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RICHARD HAVERS Aus dem Englischen von Tracey Evans und Reinhold Unger THE FINEST IN JAZZ SINCE 1939

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Aus dem Englischen von Tracey Evans und Reinhold Unger

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Plakate und Programmausschnitte für das erste von Blue Note veranstaltete Konzert: Jamming In Jazz am 15. Dezember 1945

OBEN

Eine Auswahl der frühesten »Waschzettel« genannten Presseinformationen und Innenhüllen von Blue Note. Oben links der Waschzettel des allerersten Blue-Note-Albums The Blues, ein Klappalbum mit zwei 78-UpM-Schallplatten im 12-Inch-Format

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Art Blakey im Oktober 1958 im Cork & Bib, Long Island

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Musik hörten. Bei der Händlerkonferenz im Juni 1948 hielt ein Manager von Colum-bia Records seine Rede, während – für alle in einem großen Spiegel sichtbar, der über dem Plattenteller aufgehängt war – eine 33-UpM-LP Tschaikowskys Nussknacker-Suite spielte. Als die 18-minütige Platten-seite (mehr als viermal länger als 78-UpM-Platten) endete, gab es stehenden Beifall. Innerhalb eines Jahres besaßen eine Mil-lion US-Haushalte Abspielgeräte für LPs – die Welt der Umdrehungen hatte sich wei-tergedreht. Anfangs wurden 10-Inch-LPs zu 4,95 Dollar verkauft. Um den Vertrieb der Abspielgeräte zu fördern, bot man einen Philco-Plattenspieler zu 29,25 Dollar an, drei Gratis-LPs inklusive – eine clevere Marketingidee.

Die Herausforderung für Blue Note bestand im Transfer des 78-UpM-Katalogs auf 10-Inch-LPs, und der Firma fehlte es schlicht an den Mitteln dafür. Es herrschte Ebbe, beim Label wie in Lions Taschen. Seine Ehe war gescheitert, und er war – zweifellos im Bemühen zu sparen, um das Label über Wasser zu halten – nach New Jersey gezogen. 1950 betreute Lion nur zwei Einspielungen: eine mit Bechet, die andere mit McGhee. Die Aufnahmen zu reduzieren war wohl eine weitere Spar-maßnahme während des Umstiegs von 78er-Platten auf 33er-LPs. Für den Wechsel musste Blue Note seine eingelagerten Ace-tate auf Bänder übertragen, aus denen man LP-Masterbänder herstellen konnte.

Das neue Format brachte zusätzliche Kosten für die Herstellung individueller Albumhüllen mit sich. Sie waren teurer als einfache 78-UpM-Papierhüllen, die eine Einheitslösung in Massenanfertigung waren. Als Blue Note im September 1950 mit seinen 10-Inch-LPs herauskam, lan-

cierte das Label zwei Reihen. Die Erste baute auf den Sessions mit Bechet auf. Sie startete mit der Blue-Note-LP 7001 von Sidney Bechet und war traditionellem Jazz gewidmet. Die Zweite, eine Modern-Jazz-Reihe, erschien zum selben Termin. Der erste Titel, die Blue-Note-LP 5001 Mellow The Mood, war eine eigenwillige Kompila-tion von Stücken, die Edmond Hall, Ike Quebec und John Hardee zwischen 1941 und 1946 eingespielt hatten.

Die ersten sechs Alben, zum Preis von 3,75 Dollar, kamen mit Hüllen heraus, die der 27-jährige New Yorker Paul Bacon entworfen hatte. Der begeisterte Jazzfan arbeitete in einer kleinen örtlichen Werbe-agentur und hatte Lion im Newark Hot Club kennengelernt. Bacons Entwürfe für Alben wie Thelonious Monks Genius of Modern Music waren von David Stone Martin beeinflusst, der Cover für Clef Records gestaltete. Aber es gab einen klaren Unterschied. Bacon verwendete für die Cover gelegentlich Musikerfotos von Francis Wolff; sie trugen dazu bei, dass sich die Cover abhoben.

Angesichts des Vorrats an Aufnahmen, die als LPs neu aufgelegt werden konnten, schien Blue Note wenig Bedarf an neuem Material zu haben. Aber eine Prämisse der Musikbranche sind neue Produkte, und so stieg die Zahl der Einspielungen von zwei im Jahr 1950 auf sechs im Jahr 1951: Je - weils eine stammte von Bechet, Sidney De Paris (der auch traditionellen Jazz spielte), Monk und Bud Powell sowie zwei von einem neuen Pianisten, dem 19-jähri-gen Wynton Kelly. Er nahm später mit Billie Holiday das Original von Lady Sings the Blues auf, arbeitete damals aber noch mit Dinah Washington. Einer der acht Songs, die Kelly bei seiner ersten Session

GEGENÜBER

Paul Bacon, der Blue Notes erste LP-Cover gestaltete, war das entscheidende Bindeglied zwischen dem frühen Design der Alben und dem Stil, den Reid Miles später bekannt machte.

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LD aufzeichnete, war Born To Be Blue, ein

Track, der sein schönes, entspanntes und verführerisches Spiel perfekt zur Geltung bringt.

Nach Bechets Session im November 1951 vergingen fünf Monate bis zur nächs-ten Aufnahme. Dieser Musiker hatte bereits für Blue Note aufgenommen, den-noch mag diese Session als Aufbruch des Labels in die Jazzmoderne gelten. Milt Jackson war 1948 mit Monks Band für Blue Note im Studio gewesen. Im April 1952 aber spielte er mit Lou Donaldson am Sax, mit dem Pianisten John Lewis, Percy Heath am Bass und Kenny Clarke am Schlagzeug – der Keimzelle des Modern Jazz Quartet.

Einen Monat später war Miles Davis mit seinem Sextett, darunter J. J. Johnson an der Posaune und Jackie McLean am Altsax, im Studio. Es folgten Monks letzte Sessions für Blue Note – eine unter der Leitung von Lou Donaldson im Mai und eine weitere im Juni, die der Posaunist

Vic Dickenson leitete. Die nächste Einspie-lung im Oktober war der Auftakt zu einem Wandel bei Blue Note.

Als Horace Silver mit Bassist Gene Ramey und Art Blakey aufnahm, hatte der Pianist eben erst seinen 24. Geburtstag gefeiert. Stan Getz hatte Silver in einem Klub in Hartford, Connecticut entdeckt. Der Saxophonist nahm ihn mit auf Tour - nee und 1950 auch erstmals mit ins Studio. Lion und Silver lernten sich im Birdland kennen, dem Klub am Broadway, wo der Pianist montagabends fest engagiert war. Lion ließ Silver zunächst mit Lou Donald-son aufnehmen, bevor er ihm eine eigene Session gab. Es war der Anfang einer langen, fruchtbaren Beziehung zwischen Pianist und Label, die bis in die späten 1970er-Jahre fortdauern sollte.

Auch wenn LPs der letzte Schrei waren, was Plattenfirmen – große wie kleine – wirklich wollten, waren Kassenschlager, ob an den Musikboxen oder im Direktverkauf. Die Billboard-R-&-B-Charts des Jahres 1951 lassen erste Spuren von Rock ’n’ Roll erkennen: Jackie Brenstons Rocket 88, die vielen als erste Rock-’n’-Roll-Platte gilt (nicht mir), landete im Juni 1951 auf Platz 1,

just als Blue Note Sidney De Paris’ Blue Note Stompers aufnahm. Auch Lion und Wolff waren auf der Suche nach Hits, und in den Jahren 1951 und 1952 brachte Blue Note zahlreiche Singles von Monk, Bud Powell, Wynton Kelly, Milt Jackson und Miles Davis heraus. Blue Note erwarb sogar Lizenzen für Material, das der Schlag-zeuger Max Roach in Paris für das franzö-sische Label Vogue eingespielt hatte, und veröffentlichte drei Singles. Weder diese noch andere Platten von Blue Note kamen in die Charts, aber sie trugen dazu bei, Blue Note bekannt zu machen.

Hatte sich im Output von Blue Note 1952 eine neue Richtung nur angedeutet, so kam es Ende Januar 1953 zu einer Um - wälzung im Programm des Labels. Gil Mellé weckte Lions Interesse mit vier Titeln, die der Tenorsaxophonist in einem Studio in Hackensack, New Jersey, einge-spielt hatte. Lion sagte zu, sie als Singles herauszubringen, und bot Mellé einen Plattenvertrag an.

So interessant Mellés Musik aus der Session im Januar 1953 war, der wirkliche Unterschied bestand im Studio, im Ton-ingenieur und im einzigartigen Klang der

Aufnahme. Es war Rudy Van Gelders erste Session für Blue Note, und sie fand im Wohnzimmer seiner Eltern in Hackensack statt.

Das erste Stück, das Mellé mit seiner Band, zu der der Posaunist Eddie Bert und der Gitarrist Tal Farlow zählten, aufnahm, war Cyclotron. Einfach hinhören: Die Klang qualität ist – verglichen mit allem, was Blue Note in den 13 Jahren davor auf-genommen hatte – umwerfend. Der Klang, den Van Gelder erzielte, war so hip wie das Label und die Musik; er hatte die Gabe, Zuhörern das Gefühl zu vermitteln, sie befänden sich mit den Musikern in einem Raum.

Mellé, der mit 15 begonnen hatte, in den Klubs von Greenwich Village aufzu-treten, spielte seine erste volle Session für Blue Note im Alter von knapp 21 ein. Seine Musik entspringt einem melodischen Jazz-stil, dessen Popularität bis heute ungebro-chen ist, dem Jazzfans jedoch nicht mehr den hohen Stellenwert einräumen, den er

ICH HABE, WAS ER TAT, IMMER ZUTIEFST

GESCHÄTZT UND GAB IHM ALLE FREIHEITEN,

DIE ER WOLLTE.

Alfred Lion über Horace Silver

OBEN

Miles Davis‘ All Stars bei Aufnahmen im April 1953 in den WOR Studios in New York

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Organisten – man stelle sich einen Horace Silver an der Orgel vor. Er ist heute nicht mehr in Mode, aber das bedeutet nicht, dass Roach nicht hörenswert wäre.

Big John Patton war mit seiner rück-haltlosen, groß klingenden Hammond, die wie bei Smith wogte und pulsierte, der Inbegriff von Soul-Jazz an der Orgel. Sein Debüt Along Came John, mit sowohl Fred Jackson als auch Harold Vick am Tenorsax, ist ein Klassiker des Genres. Aber es ist seine Chemie mit Grant Green und Ben Dixon am Schlagzeug, die dieses Album so gut macht – es ist Jazz mit echtem Groove.

Anfang Frühling 1962 gab Billboard bekannt, dass Jimmy Smith eine Single für Verve Records aufnehmen würde, obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch bei Blue Note war – ein Umstand, den der Artikel betonte. Die Single, um die es ging, war Walk on the Wild Side mit dem Oliver Nelson Orchestra

für den gleichnamigen Film. Tatsächlich spielte Smith mit Nelson genug Material für ein ganzes Album ein, dazu einige Tracks mit seinem eigenen Trio. Bashin’: the Unpredictable Jimmy Smith erschien Ende Mai 1962 bei Verve. Es kam auf Platz 10 der Billboard-Albumcharts. Die- ser Erfolg folgte dem von Smiths erstem Album, das es auf die Bestsellerliste schaffte: Midnight Special (BN 4078) kam heraus, kurz bevor er für Verve aufnahm.

Jimmy Smith unterschrieb im Februar 1963 einen langjährigen Vertrag mit Verve, woraufhin er ironischerweise prompt wie-der mit einem Blue-Note-Album, dem fabelhaften Back at the Chicken Shack, in die Billboard-Charts kam. Zur gleichen Zeit landete Smiths Filmmusik in den Pop-Singles-Charts. Blue Note brachte das bis dahin nie da gewesene Publizität, während Verve von den bedeutenden Umsätzen des Organisten profitierte.

Verve Records war aber nicht mehr das unabhängige Label, das es bei der Grün-dung durch Norman Granz in den 1950er-Jahren gewesen war. Er hatte die Platten-firma 1960 an MGM Records verkauft, ein Unternehmen, das das Geld besaß, Smith von Blue Note wegzulocken, und das Marketing- und Vertriebsteam, um Smiths Karriere voranzutreiben.

Der Tenorsaxophonist Stanley Turren-tine nahm für Blue Note im April 1960 erstmals ein paar Tage vor seinem 26. Ge- burtstag auf, als er an Dizzy Reeces Ses-sion teilnahm; diese Aufnahmen wurden damals nicht veröffentlicht. Seine zweite Session vor Monatsende war für Jimmy Smiths Alben Midnight Special und Back At The Chicken Shack. Turrentine hatte Erfahrung im Spiel mit Organisten; er war mit Shirley Scott verheiratet, einer Orga-nistin, die ihre erste Platte 1958 bei Pres-tige aufgenommen hatte.

Im Juni gab man Turrentine seine eigene Aufnahmesession. Er nahm Look Out mit Horace Parlan am Klavier auf. Es folgte eine ganze Serie von Platten für Blue Note,

HIER IST EIN WEITERES ENERGIEPAKET VON EINEM

ALBUM VON SMITH UND DEM LABEL BLUE NOTE.

EINE KOMBINATION, DEREN BODENSTÄNDIGER SOUND SCHON MIDNIGHT SPECIAL

ZU EINEM GEWINNER GEMACHT HAT.

Billboard, 16. Februar 1963

OBEN

Jimmy Smith, Midnight Special (1961)

GEGENÜBER

Jimmy Smith beim Fotoshooting für das Cover von Midnight Special

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LEE MORGAN GAB sein Debüt in der Jazzszene mit 18 Jah-ren in Dizzy Gillespies Big Band. Diese Aufnahmesession hier fand acht Jahre später statt. Sie beweist, dass er einer der besten Trompeter seiner Generation war. Alle fünf Stü-cke auf seinem achten Blue-Note-Album hat Morgan selbst geschrieben, und das Auftaktstück ist ohne Frage einer der neuen Jazzstandards.

The Sidewinder ist ein Ohrwurm; hat man das Stück ein-mal gehört, vergisst man es nie wieder. Auch wenn es auf der Platte zuerst kommt, es war das zuletzt aufgenommene Stück; verwendet wurde Take Nr. 25 – es brauchte also eine Reihe von Anläufen, bis es saß. Morgan schrieb das Stück »vor Ort«, und diese Spontaneität verleiht dem Stück über die Laufzeit von 10:25 Minuten hinweg Frische. Dies ist funky Jazz, von Billy Higgins, einer Blue-Note-Stammkraft der 1960er-Jahre, am Schlagzeug und Bob Cranshaw am Bass in unerbittlichem Tempo vorangetrieben. Harris‘ Kla-vierspiel (in seiner nach 1956 erst zweiten Session für Blue Note) ist etwas zögerlich, aber das ist nur eine kleine Spitzfindigkeit.

Hätte The Sidewinder nur das Titelstück zu bieten, wäre es immer noch sein Geld wert – das ganze Album ist hervor-ragend. Die besten der übrigen Stücke sind Totem Pole und Hocus Pocus, doch hat jeder Track etwas, das ihn auszeich-net – und sei es nur ein großes Thema – und Morgans Ruf als ausgezeichneter Komponist belegt. Henderson, beein-flusst von Sonny Rollins, ist auf jedem Stück in Bestform.

Down-Beat-Kritiker Harvey Pekar war von dem Album erkennbar beeindruckt, hielt sich jedoch mit uneingeschränk-tem Lob zurück und bewertete es nur mit dreieinhalb von fünf Sternen. Die Geschichte fällte ein weit günstigeres Urteil über die Platte, die heute als Blue-Note-Klassiker gilt. Lion ging mit weniger als 5 000 Kopien an den Start, musste aber bald immer wieder nachpressen lassen. Die LP erreichte Platz 25 der Billboard-Charts – was zum Teil dem Erfolg der Single zu verdanken war – und hielt sich über ein halbes Jahr auf der Bestsellerliste. Eine Kurzfassung von The Sidewinder kam in die Billboard-Singlecharts – fast beispiellos für Blue Note und den Jazz. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Aufnahme findet das Album immer noch neue Anhänger.

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T H E S I D E W I N D E R (1964)

L E E M O R G A N

PRODUZENT Alfred Lion FOTOS Francis Wolff GESTALTUNG Reid Miles

AUFGENOMMEN Rudy Van Gelder Studio, Englewood Cliffs, New Jersey, 21. Dezember 1963

LEE MORGAN – Trompete / JOE HENDERSON – Tenorsax / BARRY HARRIS – Klavier /

BOB CRANSHAW – Bass / BILLY HIGGINS – Schlagzeug

MORGANS STIL HAT SICH GEWANDELT. ER ÄHNELT LÄNGST NICHT MEHR SO SEHR CLIFFORD BROWN WIE VOR ETWA DREI JAHREN. SCHON DAVOR GALT MORGAN ALS WUNDERKIND UNTER DEN JAZZTROMPETERN, ABER JETZT IST ER EIGENSTÄNDIGER.

Down Beat, 22. Oktober 1964

SEITE 1

THE SEITEWINDER

TOTEM POLE

SEITE 2

GARY’S NOTEBOOK

BOY, WHAT A NIGHT

HOCUS POCUS

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Fotos, die am 21. Dezember 1963 bei den Tonaufnahmen zu Lee Morgans The Sidewinder entstanden. Oben links im Bild die Vorgabe von Reid Miles für den Bildausschnitt, die sich mit dem endgültigen Cover auf den Millimeter deckt

GEGENÜBER

Alfred Lions Notizen zu den Aufnahmen von Lee Morgans The Sidewinder

SEITEN 238– 239

Lee Morgan unter der gewölbten Decke von Van Gelders Studio in Englewood Cliffs

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ALFRED LION WAR FORT, und Francis Wolff musste sich bei Blue Note an eine völlig neue Arbeitsweise gewöhnen; von nun an regierte das Management per Aus-schuss und Memo. Als ob das nicht Her-ausforderung genug gewesen wäre, schritt auch der musikalische Wandel in den aus-gehenden 1960er-Jahren noch rasanter voran als noch zur Mitte des Jahrzehnts; die »Britische Invasion« mochte den Jazz nicht direkt betroffen haben, aber sie war Teil der berauschenden Mixtur, die alter-nativen Kulturen und Ideen Auftrieb gab. Die »Woodstock-Generation« mochte zwar einige Jazzmusiker, aber sie hatte ihre eigene Musik – progressive Musik. Jazz musste eine neue Richtung finden – doch als ihm das gelang, war sie nicht nach jedermanns Geschmack.

Sechs Wochen nach der letzten von Alfred Lion produzierten Session wurde das erste Blue-Note-Album der neuen Ära eingespielt. Doch hört man das Album, das an diesem Tag entstand, fällt es schwer, einen Unterschied zu früheren Blue-Note-Aufnahmen auszumachen. Die Session am 8. September 1967 war für Jackie McLeans Album ’Bout Soul, das im Frühjahr 1968 erschien, und wurde in Rudy Van Gelders Studio aufgezeichnet.

Allen aber, die den Hüllentext mit Adler-augen lasen, fiel eine Neuerung ins Auge: Unter dem markanten Logo von Blue Note stand nun, in ein neues Logo integriert, »A Product of Liberty Records«. Auf McLeans Album stand auch »Gestaltung von For-lenza Venosa Associates« und »Fotografie von Charles Keddie«. Um ehrlich zu sein, die Hülle ist – auch wenn man den Wandel im Designgeschmack berücksichtigt – von deutlich minderer Qualität als die aus der Zusammenarbeit von Miles und Wolff.

Das veränderte Logo erschien zuerst auf dem Album Contrasts von Larry Young, das zehn Tage nach ’Bout Soul aufgenom-men worden war. Sein Cover war auch das erste, das Forlenza Venosa Associates gestalteten. Reid Miles war immer häufiger an andere Aufträge gebunden, und Liberty war bestrebt, hauseigene Grafiker und bevorzugte Dienstleister einzusetzen. Legt man Stanley Turrentines Easy Walker (BN 4268) neben McCoy Tyners Tender Moments (BN 4275) – eine der letzten Hül-len von Miles –, bietet es im Vergleich zur unverwechselbaren Brillanz von Miles’ Design nur ein Potpourri gestalterischer Ideen anderer Labels. Reid Miles, der Doyen der serifenlosen Schrift, der nie auf Blue Notes Gehaltsliste stand, entwarf in seiner 15-jährigen Ära rund 500 Plattenco-ver – und es dürfte schwerfallen, auch nur ein einfallsloses Cover zu finden. Er war der Dritte im künstlerischen Triumvirat von Blue Note: Lion war der Visionär, Wolff fotografierte, und Miles schuf den Look.

Vor dieser Kulisse betrat ein weiteres großes Unternehmen die Szene, das Blue Note tiefer in den Konzernsumpf führte. Transamerica Corporation besaß bereits United Artists Records und United Artists Pictures, als es im März 1968 für 24 Mio.  Dollar Liberty Records erwarb. Zunächst änderte sich dadurch an Blue Notes Tages-geschäft wenig.

1968 gab es 60 Aufnahmesessions für Blue Note, 50 Prozent mehr als noch 1967. Viele der Namen auf der Studioliste gehörten zur alten Garde: Hank Mobley, Stanley Turrentine, Horace Silver, Herbie Hancock, Bobby Hutcherson, Lou Donald-son, The Three Sounds, Lee Morgan, Ornette Coleman, Jackie McLean, Duke Pearson, McCoy Tyner und Andrew Hill:

GANZ OBEN

Easy Walker (1966) von Stanley Turrentine

OBEN

Tender Moments (1968) von McCoy Tyner

GEGENÜBER, OBEN LINKS

McCoy Tyner am 12. Januar 1967

GEGENÜBER, OBEN RECHTS

Stanley Turrentine am 30. August 1968

GEGENÜBER, UNTEN RECHTS

Hank Mobley am 19. Januar 1968

GEGENÜBER, UNTEN LINKS

Jackie McLean am 8. September 1967

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