieden werden.

Anmerkung 13: In dieser Ausführlichkeit wird eine Stel-lungnahme von den Bearbeitern nicht verlangt. Es sollen nur einige Argumente aufgezeigt werden, derer sich die Bearbeiter bedienen können.

bb) Beeinflussung des Ergebnisses eines Datenverarbeitungs-prozesses

Durch den Abhebevorgang müsste als Taterfolg das Ergebnis eines Abhebevorgangs beeinflusst worden sein. Teilweise wird in der Literatur und Rechtsprechung für Tathandlung des § 263a Abs. 1 StGB ein laufender Datenverarbeitungs-vorgang vorausgesetzt.95 Dieser Vorgang wird jedoch erst im Zeitpunkt der Einführung der Bankkarte durch A und B in Gang gesetzt. Nach dieser Auffassung würde eine Beeinflus-sung des Ergebnisses eines Datenverarbeitungsprozesses nicht vorliegen.

Die heute herrschende Ansicht aus Literatur und Recht-sprechung lässt es hingegen genügen, dass durch den Abhe-bevorgang ein solcher Datenverarbeitungsvorgang erst in Gang gesetzt wurde, da dies die stärkste Form der Beeinflus-

92 So Achenbach (Fn. 75), S. 486. 93 Achenbach (Fn. 75), S. 486 f. 94 Achenbach (Fn. 75), S. 491 f.; Rengier (Fn. 3), § 14 Rn. 16. 95 Kleb-Braun, JA 1986, 249 (259); Ranft, wistra 1987, 79 (83); LG Wiesbaden NJW 1989, 2551 (2552); Wohlers/ Mühlbauer, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kom-mentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 5, 2. Aufl. 2014, § 263a Rn. 19.

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sung sein soll.96 Hier haben A und B durch das Einschieben der Bankkarte in den Geldautomaten einen Datenverarbei-tungsvorgang in Gang gesetzt und somit letztlich auch auf dessen Ergebnis mitursächlich eingewirkt. Folglich liegt eine Beeinflussung des Ergebnisses eines Datenverarbeitungspro-zesses nach dieser Auffassung vor.

Vorzugswürdig erscheint die letztere Auffassung, denn in dem Einschieben der Bankkarte ist nicht nur eine unbefugte Nutzung eines Datenverarbeitungsanlage zu sehen, sondern vielmehr auch eine mitursächliche Beeinflussung des Ergeb-nisses selbst.97 Des Weiteren dürfte der Geldautomat durch die Bank bzw. deren Mitarbeiter selbst schon in Gang gesetzt worden sein, sodass auch ein laufender Datenverarbeitungs-prozess schon vorlag.98 Somit liegt eine Beeinflussung des Ergebnisses eines Datenverarbeitungsprozesses vor.

Anmerkung 14: Andere Ansicht mit Begründung gut ver-tretbar.

cc) Vermögensschaden

Es müsste durch die Beeinflussung des Ergebnisses eines Datenverarbeitungsvorgangs zu einem Vermögensschaden gekommen sein. Bei saldierter Betrachtung liegt ein solcher bei einer Verringerung des wirtschaftlichen Gesamtwertes des Vermögens vor.99 A und B erhielten 25.000 € am Geldau-tomaten der S-Bank, die vom Konto der O verbucht wurden. Somit liegt ein Vermögensschaden vor. b) Subjektiver Tatbestand

aa) Vorsatz

A und B handelten hinsichtlich der Verwirklichung des ob-jektiven Tatbestands vorsätzlich. bb) Absicht rechtswidriger und stoffgleicher Bereicherung

A und B handelten in der Absicht rechtswidriger und stoff-gleicher Bereicherung. 2. Rechtswidrigkeit & Schuld

A und B handelten rechtswidrig und schuldhaft. 3. Strafzumessung

Es könnte ein besonders schwerer Fall des Computerbetrugs gem. §§ 263a Abs. 1, 2 i.V.m. 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 Alt. 1 und Nr. 2 Alt. 1 und 2 StGB vorliegen.

Hierfür müssten A und B jeweils gewerbsmäßig im Sinne des § 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 Alt. 1 StGB gehandelt haben.

96 BGHSt 38, 120 (121); Rengier (Fn. 3), § 14 Rn. 26; Wessels/Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 605; Perron (Fn. 6), § 263a Rn. 18; Altenhain, in: Matt/Renzikowski (Fn. 2), § 263a Rn. 22. 97 Altenhain (Fn. 96), § 263a Rn. 22. 98 Rengier (Fn. 3), § 14 Rn. 26. 99 Perron (Fn. 6), § 263 Rn. 99; Duttge, in: Dölling/Duttge/ Rössner (Hrsg.), Handkommentar, Gesamtes Strafrecht, 3. Aufl. 2013, § 263 StGB Rn. 55.

Gewerbsmäßig handelt, wer sich durch wiederholte Tatbege-hungen eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle von einiger Dauer und einigem Umfang verschaffen will.100 Nach überwiegender Auffassung kann auch schon die erste Tat als gewerbsmäßig angesehen werden.101 A als auch B hatten jeder den Willen einer Vielzahl von älteren Personen die Bankkarten sowie dazugehörigen Geheimnummern abzu-nehmen um damit an Geldautomaten die maximal möglichen Tageslimits abzuheben. A und B wollten mit Computerbetrü-gereien ihre finanzielle Situation aufbessern und sich damit eine nicht unwesentliche Einnahmequelle verschaffen. Sie wollten zudem immer das maximal mögliche Tageslimit abheben. Somit handelte A als auch B gewerbsmäßig.

Anmerkung 15: Die Gewerbsmäßigkeit muss sowohl für A als auch B geprüft werden. Eine Zurechnung entspre-chend § 25 Abs. 2 StGB scheidet aus, da die Gewerbs-mäßigkeit ein besonderes persönliches Merkmal ist.102

Anmerkung 16: Das Regelbeispiel des §§ 263a Abs. 1, 2 i.V.m. 263 Abs. 3 Nr. 1 Alt. 2 StGB „als Mitglied“ einer Bande braucht nicht geprüft werden, da A und B nur zwei Personen sind und die überwiegende Auffassung mindes-tens drei Personen dafür voraussetzt.103

Des Weiteren könnte das Regelbeispiel des § 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 Alt. 1 StGB vorliegen. Hierfür müsste ein Vermögens-verlust großen Ausmaßes herbeigeführt worden sein. Die Rechtsprechung als auch überwiegende Literatur nehmen einen solchen ab 50.000 Euro an.104 Die von A und B bei der S-Bank am Geldautomaten abgehobenen 25.000 € reichen für einen Vermögensverlust großen Ausmaßes nicht aus. Folg-lich ist das Regelbeispiel des § 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 Alt. 1 StGB nicht erfüllt.

Anmerkung 17: Anderes Ergebnis gut vertretbar. Einzelne Literaturstimmen nehmen einen Vermögensverlust großen Ausmaßes bereits ab 10.000 € an.105

Anmerkung 18: Die Bearbeiter müssen weniger die Auf-fassungen und deren Grenzen kennen, als eine eigenstän-dige Argumentation aufzeigen.

A und B könnten jedoch das Regelbeispiel des § 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 Alt. 2 StGB verwirklicht haben. Hierfür müssten sie die Absicht gehabt haben, eine große Anzahl von Men-

100 BGH NStZ 1996, 86 (87); Rengier (Fn. 3), § 3 Rn. 34. 101 BGH NStZ 2004, 265 (266); Eser/Bosch (Fn. 1), § 243 Rn. 31. Anders z.B. Kindhäuser (Fn. 1), § 243 Rn. 26. 102 Mitsch, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 3. Aufl. 2015, S. 100. 103 BGHSt 46, 321 (325); Lackner/Kühl (Fn. 5), § 244 Rn. 6. 104 BGH, Beschl. v. 17.11.2006 – 2 StR 388/06, Rn. 7 (juris); BGH, Beschl. v. 11.2.2009 – 5 StR 11/09, Rn. 13 (juris); Rengier (Fn. 3), § 13 Rn. 179, Wessels/Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 594. 105 Rotsch, ZStW 2005, 577 (597 m.w.N.).

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schen durch rechtlich selbstständige Computerbetrugshand-lungen in die konkrete Gefahr des Verlustes von Vermö-genswerten zu bringen. A und B hatten jeweils die Absicht, die älteren Menschen als Kontoinhaber in die konkrete Ge-fahr des Verlustes von Vermögenswerten zu bringen, sodass auch dieses Regelbeispiel, § 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 Alt. 2 StGB, verwirklicht ist. Somit haben A und B die Regelbei-spiele des § 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 Alt. 1, Nr. 2 Alt. 2 StGB verwirklicht. 4. Ergebnis

A und B haben sich wegen Computerbetruges in einem be-sonders schweren Fall gem. §§ 263a Abs. 1 Var. 3, Abs. 2 i.V.m. 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 Alt. 1, Nr. 2 Alt. 2, 25 Abs. 2 StGB strafbar gemacht. II. §§ 242 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB Sofern angenommen wird, dass die Geldscheine zum Zeit-punkt der Tathandlung für A und B noch fremd waren, schei-det ein mittäterschaftlicher Diebstahl derselben gem. §§ 242 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB durch das Einstecken der 25.000 € gleichwohl mangels Wegnahme aus. Der Gewahrsams-wechsel an den Geldscheinen erfolgte mit dem Willen der S-Bank. III. §§ 246 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB Sofern die Fremdheit der Geldscheine bejaht wurde, haben A und B sich einer mittäterschaftlichen Unterschlagung gem. §§ 246 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB strafbar gemacht haben, in-dem sie mit der Bankkarte und Geheimzahl der O 25.000 € am Geldautomaten abhoben und einsteckten. IV. §§ 265a Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB Unabhängig davon, ob man Geldautomaten als Warenauto-maten von § 265a Abs. 1 StGB erfasst sieht, fehlt es für die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes an einer entgelt-lichen Leistung.106 Die Benutzung der Geldautomaten der kartenausgebenden Bank erfolgt unentgeltlich. V. §§ 266b Abs. 1 Alt. 1, 25 Abs. 2 StGB Eine Strafbarkeit nach §§ 266b Abs. 1 Alt. 1, 25 Abs. 2 StGB scheidet mangels Täterqualität von A und B aus. Bei § 266b Abs. 1 StGB handelt es sich um ein Sonderdelikt, d.h. nur der berechtigte Karteninhaber kann tauglicher Täter dieses Straf-tatbestands sein.107

Anmerkung 19: Ausführungen zu den §§ 242 Abs. 1, 246 Abs. 1, 265a und 266b Abs. 1 StGB wurden nicht zwin-gend erwartet.

106 Preuß, ZIS 2013, 257 (266). 107 Kindhäuser (Fn. 1), § 266b Rn. 4; Rengier (Fn. 3), § 19 Rn. 3; Fischer (Fn. 1), § 266b Rn. 1, 3 und 7.

3. Tatkomplex: Der Verkauf des Kleinwagens

A. Strafbarkeit des K

I. § 259 Abs. 1 Var. 3 StGB K könnte sich wegen Hehlerei gem. § 259 Abs. 1 Var. 3 StGB strafbar gemacht haben, indem er Bilder des Klein-wagens anfertigte, um diese lokalen Gebrauchtwagenhändler zu zeigen und den Pkw auf Provision zu verkaufen. 1. Tatbestand

a) Objektiver Tatbestand

aa) Rechtswidrige Vortat eines anderen

Mit dem Diebstahl des Kleinwagens durch B liegt eine rechtswidrige Vortat eines anderen vor. bb) Absetzen

K müsste das Fahrzeug durch das Anfertigen der Bilder abge-setzt haben.

Absetzen ist das Unterstützen eines anderen beim Weiter-schieben der „bemakelten“ Sache durch selbstständiges Han-deln, also Tätigwerden für fremde Rechnung, aber „in eige-ner Regie“. Dagegen ist Absetzenhelfen die weisungsabhän-gige, unselbstständige Unterstützung, die dem Vortäter bei dessen Absatzbemühen gewährt wird.108 K fertigte im Ein-vernehmen mit A und B Bilder des Kleinwagens an, um diese lokalen Gebrauchtwagenhändlern zu zeigen und das Fahr-zeug auf Rechnung A und B’s zum Kauf anzubieten. K wur-de tätig aufgrund der in Aussicht gestellten Provision von 10% des Verkaufserlöses. Anhaltspunkte, dass K auf Wei-sung des A oder B gehandelt hat, liegen nicht vor, sodass ein selbstständiges Handeln für fremde Rechnung vorliegt. Bevor es zu einem Verkauf kam, wurde K allerdings festgenommen, sodass es an einem Absatzerfolg fehlt.

In der Rechtsprechung wurde lange Zeit die Auffassung vertreten, dass bereits die Tätigkeit beim Absatz genüge, also kein Absatzerfolg erforderlich sei.109 Durch das Anfertigen der Bilder hätte eine vorbereitende Tätigkeit zum Zwecke des Absatzes vorgelegen, wodurch ein Absetzen des K zu beja-hen wäre. Die neuere Rspr. folgt nun jedoch (wieder) der Literaturansicht und setzt wie diese für das Absetzen einen Absatzerfolg voraus.110 Bereits der Wortlaut der Norm lasse auf ein Erfolgsdelikt schließen.111 Darüber hinaus werde durch die Voraussetzung des Absatzerfolges eine klare Trennlinie gesetzt, die Raum für die Versuchsstrafbarkeit

108 Wessels/Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 859; BGH NStZ 1990, 539. 109 BGHSt 22, 206 (207); 26, 358 (539), 29, 239 (242); BGH NStZ 1990, 539. 110 BGH, Beschl. v. 22.10.2013 – 3 StR 69/13, Rn. 5 (juris). 111 OLG Köln NJW 1975, 987 f.; Küper, JuS 1975, 633 (635); OLG Köln JA 1975, 450; BGH, Beschl. v. 22.10.2013 – 3 StR 69/13, Rn. 10 (juris); Stree/Hecker (Fn. 70), § 259 Rn. 29; Lackner/Kühl (Fn. 5), § 259 Rn. 13; Rengier (Fn. 3), § 22 Rn. 33; a.A. „Tätigkeitsdelikt“ Meyer, JR 1977, 80; BGHSt 26, 358 (360).

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schaffe.112 Mangels Absatzerfolgs liegt folglich auch kein Absetzen vor.

Es wird jedoch die Ansicht vertreten, dass in jedem Ab-setzen zugleich eine Absatzhilfe liege.113 Trete kein Absatzer-folg ein, könne dementsprechend auf das erfolgsneutrale Absetzenhelfen zurückgegriffen werden.114 Die neuere Rspr. verlangt aber auch für die Absatzhilfe einen „Absatzhilfeer-folg“.115 Dies wird ebenso von Literatur vertreten,116 sodass auch hiernach keine Vollendung der Hehlerei vorliegt. 2. Ergebnis

K hat sich wegen Hehlerei gem. § 259 Abs. 1 Var. 3 StGB nicht strafbar gemacht. II. §§ 259 Abs. 1 Var. 3, Abs. 3, 22, 23 Abs. 1 StGB K könnte sich jedoch wegen der gleiche Handlung der ver-suchten Hehlerei gem. §§ 259 Abs. 1 Var. 3, Abs. 3, 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben. 1. Vorprüfung

Eine Vollendung ist nicht eingetreten. Der Versuch der Heh-lerei ist strafbar gem. §§ 259 Abs. 3 i.V.m. §§ 23 Abs. 1, 12 Abs. 2 StGB. 2. Tatbestand

a) Tatentschluss

K wollte in eigener Regie den Kleinwagen ortsansässigen Gebrauchtwagenhändlern zum Kauf anbieten, um die ausge-lobten 10% Verkaufsprovision zu erhalten. Folglich wollte K für A und B den Kleinwagen absetzen. b) Unmittelbares Ansetzen

K müsste zur Tatverwirklichung unmittelbar angesetzt haben, indem er Bilder des Kleinwagens anfertigte. Unmittelbar zur Tat setzt an, wer in subjektiver Hinsicht die Schwelle zum „Jetzt-geht-es-los“ überschritten und in objektiver Hinsicht zur tatbestandsmäßigen Handlung so angesetzt hat, dass sein Tun nach seiner Vorstellung ohne wesentliche Zwischen-schritte in die Erfüllung des Tatbestandes übergehen wird.117 K hat bislang lediglich Fotos des Kleinwagens angefertigt. Bevor K die Fotos den ansässigen Gebrauchtwagenhändlern zeigen konnte, wurde er verhaftet. Demzufolge liegen nur vorbereitende Maßnahmen vor. Mag K zwar subjektiv die Schwelle zum „Jetzt-geht-es-los“ überschritten haben, sind doch nach seiner Vorstellung noch wesentliche Zwischen-

112 Rengier (Fn. 3), § 22 Rn. 40. 113 Meyer, JR 1977, 80 (81). 114 Dehne-Niemann, HRRS 2015, 72 (74). 115 BGH, Beschl. v. 22.10.2013 – 3 StR 69/13, Rn. 10 (juris); Dehne-Niemann, HRRS 2015, 72 (75 f.); bereits zuvor OLG Köln NJW 1975, 987 f.; Küper, JuS 1975, 633 (635); OLG Köln JA 1975, 450. 116 Rengier (Fn. 3), § 22 Rn. 35. 117 Rengier (Fn. 54), § 34 Rn. 22; Lackner/Kühl (Fn. 5), § 22 Rn. 4; Frister (Fn. 39), Kap. 23 Rn. 25.

schritte – Vorzeigen der Fotografien, Vertragsverhandlungen – erforderlich, um den Kleinwagen abzusetzen. Demnach ist hier ein unmittelbares Ansetzen nicht gegeben. 3. Ergebnis

K hat sich nicht wegen versuchter Hehlerei gem. §§ 259 Abs. 1 Var. 3, Abs. 3, 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht. Konkurrenzen: 1. Tatkomplex Im ersten Tatkomplex hat sich B des Diebstahls am Kleinwa-gen gem. §§ 242 Abs. 1, 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StGB strafbar gemacht. Der Diebstahl am Autoschlüssel stellt eine mit-bestrafte Vortat dar.

A hat sich dagegen im ersten Tatkomplex nur der Begüns-tigung gem. § 257 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.

Anmerkung 20: Bearbeiter, die die sukzessive Mittäter-schaft angenommen haben, kommen bei A ebenfalls zu einem Diebstahl am Auto bzw. zu einer sukzessiven Bei-hilfe zu diesem Delikt. Gem. § 257 Abs. 3 S. 1 StGB scheidet dann eine Strafbarkeit wegen Begünstigung aus.

Konkurrenzen: 2. Tatkomplex Im zweiten Tatkomplex haben sich A und B des gemein-schaftlichen Computerbetrugs gem. §§ 263a Abs. 1 Var. 3, Abs. 2 i.V.m. 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 Alt. 1, Nr. 2 Alt. 2, 25 Abs. 2 StGB strafbar gemacht.

Bearbeiter, die eine Strafbarkeit von A und B wegen §§ 246 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB (Einstecken der freigegebe-nen Geldscheine am Automaten) annehmen, lassen diese subsidiär hinter § 263a Abs. 1 Var. 3, Abs. 2 i.V.m. 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 Alt. 1, Nr. 2 Alt. 2, 25 Abs. 2 StGB zurücktreten.

Die einzelnen Tatkomplexe stehen für A und B in Tat-mehrheit, § 53 StGB zueinander. Zusatzfrage Ein Beweisverwertungsverbot liegt vor, wenn die gerichtliche Verwertung der Dashcam-Aufzeichnung das Recht auf in-formationelle Selbstbestimmung verletzt.

Die Dashcam-Aufnahme beinhaltet personenbezogene Daten der aufgezeichneten Verkehrseilnehmer, sodass eine Verwertung der Aufzeichnung einen Eingriff in das nach Art. 2 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht, in der Ausformung des Rechts auf informationelle Selbstbe-stimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) darstellt. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung räumt dem Betroffenen die Dispositionsfreiheit darüber ein, wann und in welcher Weise seine persönlichen Daten gesammelt, gespei-chert und verwertet werden dürfen.118 Dieses Grundrecht wird nicht schrankenlos gewährleistet und kann durch kon-

118 BVerfG NJW 2008, 1505 (1506 f.); BVerfG NJW 2009, 3293; Berz/Burmann, Handbuch des Straßenverkehrsrechts, Bd. 1, 34. Lfg., Stand: 2015, Aktuelles, IV. Prozessrecht Rn. 24.

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ÜBUNGSFÄLL E Tobias Günther/Nicole Selzer

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kurrierende Grundrechte eingeschränkt werden.119 Die zuläs-sige Eingriffsintensität bemisst sich an der im Rahmen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts entwickelten Sphärentheo-rie.120

Die Aufzeichnung der Dashcam bildet den öffentlichen Straßenverkehr ab und greift damit nicht in den absoluten und unantastbaren Kernbereich der persönlichen Lebensführung des B ein. Betroffen ist vielmehr die Sozialsphäre.121

Damit herrscht kein generelles Beweisverwertungsverbot für Dashcam-Aufzeichnungen im Strafverfahren. Für den Einzelfall ist jedoch eine Abwägung zwischen dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Beschuldigten und dem aus dem Rechtsstaatsprinzip resultierenden Legalitäts-prinzip, also dem Strafverfolgungsanspruch des Staates und dem Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Strafver-folgung vorzunehmen.122

Maßgeblich ist einerseits die Schwere der Tat, das Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit, die Verfügbarkeit sonstiger Beweismittel und andererseits die Intensität und Reichweite des Eingriffs in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.123

Hinsichtlich der Schwere der Tat ist festzuhalten, dass es nur einem Zufall zu verdanken ist, dass es zu keinem Ver-kehrsunfall mit hoher Geschwindigkeit kam. B fuhr zunächst dicht auf und gab mehrfach Lichthupe, da er nicht gewillt war durch das ordnungsgemäße Überholmanöver des I abzubrem-sen. Sodann setzte sich B mit dem Fahrzeug vor I und brems-te abrupt und stark ab. Nur durch ein Ausweichmanöver auf die linke Fahrbahn konnte I einen Auffahrunfall verhindern. Als dann B kurzweilig neben I fuhr, drängt er diesen an den Rand der linken Fahrspur, sodass auch hier nur durch Glück ein Unfall vermieden werden konnte. B könnte sich hierdurch wegen Nötigung, § 240 Abs. 1, 2 StGB in Tateinheit mit Gefährdung des Straßenverkehrs, § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. b StGB strafbar gemacht haben. In Anbetracht des Tatgesche-hens wäre bei einer Verurteilung auch mit einer erheblichen Strafe, Freiheitsstrafe zu rechnen.124

Das Interesse der Bevölkerung an der künftigen Sicher-heit des Straßenverkehrs, könnte durch einen Entzug der Fahrerlaubnis Rechnung getragen werden.125

119 Berz/Burmann, (Fn. 118), Aktuelles, IV. Prozessrecht Rn. 24; BVerfG NJW 2008, 1505 (1506 f.). 120 BVerfGE 6, 32 (41); BVerfG NJW 1973, 891 (892). 121 Satzger, Jura (JK) 2015, 1394; OLG Stuttgart, Beschl. v. 4.5.2016 – 4 Ss 543/15 – Pressemitteilung des OLG Stuttgart vom 18.5.2016. 122 Wirsching, NZV 2016, 13 (15); OLG Stuttgart, Beschl. v. 4.5.2016 – 4 Ss 543/15 – Pressemitteilung des OLG Stuttgart vom 18.5.2016. 123 Beulke, Strafprozessrecht, 13. Aufl. 2016, Rn. 470 f.; AG Nienburg, Urt. v. 20.1.2015 – 4 Ds 155/14, 4 Ds 520 Js 39473/14, Rn. 24 (juris). 124 AG Nienburg, Urt. v. 20.1.2015 – 4 Ds 155/14, 4 Ds 520 Js 39473/14, Rn. 25 (juris). 125 AG Nienburg, Urt. v. 20.1.2015 – 4 Ds 155/14, 4 Ds 520 Js 39473/14, Rn. 25 (juris).

Die Verfügbarkeit von Beweismittel – lässt man die Dashcam-Aufzeichnung außen vor – beschränkt sich auf die Zeugenaussage des I. Zeugenaussagen sind allerding häufig ungenau und subjektiv geprägt, sodass ein Beweisproblem vorliegt.126 Dementsprechend hoch ist das Interesse des I an der Verwertung der Dashcam-Aufzeichnung.

Demgegenüber steht das aus dem allgemeinen Persön-lichkeitsrecht erwachsende Recht auf informationelle Selbst-bestimmung und in diesem Zusammenhang das Geheim-schutzinteresse des B.

Die 4-minütige Aufzeichnung des öffentlichen Straßen-verkehrs, welche ein Fahrzeug zeigt, das nicht auf B zugelas-sen ist sowie ihn persönlich nicht abbildet, stellt bereits keine Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestim-mung127 dar. Jedenfalls würde eine anlassbezogene und kurz-zeitige Aufzeichnung keinen intensiven Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung darstellen.

Auch eine Verbreitung des Bildnisses des B kann nicht erfolgen – was häufig bei Dashcam-Aufzeichnungen kritisiert wird128, da nur das von B gefahrene Fahrzeug und nicht er selbst abgebildet wurde, sodass auch kein (künftiger) Verstoß gegen § 22 S. 1 KUG in Frage kommt.

Darüber hinaus kann hierin keine Überwachung durch Dritte gesehen werden. Es liegt vielmehr eine Beweissiche-rung eines durch die Tat Betroffenen vor. Nicht nur das all-gemeine Rechtsgut der Sicherheit des Straßenverkehrs war durch die Tat des B betroffen, sondern auch Individualrechts-güter des I – Leib, Leben, Ehre, Willensfreiheit und Eigen-tum. In der kurzzeitigen und anlassbezogenen Aufzeichnung liegt gerade keine anlasslose Daueraufnahme von sog. „Hilfs-sheriffs“ die den Verkehrsraum überwachen.129

Damit überwiegen das Interesse der Allgemeinheit an ei-ner effektiven Strafverfolgung und der Strafverfolgungsan-spruch des Staates, das Recht auf informationelle Selbstbe-stimmung des B.

Demzufolge liegt im konkreten Fall kein Beweisverwer-tungsverbot vor.130

„Je gravierender die in Rede stehende Straftat jedoch ist (insbesondere bei Unfällen mit Todesfolge), und je größer die ,Beweisnot‘, desto eher sollte das Gericht eine Verwertung auch von nicht anlassbezogenen Aufnahmen erwägen dür-fen.“131

126 AG Nienburg, Urt. v. 20.1.2015 – 4 Ds 155/14, 4 Ds 520 Js 39473/14, Rn. 21 (juris); Bachmeier, DAR 2014, 15 (17, kritisch 20); Greger, NZV 2015, 114 (116); Satzger, Jura (JK) 2015, 1394. 127 Vgl. AG Düsseldorf, Beschl. v. 17.12.2014 – 24 C 6736/14, Rn. 2 (juris). 128 AG München, Urt. v. 14.8.2014 354 – C 5551/14, Rn. 7 (juris); VG Ansbach, Urt. v. 12.8.2014 – AN 4 K 13.01634, Rn. 23 (juris). 129 AG Nienburg, Urt. v. 20.1.2015 – 4 Ds 155/14, 4 Ds 520 Js 39473/14, Rn. 27 (juris); Satzger, Jura (JK) 2015, 1394. 130 AG Nienburg, Urt. v. 20.1.2015 – 4 Ds 155/14, 4 Ds 520 Js 39473/14, Rn. 23 (juris); Satzger, Jura (JK) 2015, 1394. 131 Satzger, Jura (JK) 2015, 1394; BVerfG NJW 1973, 891 (893).

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Examensklausur: Die freundlich gierigen Bankmitarbeiter STRAFRECHT

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Anmerkung 21: In dieser Ausführlichkeit wird die Bear-beitung der Studenten nicht verlangt. Aufgrund der Aktu-alität und der Berichterstattungen in den Print- und elekt-ronischen Medien, sollte aber ein gewisses Problembe-wusstsein der Studenten erkennbar sein.

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BGH, Urt. v. 19.7.2016 – X ZR 123/15 Schrader _____________________________________________________________________________________

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ZJS 6/2016 772

E n t s c h e i d u n g s a n m e r k u n g

Anzeige des Reisemangels trotz Kenntnis des Reiseveran-stalters Die Anzeige eines Reisemangels durch den Reisenden ist nicht schon deshalb entbehrlich, weil dem Reiseveranstal-ter der Mangel bereits bekannt ist. (Amtlicher Leitsatz) BGB §§ 651d, 651f BGH, Urt. v. 19.7.2016 – X ZR 123/15 (LG Düsseldorf, AG Düsseldorf)1 I. Gekürzte Sachverhaltsschilderung Der Kläger buchte eine zweiwöchige Reise nach Teneriffa bei der beklagten Reiseveranstalterin. In dem gebuchten Hotel fanden während des gesamten Aufenthalts lärmintensi-ve Bauarbeiten statt. Erst am zehnten Tag der Reise wandte sich der Kläger an die zuständige Reiseleiterin und beanstan-dete den Baulärm. Die Beklagte hatte bereits vor der Mängel-anzeige Kenntnis von dem Baulärm.

Der Kläger verlangt u.a. Rückzahlung des Mehrbetrages zwischen gemindertem und gezahltem Reisepreis. II. Examensrelevanz der Entscheidung und ihre Einbe-ziehung in die Examensvorbereitung Das Reisevertragsrecht ist ein Teil des Besonderen Schuld-rechts, der in der Examensvorbereitung häufig ein Schatten-dasein führt. Dies ist bezüglich der Gewichtung im Hinblick auf das kauf- und werkvertragliche Gewährleistungsregime nachvollziehbar. Die letztgenannten Bereiche sind durch eine Vielzahl von Entscheidungen sehr fein ausdifferenziert. Häu-fig beschränkt sich daher die Examensvorbereitung des ver-tragsrechtlichen Teils des Besonderen Schuldrechts auf den gewonnenen Überblick über die Fülle der Rechtsprechungs-nuancen im Kauf- und Werkvertragsrecht zu zahlreichen Detailfragen. Die Sorge, dass weniger alltägliche Vertragsty-pen (wie der Miet-, Pacht-, Makler- und Reisevertrag) eine ebensolche Detailfülle aufweisen, verleiten oftmals dazu, in diesen Bereichen für das Examen „auf Lücke“ zu setzen. Die Annahme ist im Hinblick auf die im Examen erwarteten Kenntnisse unzutreffend und die Vorgehensweise riskant. Taucht in der Examensklausur ein weniger üblicher Vertrags-typ auf, kommt es für die Erstellung einer überzeugenden Lösung des Falles nicht auf Detailwissen, sondern auf die Anwendung des Gesetzes an. Dabei hilft freilich ein vorheri-ger Überblick über die gesetzliche Regelungssystematik2 1 Die Entscheidung ist abrufbar unter http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&az=X%20ZR%20123/15&nr=75981 (1.11.2016). 2 Beispielsweise sind mietrechtliche Vorschriften durch eine strenge Systematik geprägt. Die Kenntnis dieser Systematik ist unabdingbar für die korrekte Anwendung z.B. der Vor-schriften zur außerordentlichen Kündigung eines Mietver-

sowie die Kenntnis „klassischer“ Problemkonstellationen, die in dem jeweiligen Gebiet meist überschaubar sind.3

Ergeht eine Entscheidung zu einer solchen seltenen Prob-lemkonstellation in einem „entlegenen“ Gebiet des Besonde-ren Schuldrechts, zieht diese Entscheidung die Aufmerksam-keit eines Klausurerstellers auf sich. Dies gilt umso mehr, wenn die entschiedene Fallkonstellation geeignet ist, die Besonderheiten einzelner Vertragstypen argumentativ gegen-überzustellen, insbesondere, wenn beispielsweise die der Entscheidung zugrundeliegende Frage im Reisevertragsrecht anders beantwortet wird als im Mietrecht. Für die Bewertung der Examensklausur ist dabei nicht das präsentierte Detail-wissen ausschlaggebend, sondern das Verständnis der Syste-matik (vor allem im Hinblick auf die Unterschiede) der ein-zelnen Regelungsgebiete. III. Kernaussagen der Entscheidung Der vom Kläger begehrte Rückzahlungsanspruch setzt vo-raus, dass die Reise mangelhaft ist. Ein Reisemangel lag wegen des Baulärms vor, denn dieser hat den Wert der Reise und die Tauglichkeit zu dem gewöhnlichen bzw. nach dem Vertrag vorausgesetzten Nutzen aufgehoben bzw. gemindert, § 651c Abs. 1 BGB. Eine reisevertragliche Besonderheit ist die Präklusionsvorschrift des § 651d Abs. 2 BGB. Danach tritt die Minderung des Reisepreises nicht ein, wenn der Rei-sende es schuldhaft unterlässt, den Mangel anzuzeigen. Es handelt sich dabei um eine formelle Voraussetzung der Min-derung des Reisepreises, die in der Praxis eine erhebliche Rolle spielt.4

Der Baulärm lag während der gesamten Reisezeit vor. Der Kläger machte diesen Mangel allerdings erst nach zehn Tagen geltend.5 Bezüglich der Rückzahlung des verminderten Reisepreises für die letzten vier Tage erging auf Antrag der Beklagten ein Teilanerkenntnisurteil. Ob die Minderung des Reisepreises auch für die ersten zehn Tage eintrat, hing dage-gen von der Frage ab, ob der Mangel vom Reisenden in der vorliegenden Konstellation gemäß § 651d Abs. 2 BGB über-haupt geltend gemacht werden musste. Diese Frage bejahte der BGH in der vorliegenden Entscheidung.

Das Besondere des Falles liegt darin, dass die Beklagte den Mangel (d.h. den Baulärm) ohnehin bereits kannte. Das

hältnisses gemäß § 543 BGB, die durch die Norm des § 569 BGB ergänzt wird, sofern es sich um ein Mietverhältnis über Wohnraum handelt. 3 Für das Maklerrecht können die für das Examen relevanten Problemkonstellationen in einem Umfang dargestellt werden, die im kauf- und werkvertraglichen Gefüge nur eine sehr kleine Detailproblematik einnehmen, vgl. Übersicht über examensrelevante Probleme des Maklerrechts, Schrader, JA 2015, 561. 4 Vgl. Tonner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 651d Rn. 7. 5 In dem BGH-Fall ist zudem streitig, ob der Kläger den Mangel bereits zu Beginn der Reise geltend gemacht hatte. Da diese Tatsachenfeststellung vom Berufungsgericht noch nicht getroffen wurde, ist der Fall zurückverwiesen worden, vgl. BGH, Urt. v. 19.7.2016 – X ZR 123/15, Rn. 23 ff.

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BGH, Urt. v. 19.7.2016 – X ZR 123/15 Schrader _____________________________________________________________________________________

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Berufungsgericht hat die Notwendigkeit einer Mangelanzeige durch den Reisenden wegen der Kenntnis der Beklagten vom Mangel verneint, weil es eine dennoch geforderte Mangelan-zeige für eine „bloße Förmelei“ hält.6 Die Frage, ob eine Anzeige des Mangels trotz vorliegender Kenntnis des Reise-veranstalters notwendig ist, wird unterschiedlich beantwortet. In einem Großteil der Kommentarliteratur7 wird die Meinung vertreten, dass die Minderung des Reisepreises auch dann (entgegen § 651d Abs. 2 BGB) eintrete, wenn der Mangel zwar nicht angezeigt wurde, dem Reiseveranstalter jedoch bekannt sei. Wenige instanzgerichtliche Entscheidungen8 sowie vereinzelte Literaturstimmen9 halten eine Mangelan-zeige trotz Kenntnis des Reiseveranstalters von dem Mangel für erforderlich. Der BGH schloss sich der letztgenannten Auffassung an und stellt sich damit gegen die erkennbar überwiegend in der Literatur vertretene Ansicht.10

Der BGH sieht die in § 651d Abs. 2 BGB vorgesehene Mangelanzeigeobliegenheit des Reisenden als eine erkennba-re Zuweisung der Aufgabe an den Reisenden, für beide Ver-tragsparteien klare Verhältnisse zu schaffen. Im Vordergrund steht die mit der Mangelanzeige verbundene Möglichkeit des Reiseveranstalters, für Abhilfe zu sorgen. Die bloße Kenntnis des Reiseveranstalters vom Mangel sei dabei nur eine Vo-raussetzung, Abhilfe leisten zu können. Der Reisende soll dem Reiseveranstalter mitteilen, dass er den konkreten Um-stand (den der Reiseveranstalter bereits kennt) als Reiseman-gel empfindet.11 Kennt der Reiseveranstalter den Mangel und unterlässt er eine Abhilfe, könne hieraus nicht gefolgert wer-den, dass eine Abhilfe verweigert werde oder unmöglich sei. Nur in den beiden letztgenannten Fällen (Verweigerung oder Unmöglichkeit der Abhilfe) ist eine Mangelanzeige des Rei-senden nicht erforderlich. IV. Würdigung Die Entscheidung überrascht auf den ersten Blick, überzeugt jedoch bei näherer Betrachtung. Das Argument des Beru-fungsgerichts der „bloßen Förmelei“ verfängt zunächst. Kennt der Reiseveranstalter den Mangel, kann er nicht nur Abhilfe leisten, sondern ihm ist auch klar, dass durch seine

6 Vgl. zum Verfahrensgang BGH, Urt. v. 19.7.2016 – X ZR 123/15, Rn. 5. 7 Vgl. Sprau, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 75. Aufl. 2016, § 651d Rn. 4; Tonner (Fn. 4), § 651d Rn. 12; Stau-dinger, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2016, § 651d Rn. 29; Eckert, in: Soergel, Kommentar zum BGB, 12. Aufl. 1999, § 651d Rn. 7; Zu zahlreichen weiteren Literaturnach-weisen sowie der amts- und landgerichtlichen Recht-sprechung vgl. BGH, Urt. v. 19.7.2016 – X ZR 123/15, Rn. 12. 8 LG Duisburg RRa 2003, 114; LG Duisburg RRa 2006, 22; LG Duisburg RRa 2008, 171; LG Frankfurt NJW-RR 2008, 1590. 9 Niehuus, Reiserecht in der anwaltlichen Praxis, 3. Aufl. 2007, S. 166; Schmid, in: Erman, Kommentar zum BGB, 14. Aufl. 2014, § 651d Rn. 11. 10 BGH, Urt. v. 19.7.2016 – X ZR 123/15, Rn. 14. 11 BGH, Urt. v. 19.7.2016 – X ZR 123/15, Rn. 15.

ausbleibende Abhilfe die Tauglichkeit der Reise gemindert ist und bleibt. Warum wird der Reiseveranstalter daher privile-giert, indem er auf eine Mangelanzeige warten darf?

Diese Frage beantwortet der BGH u.a. anhand eines inte-ressanten Vergleichs zum Mietrecht.12 Zeigt13 sich während der Mietzeit ein Mangel der Mietsache, so muss der Mieter diesen Mangel dem Vermieter anzeigen. Anders als im Rei-severtragsrecht ist die Anzeige des Mangels für den Mieter keine bloße Obliegenheit, sondern sogar eine Pflicht. Zeigt er den Mangel nicht an, hat dies u.a. zur Folge, dass sich die Miete nicht mindert, § 536c Abs. 2 S. 2 Nr. 1 BGB. Außer-dem haftet der Mieter auf Ersatz des Schadens, der auf der unterlassenen Mangelanzeige beruht, § 536c Abs. 2 S. 1 BGB. Für den Mieter hat eine unterlassene Mangelanzeige daher weitreichende Folgen. Dennoch geht die ständige Rechtsprechung14 davon aus, dass der Mieter nicht verpflich-tet ist, dem Vermieter einen Mangel anzuzeigen, den dieser bereits kennt.

Die unterschiedliche Behandlung mietvertraglicher und reisevertraglicher Fälle hinsichtlich der Notwendigkeit der Mangelanzeige liegt in der Zielrichtung der jeweiligen Mit-teilung begründet. Der mietvertragliche Leistungsaustausch erstreckt sich regelmäßig (wenngleich nicht zwingend) über einen längeren Zeitraum als bei der Erbringung einer Reise-leistung. Der entscheidende Unterschied zwischen Miet- und Reisevertrag besteht in der Möglichkeit der Informationsge-winnung hinsichtlich auftretender Mängel. Der Vermieter überlässt dem Mieter die Mietsache zum Gebrauch. Damit besteht für ihn nur noch sehr eingeschränkt die Möglichkeit, von Mängeln an der Mietsache Kenntnis zu erlangen, insbe-sondere, wenn der Mieter eine Wohnung mietet und der Mie-ter diese als Raum zur Entfaltung seiner Persönlichkeit nutzt. Daher begründet die Gebrauchsüberlassung an den Mieter dessen Obhutspflicht an der Mietsache.15 Die Mangelanzei-gepflicht des Mieters ist eine Ausformung dieser Obhuts-pflicht, denn der Hauptzweck der Mangelanzeige ist nicht bloß auf die Erfüllung seiner vertraglichen Pflichten, sondern vor allem auf das Erhaltungsinteresse an der Mietsache ge-richtet. Dies ist im Reisevertragsrecht anders: Der Reisever-anstalter hat regelmäßig wegen der vor Ort anwesenden Rei-sebegleiter bessere Informationsquellen hinsichtlich auftre-tender Mängel als ein Vermieter. Durch den Reisevertrag ist der Reiseveranstalter auch nicht in gleichem Umfang wie ein Vermieter von der Besichtigung des Vertragsgegenstandes ausgeschlossen. Die Anzeige eines Mangels zielt daher nicht in erster Linie auf die Schaffung eines Kenntnisstandes des Reiseveranstalters, den er ohne die Mitwirkung des Reisen-den nur eingeschränkt erlangen würde, sondern hat ihren Grund in der Schaffung von Rechtsklarheit. Der Reisende

12 BGH, Urt. v. 19.7.2016 – X ZR 123/15, Rn. 19. 13 Zur Frage, wann sich ein Mangel „zeigt“, so dass er anzu-zeigen ist (d.h. ob Erkennbarkeit für den Mieter ausreicht oder ob der Mieter positive Kenntnis vom Mangel haben muss), vgl. BGH NJW 1977, 1236. 14 BGH NJW-RR 2002, 515 (516); BGH WM 2011, 285 (288 Rn. 30). 15 BGH NJW 1977, 1236 (1237).

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BGH, Urt. v. 19.7.2016 – X ZR 123/15 Schrader _____________________________________________________________________________________

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bewertet den Umstand (Baulärm), den der Reiseveranstalter möglicherweise bereits kennt, auch als einen den Wert oder die Tauglichkeit zu dem gewöhnlichen oder nach dem Ver-trag vorausgesetzten Nutzen aufhebenden oder mindernden Fehler der Reise. Der BGH deutet hierfür einen zunächst wenig überzeugend erscheinenden Grund an, nämlich dass „Mängel der Reise nach Art und Gewicht sehr unterschied-lich sein können und von unterschiedlichen Reisenden, je nach deren persönlichen Ansichten, Verhältnissen und Be-dürfnissen häufig sehr unterschiedlich wahrgenommen und bewertet werden.“16 Allerdings ist der damit verbundene Gewinn an Rechtsklarheit nicht zu unterschätzen. Im vorlie-genden Fall handelt es sich um erheblichen Baulärm, der wohl nur wenig argumentativen Aufwand für die Begründung eines Reisemangels bedeutet. Handelt es sich dagegen um dem Reiseveranstalter bekannte, aber ggf. nicht als Mangel eingeschätzte Umstände (z.B. benachbarte Windräder erzeu-gen ständig wechselnden Schatten am Pool), kann eine Man-gelanzeige des Reisenden beispielsweise dazu führen, dass ihm eine Unterkunft in einem anderen Hotel angeboten wird. Jedoch zeichnet der BGH auch ein fragwürdiges Bild eines sich redlich verhaltenden Idealreisenden, der Mängel nicht stillschweigend in Kauf nehmen darf, um nach Beendigung der Reise daraus Rechte herleiten zu können.17 Umgekehrt bedeutet das, dass die Reiseleitungen vor Ort künftig unmit-telbar nach der Ankunft des Reisenden öfters mit dessen Mangelanzeigen konfrontiert werden. Beflügelt wird diese Beschäftigung im Urlaub wohl auch durch die Obliegenheit des Reiseveranstalters, gemäß § 6 Abs. 2 Nr. 7 BGB-InfoV auf das Erfordernis der Mängelanzeige hinzuweisen. Da die Minderung gemäß § 651d Abs. 2 BGB nicht eintritt, wenn der Reisende die Mangelanzeige schuldhaft unterlassen hat, greift dieser Ausschluss nicht ein, wenn der Reiseveranstalter seiner Obliegenheit gemäß § 6 Abs. 2 Nr. 7 BGB-InfoV nicht nachkam, der Reisende daher von seiner Obliegenheit keine Kenntnis hatte.18 V. Merkposten für die Examensvorbereitung Für die Examensvorbereitung sind vor allem zwei Aspekte der Entscheidung relevant:

Erstens zeigt sich bei der Anspruchsgrundlage hinsicht-lich der Rückzahlung eines überzahlten Reisepreises ein deutlicher Unterschied zum Mietrecht. Vor allem wegen des Dauerschuldcharakters des Mietvertrages existiert eine Rege-lung, die in die Zukunft gerichtet ist und die Mietzahlungs-pflicht, nicht dagegen den Rückforderungsanspruch betrifft: Gemäß § 536 Abs. 1 S. 2 BGB hat der Mieter während der geminderten Tauglichkeit der Mietsache nur eine angemessen herabgesetzte Miete zu entrichten. Die Anspruchsgrundlage für den Rückforderungsanspruch für überzahlte Miete ist regelmäßig § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB,19 wenn beispiels-weise die Wohnfläche tatsächlich kleiner ist als im Mietver-trag angegeben. Entsteht der Mangel dagegen erst nach der

16 BGH, Urt. v. 19.7.2016 – X ZR 123/15, Rn. 18. 17 BGH, Urt. v. 19.7.2016 – X ZR 123/15, Rn. 15. 18 Tonner (Fn. 4), § 651d Rn. 13. 19 Vgl. OLG Köln NZM 1999, 73.

Mietzahlung (bei Wohnraummiete ist die Miete gemäß § 556b Abs. 1 BGB zu Beginn des Monats im Voraus zu zahlen), ergibt sich der Rückzahlungsanspruch für die kraft Gesetzes bei Vorliegen eines Mangels der Mietsache gemin-derte Miete aus § 812 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 BGB, da für die Zahlung der Miete der Rechtsgrund später wegfällt.20

Die Anspruchsgrundlage für die Rückzahlung des über-zahlten Reisepreises ergibt sich dagegen durch eine etwas versteckte Verweiskette: § 651d Abs. 1 S. 1 BGB ordnet an, dass sich der Reisepreis für die Dauer des Mangels mindert, wenn die Reise mangelhaft ist. Die Minderung des Reiseprei-ses erfolgt daher kraft Gesetzes (wie im Mietrecht), nicht durch Gestaltungserklärung (wie im Kaufrecht) und ist insbe-sondere kein Anspruch. Etwas missverständlich ist daher, wenn der BGH in Rn. 15 der vorliegenden Entscheidung ausführt, dass dem Reisenden bei Unterlassen der Mangelan-zeige der „Anspruch auf Minderung“ nicht zustehe. Diese Terminologie erinnert an die Rechtslage vor der Schuld-rechtsreform,21 wonach der Käufer, der sich wegen eines Sachmangels vom Vertrag lösen wollte, zunächst einen „An-spruch auf Wandelung“ gegen den Verkäufer geltend machen musste (§§ 462 ff. a.F. BGB bis 2001).22 Dieser Zwischen-schritt existiert seit der Schuldrechtsreform nicht mehr; seit-her sind Rücktritt und Minderung im kaufrechtlichen Ge-währleistungsrecht als Gestaltungsrechte (§§ 349, 441 Abs. 1 S. 1 BGB: „durch Erklärung“) und nicht als Ansprüche aus-gestaltet. Im Miet- und Reisevertragsrecht mindern sich da-gegen die Miete bzw. der Reisepreis kraft Gesetzes und die bestehenden Anzeigeobliegenheiten sind bloß formelle Vo-raussetzungen, deren Nichtvorliegen ggf. zum Ausschluss der an sich bestehenden Rechte führt.23

§ 651d Abs. 1 S. 2 BGB verweist schließlich im Hinblick auf die Rechtsfolgen der Minderung des Reisepreises auf die werkvertragliche Norm des § 638 Abs. 4 BGB. Auf diesen vertraglichen Rückzahlungsanspruch sind die für den Rück-tritt geltenden Regelungen der §§ 346 Abs. 1, 347 Abs. 1 BGB entsprechend anwendbar, § 638 Abs. 4 S. 2 BGB.24 Das bedeutet insbesondere, dass der Reisende (anders als der Mieter) nicht dem Entreicherungseinwand gemäß § 818 Abs. 3 BGB ausgesetzt ist.25

Zweitens zeigt der Fall deutlich, dass die Obliegenheit, einen Mangel anzuzeigen, immer vor dem Hintergrund ihres Regelungszwecks und auch ihres rechtspolitischen Zwecks verstanden werden muss.

20 Häublein, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 536 Rn. 28. 21 Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuld-rechts v. 14.5. 2001 = BT-Drs. 14/6040, S. 204. 22 Vgl. hierzu ausführlich: BMJ (Hrsg.), Abschlussbericht der Kommission zur Überarbeitung des Schuldrechts, 1992, Kommentierung zu § 439 K-E (Rücktritt), S. 214 f. 23 Tonner (Fn. 4), § 651d Rn. 7: formelle Entstehungsvoraus-setzung des Anspruchs. 24 Vgl. hierzu Busche, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 638 Rn. 15. 25 Tonner (Fn. 4), § 651d Rn. 22.

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BGH, Urt. v. 19.7.2016 – X ZR 123/15 Schrader _____________________________________________________________________________________

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Im Bereich des Mietrechts muss der Mieter dem Vermie-ter sich zeigende Mängel der Mietsache anzeigen. Diese Obliegenheit (bzw. wegen der Folge des § 536c Abs. 2 S. 1 BGB sogar als Pflicht ausgestaltet) besteht wegen der einge-schränkten Möglichkeit des Vermieters, die Mietsache wäh-rend der Mietzeit zu untersuchen. Da die Mietsache dem Mieter in die Obhut gegeben wurde, ist ein erhöhtes Informa-tionsbedürfnis des Vermieters hinsichtlich des Zustandes der Mietsache gegeben. Dies wirkt sich vor allem auf die Frage aus, wann sich ein Mangel im Sinne des § 536c Abs. 1 S. 1 BGB (für den Mieter oder objektiv) „zeigt“.

Eine ganz andere Funktion erfüllt die handelsrechtliche Rügeobliegenheit gemäß § 377 Abs. 1 HGB.26 Die nur für den beiderseitigen Handelskauf bestehende Rügeobliegenheit des Käufers hinsichtlich offener (§ 377 Abs. 1 HGB) bzw. versteckter (§ 377 Abs. 3 HGB) Mängel dient dem Schutz des Verkäufers vor Inanspruchnahme und Beweisschwierig-keiten wegen im Nachhinein nur schwer feststellbarer Män-gel und dient damit vor allem der Einfachheit und Schnellig-keit im Handelsverkehr.27

Der vorliegende Fall betrifft die reisevertragliche Rügeob-liegenheit. An sich ist der Reisevertrag kein rein singuläres Austauschverhältnis wie der Kaufvertrag. Vielmehr erstreckt sich die Leistungserbringung meist über einen (wenn auch wenige Wochen umfassenden) Zeitraum. Dennoch ist die reisevertragliche Rügeobliegenheit eher mit der Funktion der handelsrechtlichen als mit der mietvertraglichen vergleichbar. Die eine Obhutspflicht des Mieters begründende Informa-tionsasymmetrie zwischen Vermieter und Mieter liegt im Reisevertrag typischerweise nicht vor. Darüber hinaus zielt die reisevertragliche Obliegenheit, den Mangel anzuzeigen, auf die Herbeiführung von Rechtsklarheit. Dies wird in der vorliegenden Entscheidung deutlich benannt und fügt sich überdies in das sonstige Regelkonzept des reisevertraglichen Gewährleistungsrechts ein, schließlich muss der Reisende (zusätzlich zu der Obliegenheit, den Mangel gemäß § 651d Abs. 2 BGB anzuzeigen) die reisevertraglichen Gewährleis-tungsansprüche innerhalb eines Monats nach der vertraglich vorgesehenen Beendigung der Reise gegenüber dem Reise-veranstalter geltend machen, § 651g Abs. 1 S. 1 BGB. Diese sehr kurze Ausschlussfrist zeigt deutlich die Intention des Gesetzgebers, dass die Vertragsparteien des Reisevertrages Rechtsklarheit über eine mögliche Inanspruchnahme haben sollen. Der sehr kurze Zeitraum nach der Reise dient der zeitnahen Veranlassung, eventuelle Informationen für eine spätere Verteidigung gegen eine Inanspruchnahme wegen behaupteter Reisemängel sichern zu können. Das gleiche Ziel (Rechtsklarheit) wird durch eine Mangelanzeige gegenüber dem Reiseveranstalter während der Reise verfolgt.

Prof. Dr. Paul T. Schrader, LL.M.oec., Augsburg

26 Zu den Unterschieden zwischen der mietrechtlichen und der handelsrechtlichen Obliegenheit der Mängelanzeige vgl. instruktiv BGH NJW 1977, 1236. 27 Hopt, in: Baumbach, Kommentar zum HGB, 37. Aufl. 2016, § 377 Rn. 1.

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BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al. Böttner _____________________________________________________________________________________

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ZJS 6/2016 776

E n t s c h e i d u n g s a n m e r k u n g

Rechtmäßigkeit des Ankaufs von Staatsanleihen durch die EZB im OMT-Programm 1. Zur Sicherung seiner demokratischen Einflussmöglich-keiten im Prozess der europäischen Integration hat der Bürger grundsätzlich ein Recht darauf, dass eine Über-tragung von Hoheitsrechten nur in den vom Grundgesetz dafür vorgesehenen Formen der Art. 23 Abs. 1 S. 2 und 3, Art. 79 Abs. 2 GG erfolgt. 2. Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonsti-gen Stellen der Europäischen Union, die ultra vires erge-hen, verletzen das im Zustimmungsgesetz gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG niedergelegte Integrationsprogramm und damit zugleich den Grundsatz der Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG). Der Abwendung derartiger Rechtsverletzungen dient das Institut der Ultra-vires-Kontrolle. 3. Die Verfassungsorgane trifft aufgrund der ihnen oblie-genden Integrationsverantwortung die Verpflichtung, Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union, die eine Identitätsverlet-zung bewirken oder einen Ultra-vires-Akt darstellen, ent-gegenzutreten. 4. Die Deutsche Bundesbank darf sich an einer künftigen Durchführung des OMT-Programms nur beteiligen, wenn und soweit die vom Gerichtshof der Europäischen Union aufgestellten Maßgaben erfüllt sind, das heißt wenn � das Volumen der Ankäufe im Voraus begrenzt ist, � zwischen der Emission eines Schuldtitels und seinem

Ankauf durch das ESZB eine im Voraus festgelegte Mindestfrist liegt, die verhindert, dass die Emissions-bedingungen verfälscht werden,

� nur Schuldtitel von Mitgliedstaaten erworben werden, die einen ihre Finanzierung ermöglichenden Zugang zum Anleihemarkt haben,

� die erworbenen Schuldtitel nur ausnahmsweise bis zur Endfälligkeit gehalten werden und

� die Ankäufe begrenzt oder eingestellt werden und erworbene Schuldtitel wieder dem Markt zugeführt werden, wenn eine Fortsetzung der Intervention nicht erforderlich ist.

(Amtliche Leitsätze) GG Art. 20 Abs. 1 und 2, 23 Abs. 1 S. 2, 3, 38 Abs. 1 S. 2, Art. 79 Abs. 2 und 3 BVerfG (2. Senat), Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13, 2 BvR 2729/13, 2 BvR 2730/13, 2 BvR 2731/13, 2 BvE 13/131

1 BVerfG NJW 2016, 2473. Die Entscheidung ist auch unter http://www.bverfg.de/e/rs20160621_2bvr272813.html (21.10.2016) abrufbar.

I. Sachverhalt und Verfahrensgang In seiner 340. Sitzung am 5./6.9.2012 hat der EZB-Rat die wesentlichen Merkmale der geldpolitischen Outright-Geschäfte des Eurosystems an den Sekundärmärkten für Staatsanleihen genehmigt und im Anschluss an die Sitzung in einer Pressemitteilung veröffentlicht.2 Danach sollen mit diesen geldpolitischen Geschäften die Funktionsfähigkeit des geldpolitischen Transmissionsmechanismus sowie die Ein-heitlichkeit der Geldpolitik sichergestellt werden. Der OMT-Beschluss ist bis zum heutigen Tage nicht umgesetzt worden.

Mehrere Gruppen von Privatpersonen erhoben daraufhin beim BVerfG in Zusammenhang mit dem laufenden ESM-Verfahren Verfassungsbeschwerde u.a. gegen diese OMT-Beschlüsse. Die Verfassungsbeschwerde und das Organ-streitverfahren richten sich im Wesentlichen gegen Maßnah-men der Europäischen Zentralbank (EZB) betreffend Outright Monetary Transactions (OMT) und die fortgesetzten Ankäufe von Staatsanleihen auf der Basis dieses Beschlusses und des vorangegangenen Programms für die Wertpapier-märkte (Securities Markets Programme – SMP), sowie gegen die Deutsche Bundesregierung und den Deutschen Bundestag wegen Unterlassens, gegen ebenjene Maßnahmen wirksame Schritte ergriffen zu haben. Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung ihres Individualrechts auf Teilhabe an der demo-kratischen Legitimation der Staatsgewalt aus Art. 38 Abs. 1 GG. Die EZB überschreite mit den genannten Maßnahmen die ihr übertragenen Kompetenzen, da sie mit der Ankündi-gung von OMT gegen Art. 123 AEUV verstoße, sodass die OMT-Beschlüsse insgesamt als Ultra-vires-Handlung einzu-stufen seien. Hilfsweise wird vorgetragen, die Bundesregie-rung verletze die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 38 Abs. 1 GG dadurch, dass sie es unterlassen hat, gegen die Maßnahmen der EZB wirksame Schritte einzuleiten. Darüber hinaus sei der Deutsche Bundestag verpflichtet, zur Sicherung seiner haushaltspolitischen Gesamtverantwortung darauf hinzuwirken, dass der OMT-Beschluss aufgehoben wird oder mindestens ein wirksamer Parlamentsvorbehalt implementiert wird. Zusätzlich trugen die Beschwerdeführer vor, die Beschlüsse verletzten das im GG niedergelegte De-mokratieprinzip und beeinträchtigten dadurch die deutsche Verfassungsidentität.

Mit Beschluss vom 17.12.2013 hat das BVerfG sodann entschieden, diejenigen Verfahrensfragen abzutrennen, die sich auf das OMT-Programm beziehen;3 über die nicht abge-trennten Verfahrensteile hat das BVerfG am 18.3.2014 ab-schließend4 entschieden. Die abgetrennten Verfahrensteile hat das BVerfG mit Beschluss vom 14.1.2014 ausgesetzt und dem EuGH mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorge-legt.5 Mit Urteil vom 16.6.2015 hat der EuGH entschieden,

2 Nachzulesen unter BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al., Rn. 8. 3 BVerfGE 134, 357. 4 BVerfGE 135, 317; siehe dazu Manger-Nestler/Böttner, NJ 2014, 204; Ruffert, JuS 2014, 465. 5 BVerfGE 134, 366; siehe dazu Frenz, DVBl. 2014, 451; Herrmann, EuZW 2014, 161; Ruffert, JuS 2014, 373; Mayer, EuR 2014, 473.

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BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al. Böttner _____________________________________________________________________________________

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dass das Primärrecht dem OMT-Programm nicht entgegen-steht.6 Gut ein Jahr später hat das BVerfG sein Urteil in der Hauptsache gefällt. II. Entscheidungsgründe Die Verfassungsbeschwerden sind zulässig, soweit sie sich gegen das Unterlassen der Bundesregierung richten, gegen den Grundsatzbeschluss des EZB-Rates über das OMT-Programm vom 6.9.2012 vorzugehen.7 OMT stelle mögli-cherweise eine hinreichend qualifizierte Kompetenzüber-schreitung der EZB dar, die von den Beschwerdeführern einklagbare Reaktionspflichten der Bundesregierung nach sich ziehen können.8 Soweit sich die Verfassungsbeschwer-den direkt gegen die Maßnahmen der EZB wenden, sind sie unzulässig, da insoweit kein Akt deutscher öffentlicher Ge-walt und somit kein tauglicher Beschwerdegegenstand vor-liegt. Im Übrigen sind die Verfassungsbeschwerden mangels hinreichend substantiiertem Sachvortrag unzulässig.9

Die im Organstreitverfahren gestellten Anträge sind nur zulässig, soweit sie die Feststellung begehren, der Deutsche Bundestag sei verpflichtet, auf eine Aufhebung des Grund-satzbeschlusses über das OMT-Programm vom 6.9.2012 hin-zuwirken.10 Im Übrigen sind die Anträge unzulässig.

Die Verfassungsbeschwerden und das Organstreitverfah-ren sind, soweit zulässig, unbegründet. Die Untätigkeit von Bundesregierung und Bundestag bzgl. des OMT-Beschlusses verletzt die Beschwerführer nicht in ihrem Recht aus Art. 38 Abs. 1 S. 1, Art. 20 Abs. 1, 2 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG und beeinträchtigt nicht die haushaltspolitische Gesamtverantwor-tung des Deutschen Bundestages.11

Zwar seien Hoheitsakte der EU und Akte der deutschen öffentlichen Gewalt, soweit sie durch das Unionsrecht deter-miniert werden, mit Blick auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts grundsätzlich nicht am Maßstab des Grundge-setzes zu messen. Dieser finde seine Grenzen jedoch in dem im Zustimmungsgesetz niedergelegten Integrationsprogramm des Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG und dem integrationsfesten Kern der Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG. Das Demo-kratieprinzip schütze insoweit vor offensichtlichen und struk-turell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen durch Orga-ne, Einrichtungen und sonstige Stellen der EU.

Das grundrechtsgleiche Recht aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG erschöpfe sich nicht im formalen Legitimationsakt der Wahl zum Deutschen Bundestag, sondern umfasse auch den aus der Menschenwürde fließenden Anspruch des Bürgers, nur einer öffentlichen Gewalt ausgesetzt zu sein, die er auch legitimie-ren und beeinflussen kann.12 Hingegen gewähre Art. 38

6 EuGH (Große Kammer), Urt. v. 16.6.2015 – C-62/14, (Gauweiler); dazu auch Frenz, DVBl. 2015, 978; Ruffert, JuS 2015, 758; Manger-Nestler/Böttner, NJ 2015, 424; Ohler, NVwZ 2015, 1001. 7 BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al., Rn. 77. 8 BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al., Rn. 79. 9 BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al., Rn. 95. 10 BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al., Rn. 105. 11 BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al., Rn. 114. 12 BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al., Rn. 123.

Abs. 1 GG keinen Anspruch auf eine über dessen Sicherung hinausgehende Rechtmäßigkeitskontrolle demokratischer Mehrheitsentscheidungen.13 Die „Einflussknicke“, mit denen der Vollzug des Integrationsprogramms verbunden ist (Mehrheitsentscheidungen im Rat, unionale Eigenverwal-tung, Unabhängigkeit der EZB) und die das demokratische Legitimationsniveau von Maßnahmen der europäischen öf-fentlichen Gewalt absenken können, werden durch andere Legitimationsstränge auf supranationaler Ebene gestützt.14

Aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1, 2 sowie Art. 79 Abs. 3 GG folge ein „Anspruch auf Demokratie“, der auch gegenüber Maßnahmen der EU nicht zur Disposition stehe.15 Ob die Übertragung von Hoheitsrechten durch den deutschen Gesetzgeber oder eine Maßnahme von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen Union die durch Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Verfas-sungsidentität berühren, prüft das BVerfG im Rahmen der Identitätskontrolle. Das Demokratieprinzip müsse dabei si-cherstellen, dass dem Deutschen Bundestag bei einer Über-tragung von Hoheitsrechten nach Art. 23 Abs. 1 GG eigene Aufgaben und Befugnisse von substantiellem politischem Gewicht und insbesondere die haushaltspolitische Gesamt-verantwortung verbleiben.16 Dieser auch in Art. 4 Abs. 2 S. 1 EuV angelegte Kontrollmechanismus verstoße somit nicht gegen das Loyalitätsgebot des Art. 4 Abs. 3 EUV.17

Im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle prüft das BVerfG, ob die fragliche Maßnahme die Grenzen des demokratisch legitimierten Integrationsprogramms nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG offensichtlich und in strukturell bedeutsamer Weise über-schreitet. Bei der Erweiterung ihrer Befugnisse bleiben die Organe, Einrichtungen und Stellen der Europäischen Union auf Vertragsänderungen angewiesen (Art. 5 Abs. 2 S. 1 EUV), die von den Mitgliedstaaten nach den jeweiligen nati-onalen verfassungsrechtlichen Bestimmungen vorgenommen und verantwortet werden. Kompetenzüberschreitungen kön-nen das Recht des Einzelnen (Art. 38 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 20 Abs.2 S. 1 GG) verletzen, keiner Hoheitsgewalt aus-gesetzt zu werden, die er nicht legitimieren kann. Das BVerfG habe die Maßnahmen der Union im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle (nur) daraufhin zu überprüfen, ob sie vom Integrationsprogramm (Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG) gedeckt sind und insoweit am Anwendungsvorrang des Unionsrechts teilhaben.18 Dies ist nicht der Fall, wenn Kompetenzüber-schreitungen hinreichend qualifiziert, d.h. offensichtlich und von struktureller Bedeutung sind. „Offensichtlich“ kann die Kompetenzüberschreitung auch dann sein, wenn sie das Er-gebnis einer sorgfältigen und detailliert begründeten Ausle-gung ist. Eine strukturell bedeutsame Kompetenzüberschrei-tung liegt vor, wenn die Inanspruchnahme der Kompetenz

13 BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al., Rn. 126. 14 BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al., Rn. 131. 15 BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al., Rn. 135. 16 BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al., Rn. 138. 17 BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al., Rn. 140. 18 BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al., Rn. 144-146.

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BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al. Böttner _____________________________________________________________________________________

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durch die Union eine Vertragsänderung nach Art. 48 EUV oder die Inanspruchnahme einer Evolutivklausel erforderte.19

Die Identitätskontrolle einerseits und die Ultra-vires-Kontrolle andererseits stehen als eigenständige Prüfverfahren nebeneinander. Im Rahmen einer möglichen Vorabentschei-dung (Art. 267 Abs. 3 AEUV) des EuGH respektiere das BVerfG die unionseigenen, vom Gerichtshof entwickelten Methoden der Rechtsfindung, die der Eigenart der Verträge und ihren Zielen Rechnung tragen.20 Es sei nicht Aufgabe des BVerfG, bei Auslegungsfragen im Unionsrecht, die auch bei methodengerechter Bewältigung im üblichen rechtswissen-schaftlichen Diskussionsrahmen zu verschiedenen Ergebnis-sen führen können, seine Auslegung an die Stelle derjenigen des Gerichtshofs zu setzen. Es müsse eine richterliche Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof auch dann respek-tieren, wenn dieser zu einer Auffassung gelangt, der sich mit gewichtigen Argumenten entgegentreten ließe, solange sie sich auf anerkannte methodische Grundsätze zurückführen lässt und nicht objektiv willkürlich erscheint.21

Aus der Integrationsverantwortung folge – ähnlich den grundrechtlichen Schutzpflichten – die Pflicht der Verfas-sungsorgane, Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union, die eine Identi-tätsverletzung bewirken, sowie Ultra-vires-Akte, auch wenn sie nicht den gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m Art. 79 Abs. 3 GG integrationsfesten Bereich betreffen, entgegenzutreten. Dies gelte in gesteigertem Maße dann, wenn öffentliche Ge-walt durch Stellen ausgeübt wird, die nur über eine schwache demokratische Legitimation verfügen. Dem entspreche ein in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG verankertes Recht des wahlberechtig-ten Bürgers, dass die mit dem Vollzug des Integrationspro-gramms ohnehin schon verbundenen Einflussknicke und Einschränkungen seines „Rechts auf Demokratie“ nicht wei-tergehen, als sie durch die zulässige Übertragung von Ho-heitsrechten auf die Europäische Union gerechtfertigt sind. Bei der Konkretisierung dieser Pflicht komme den Verfas-sungsorganen ein weiter politischer Gestaltungsspielraum zu.22

Der Grundsatzbeschluss des EZB-Rates vom 6.9.2012 und seine mögliche Durchführung stelle unter den Bedingun-gen, die der EuGH in seinem Urteil vom 16.6.2015 formuliert hat, keine qualifizierten Überschreitungen der Kompetenzen der EZB dar.23 und verstoßen auch nicht gegen das in Art. 123 AEUV niedergelegte Verbot monetärer Haushaltsfi-nanzierung. Diese Auslegung sei für das BVerfG grundsätz-lich bindend, wenngleich ihr gewichtige Einwände entgegen-stehen. Dazu gehöre, dass der EuGH für die kompetenzmäßi-ge Zuordnung des OMT-Programms zur Währungspolitik trotz der von ihm selbst angenommenen Überschneidungen

19 BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al., Rn. 150 f. 20 BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al., Rn. 153 f. 21 BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al., Rn. 161. 22 BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al., Rn. 164-168. 23 BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al., Rn. 175.

von Wirtschafts- und Währungspolitik im Wesentlichen auf die von dem zu kontrollierenden Organ angegebene Zielset-zung der Maßnahme abstellt. Die großzügige Hinnahme be-haupteter Zielsetzungen verbunden mit weiten Bewertungs-spielräumen der Stellen der Union und einer erheblichen Zurücknahme der gerichtlichen Kontrolldichte sei geeignet, der Union eine eigenständige Disposition über die Reichweite der ihr von den Mitgliedstaaten zur Ausübung überlassenen Kompetenzen zu ermöglichen, was der verfassungsrechtli-chen Dimension des Prinzips der begrenzten Einzelermächti-gung nicht hinreichend Rechnung trägt.24 Ohne Antwort bleibe schließlich das dem EuGH vom BVerfG unterbreitete Problem, dass die der EZB eingeräumte Unabhängigkeit (Art. 130 AEUV) zu einer spürbaren Senkung des demokrati-schen Legitimationsniveaus ihres Handelns führt und daher Anlass für eine restriktive Auslegung und besonders strikte gerichtliche Kontrolle ihres Mandates sein müsste.25

Die Deutsche Bundesbank dürfe sich an der Durchfüh-rung des OMT-Beschlusses beteiligen, sofern sie sich an die vom EuGH aufgestellten fünf Voraussetzungen hält, die das BVerfG im vierten Leitsatz benennt.

Da es sich beim Grundsatzbeschluss über das OMT-Programm vom 6.9.2012 in der vom EuGH vorgenommenen Konkretisierung nicht um einen Ultra-vires-Akt handele, habe auch keine Verpflichtung von Bundesregierung und Bundestag bestanden, diesem Beschluss im Rahmen ihrer Integrationsverantwortung entgegenzutreten. Sollten die vom Gerichtshof formulierten Maßgaben für den Ankauf von Staatsanleihen bei der Durchführung des OMT-Programms allerdings nicht beachtet werden, so wären Bundesregierung und Bundestag verpflichtet, dagegen mit geeigneten Mitteln vorzugehen.26 Beide Verfassungsorgane seien im Rahmen ihrer Integrationsverantwortung zudem verpflichtet, eine etwaige Durchführung des OMT-Programms dauerhaft zu beobachten.27 III. Kommentar Mit dem Urteil des BVerfG zum OMT-Programm der EZB schließt sich – vorläufig – der Kreis von Entscheidungen aus Karlsruhe und Luxemburg zu krisenbedingten Maßnahmen der EZB.28 Dabei drehte sich das Verfahren letztlich um ein Programm, dessen bloße Ankündigung bereits die von der EZB beabsichtigte marktberuhigende Wirkung zeitigte. Tat-sächlich wurde OMT bislang nicht in Kraft gesetzt, wenn-gleich es – bei Vorliegen aller Voraussetzungen – prinzipiell noch aktiviert werden könnte. Mit Blick auf die seit Septem-ber 2014 vom EZB-Rat in Kraft gesetzten und deutlicher auf die Geldpolitik ausgerichteten Anleihekaufprogramme im Rahmen des sog. „Quantitive Easing“ (Expanded Asset

24 BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al., Rn. 183 f. 25 BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al., Rn. 187. 26 BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al., Rn. 208 f. 27 BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al., Rn. 220. 28 Siehe die Nachzeichnung bei Manger-Nestler, NJ 2016, 353.

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Purchase Programme – EAPP29) ist dies aber unwahrschein-lich. Gleichzeitig geben EuGH und BVerfG mit Abschluss dieses Verfahrens den Rahmen vor, in dem sich künftige geldpolitische Maßnahmen der EZB zu bewegen haben und innerhalb dessen der EZB-Chef wie von ihm angekündigt alle notwendigen Maßnahmen („whatever it takes“) ergreifen kann. Die neuerlich gegen QE vorgebrachten Verfassungsbe-schwerden30 werden somit keine Aussicht auf Erfolg haben.31

Das BVerfG hat sich damit aber kein „Scheingefecht“ mit dem EuGH geliefert, sondern das oft bemühte Kooperations-verhältnis – das „unmittelbare Zusammenwirkens des Ge-richtshofs und der Gerichte der Mitgliedstaaten“, wie es der EuGH formuliert32 – im europäischen Gerichtsverbund grundsätzlich neu geordnet und zugleich in Gestalt der im vierten Leitsatz benannten Anforderungen Rechtssicherheit für konkrete zukünftige Anleihekaufprogramme geschaffen. Dabei war dieser Ausgang keineswegs vorherbestimmt: Der Vorlagebeschluss erging entgegen den Stimmen zweier Se-natsmitglieder, die mit starken Argumenten begründen, wa-rum in ihren Augen schon die Verfahren vor dem Bundesver-fassungsgericht als unzulässig hätten verworfen werden müs-sen, wodurch es einer Vorlagefrage an Entscheidungserheb-lichkeit33 gemangelt hätte;34 beide Richter sind inzwischen aus dem Zweiten Senat ausgeschieden. Gleichzeitig formu-liert die Senatsmehrheit im Vorlagebeschluss mit deutlichen Worten, warum OMT rechtswidrig sei bzw. wie der EuGH zu entscheiden habe, damit das BVerfG von einer Ultra-vires-Entscheidung absehe. Die so vom BVerfG geschlagene „gol-dene Brücke“35 hat der EuGH indes nicht beschritten.

29 Gestützt auf Art. 127 Abs. 2 AEUV und Art. 12.1 UAbs. 2 i.V.m. Art. 3.1 erster Gedankenstrich und Art. 18.1 der ESZB-Satzung hat die EZB mehrere Programme zur Verbes-serung der Transmission der Geldpolitik, der Erleichterung der Kreditversorgung und der Annäherung der Inflationsrate an den Zielwert von 2 % aufgelegt. Vom EAPP umfasst sind Ankaufprogramme für Asset-Backed Securities (ABSPP) und für gedeckte Schuldverschreibungen (Covered Bond Purcha-se Programme 3 – CBPP3) sowie ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundär-märkten (Beschluss [EU] 2015/774 der Europäischen Zent-ralbank v. 4.3.2015 [EZB/2015/10]) und ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des Unternehmenssektors (Be-schluss [EU] 2016/948 der Europäischen Zentralbank v. 1.6.2016 [EZB/2016/16]). 30 Anhängig beim BVerfG unter den Az. 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15 und 2 BvR 2006/15. 31 Siehe dazu auch Mayer, NJW 2015, 1999 (2003). 32 EuGH (Große Kammer), Urt. v. 16.6.2015 – C-62/14 (Gauweiler), Rn. 15. 33 Zu diesem Kriterium ausführlich Lohse, Der Staat 2014, 633. 34 BVerfGE 134, 366, Rn. 106 ff. (abweichende Meinung der Richterin Lübbe-Wolff) und Rn. 134 ff. (abweichende Mei-nung des Richters Gerhardt). 35 Manger-Nestler/Böttner, NJ 2014, 202 (205); dies., NJ 2015, 422 (425).

Allerdings ist das OMT-Urteil des BVerfG keine Unter-werfungserklärung des deutschen Verfassungsgerichts unter den EuGH, sondern die Ausübung der einzig glaubwürdigen und gesichtswahrenden Handlungsoption, nachdem der EuGH die Rechtmäßigkeit von OMT festgestellt hat. Die Konfliktlinie zwischen EuGH und BVerfG – der Anspruch des deutschen Verfassungsgerichts, als Wächter der Kompe-tenzgrenzen der EU zu fungieren – bleibt dennoch bestehen.36

Das Urteil liegt nämlich in der bis in die 1970er Jahre zu-rückreichende Rechtsprechungslinie von Solange I37 über Lissabon38 hin zu Honeywell/Mangold39. Mit diesen Urteilen hat das BVerfG nach und nach für sich die Position des Letztentscheiders in europäischen Kompetenzfragen in An-spruch genommen, notfalls auch über Urteile des EuGH hinweg. Im OMT-Urteil kommt dies nochmals deutlich zum Ausdruck.40 Der EuGH sieht das naturgemäß anders.41 In den Augen des BVerfG kann er dies auch, solange er die ihm zugebilligte „Fehlertoleranz“42 bei seinen Entscheidungen nicht überschreitet und somit nicht selbst ultra vires handelt.

Gleichzeitig schafft das BVerfG allerdings begrüßenswer-te Klarheit, indem es die verfassungsrechtlichen Grenzen von Identitäts- und Ultra-vires-Kontrolle als separate Kontroll-maßstäbe voneinander abgrenzt. Insbesondere wird der Evidenzmaßstab bei der Ultra-vires-Kontrolle verstetigt, so dass diese nur bei qualifizierten Kompetenzverletzungen greifen soll. In Fortschreibung seiner Maastricht- und Lissa-bon-Rechtsprechung betont das BVerfG nun in erfreulicher Deutlichkeit den Anwendungsvorrang des Unionsrechts im aktuellen Kontext. Möglicherweise – dies wäre wünschens-wert – anerkennt das BVerfG damit nun auch, dass das zu-ständige Gericht für die Feststellung europäischer Kompe-tenzverstöße der EuGH ist. Nur so kann eine einheitliche Auslegung des Europarechts im Wege des Vorabentschei-dungsverfahrens (Art. 267 AEUV) sichergestellt und die auch das BVerfG treffende Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit aus Art. 4 Abs. 3 EUV43 gewahrt werden. Damit wäre OMT nicht eine Rückkehr zu Solange I, sondern in Anlehnung an Solange II44 die gebotene Zurückhaltung gegenüber der euro-päischen Gerichtsbarkeit im Sinne eines neuen „Solange III“,

36 Mayer, NJW 2015, 1999 (2002). 37 BVerfGE 37, 271. 38 BVerfGE 123, 267. 39 BVerfGE 126, 286. 40 Siehe Schalast, BB 2016, 1667 (1669 f.). 41 EuGH (Große Kammer), Urt. v. 16.6.2015 – C-62/14 (Gauweiler), Rn. 16: „Es ist ferner darauf hinzuweisen, dass ein Urteil des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren nach dessen ständiger Rechtsprechung das nationale Gericht hinsichtlich der Auslegung oder der Gültigkeit der fraglichen Handlungen der Unionsorgane bei der Entscheidung über den Ausgangsrechtsstreit bindet.“ 42 BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al., Rn. 149 unter Verweis auf BVerfGE 126, 286 (307); siehe zu dieser „Europarechtsfreundlichkeit“ des BVerfG bei der Ultra-vires-Kontrolle Mayer/Walter, Jura 2011, 532. 43 Vgl. Editorial Comments, CMLR 2014, 375 (384). 44 BVerfGE 73, 339.

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BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al. Böttner _____________________________________________________________________________________

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wonach das BVerfG seine Gerichtsbarkeit über die Anwend-barkeit von abgeleitetem Unionsrecht nicht mehr ausüben wird, solange die Europäische Union (inklusive EuGH) wirk-samen Schutz vor Primärrechtsverletzungen oder unzulässi-ger Primärrechtserweiterung gewährleistet.45

Verfassungsprozessual wenig glücklich ist dabei aber die Aufladung des Art. 38 Abs. 1 GG (i.V.m. Art. 20 Abs. 1, 2 und Art. 79 Abs. 3 GG) zu einem „Grundrecht auf Demokra-tie“ und einem subjektiven Recht auf souveräne Staatlichkeit. Das Gericht schlägt damit die Brücke zwischen dem integra-tionsfesten Verfassungskern als objektivem Wertemaßstab und dessen prozessualer Geltendmachung im Wege eines individuellen Anspruchs. Unter dezidierter Auseinanderset-zung mit (auch ausländischer) Literatur und Rechtsprechung legt das BVerfG dar, dass ein solcher Anspruch nur auf die (aus der Menschenwürde fließenden) Kerngehalte der Demo-kratie bestehen soll. Welche dies konkret sind, lässt das Ge-richt indes offen. Insofern ist fraglich, ob der Einzelne wirk-lich das geeignete prozessuale Zuordnungssubjekt ist, um in einer Art Popularklage gegen Europa die Kontrolle objektiver Kompetenzüberschreitungen von EU-Organen verfassungs-rechtlich zu ermöglichen.46 Ein allgemeiner Gesetzesvollzie-hungsanspruch lässt sich aus dem Grundgesetz nämlich gera-de nicht ableiten.47 Im Übrigen scheint das BVerfG auch sonst bemüht, hohe Zulässigkeitshürden für Verfassungsbe-schwerden aufzubauen; gegen Europa ist dies offensichtlich gerade nicht der Fall.48

Schließlich erhebt das BVerfG warnend den Zeigefinger und meldet erneut Zweifel an, dass die Begründung des geld-politischen (und nicht wirtschaftspolitischen) Charakters des OMT-Programms allein unter Heranziehung des anerkannten Konzepts des Transmissionsmechanismus zu kurz greift. Dabei liegt das Problem tatsächlich weniger in der eigentli-chen Klassifizierung von OMT als währungs- oder wirt-schaftspolitischer Maßnahme, sondern vielmehr in der Frage, inwieweit die krisenbedingt stark gewandelte Position der Zentralbank mit den unionsrechtlichen (!) Demokratiemaß-stäben (noch) standhält. Aber auch diese Kontroverse wird und kann im europäischen Verfassungs(gerichts)verbund debattiert und gelöst werden. Letztlich wird man aber wohl der EZB als „systemisch atypischer Institution“49 mit per definitionem weitreichender Unabhängigkeit parlamentari-schen Einflusses einen Einschätzungsspielraum zugestehen müssen, der unter Auferlegung einer wie vom EuGH nahege-legten erhöhten Begründungspflicht ansonsten gerichtlich – sowohl vom EuGH als auch vom BVerfG – nur in begrenz-tem Umfang nachprüfbar ist.50 Das BVerfG sollte dabei be-

45 Vgl. Ukrow, ZEuS 2014, 119 (138 f.). 46 Kritisch auch Manger-Nestler, NJ 2016, 353 (356). 47 So BVerfGE 131, 195 (235) sowie BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al. (Sondervotum Gerhardt), Rn. 139. 48 So auch die Kritik von Richterin Lübbe-Wolff, BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 et al., Rn. 119; kritisch auch Mayer, EuR 2014, 473 (503 f.). 49 Simon, EuR 2015, 107 (130). 50 Vgl. auch Classen, EuR 2015, 477 (480 f.).

denken, dass es als Verfassungsgericht unter legitimatorischen Gesichtspunkten eine ähnliche „Demokra-tie-Anomalie“ darstellt, wie eine Zentralbank, deren minima-le demokratische Rückkopplung an die unmittelbare Volks-vertretung nur durch die zu erfüllende Funktion zu rechtferti-gen ist.51

Wiss. Mitarbeiter Robert Böttner, B.A., LL.M., Leipzig

51 Mayer, EuR 2014, 473 (509).

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BGH, Urt. v. 26.11.2015 – 3 StR 247/15 Brüning _____________________________________________________________________________________

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E n t s c h e i d u n g s a n m e r k u n g

Schadensberechnung bei Kreditverträgen 1. Der betrugsbedingte Vermögensschaden ist beim Kre-ditbetrug durch die Bewertung des täuschungsbedingten Risikoungleichgewichts zu ermitteln. Für dessen Berech-nung ist maßgeblich, ob und in welchem Umfang die das Darlehen ausreichende Bank ein höheres Ausfallrisiko trifft, als es bestanden hätte, wenn die risikobestimmen-den Faktoren vom Täter zutreffend angegeben worden wären. 2. Bei der Bestimmung des Minderwertes des Rückzah-lungsanspruchs der Bank dürfen bankübliche Bewer-tungsmaßstäbe zugrunde gelegt werden. Allerdings dür-fen einzelfallspezifische Besonderheiten aus der Sphäre der Kreditnehmer nicht aus dem Blick geraten. (Leitsätze der Verf.) BGH, Urt. v. 26.11.2015 – 3 StR 247/15 (LG Wuppertal)1 I. Sachverhalt (vereinfacht) T will durch die Vermittlungen von Ratenkrediten an nicht kreditwürdige Personen hohe Provisionszahlungen verdienen. In insgesamt 42 Fällen stellt T für die potentiellen Kredit-nehmer bei verschiedenen Banken Anträge auf Abschluss von Darlehensverträgen mit Beträgen zwischen 5.000 € und 20.000 €. Dabei legt er gefälschte Verdienstbescheinigungen und andere Urkunden vor.

In 14 von 42 Fällen bemerken die Bankmitarbeiter bei der Prüfung der eingereichten Unterlagen Unstimmigkeiten, mit der Folge, dass die Vertragsabschlüsse nicht zustande kom-men und die Provision nicht ausgezahlt wird. In den übrigen Fällen werden die Kreditanträge angenommen und die Darle-hensbeträge ausgezahlt. T veranlasst daraufhin die hiervon betroffenen Kreditnehmer, die Beträge in bar abzuheben und lässt sich die vereinbarte Provision von mindestens 5 % aus-zahlen. Ungeklärt bleibt, ob die jeweiligen Kreditnehmer hinsichtlich der betrügerischen Erlangung der Darlehen gut- oder bösgläubig sind. Die Banken hätten die – überwiegend schon nach kurzer Zeit notleidend gewordenen – Verträge nicht geschlossen und die Darlehen nicht ausgezahlt, wenn sie über die tatsächlichen Einkommensverhältnisse der Kre-ditnehmer zutreffend informiert worden wären.

In der ersten Instanz hatte das Landgericht die Bankmit-arbeiter zu den jeweiligen bankinternen Bewertungsmaßstä-ben als Zeugen vernommen. Auf dieser Grundlage hatte das Landgericht den erlittenen Vermögensschaden mit 75 % der ausgezahlten Darlehenssumme beziffert. Jedenfalls in dieser Höhe sei der erlangte Rückzahlungsanspruch aufgrund der fehlenden Bonität der Kreditnehmer weniger wert als ein

1 Die Entscheidung ist in NStZ 2016, 343 veröffentlicht und abrufbar unter http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=2015-11-26&nr=73875&pos=7&anz=20 (2.11.2016).

solcher, bei dem die angegebenen Einkommensverhältnisse tatsächlich zugetroffen hätten.

Das Landgericht hat T wegen vielfachen Betruges bzw. versuchten Betruges, jeweils in Tateinheit mit Urkundenfäl-schungen, zu Gesamtfreiheitsstrafen verurteilt. Auf die Revi-sion des T hebt der Senat das Urteil in den Strafaussprüchen auf. II. Einführung in die Problematik Der Fall wirft erneut Fragen zur Schadensberechnung bei der seit jeher problematischen Rechtsfigur des Gefährdungsscha-dens auf. Interessant ist dabei vor allem die Frage, ob eine (fehlende) Schadensbezifferung als Problem des Tatbestandes oder aber der Strafzumessung begriffen werden muss.

Darüber hinaus betrifft das Urteil am Rande die Frage, ob und in welchem Umfang bei der Berechnung der vertragli-chen Äquivalenz auf die „intersubjektive Wertsetzung“ als Bewertungsmaßstab zurückgegriffen werden darf. 1. Die Rechtsfigur des Gefährdungsschadens und das Beziffe-rungsgebot

Das BVerfG hat in einer viel beachteten Entscheidung aus dem Jahr 2010 die Anforderungen an die Feststellung eines Vermögensnachteils im Sinne der Untreue konkretisiert, und zwar mit Wirkung für das gesamte Vermögensstrafrecht.2 Der Vermögensnachteil muss – um dem Bestimmtheitsgebot nach Art. 103 Abs. 2 GG zu genügen – nach wirtschaftlichen Maßstäben bestimmt und der Höhe nach beziffert werden. Im Jahr 2011 hat das BVerfG diese Anforderungen ausdrücklich auch für die Feststellung des Vermögensschadens im Sinne des Betrugs bestätigt.3

Der Betrugstatbestand ist ein Erfolgsdelikt.4 Der Tatbe-stand ist vollendet, wenn der Erfolg – der Vermögensschaden – eingetreten ist. Ein Schaden liegt wiederum vor, wenn die durch die Vermögensverfügung eingetretene Vermögensmin-derung nicht unmittelbar durch einen Vermögenszuwachs kompensiert wird.5 Maßgeblicher Zeitpunkt für die Feststel-lung des Vermögensschadens ist der Zeitpunkt der vorge-nommenen Vermögensverfügung.6

Steht ein Betrug aufgrund täuschungsbedingter Angaben im Zusammenhang mit der Vergabe von Krediten im Raum, so ist zu beachten, dass die mit der Auszahlung des Kredits eingetretene Vermögensminderung der Bank ohnehin nicht durch einen unmittelbaren Zahlungsfluss des Kreditnehmers ausgeglichen werden sollte. Kompensiert wird diese Vermö-gensminderung lediglich durch den Rückzahlungsanspruch der Bank gegenüber dem Kreditnehmer. Wesentlicher Be-standteil der Kompensationsleistung ist dabei der vereinbarte Zinssatz, der sich u.a. an dem bestehenden Ausfallrisiko 2 BVerfG NJW 2010, 3209. 3 BVerfG NJW 2012, 907 (sog. „Al-Qaida-Entscheidung“). 4 Hefendehl, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kom-mentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 5, 2. Aufl. 2014, § 263 Rn. 470; Kühl, in: Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommen-tar, 28. Aufl. 2014, § 263 Rn. 2. 5 BGH NJW 2016, 2434 (2435); Kühl (Fn. 4), § 263 Rn. 36. 6 BGH NStZ 2013, 711 (712).

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BGH, Urt. v. 26.11.2015 – 3 StR 247/15 Brüning _____________________________________________________________________________________

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orientiert. Die Schadensberechnung setzt damit einen Wert-vergleich der ausgekehrten Darlehenssumme und des Rück-zahlungsanspruches des Kreditgebers voraus.7 Dieser Rück-zahlungsanspruch betrifft wiederum in der Zukunft liegende Zahlungsströme. Danach kommt es – jedenfalls nach Ansicht der Rechtsprechung – nicht darauf an, ob die in Rede stehen-de Forderung nach Abschluss des Darlehens tatsächlich be-dient wurde und das Geld gleichsam „floss“. Maßgeblich für die Schadensberechnung ist vielmehr die Frage, ob sich durch die Täuschung das Risikogleichgewicht verschoben hat. Dies könnte der Fall sein, wenn sich das Ausfallrisiko der Bank dadurch vergrößert hat, dass der Täter die risikobestimmen-den Faktoren wahrheitswidrig angegeben hat.8 Das Ausfallri-siko entspricht dann nicht mehr dem vereinbarten Zinssatz und damit nicht mehr der die Vermögensminderung kompen-sierenden Gewinnaussicht der Bank.

Zu berücksichtigen ist jedoch, dass zum Zeitpunkt der Auszahlung des Darlehens nicht feststeht, ob dieses vom Kreditnehmer am Ende tatsächlich zurückgezahlt wird oder nicht. Ein endgültiger Schadenseintritt im Sinne eines echten Substanzverlustes ist also zum Zeitpunkt der Kreditauszah-lung noch nicht eingetreten. Dies wäre erst der Fall, wenn mit Sicherheit feststeht, dass der Kreditnehmer das Darlehen oder zumindest einen Teil davon nicht bedienen kann.

Allerdings gehört es zu den Grundfesten in der Betrugs- und Untreuedogmatik, dass auch die Gefahr eines zukünftigen Verlustes von Vermögenssubstanz zu einem gegenwärtigen Schaden führen kann.

Ein Vermögensschaden könnte im vorliegenden Fall also angenommen werden, wenn sich etwa durch die Manipulati-onen die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass der Kredit nicht zurückgezahlt wird. Die negative Zukunftserwartung im Sinne eines Ausfallrisikos wäre dann eine bereits eingetrete-ne Vermögensminderung.

Bezugspunkt für die Berechnung eines Vermögensscha-dens bei der Darlehenshingabe ist nach gefestigter Recht-sprechung der Wert des Rückzahlungsanspruches.9 Maßgeb-lich ist die Frage, ob den Kreditgeber ein gegenüber der ur-sprünglich angenommenen Risikobewertung erhöhtes Aus-fallrisiko trifft. 10

Zwar kann nicht jede Vermögensgefährdung mit einem Vermögensschaden gleichgestellt werden. Anerkannt ist gleichwohl, dass ein – auf einer Vermögensposition ruhendes – Gefährdungspotenzial den Wert dieser Vermögensposition tatsächlich mindern kann. Der Gefährdungsschaden ist damit

7 BGH NStZ 2013, 711 (712). 8 BGH NJW 2012, 2370 (2371). 9 BGH NJW 2012, 2370 (2371). 10 Nicht zu Unrecht merkt etwa Wostry kritisch an, dass der BGH nicht – wie herkömmlich bei der Schadensberechnung – danach fragt, welchen Wert die Forderung und Gegenforde-rung im Vermögen des vermeintlich Geschädigten haben, vgl. dazu Wostry, Schadensbezifferung und bilanzielle Be-rechnung des Vermögensschadens bei dem Tatbestand des Betruges (§ 263 StGB), 2016, S. 326.

eine Berechnungsart einer nicht drohenden, sondern einer eingetretenen Vermögensminderung.11

Der Gefährdungsschaden unterscheidet sich von einem endgültigen Schaden also dadurch, dass sich das Ausfallrisi-ko gerade noch nicht realisiert hat, sondern lediglich prognos-tiziert werden kann.12 Der Gefährdungsschaden ist dem end-gültigen Schaden also zeitlich vorgelagert und erreicht damit lediglich das Vorstadium einer endgültigen Schadensrealisie-rung. Wesensmerkmal des Gefährdungsschadens ist damit die Abhängigkeit der Schadensfeststellung von einer Prognose.13

Eine Metapher bringt indes deutlich zum Ausdruck, dass dogmatischen Unstimmigkeiten beim Gefährdungsschaden lauern: Die unmittelbar auf das Gesicht zufliegende Faust kann – im übertragenen Sinne – beim Betrug schon den tat-bestandsmäßigen Erfolg eines Vermögensschadens begrün-den, und zwar auch wenn die Faust nicht trifft.14 Diese Situa-tion kennzeichnet im Grunde bloßes Versuchs-unrecht.

Zu Recht bestehen daher Befürchtungen, dass in den Fäl-len der vorgelagerten schädigenden Vermögensgefährdung eine Überdehnung des Tatbestandsmerkmals „Vermögens-schaden“ und damit ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG droht.

Im Falle der schädigenden Vermögensgefährdung stellt sich also die Frage, wie weit sich die Gefahr bereits „verdich-tet“ haben muss.

Das oben bereits erwähnte Bezifferungsgebot entspringt gerade dieser notwendigerweise vorzunehmenden konkreti-sierenden Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Vermögens-schaden“ in Bezug auf die Gefährdungsschäden. Das BVerfG hat den für die Untreue und den Betrug gleichermaßen gel-tenden Schadensbegriff wie folgt näher bestimmt:

Das Gericht hat festgestellt, dass es grundsätzlich noch mit dem Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar sei, einen Vermö-gensschaden bereits bei der konkreten Gefahr eines zukünfti-gen Vermögensverlustes anzunehmen.

Jedoch hat das Gericht präzise Vorgaben zur verfassungs-rechtlichen Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Vermö-gensschaden“ gemacht.

Danach darf das Tatbestandsmerkmal „Vermögensscha-den“ nicht mit anderen Tatbestandsmerkmalen verschleift werden.15 Das bedeutet, das Tatbestandsmerkmal darf nach seinem Wortsinn nicht so weit ausgelegt werden, dass es vollständig in einem anderen Tatbestandsmerkmal aufgeht. Für den Betrug bedeutet dies, dass der Vermögensschaden streng von der Täuschung zu trennen ist und nicht jede Täu-

11 Fischer, StraFo 2008, 269 (271). 12 Saliger, in: Joecks/Ostendorf/Rönnau/Rotsch/Schmitz (Hrsg.), Recht – Wirtschaft – Strafe, Festschrift für Erich Samson, 2010, S. 455 (471). 13 Becker, in: Fischer u.a. (Hrsg.), Dogmatik und Praxis des strafrechtlichen Vermögensschadens, 2015, S. 273 (276). 14 Vgl. dazu Wostry (Fn. 10), S. 45 mit Fn. 33, mit Verweis auf Hefendehl, Vermögensgefährdung und Exspektanzen, 1994, S. 256, der diese Art der Vermögensgefährdung als Kontinuum bezeichnet. 15 BVerfG NJW 2010, 3209 (3211 Rn. 79).

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schung, die zu einer Vermögensverfügung führt, einen Scha-den begründet.

Weiter betont das Gericht, dass das Tatbestandsmerkmal des Vermögensschadens den Betrug als Vermögens- und Er-folgsdelikt kennzeichnet. Verlustwahrscheinlichkeiten dürf-ten daher nicht so diffus sein oder sich in so niedrigen Berei-chen bewegen, dass der Eintritt eines realen Schadens unge-wiss bliebe.16

Um eine Tatbestandsüberdehnung zu verhindern, müsse der Vermögensschaden der Höhe nach beziffert und dies in wirtschaftlich nachvollziehbarer Weise in den Urteilsgründen dargelegt werden.17

Dabei sei auch auf in der wirtschaftlichen Praxis vorhan-dene Bewertungsmaßstäbe – gegebenenfalls unter Heranzie-hung eines Sachverständigen – zurückzugreifen. Explizit er-wähnt das Gericht die Bewertungsvorschriften des Bilanz-rechts.18

Lediglich in einfach gelagerten und eindeutigen Fällen er-teilt das Gericht einen Dispens von dem Erfordernis, den Schaden zu beziffern. Bei Unsicherheiten könne ein Mindest-schaden im Wege einer tragfähigen Schätzung ermittelt wer-den.19

Ausdrücklich mahnt das BVerfG an, dass normative Ge-sichtspunkte bei der Feststellung des Vermögensschadens die wirtschaftlichen Überlegungen nicht verdrängen dürften. 2. Die Rechtsfigur der intersubjektiven Wertbemessung

Die vom BVerfG aufgestellte Pflicht zur Schadensbeziffe-rung hat zur Folge, dass die Maßstäbe der Schadensbeziffe-rung offengelegt werden müssen.20 Es müssen wirtschaftliche Kriterien gefunden werden, anhand derer der Vermögens-schaden und damit Leistung und Gegenleistung bewertet werden können. Dies stellt die Tatgerichte nicht selten vor vermeintlich unlösbare Schwierigkeiten. Erschwert wird die von den Gerichten vorzunehmende Rechenaufgabe, wenn sich für die einzelnen Rechenposten, insbesondere für die zu erwartende Gegenleistung, aufgrund fehlender Vergleichsge-schäfte kein Marktwert ermitteln lässt. Der 5. Strafsenat ist daher auf die – viel kritisierte – Idee gekommen, in Fällen, in denen die Wertbestimmung bei einzigartigen Gegenständen schwierig ist, auf einen sog. intersubjektiven Bewertungs-maßstab zurückzugreifen.21 Maßgeblich war danach nicht mehr die Frage, welcher Preis nach marktwirtschaftlichen Regeln gezahlt worden wäre. Der Schaden lag nach Ansicht des 5. Strafsenats allein darin, dass der getäuschte Verkäufer einen geringwertigeren Anspruch erhalten habe, als vertrag-lich vorausgesetzt gewesen sei. Grundlage der Schadensfest-stellung war danach der von den Parteien bestimmte Ver-tragswert.22 Auf eine Feststellung anhand von ökonomischen Daten konnte gänzlich verzichtet werden. Damit hatte das

16 BVerfG NJW 2010, 3209 (3214 Rn. 105). 17 BVerfG NJW 2010, 3209 (3215 Rn. 113). 18 BVerfG NJW 2010, 3209 (3219 Rn. 141). 19 BVerfG NJW 2010, 3209 (3215 Rn. 114). 20 C. Dannecker, NStZ 2016, 318. 21 BGH NStZ 2013, 404. 22 BGH NStZ 2013, 404 (405).

Gericht die beiden Größen „Verkehrswert“ und „Wert der Preisabrede“ gleichgesetzt.

Der 1. Strafsenat ist diesen Annahmen des 5. Strafsenates entgegengetreten und hat betont, dass im Rahmen der Scha-densdogmatik der Verkehrswert grundsätzlich nicht mit der von den Parteien getroffenen Preisabrede gleichgesetzt wer-den könne.23 Das Gericht hat aber – gewissermaßen in einem „zweiten Akt der intersubjektiven Wertsetzung“24 diese Rechtsfigur einer prozessualen Lesart zugeführt. Die inter-subjektive Wertsetzung wird nun als Erkenntnismittel der tatrichterlichen Schadensfeststellung verwendet. Der von den Parteien verabredete Preis kann gleichsam als Indiz für den tatsächlichen Verkehrswert betrachtet werden. Damit ist die intersubjektive Wertsetzung ein „Berechnungsansatz [...], diese Schäden (wirtschaftlich) realitätsnah zu berechnen, ohne auf teure, häufig zweifelhafte und in ihrer Überzeu-gungskraft oftmals notleidende Sachverständigengutachten zurückgreifen zu müssen.“25 III. Die Entscheidung Der BGH bestätigt auf die Revision des T eine Verurteilung wegen Betruges bzw. versuchten Betruges, hebt jedoch das Urteil in den Strafaussprüchen auf. Obgleich das Gericht der Ansicht ist, dass die Strafkammer den Vermögensschaden nicht durchweg rechtsfehlerfrei bestimmt habe, seien die Schuldsprüche wegen Betruges jedoch revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.26

Der 3. Strafsenat befasst sich in der vorliegenden Ent-scheidung mit den Grundsätzen der Schadensbestimmung bei täuschungsbedingt erlangten Krediten. Das Gericht folgt den Grundlinien der höchstrichterlichen Rechtsprechung. „Ver-mögensschaden beim Betrug ist die Vermögensminderung infolge der Täuschung, also der Unterschied zwischen dem Wert des Vermögens vor und nach der täuschungsbedingten Vermögensverfügung. Die Grundsätze, die beim Betrug durch Abschluss eines Vertrags gelten, nach denen für den Vermögensvergleich maßgeblich auf den jeweiligen Wert der beiderseitigen Vertragsverpflichtungen abzustellen ist, sind bei Kreditverträgen mit der Maßgabe zu berücksichtigen, dass durch die Ausreichung des Darlehens auf Seiten der Bank bereits ein Vermögensabfluss in Höhe des Kreditbetra-ges eintritt. Ob und in welchem Umfang dadurch ein Vermö-gensschaden entsteht, ist durch einen Vergleich dieses Betra-ges mit dem Wert des Rückzahlungsanspruchs des Dar-lehensgläubigers zu ermitteln. Dieser wird – bei grundsätz-lich gegebener Zahlungswilligkeit des Schuldners – maßgeb-lich durch dessen Bonität und den Wert gegebenenfalls ge-stellter Sicherheiten bestimmt. Ein etwaiger Minderwert des Rückzahlungsanspruchs ist nach wirtschaftlicher Betrach-tungsweise zu ermitteln und nach der Rspr. des BVerfG kon-kret festzustellen und zu beziffern. Dabei können bankübli-che Bewertungsansätze für die Wertberichtigung Anwendung

23 BGH NStZ 2015, 89 (92). 24 C. Dannecker, NStZ 2016, 318 (320). 25 Raum, in: Fischer u.a. (Fn. 13), S. 43 (48). 26 BGH NStZ 2016, 343.

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finden.“27 Von besonderer Bedeutung war dem BGH der Umstand, „dass es sich bei der Darlehensgewährung stets um ein Risikogeschäft handelt. Der betrugsbedingte Vermögens-schaden ist deshalb durch die Bewertung des täuschungs-bedingten Risikoungleichgewichts zu ermitteln, für dessen Berechnung maßgeblich ist, ob und in welchem Umfang die das Darlehen ausreichende Bank ein höheres Ausfallrisiko trifft, als es bestanden hätte, wenn die risikobestimmenden Faktoren vom Täter zutreffend angegeben worden wären.“28

Weiter legt das Gericht seiner Schadensberechnung die Annahme zugrunde, dass man „den Rückzahlungsanspruch bei einem nicht durch Täuschung erschlichenen Kreditvertrag mit 100% des ausgereichten Darlehensbetrages“ bewerten könne. Denn der „Minderwert des ungesicherten Rück-zahlungsanspruchs wird so durch den im jeweils vereinbarten Zinssatz enthaltenen Risikozuschlag ausgeglichen“29.

„Die Bezifferung des Wertes des aufgrund der Täuschung bei Vertragsschluss erlangten Rückzahlungsanspruchs mit lediglich 25 % des Nominalwertes erweist sich hier hingegen als zu pauschal und deswegen als durchgreifend rechtsfehler-haft.“30 Kritisch merkt das Gericht an, dass die Vorinstanz den Schaden „allein auf der Grundlage der generalisierenden Schadensberechnung der Bankmitarbeiter“31 ermittelt habe. Dennoch geht das Gericht davon aus, dass die Schadens-ermittlung „nicht dazu zwingt, zur Bestimmung des Minder-werts eines auf einer Täuschung beruhenden Rückzahlungs-anspruchs stets ein Sachverständigengutachten“32 einzuholen.

Insbesondere rügt der BGH, dass das Landgericht nicht berücksichtigt habe, dass einige Kreditnehmer Sozialleistun-gen erhalten hätten und Kredite teilweise zumindest über Jahre ordnungsgemäß bedient worden wären. „Eine sich daraus möglicherweise ergebende – teilweise – Leistungs-fähigkeit des Kreditnehmers, die der pauschalierend ange-nommenen Bewertung des Rückzahlungsanspruches mit lediglich 25 % des jeweiligen Nominalbetrages entgegenste-hen könnte, hätte die StrK jedenfalls erörtern müssen.“33

Der BGH zweifelt trotz der Mängel bei der Schadenfest-stellung jedoch nicht daran, dass jedenfalls ein bezifferbarer Mindestschaden vorliege. „In allen ausgeurteilten Fällen wur-den die Vermögensverhältnisse der Kreditnehmer in einem Maße positiver dargestellt, als sie tatsächlich waren, dass sich das die Banken treffende Risiko, die ausgereichten Darlehen nicht zurückgezahlt zu bekommen, gegenüber der Situation, in der die Einkommensverhältnisse zutreffend angegeben worden wären, jeweils signifikant erhöhte bzw. in den Fällen, in denen es beim Versuch blieb, erhöht hätte. Darin liegt in jedem Einzelfall ein sicher bezifferbarer Mindestschaden.“34

Das Gericht hebt aber hervor, dass die Schadensbeziffe-rung auch der Feststellung des Schuldumfangs diene und

27 BGH NStZ 2016, 343 f. 28 BGH NStZ 2016, 343 (344). 29 BGH NStZ 2016, 343 (344). 30 BGH NStZ 2016, 343 (344). 31 BGH NStZ 2016, 343 (345). 32 BGH NStZ 2016, 343 (344). 33 BGH NStZ 2016, 343 (344). 34 BGH NStZ 2016, 343 (344).

damit auch für die Strafzumessung von Bedeutung sei. Inso-weit könnte nicht ausgeschlossen werden, dass die aufgezeig-ten Rechtsfehler zu einer fehlerhaften Strafzumessung ge-führt hätten. IV. Bewertung der Entscheidung Mit dieser Entscheidung bleibt der BGH seiner Recht-sprechung zur Schadenskonturierung im Bereich des Kredit-betrugs treu. Maßgeblich für die Berechnung des Schadens ist danach die Bewertung des täuschungsbedingten Risikoun-gleichgewichts, mithin die erhöhte Verlustwahrscheinlich-keit.35 Der Kreditbetrug ist damit ein Anwendungsfall der schädigenden Vermögensgefährdung. Der Vermögensscha-den ist konkret festzustellen und zu beziffern. 1. Kritik am Erfordernis der Schadensbezifferung

Es ist hier nicht der Ort, um die grundsätzliche Kritik an dem Erfordernis der genauen Schadensbezifferung zu wiederho-len. An dieser Stelle nur so viel:

Das BVerfG betont in seinem „Juni-Beschluss“, dass wirtschaftliche Erwägungen nicht von normativen überlagert werden dürften. Insoweit geht das Gericht offenbar von ei-nem Gegensatzpaar der Begriffe „normativ“ und „wirtschaft-lich“ aus und legt seinen Entscheidungen einen rein wirt-schaftlichen Vermögensbegriff zugrunde. Allerdings bilden Recht und Wirtschaft keine widerstreitenden Systeme, son-dern aufeinander bezogene Wertbereiche. Vermögen ist kein natürliches Phänomen, sondern das Ergebnis einer rechtli-chen Konstruktion.36 Ein wirtschaftlicher Vermögensbegriff ist immer auch ein normativer. Dies wird deutlich, wenn das Gericht selbst von den „Bewertungsvorschriften des Bilanz-rechts“ (Hervorhebung der Verf.) spricht.37

Ferner ist es faktisch nicht möglich, einen wirtschaftli-chen Vermögensbegriff – frei von normativen Erwägungen – mit dem objektiven Marktwert zu verknüpfen. Denn der wirt-schaftliche Wert eines Gutes wird nicht objektiv definiert, sondern intersubjektiv durch die Einschätzung der Markteil-nehmer.38 Und dieser Einschätzung liegen wiederum Prämis-sen zugrunde, die ihrerseits abhängig von Prognosen und damit von normativen Erwägungen sind. Besonders proble-matisch ist der Rückgriff auf den objektiven Marktwert, wenn es keine Vergleichsgeschäfte gibt.

Geht man weiter davon aus, dass jede errechnete Minde-rung des Vermögens einen Schaden begründet, so ist anzu-merken, dass im Grunde jede – auch noch so abstrakte – Verlustwahrscheinlichkeit einen Vermögensschaden begrün-den kann. Denn letztlich lässt sich jedes Risiko bewerten und beziffern. Liest man beispielsweise die bereits oben erwähnte Al-Qaida Entscheidung des BVerfG39 aufmerksam, so ist das 35 Ladiges, wistra 2016, 231. 36 Fischer, in: Fischer u.a. (Fn. 13), S. 51 (54). 37 Hefendehl mutmaßt daher, dass dem BVerfG „nicht so recht bewusst gewesen“ sei, dass das Bilanzrecht ein „hoch-normatives Regelwerk“ ist, Hefendehl, in: Fischer u.a. (Fn. 13), S. 77 (83). 38 Raum (Fn. 25), S. 47. 39 BVerfG NJW 2012, 907.

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Gericht auch nicht etwa der Ansicht, dass es völlig unvertret-bar gewesen wäre, den Abschluss eines Lebensversicherungs-vertrages als Gefährdungsschaden zu qualifizieren, und dies selbst dann, wenn für den Eintritt des endgültigen Schadens – die täuschungsbedingte Auszahlung der Versicherungssum-me – noch zahlreiche Zwischenschritte erforderlich sind, wie die Fingierung des Todes, die Beschaffung der Sterbeurkun-den, die Geltendmachung des Anspruchs und die Vorlage der Unterlagen bei der Versicherung.

Angemahnt hat das Gericht letztlich nur, dass kein Min-destschaden festgestellt wurde und dass die Ausführungen im Urteil teils vage und widersprüchlich waren.40 Mit keinem Wort gibt das BVerfG zu bedenken, dass die Figur des Ge-fährdungsschadens die Grenzen des unmittelbaren Ansetzens in Bezug auf das eigentliche Unrecht – den endgültigen – Vermögensverlust auszuhebeln drohte.41

Vielmehr wird deutlich, dass eine wirtschaftliche Betrach-tung – mit ihrer Möglichkeit jedes Risiko zu bepreisen – Gefahr läuft, den Umfang des Gefährdungsschadens auszu-dehnen anstatt ihn einzudämmen. Im Ergebnis kann jede noch so abstrakte Gefahr mit einer ganz konkreten Zahl bepreist werden. Würde das ausreichen, so wären abstrakte Gefahren weit im Vorfeld des endgültigen Schadenseintritts geeignet, eine schädigende Vermögensgefährdung zu begrün-den. Der Täter kann damit für Vorbereitungshandlungen in Bezug auf den endgültigen Vermögensverlust wegen eines vollendeten Betruges bestraft werden. Das Bezifferungsgebot des BVerfG jedenfalls kann dies nicht verhindern. 2. Dogmatische Verankerung des Bezifferungsgebotes

Der 3. Strafsenat behandelt die fehlerhafte Bezifferung des Vermögensschadens als Problem der Strafzumessung und nicht bereits als ein solches des Tatbestandes. Das Gericht sieht sich damit im Einklang mit den vom BVerfG entwickel-ten Grundsätzen zum Bezifferungsgebot.

Das BVerfG hat indes nicht ausdrücklich entschieden, ob sich das Bezifferungserfordernis aus dem materiellen Recht ergibt, oder ob es sich dabei um eine prozessuale Anforde-rung handelt.

Im Schrifttum wird das Bezifferungsgebot teilweise als Bestandteil des tatbestandlichen Schadensbegriffs gesehen.42

Ebenso spricht im Ergebnis viel dafür, dass auch das BVerfG die Ausführungen zum Schadensbegriff wohl eher auf der Tatbestandsebene verortet wissen wollte.43

Überzeugend ist das indes nicht, so dass man durchaus Sympathien für das Vorgehen des BGH teilen kann, die feh-lende Schadensbezifferung als Problem der Strafzumessung zu begreifen.

Das Bezifferungserfordernis ist keine Voraussetzung, um den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges in Gestalt des Ver-

40 BVerfG NJW 2012, 907 (916 Rn. 179). 41 Vgl. auch Satzger, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2. Aufl. 2014, § 263 Rn. 245. 42 Vgl. dazu ausführlich Wostry (Fn. 10), S. 64 ff. 43 Schlösser, NStZ 2012, 473 (476); so auch Becker, NStZ 2014, 458.

mögensschadens annehmen zu können. Insoweit geht es allein um die Frage, ob das Vermögen des Opfers auf der Basis einer Gesamtsaldierung gemindert wurde oder nicht. An dieser Stelle reicht ein „Ja“ oder „Nein“ als Antwort aus.44

Wostry legt hingegen dar, dass der Vermögensschaden das Ergebnis einer Differenz ist, die wiederum einen mathe-matischen Prozess abbildet. Nur wer Zahlen verwende, könne daher sicheres Wissen vermitteln. Ansonsten würde lediglich der Anschein von sicherem Wissen vermittelt.45 Wostry legt damit ein materielles Verständnis des Bezifferbarkeits-erfordernisses als Element des tatbestandlichen Schadensbe-griffs zugrunde.

Diesem Ansatz hat jedoch schon Becker plausibel entge-gengehalten, dass ein Vermögensschaden nicht etwa deswe-gen genau (bzw. sicher) ist, weil er das Ergebnis in Form einer konkreten Zahl ausdrückt.46 Im Zeitpunkt der (Gefähr-dungs-)Schadensfeststellung ist die gewonnene Zahl lediglich eine Bewertung der künftigen Zahlungsströme und damit nichts anderes als eine unsichere Prognose.47 Die anhand des mathematischen Prozesses gewonnene Zahl ist damit nichts anderes als ein „Orakel ex post“48. Von Sicherheit keine Spur.

Zu Recht verortet der BGH die Problematik daher auf der Strafzumessungsebene. Der in Art. 103 Abs. 2 GG verankerte Bestimmtheitsgrundsatz verlangt für die Konkretisierung der Strafzumessung eine Bezifferung des Schadens. Denn Grund-lage der Strafzumessung ist nach § 46 Abs. 1 S. 1 StGB die Schuld des Täters und die wiederum hängt beim Betrug von der Höhe des angerichteten Schadens ab. Ohne dies hier näher vertiefen zu können, kann bei Vermögensstraftaten die Bestimmung des Schuldumfangs aber im Wege der Schät-zung erfolgen, wenn sich Feststellungen auf andere Weise nicht treffen lassen.49

Gleichwohl ist das Gericht aufgrund des Amtsermitt-lungsgrundsatzes nach § 244 Abs. 2 StPO verpflichtet, alle strafzumessungsrelevanten Umstände aufzuklären. Daher ist das Bezifferungsgebot als Mahnung zu begreifen, den Amts-ermittlungsgrundsatz nach § 244 Abs. 2 StPO bei der Scha-densfeststellung zu beachten. 3. Die Rechtsfigur der intersubjektiven Wertsetzung

Das Gericht stellt den Schaden im vorliegenden Fall nicht fest, indem die Vermögenslagen vor und nach der Vermö-gensverfügung verglichen werden. Vielmehr vergleicht das Gericht die tatsächliche Vermögenslage nach der Vermö-gensverfügung mit der Vermögenslage, die bestanden hätte,

44 Krell, Untreue durch Stellenbesetzungen, Zugleich ein Beitrag zur Pflichtwidrigkeitsdogmatik, 2015, S. 172; vgl. auch Satzger, Der Submissionsbetrug, 1994, S. 136. 45 Zum Ganzen Wostry (Fn. 10), S. 75 ff. 46 Becker, NStZ 2016, 345 (346). 47 Becker, NStZ 2014, 458. 48 Vgl. zu diesem Begriff C. Dannecker, NStZ 2016, 318 (319). 49 So wohl auch Saliger, in: Matt/Renzikowski (Hrsg.), Straf-gesetzbuch, Kommentar, 2013, § 263 Rn. 205.

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wenn die vorgetäuschten Erklärungen wahr gewesen wären. Verglichen wird damit die tatsächliche Vermögenslage mit der vertraglich vereinbarten Vermögenslage. Im Ergebnis greift das Gericht also auf die Rechtsfigur der intersubjekti-ven Wertsetzung zur Feststellung des Schadens zurück,50 freilich ohne dies zu benennen. Maßgeblich für die Schadens-feststellung ist demnach die Frage, wie der Geschädigte bei ordnungsgemäßer Leistung gestanden hätte. Irrelevant ist hingegen, wie der Geschädigte gestanden hätte, wenn er nicht auf die täuschende Erklärung vertraut hätte.

Auch die intersubjektive Wertfestsetzung war schon Ge-genstand zahlreicher kritischer Abhandlungen. Die überzeu-gende Kritik an dieser Rechtsfigur soll und kann hier nicht referiert werden.51 Richtiger Ansatzpunkt des intersubjekti-ven Ansatzes ist zwar, dass es – wie bereits dargelegt – den objektiven Marktwert nicht gibt. Jedoch darf dies nicht dazu führen, dass gar keine Marktorientierung mehr stattfindet und der Vermögensschaden damit der Wirtschaftlichkeit entklei-det wird.

Im Ergebnis spricht jedoch viel für die vom BGH in die-sem Fall gefundene Lösung, auch wenn das Gericht die dog-matischen Feinheiten nicht ausleuchtet.

Kreditprodukte einer Bank werden von einer Vielzahl von Kreditnehmern in Anspruch genommen. Dies legt den Schluss nahe, dass es sich bei den vereinbarten Krediten um solche mit marktüblichen Konditionen handelt.52 Das täu-schungsbedingt abgeschlossene Geschäft ist damit marktüb-lich. Leistung (Auszahlung des Darlehens) und Gegenleis-tung (Rückzahlungsanspruch) sind bei einem zu Marktkondi-tionen abgeschlossenen Kredit also grundsätzlich vermö-gensneutral. Ein Schaden entsteht aufgrund des täuschungs-bedingten Risikoungleichgewichts, das den Rückzahlungsan-spruch entsprechend mindert. Sowohl das Instanzengericht als auch der BGH haben grundsätzlich nicht zwischen dem Marktpreis und dem vereinbarten Preis unterschieden bzw. die Gerichte haben es versäumt, die Umstände zu benennen, die einen Rückschluss darauf ermöglichen, dass der verein-barte Preis ein marktüblicher ist. Ein Schaden liegt aufgrund des Risikoungleichgewichts gegenüber einem marktentspre-chenden Rückzahlungsanspruch vor.

Dass der BGH die Entscheidung dennoch aufgehoben hat, liegt daran, dass die Ermittlung des Risikoungleichgewichts durch das Landgericht nicht zu überzeugen vermochte. Eine pauschale Bewertung ganzer Forderungsgruppen kann für das Strafrecht nicht akzeptiert werden.53

Bedauerlich ist, dass der BGH darüber hinaus nicht deut-lich gemacht hat, dass es wenig sachgerecht erscheint, sich an den Bewertungsmaßstäben der geschädigten Bank zu orien-tieren. Zu Recht weist Dannecker darauf hin, dass in Fällen der „Opferbefragung“ die strukturell[e] [...] Neigung zur Überbewertung von Schäden bestehen dürfte.“54

50 C. Dannecker, NStZ 2016, 318 (324). 51 Vgl. etwa Sinn, ZJS 2013, 625. 52 C. Dannecker, NStZ 2016, 318 (326). 53 Becker, NStZ 2016, 345 (346). 54 C. Dannecker, NStZ 2016, 318 (326).

IV. Fazit und Ausblick Mit seiner Entscheidung orientiert sich das Gericht an den Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Scha-densfeststellung beim Kreditbetrug. Die Erwägungen des 3. Strafsenats bleiben aber insgesamt abstrakt und legen den dogmatischen Mangel der Entscheidung in Bezug auf die Schadensfeststellung nicht offen.

Insbesondere für Studentinnen und Studenten des wirt-schaftsstrafrechtlichen Schwerpunktbereichs bietet die hier behandelte Fallkonstellation Gelegenheit, sich speziell mit den Einzelheiten der Schadensbestimmung beim Betrug nä-her auseinanderzusetzen.

Auch wenn das Bezifferungsgebot im Ergebnis materiell-rechtlich nicht geeignet ist, die Auswüchse des sog. Gefähr-dungsschadens einzudämmen, besteht die Hoffnung, dass die Tatgerichte aufgrund des Erfordernisses, den Schaden zu beziffern, bei der Sachaufklärung eine höhere Genauigkeit walten lassen.

Prof. Dr. Janique Brüning, Kiel

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LG Passau, Urt. v. 13.1.2016 – 1 Ns 35 Js 4140/13; AG Erfurt, Urt. v. 26.4.2016 – 880 Js 10703/13 Ds Putzke _____________________________________________________________________________________

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E n t s c h e i d u n g s a n m e r k u n g

Betrug der Kaskoversicherung durch versteckten Rabatt 1. LG Passau: Reicht ein Werkunternehmer aus abgetre-tenem Recht eine Rechnung bei einer Versicherung ein und verschweigt er dabei einen dem Kunden gewährten Rabatt, täuscht er die Versicherung konkludent über die Höhe des vom Kunden geschuldeten Werklohns, was eine Betrugsstrafbarkeit begründet, ohne dass es auf das Vor-liegen einer Garantenpflicht ankommt. 2. AG Erfurt: Lässt ein Werkunternehmer sich die For-derung aus einem Versicherungsvertrag abtreten und verzichtet er gegenüber dem Kunden auf die Geltendma-chung des Selbstbehalts, macht der Unternehmer sich bei der Schadensabrechnung nicht wegen Betrugs strafbar, weil ihn gegenüber der Versicherung keine Offenba-rungspflicht trifft. (Leitsätze des Verf.) StGB §§ 263 Abs. 1, 13 Abs. 1 LG Passau, Urt. v. 13.1.2016 – 1 Ns 35 Js 4140/131 AG Erfurt, Urt. v. 26.4.2016 – 880 Js 10703/13 Ds2 I. Einleitung Ob bei der Regulierung von Hochwasserschäden oder bei der Reparatur von Autos – ist jemand gegen ein Schadensereignis versichert, scheinen dem Einfallsreichtum bei der Darstellung des Schadens und bei dessen Abrechnung oftmals keine Grenzen gesetzt zu sein. Oder anders gesagt: Im Zusammen-hang mit der Geltendmachung von Versicherungsleistungen ist Betrug3 anscheinend ähnlich beliebt wie die Steuerhinter-ziehung in der Gastronomie und bei Handwerkern.

Bereits öfter mussten Gerichte sich mit der Frage befas-sen, ob es erlaubt ist, wenn Werkunternehmer, denen ein Versicherungsnehmer bei einem Versicherungsfall im Zu-sammenhang mit einer Kaskoversicherung4 einen Anspruch gegen seine Versicherung abgetreten hat, bei der Schadensab-rechnung gegenüber dem Kunden auf die Geltendmachung einer im Versicherungsvertrag vereinbarten Selbstbeteiligung verzichten.

Bislang handelte es sich allerdings um zivilrechtliche Verfahren, bei denen es u.a. darum ging zu klären, ob ein Werkunternehmer damit werben darf, dass einem Kunden bei

1 Die Entscheidung ist zu finden unter BeckRS 2016, 12060. 2 www.burhoff.de/asp_weitere_beschluesse/inhalte/3718.htm (13.11.2016). 3 Dazu gehören nicht nur der Versicherungsmissbrauch nach § 265 StGB und der besonders schwere Fall eines (Versiche-rungs-)Betrugs nach § 263 Abs. 3 Nr. 5 StGB, sondern eben auch Konstellationen der vorliegenden Art. 4 Eine Kaskoversicherung greift bei der Zerstörung, Beschä-digung oder dem Verlust des versicherten Gegenstandes ein. Der Begriff „Kasko“ geht zurück auf die Versicherung von Schiffen und das spanische Wort „casco“, das übersetzt „Schiffsrumpf“ bedeutet.

einer Reparatur im Falle einer Selbstbeteiligung und beste-hender Kaskoversicherung ein gewisser Geldbetrag (in der Regel 150 Euro) auf den Preis der Reparatur angerechnet wird. Meist schalteten die Reparaturbetriebe Zeitungsanzei-gen, die als „Gutschein“ deklariert wurden oder in denen versprochen wurde, dass der Auftraggeber (meist ab einer gewissen Schadenssumme, in der Regel 1.000 Euro) bei Auftragserteilung 150 Euro in bar erhalte.5

Scheinbar ganz findige Unternehmer koppelten den Bo-nus an die Bedingung, dass der Auftragnehmer eine Zeitlang (in der Regel ein Jahr) an seinem Auto einen kleinen Werbe-aufkleber mit dem Namen der Reparaturwerkstatt anbringen musste.6 Vor allem den Versicherungen (aber auch Wettbe-werbsverbänden) war dieses Geschäftsgebaren ein Dorn im Auge, weshalb sie die Unternehmer auf Unterlassung ver-klagten. Soweit ersichtlich, bekamen sie dabei Recht: Wegen der Teilnahme an einer unerlaubten Handlung stuften die Zivilgerichte die beanstandeten Aktionen als wettbewerbs-widrig ein – manchmal „nur“ gestützt auf §§ 3, 4 Nr. 1 UWG a.F.,7 manchmal auf §§ 3, 4 Nr. 11 UWG a.F.,8 manchmal gestützt auf § 823 Abs. 1, 2 BGB i.V.m. §§ 263 StGB, 826 BGB9. II. Sachverhalt Obwohl Versicherungen längst dazu übergegangen sind, ihre zivilgerichtlichen Klagen mit Strafanzeigen zu flankieren, und einige Zivilgerichte explizit eine Strafbarkeit nach § 263 Abs. 1 StGB bejaht haben,10 halten die Strafverfolgungsbe-hörden sich – soweit ersichtlich – mit Anklagen wegen Be-trugs weitgehend zurück.11

Recht gegeben hat den Zweiflern kürzlich das AG Erfurt. In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall reparierte ein Unternehmer die Windschutzscheibe eines Kunden und ließ sich dessen Ersatzansprüche gegen die Versicherung ab-treten. Nach Geltendmachung und Auszahlung des jeweiligen

5 Siehe LG Mannheim BeckRS 2005, 05458 bzw. BGH BeckRS 2008, 06874. 6 So der Sachverhalt, über den bereits im Jahr 2005 das OLG Celle (BeckRS 2005, 11456) zu entscheiden hatte; siehe auch OLG Köln BeckRS 2012, 21762; LG Köln BeckRS 2012, 03573. 7 So etwa BGH BeckRS 2008, 06874, Rn. 14 ff.; LG Köln BeckRS 2012, 03573; LG Bonn GRUR-RR 2006, 207. 8 So OLG Frankfurt a.M. GRUR-RR 2006, 414 (415); OLG Celle BeckRS 2005, 11456; OLG Hamm, Urt. v. 21.9.2006 – 4 U 86/06; offengelassen von LG Köln BeckRS 2012, 03573. 9 Vgl. OLG Köln BeckRS 2012, 21762. 10 Etwa OLG Köln BeckRS 2012, 21762; OLG Hamm BeckRS 2005, 06689; LG Mannheim BeckRS 2005, 05458. 11 So etwa die Staatsanwaltschaft Köln, die (ausweislich der Urteilsgründe des OLG Köln BeckRS 2012, 21762) mit Be-scheid vom 1.8.2012 ein Ermittlungsverfahren nach § 170 Abs. 2 StPO einstellte, das den Sachverhalt betraf, über den anschließend das OLG Köln (a.a.O.) zu entscheiden hatte und das von einer Strafbarkeit des Verhaltens ausging (siehe dazu AG Passau, Urt. v. 5.5.2015 – 9 Cs 35 Js 4140/13 = BeckRS 2016, 00341).

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LG Passau, Urt. v. 13.1.2016 – 1 Ns 35 Js 4140/13; AG Erfurt, Urt. v. 26.4.2016 – 880 Js 10703/13 Ds Putzke _____________________________________________________________________________________

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ZJS 6/2016 788

Rechnungsbetrags verzichtete der Werkunternehmer gegen-über dem Kunden darauf, den von diesem mit der Versiche-rung vereinbarten Selbstbehalt einzufordern.

Das AG Erfurt hat den Angeklagten aus rechtlichen Gründen freigesprochen. Zwar habe der Werkunternehmer es unterlassen, die Versicherung auf den Verzicht hinzuweisen, allerdings bestehe eine solche Offenbarungspflicht nicht. Es gebe mangels vertraglicher Vereinbarungen des Werkunter-nehmers zur Versicherung keine unmittelbare vertragliche Mitteilungsverpflichtung. Auch sei der Zessionar nicht in das Vertragsverhältnis zwischen Versicherungsnehmer (Zedent) und Versicherung eingetreten, weshalb ihn keine Offenba-rungs- und Mitteilungspflichten des Versicherungsnehmers treffen. Es fehle mithin an einer Garantenpflicht, weshalb die unterlassene Aufklärung über den (geplanten) Verzicht auf den Selbstbehalt keine Täuschung im Sinne von § 263 Abs. 1 StGB darstelle.

Augenscheinlich nicht bekannt war dem Strafrichter aus Erfurt bei seiner Entscheidung vom 26.4.2016 das Urteil des LG Passau vom 13.1.2016,12 das einen nahezu identischen Sachverhalt betrifft.13 Die Berufungskammer bejahte eine Strafbarkeit nach § 263 Abs. 1 StGB, was nach Auffassung des OLG München frei von Rechtsfehlern war.14

Anders als das AG Erfurt stuft das LG Passau das Verhal-ten des Werkunternehmers nicht als Betrug durch Unterlassen ein. Vielmehr geht die Berufungskammer von einer konklu-denten Täuschung aus. Damit kommt es nicht mehr an auf die Frage, ob den Werkunternehmer gegenüber der Versicherung eine Offenbarungspflicht trifft. III. Rechtliche Würdigung Der Sachverhalt enthält zahlreiche interessante rechtliche Aspekte zur Betrugsstrafbarkeit. 1. Täuschung

Gleich zu Beginn der Prüfung des objektiven Tatbestands ist die Frage zu klären, wie das Verhalten des Werkunterneh-mers zu klassifizieren ist, ob es sich nämlich um eine aus- 12 Ihm zugrunde lag eine Entscheidung des AG Passau v. 5.5.2015 (9 Cs 35 Js 4140/13 = BeckRS 2016, 00341). Der Richter (Direktor des AG Passau) hatte für zwei Betrugs-handlungen eine, nicht zuletzt angesichts der zahlreichen, teilweise sogar einschlägigen Vorstrafen, geradezu lächerli-che Rechtsfolge für tat- und schuldangemessen gehalten (Verwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 Abs. 1 StGB be-zogen auf eine Gesamtgeldstrafe zu 60 Tagessätzen), was die Berufungskammer als „nicht mehr angemessen“ bezeichnete und eine Gesamtgeldstrafe in Höhe von 90 Tagessätzen ver-hängte (für jede der zwei Taten 60 Tagessätze). 13 Anders als das AG Erfurt hat das LG Passau (ebenso wenig wie das AG Passau) es nicht versäumt festzustellen, dass der Werkunternehmer schon vor der Mitteilung bei der Versiche-rung über die Abtretung des Anspruchs und vor Rechnungs-stellung dem Kunden den Selbstbehalt erlassen, diesem also einen (versteckten) Rabatt gewährt hatte. 14 OLG München, Beschl. v. 21.4.2016 – 5 OLG 15 Ss 156/16.

drückliche oder konkludente Täuschung oder eine durch Unterlassen handelt.

Das AG Erfurt hat es nicht für nötig erachtet, sich dazu Gedanken zu machen, sondern das Nichtoffenbaren des Selbstbehaltsverzichts kurzerhand als Täuschen durch Unter-lassen eingestuft und eine Strafbarkeit nach §§ 263 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB mangels Offenbarungspflicht verneint. So ein-fach darf und sollte es sich selbst ein Amtsrichter nicht ma-chen. Zuzustimmen ist dem Gericht allein hinsichtlich der Feststellung, dass in der konkreten Konstellation der Zessio-nar zwar Inhaber der Forderung werde, nicht aber in das Vertragsverhältnis zwischen einem Versicherungsnehmer und „seiner“ Versicherung eintrete, weshalb ihn keine Offen-barungspflicht treffe.

Weitere Zustimmung verdient die Entscheidung nicht: Bevor der Amtsrichter eine Täuschung durch Unterlassen an der fehlenden Garantenpflicht scheitern lässt, hätte er sich damit auseinandersetzen müssen, ob der Werkunternehmer nicht vielleicht falsche Tatsachen ausdrücklich oder konklu-dent vorgespiegelt hat. Das hat der Amtsrichter unterlassen.

Bei einer Täuschung handelt es sich um ein Verhalten mit einem unrichtigen Erklärungswert hinsichtlich Tatsachen, das durch eine Einwirkung auf die Vorstellung einer anderen natürlichen Person zu einem Irrtum führen oder diesen unter-halten kann.15 Welchen Erklärungswert eine Äußerung hat, ist durch Auslegung zu ermitteln. Der Erklärungswert bei einer ausdrücklichen Täuschung ergibt sich primär aus dem unmittelbaren Erklärungstatbestand (meist also schon aus dem Wortlaut), ohne dass es bei der Auslegung des Erklä-rungswertes und der Bestimmung des falschen Erklärungsin-halts auf die Verkehrssitte oder den Empfängerhorizont an-kommt.16

Davon ausgehend lässt sich in der hier diskutierten Kons-tellation durchaus (schon) eine ausdrückliche Täuschung be-jahen. Wenn A dem B von einer Geldschuld in Höhe von 40 Euro bereits 20 zurückgezahlt hat und B nach einigen Mona-ten von A, der sich an die Teilrückzahlung nicht mehr erin-nert, wider besseres Wissen 40 Euro verlangt und erhält, dann käme wohl niemand ernsthaft auf die Idee, eine betrugsrele-vante Täuschung durch aktives Tun zu verneinen. Vielmehr hätte B eine Tatsache mit unrichtigem Erklärungswert be-hauptet und damit bei A den Irrtum erregt, dass er dem B noch 40 Euro schulde. Der Fall liegt nicht anders, als wenn jemand gegenüber irgendwem und vollkommen aus der Luft gegriffen behauptete, es sei noch eine Geldschuld von 40 Euro offen. Das wäre zweifellos eine ausdrückliche Täu-schung. Es gibt keinen Grund, dies bei dem gebildeten „Teil-schuld-Beispiel“ anders zu sehen. Dann aber täuscht auch der Werkunternehmer ausdrücklich, nämlich über die tatsächli-che Höhe seines Zahlungsanspruchs, denn er nennt der Versi-cherung eine falsche Höhe der tatsächlich angefallenen Repa-raturkosten.

15 Vgl. OLG Bamberg NStZ 1982, 247; Fischer, Strafgesetz-buch und Nebengesetze, Kommentar, 63. Aufl. 2016, § 263 Rn. 14. 16 Siehe dazu Gaede, in: Leipold/Tsambikakis/Zöller (Hrsg.), AnwaltKommentar StGB, 2. Aufl. 2015, § 263 Rn. 25.

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LG Passau, Urt. v. 13.1.2016 – 1 Ns 35 Js 4140/13; AG Erfurt, Urt. v. 26.4.2016 – 880 Js 10703/13 Ds Putzke _____________________________________________________________________________________

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Aber selbst wenn man eine ausdrückliche Täuschung ver-neint, kommt man an einer konkludenten kaum vorbei. Die Annahme einer Täuschung durch schlüssiges Verhalten ver-letzt nicht den allgemeinsprachlich noch möglichen Wortsinn des § 263 Abs. 1 StGB („durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen“) und ist mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar.17 Ob eine konklu-dente Täuschung gegeben ist, „bestimmt sich nach dem ob-jektiven Empfängerhorizont, der unter Berücksichtigung der Gesamtumstände und der Verkehrsanschauung festzulegen ist“18.

Das LG Passau19 hat sich mit genau dieser Frage befasst und eine konkludente Täuschung bejaht: „Indem der Ange-klagte […] jeweils die Originalrechnung vorlegte und die Erstattung des um die Selbstbeteiligung zu mindernden Rechnungsbetrages begehrte, erklärte der Angeklagte konk-ludent, im Wege der Abtretung einen Anspruch in eben die-ser Höhe gegen die jeweilige Versicherungsgesellschaft er-halten zu haben. Dies entsprach tatsächlich jedoch nicht der Wirklichkeit, nachdem durch die Rabattgewährung an die jeweiligen Kunden der … entstandene Werklohnanspruch […] teilweise in Höhe des gewährten Rabatts […] erloschen war. Dies bedeutet, dass […] auch nur in entsprechend ver-minderter Höhe ein jeweiliger Erstattungsanspruch gegen die Versicherungsgesellschaft, der schließlich der Abtretung zugänglich war, entstanden sein konnte. Nur dieser vermin-derte Erstattungsanspruch konnte von den Werkbestellern folglich an die Unternehmerin (Autoglas-Fachbetrieb) abge-treten werden. Indem der Angeklagte jedoch ohne Hinweis hierauf einen höheren Rechnungsbetrag beanspruchte, täuschte er die jeweilige Versicherungsgesellschaft, bei der jeweils ein entsprechender Irrtum entstand.“

Die Überlegungen der Passauer Richter sind überzeugend und richtig. Bei dem Verzicht auf den Selbstbehalt handelt es sich um einen Preisnachlass (Rabatt), der an die Versicherung weitergegeben werden muss: „Die Gewährung des Preisvor-teils kann von dem zu Grunde liegenden Werkvertrag nicht getrennt werden. Sie führt im Ergebnis zu einer Reduzierung des Werklohns.“20 Der ermäßigte Preis bildet den ersatzfähi-gen Schaden.21 Das ergibt sich auch aus den Allgemeinen Bedingungen für die Kraftfahrtversicherung, wonach die Versicherung nur verpflichtet ist, den Schaden abzüglich der vereinbarten Selbstbeteiligung zu ersetzen.22

Indem der Werkunternehmer den Schaden bei der Versi-cherung geltend macht, erklärt er nach der bei der Abrech-nung von Kasko-Versicherungsleistungen geltenden Ver-

17 BVerfG NJW 2012, 907 (915); BGH NJW 2013, 883 (884). 18 BGH NJW 2013, 883 (884). 19 LG Passau BeckRS 2016, 12060, V. 20 OLG Frankfurt a.M. GRUR-RR 2006, 414 (415); ebenso OLG Celle BeckRS 2005, 11456. 21 Siehe auch Richter, SVR 2013, 306. 22 A.2.5.8 AKB 2015 (Stand: 6.7.2016), abrufbar unter http://www.gdv.de/wp-content/uploads/2016/07/AKB2015_Stand_Juli_2016.pdf (13.11.2016).

kehrsanschauung und dem dort bestehenden objektiven Emp-fängerhorizont in konkludenter Weise,23 dass der angesetzte Werklohn dem Betrag entspricht, zu dessen Ersatz die Versi-cherung gegenüber ihrem Versicherungsnehmer verpflichtet gewesen wäre.24 2. Irrtum und Vermögensverfügung

Durch die (konkludente) Täuschung hat der Rechnungssteller bei dem Sachbearbeiter der Versicherung einen Irrtum erregt. Dieser ging – jedenfalls in Form des sachgedanklichen Mitbewusstseins – davon aus, dass der Werkunternehmer gegenüber dem Versicherungsnehmer weder auf die Selbst-beteiligung verzichtet hat noch darauf verzichten wird. Die Überweisung des Werklohns mindert das Vermögen der Versicherung in Höhe des Selbstbehalts. 3. Vermögensschaden

Der Vermögensschaden beläuft sich auf die Differenz zwi-schen dem tatsächlich ausbezahlten Betrag und demjenigen, den die Versicherung gesetzlich verpflichtet gewesen wäre zu zahlen. Beispielhaft: Beläuft der Rechnungsbetrag sich auf 500 Euro und die Selbstbeteiligung auf 150, steht dem Werk-unternehmer eine Forderung gegen die Versicherung in Höhe von 350 Euro zu und mit Blick auf den Auftraggeber von 150 Euro. Erlässt der Werkunternehmer ihm diesen Betrag, be-läuft der für die Herstellung erforderliche Geldbetrag sich auf 350 Euro, wovon die Versicherung den als Selbstbeteiligung im Versicherungsvertrag vereinbarten Betrag abzuziehen berechtigt ist. Damit ist sie verpflichtet, 200 Euro an den Werkunternehmer zu zahlen. Zahlt sie täuschungsbedingt 350, beläuft der Schaden sich auf 150 Euro, sprich auf die Höhe des Selbstbehalts.25

Ein Schaden läge selbst dann vor, wenn der Werkunter-nehmer mit dem Kunden einen „Werbepartner-Vertrag“ ab-schließt, indem sich dieser etwa verpflichtet, eine Zeitlang einen Werbeaufkleber an seinem Auto anzubringen. Diese Varianten dienen in der Regel allein der Verschleierung des gewährten Preisnachlasses in Form des Verzichts auf den Selbstbehalt.26 4. Vorsatz, Bereicherungsabsicht, Stoffgleichheit

Da der Angeklagte nach den gründlichen Ausführungen in der Urteilsbegründung des LG Passau auch alle objektiven Umstände des Betrugstatbestandes kannte, war sein Vorsatz zu bejahen. Unzutreffend hat das Landgericht allerdings die

23 Zu den bei der Bestimmung des Umfangs der konkludenten Täuschung geltenden Maßstäben siehe BGHSt 51, 165 (169 ff.); Gaede (Fn. 16), § 263 Rn. 25. 24 Das AG Passau (Urt. v. 5.5.2015 – 9 Cs 35 Js 4140/13 = BeckRS 2016, 00341) spricht in diesem Zusammenhang von einer „schwach ausgeprägten Täuschung“, was weder ein Rechtsbegriff ist noch etwas an der Bejahung einer Täu-schung zu ändern vermag. 25 LG Passau BeckRS 2016, 12060, V. 26 Zutreffend OLG Köln BeckRS 2012, 21762; OLG Celle BeckRS 2005, 11456; LG Köln BeckRS 2012, 03573.

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LG Passau, Urt. v. 13.1.2016 – 1 Ns 35 Js 4140/13; AG Erfurt, Urt. v. 26.4.2016 – 880 Js 10703/13 Ds Putzke _____________________________________________________________________________________

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ZJS 6/2016 790

Selbstbereicherungsabsicht verneint und Drittbereicherungs-absicht angenommen. Die Begründung lautet wie folgt:

„Dem Angeklagten wird hierbei nicht unterstellt, er habe mit seinem Verhalten darauf abgezielt, sich selbst […] zu bereichern, da er […] nach seinem Vorstellungsbild auf einen Betrag i.H.v. je 150 Euro dauerhaft und endgültig verzichten wollte und damit gerade keine Vermögensmehrung zuguns-ten […] sich selbst avisierte. Allerdings ging es dem Ange-klagten in beiden Fällen darum, dem jeweiligen Kunden eine Zahlung im Umfang von 150 Euro zu ersparen, so dass inso-weit ein Fall der Drittbereicherungsabsicht gegeben ist.“27

Der Angeklagte wollte keineswegs auf „150 Euro dauer-haft und endgültig verzichten“. Ganz im Gegenteil profitierte er unmittelbar davon, dass er den Verzicht auf den Selbst-behalt gegenüber der Versicherung verschwieg. Anhand des zuvor beim Vermögensschaden vorgetragenen Beispiels wird dies deutlich: Bei Offenlegung des Verzichts hätte der Werk-unternehmer keine 350 Euro, sondern nur 200 von der Versi-cherung erhalten. Auf die Differenz von 150 Euro bezog sich seine Bereicherungsabsicht.

Die Berufungskammer irrt auch in einem weiteren Punkt. Zur Drittbereicherungsabsicht heißt es: „Nach der Vorstel-lung des Angeklagten korrespondiert diese zielgerichtet avi-sierte Bereicherung der Kunden auch mit dem seitens der Versicherungsgesellschaften zu beklagenden Vermögens-schaden, so dass von der erforderlichen Stoffgleichheit aus-zugehen ist.“28 – Das ist nicht richtig. Bei der Stoffgleichheit muss der erstrebte Vermögensvorteil die Kehrseite des Scha-dens darstellen, was der Fall ist, wenn er unmittelbare Folge der täuschungsbedingten Vermögensverfügung ist und dem Täter direkt aus dem geschädigten Vermögen zufließt.29 Da-von kann im vorliegenden Fall nun gar keine Rede sein: Der Schaden bei der Versicherung (durch die Zahlung des Rech-nungsbetrags) und der Vorteil beim Kunden (durch den Er-lass des Selbstbehalts) beruhen nicht auf derselben Vermö-gensverfügung.

Auf die Strafbarkeit wirkt sich dies freilich nicht aus: Bei der Selbstbereicherung ist Stoffgleichheit gegeben. 5. Verbotsirrtum (§ 17 StGB)

Schließlich hat das LG Passau zutreffend einen Verbotsirrtum (§ 17 S. 1 StGB) verneint. Der Angeklagte hatte sich näm-lich, kaum überraschend, damit verteidigt, dass er bei Tatbe-gehung der Auffassung gewesen sei, das von ihm gewählte rechtliche Konstrukt sei zulässig und er habe sich nicht straf-bar gemacht. Das weist das LG zurück, weil „die einschlägi-ge Problematik der breiten Öffentlichkeit seit vielen Jahren […] bekannt ist“ und es „völlig abwegig und lebensfremd“ erscheine, dass dies „ausgerechnet dem Angeklagten als lang-jährigem Gewerbetreibenden im Autoglasfach verborgen ge-blieben wäre“30.

Ohnehin wäre ein Verbotsirrtum vermeidbar gewesen. Nach der Rechtsprechung ist ein Verbotsirrtum nur dann

27 LG Passau BeckRS 2016, 12060, V. 28 LG Passau BeckRS 2016, 12060, V. 29 Siehe nur BGH NStZ 2003, 264. 30 LG Passau BeckRS 2016, 12060, IV. a.E.

unvermeidbar, „wenn der Täter trotz der ihm nach den Um-ständen des Falles, seiner Persönlichkeit sowie seines Le-bens- und Berufskreises zuzumutenden Anspannung des Gewissens die Einsicht in das Unrechtmäßige seines Han-delns nicht zu gewinnen vermochte. Das setzt voraus, dass er alle geistigen Erkenntniskräfte eingesetzt und etwa aufkom-mende Zweifel durch Nachdenken oder erforderlichenfalls durch Einholung von Rat beseitigt hat.“31

Mit Fug und Recht darf davon ausgegangen werden, dass Reparaturbetrieben im Zusammenhang mit dem Erlass einer Selbstbeteiligung, der gegenüber der Versicherung ver-schwiegen wird, sehr wohl die rechtliche Problematik be-wusst ist. Anlass zur Erkundigung bestand allemal. Eine Rechtsauskunft hätte ergeben, dass bislang zahlreiche Gerich-te das Vorgehen als rechtlich unerlaubt und teilweise sogar als strafrechtlich missbilligt angesehen haben. Für einen unvermeidbaren Verbotsirrtum bleibt daher kein Raum. IV. Fazit Nachdem sogar ein Strafsenat des OLG München die Be-trugsstrafbarkeit der hier dargestellten Konstellation gebilligt hat, ist nicht zu erwarten, dass das AG Erfurt mit seiner be-gründungsarmen Rechtsprechung Nachahmer findet. Zusam-menfassend bleibt Folgendes festzuhalten: Wer als Werk-unternehmer aus abgetretenem Recht eine Rechnung bei einer Versicherung einreicht und verschweigt, dass er dem Kunden den Selbstbehalt erlassen hat oder dies beabsichtigt, macht sich wegen Betrugs gemäß § 263 Abs. 1 StGB strafbar. Dabei sollte selbst ein Ersttäter besser nicht darauf hoffen, nur eine Verwarnung mit Strafvorbehalt zu erhalten.32

Prof. Dr. Holm Putzke, LL.M., Passau/Wiesbaden

31 BGH NStZ 2000, 307 (309). 32 Das war die Rechtsfolge, die ursprünglich das AG Passau verhängt hatte, bevor das LG Passau diese Entscheidung zu Recht korrigierte und für zwei Betrugsfälle mit Einzelstrafen von je 60 Tagessätzen eine Gesamtgeldstrafe in Höhe von 90 Tagessätzen ausurteilte (siehe dazu schon oben Fn. 12).

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Zwickel/Lohse/Schmid, Kompetenztraining Jura Fuhrmann _____________________________________________________________________________________

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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 791

B u c h r e z e n s i o n

Martin Zwickel/Eva Julia Lohse/Matthias Schmid, Kompe-tenztraining Jura – Leitfaden für eine Juristische Kompetenz- und Fehlerlehre, Walter de Gruyter, Berlin 2014, 280 S., € 19,95. Die Probleme der Wirklichkeit rechtlich erfassen und anhand des Gesetzes einer praktikablen Lösung zuführen zu können ist zentrale Voraussetzung für den Erfolg im juristischen Studium. Nur wer in der Lage ist, Sachverhalte abstrakt in ihre kleinsten Bestandteile zu zerlegen und gezielt schlüssig einer Lösung zuzuführen, wird später Erfolg haben.

Mit „nur lernen“ ist es im Jurastudium jedoch nicht getan. Allzu oft werden Fehler durch falsche Herangehensweisen angelernt und mit ihnen die Weiche für Erfolg in Studium und Beruf oft ungünstig gestellt. Das im Mai 2014 erschiene-ne Buch „Kompetenztraining Jura“ von Zwickel, Lohse und Schmid hat sich das Ziel gesetzt, „Fehler im Jurastudium“ aufzuzeigen. Dem Leser wird dabei anhand zahlreicher Bei-spiele die Möglichkeit gegeben, die eigene Lern- und Ar-beitstechnik nachhaltig zu verbessern. Anders als die meisten Lehrbücher geht es hier nicht um Stoffvermittlung, sondern gezielt um Problemlösung bei der Herangehensweise an das juristische Arbeiten.

Pädagogisch wertvoll zeigt das Werk anhand seiner Un-terteilung nahezu alle erdenklichen Fehlerquellen auf und hilft so frühzeitig Fehler zu vermeiden, bevor diese überhaupt entstehen. Das Buch ist in vier große Themengebiete geglie-dert.

Der erste Teil „Fehlende Organisation“ zeigt wie fehlende Informationen, falsche Erwartungen, mangelhafte Zeitpla-nung, fehlende Motivation und fehlendes Feedback erfasst und bewältigt werden können.

Im zweiten Teil „unsaubere Arbeitstechniken“ wird deut-lich, dass Fehler nicht nur beim Schreiben, sondern bereits beim Normverständnis ansetzen und deshalb Klausuren oft nicht wegen fehlendem Wissen, sondern einfach nur wegen falscher Vorstellungen der Norm als nicht mehr ausreichend erachtet werden können.

Das Buch zeigt hierbei eindrucksvoll, wie die allseits be-kannte Korrekturanmerkung „Zu kurz“/„Fehlende Gewich-tung“ vermieden werden können und der Leser sich selbst in die Lage versetzt fühlt, endlich „richtig“ gewichten zu kön-nen.

Im dritten Teil „fehlende Übung“ wird deutlich, dass es mit dem „Lernen“ an sich nicht getan ist. So wie ein „guter“ Anwalt seine Copy & Paste Schriftsätze in Jahren der Be-rufspraxis mühevoll erstellt hat und doch für jedes Mandat flexibel zu gestalten vermag, müssen die Studenten selbst in der Lage sein, Gelerntes anzuwenden. Wiederholung und Transferdenken sparen hierbei Zeit und helfen Neues anhand bereits Eingeübtem sicher zu meistern und so auch neuen Aufgaben gegenüber sicher bestehen zu können.

Im vierten Teil wird anschaulich das Thema „falsches Lernen“ erörtert. Besonders eindringlich warnt das Buch seinen Leser vor „punktuellen/kurzfristigen Lernen“, bei dem der Lernstoff 1-2 Wochen vor der Prüfung „reingepaukt“

wird und bereits am Tag nach der Prüfung nicht mehr ver-fügbar ist.

Maßgeschneiderte Übungsfälle und Checklisten am Ende des Buches helfen dabei, sich selbst zu strukturieren und zu organisieren.

Eine weitere Besonderheit des Buches liegt in der Einbin-dung interaktiver QR-Codes. Diese verweisen auf exklusive Videos, die dem Leser das Gelesene in Bild und Ton noch einmal digital vor Augen führen.

Die Sprache ist leicht verständlich. Mit über fünf Seiten Literaturverzeichnis und über 280 Fußnoten liefert das Werk weiterführende Literatur zur individuellen Vertiefung. Der Stil ist einprägsam und lebendig.

Das sagen Studenten über das Buch: „Mir als Student hat das Buch gezeigt, dass es in Jura

eben nicht nur auf das Wissen, sondern auch die Technik, dieses Wissen richtig zu erfassen, anwenden und konservie-ren zu können, ankommt“. Sandra L., stud. iur. 2. Semester.

„Besonders gut haben mir die Checklisten am Ende gefal-len. Dank ihnen ist es mir möglich punktgenau potentielle Schwächen und Stärken meiner Arbeiten auszumachen und so nachhaltig für Studium und Beruf meine Arbeitsweise zu optimieren“. Mark P., stud. iur., 5. Semester.

Dank innovativer Ansätze hat das Buch das Potential das neue Standardwerk für Kompetenz in Studium und Lehre zu werden. Das Werk ist daher uneingeschränkt sowohl Studi-enanfängern, als auch Examenskandidaten zu empfehlen.

Florian Fuhrmann, Erlangen