Ausgewählte Übertreibungen_Leseprobe

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Leseprobe Sloterdijk, Peter Ausgewählte Übertreibungen Gespräche und Interviews 1993-2012 © Suhrkamp Verlag 978-3-518-42200-7 Suhrkamp Verlag

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Leseprobe

Sloterdijk, Peter

Ausgewählte Übertreibungen

Gespräche und Interviews 1993-2012

© Suhrkamp Verlag

978-3-518-42200-7

Suhrkamp Verlag

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Peter SloterdijkAusgewählteÜbertreibungenGespräche und Interviews1993-2012

Herausgegebenvon Bernhard Klein

Suhrkamp

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Erste Auflage 2013© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2013Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunkund Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darfin irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andereVerfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: Hümmer GmbH, WaldbüttelbrunnDruck: Friedrich Pustet, RegensburgPrinted in GermanyISBN 978-3-518-42200-7

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Inhalt

Statt eines Vorworts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Der Halbmondmensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29Warum sind Menschen Medien? . . . . . . . . . . . . . . . . 37Weltfremdheit und Zeitdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . 44Rollender Uterus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60Wirf den Seelenklempner raus! . . . . . . . . . . . . . . . . . 63Philosophische Umstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74Wir fahren immer auf dem Maternity Drive . . . . . . . . 84Arbeit am Ungesagten der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . 96Über Reichtum und Selbstachtung . . . . . . . . . . . . . . 106Lernen ist Vorfreude auf sich selbst . . . . . . . . . . . . . . 118Von Postboten und eingestürzten Türmen . . . . . . . . . . 133Den Kopf heben: Über Räume der Verwöhnung und

das Driften in der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141Gute Theorie lamentiert nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176Es gibt keine Individuen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185Verwirrte geben Verwirrung weiter . . . . . . . . . . . . . . . 194Deutsche wollen müssen: Theorie zum Jahresende . . . 201Komparatisten des Glücks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220Bild und Anblick. Versuch über atmosphärisches Sehen 238Das heilige Feuer der Unzufriedenheit. . . . . . . . . . . . 255Ein Team von Hermaphroditen . . . . . . . . . . . . . . . . . 270Unter einem helleren Himmel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281Ein Freund der Mühe: Der Leser . . . . . . . . . . . . . . . . 287Also sprach Sloterdijk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293Väter weg von Puff und Kneipe . . . . . . . . . . . . . . . . . 306Die Athletik des Sterbens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318Erfülle deine Genießerpflicht! . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327Auch ein Gott kann uns nicht retten . . . . . . . . . . . . . 338Ein Stecker für höhere Energien . . . . . . . . . . . . . . . . 345

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Die Verpfändung der Luft: Zur Finanzkrise . . . . . . . . 352Gibt es einen Ausweg aus der Krise der abendländischen

Kultur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377Schicksalsfragen: Ein Roman vom Denken . . . . . . . . . 391Der Mensch in der Wiederholung . . . . . . . . . . . . . . . 445Im Hintergrund das Murmeln Babylons . . . . . . . . . . . 457

Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471

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Statt eines Vorworts

Bernhard Klein im Gespräch mit Peter SloterdijkKarlsruhe, 17. 12. 2012

KLEIN: Herr Sloterdijk, nach längeren Recherchen habe icheine Auswahl Ihrer Interviews aus den letzten zwei Jahrzehntenzusammengestellt, eine enge Selektion aus einer nahezu unüber-schaubaren Fülle, dennoch ein voluminöser Band. Mir ist be-wußt, daß Interviews nur einen kleinen Teil Ihrer publizistischenTätigkeit bilden – hier ist die Redewendung von der Spitze desEisberges wirklich am Platz. Sie blicken auf eine Liste von mehrals 40 Buch-Veröffentlichungen zurück. Darüber hinaus ist einegroße Zahl von Aufsätzen aus Ihrer Feder in unterschiedlich-sten Zeitungen, Zeitschriften und Sammelbänden verstreut. Siesind seit zwanzig Jahren tätig auf Lehrstühlen in Karlsruheund Wien – die österreichische Funktion haben Sie vor nichtallzu langer Zeit niedergelegt. Daneben hatten Sie eine Agendaals Redner bei allen möglichen Anlässen, sie nehmen an einerVielzahl von Konferenzen, Tagungen und Symposien teil. Siehielten Lesungen aus neuen Büchern, Sie gaben Seminare, Fest-vorträge, Dinner Speeches. Sie führten Interviews in vielen Me-dien und waren mehr als zehn Jahre lang Moderator einer eige-nen Fernsehsendung. Man sagt im allgemeinen »weniger istmehr« – wie kommt es, daß bei Ihnen mehr mehr ist? Ist Ihregeradezu verzweifelte Schaffenskraft nicht auch Ausdruck einerOhnmacht angesichts der Stummheit der Bibliothek, wie sie je-der Schriftsteller empfindet?

SLOTERDIJK: Mir scheint, die richtige Antwort auf die Fragenach den Triebfedern meiner Arbeit würde weniger ein Motivals eine innere Verfassung offenlegen. Wenn ich auf die Jahrezurückschaue, aus denen die Auswahl dieser Gespräche genom-

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men ist, dann ist mein erster Eindruck von mir selbst: Wehr-losigkeit, beziehungsweise Verführbarkeit. Auf mich kann mandas Klischee von der endogen überschäumenden Produktivitätdes geborenen Autors jedenfalls nicht anwenden, ebensowenigwie das Modell der engagierten Literatur. Was man für Produk-tivität hält, ist in meinem Fall meistens nur die Unfähigkeit,mich gegen Vorschläge zu wehren. Eine gewisse Übernachgie-bigkeit steht am Anfang. Sie ist letztlich schuld an dem ständi-gen Übergang von Passivität in Produktion. Allerdings wäredieser Zustand ohne Übermut nicht zu halten gewesen. Wennich mich auf eine zusätzliche Aufgabe einließ, war ich offen-kundig bereit, zu sagen: Das geht noch. Natürlich habe ich da-bei mit der Erschöpfung Bekanntschaft geschlossen, doch stär-ker war einunglaublich leichtsinniges Vertrauen auf regenerativeKräfte. Das ist im übrigen der einzig nennenswerte Unterschiedzwischen früher und jetzt: Ich mache seit einer Weile die Erfah-rung, wie die Regeneration sich Zeit läßt.

KLEIN: Entführen Sie uns in die Werkstatt Ihrer Kreativität.Können Sie Ihre Arbeitstechnik beschreiben und die Organisa-tion Ihrer Bibliothek erklären. Wie erinnern Sie sich?

SLOTERDIJK: Kein Mensch kann wissen, wie sein Gedächtnisarbeitet. Ich weiß nur, daß ich ein gut aufgeräumtes inneres Ar-chiv haben muß, selbst wenn es für Dritte als Durcheinandererschiene. Mein Archivar findet ziemlich regelmäßig Zugangzu den wichtigeren »files«, er ist ein Mitarbeiter, der mich nieenttäuscht hat. In guten Momenten holt er Dokumente hervor,von denen ich gar nicht wußte, daß sie zitierreif abgelegt sind.Er entdeckt manchmal unbewußt fast fertig geschriebeneStücke, die ich nur noch kopieren muß.

KLEIN: Inwiefern wird Ihr publizistischer Elan durch IhreSprachlichkeit potenziert?

SLOTERDIJK: Nun ja, Sprache wird generell als Medium derVerständigung aufgefaßt – eine Annahme, die von Schriftstel-lern nicht ohne weiteres akzeptiert werden dürfte. Eine kriti-sche Minderheit sieht in der Sprache den Anfang aller Mißver-

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ständnisse. Wittgenstein meinte sogar, philosophische Proble-me entstünden, wenn die Sprache feiert – was »feiern« bedeu-tet, wollte uns der Autor jedoch nicht verraten. Heißt es Non-sens treiben? Scheinprobleme wälzen, Überschüsse in die Luftpulvern? Jedenfalls spielte er mit der Vorstellung, man könnees genausogut bleiben lassen, die deflationäre Tendenz ist ma-nifest. Wenn ich das lese, sehe ich einen zerknitterten Pedell insZimmer treten, der dem Unfug der Jungen ein Ende machenmöchte. Mir kommen Anweisungen solcher Art beengend vor.Man weiß gar nicht, was noch alles möglich wird, wenn mansich aufs Feiern einläßt. Lieber halte ich es mit WittgensteinsLandsmann Egon Friedell, wenn er statuiert: Kultur ist Reich-tum an Problemen. Man darf an allem sparen wollen, an denProblemen nicht.

KLEIN: Von Ihren Interviews habe ich in diversen Zeitungs-archiven und im Internet bisher ungefähr dreihundert ermit-teln können. Wenn wir hier davon etwas mehr als dreißig aus-gewählte Stücke präsentieren, ergibt das tatsächlich nur denüber Wasser sichtbaren Teil, um beim Eisberg-Bild zu bleiben.Welche Rolle spielen die Interviews in Ihrer publizistischen Tä-tigkeit? Dienen sie dazu, die »Geschäftsführung des eigenenNamens« zu betreiben, wie Sie das selbst einmal formuliert ha-ben.

SLOTERDIJK: Sehen Sie, es gab Autoren von hoher Reputa-tion, die nie Interviews gegeben haben, und solche, die es seltentaten und tun. Daneben andere, die sorglos Interviewvorschlä-ge akzeptieren. Ich würde mich dem letzteren Typ zurechnen.Daß dabei Namens-Management betrieben wird, ist ein Ne-benaspekt, den man in Kauf nimmt. An den meisten Gesprä-chen müßte der Leser merken, daß ich nach spätestens einerMinute dergleichen vergesse, sollte ich zuvor daran gedacht ha-ben. Das Interview ist eine literarische Produktionsform unteranderen, ich verstehe es als eine Untergattung des Essays. Ichhabe es häufig praktiziert, nachdem ich mich nach einigemSträuben mit der Rolle des public intellectual abgefunden hat-

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te, die sich aus dem Erfolg meiner ersten Veröffentlichungenergab. Wie man leicht erkennt, bin ich ein behauptungsfroherFormulierer, und wenn ich mich erst einmal in den Redestromgestürzt habe, sind Sorgen um Wirkung inexistent. Die werdennur in der Phase der Nacharbeit akut, ich bin empfindlich ge-gen mißglückte Wendungen.

KLEIN: Insofern sind Ihre Interviews auch keine eins zu eins»live«-Veröffentlichung. Sie werden immer von Ihnen durch-gesehen.

SLOTERDIJK: Sagen wir, sie sind eine Mischform aus Improvi-sation und redigierter Arbeit. Wobei der redaktionelle Anteilmanchmal nicht über die eine oder andere Retusche hinaus-reicht, in anderen Fällen geht er bis zu einer kompletten Neu-fassung.

KLEIN: Aus dem jungen, scheuen Sloterdijk, den man in älte-ren Aufzeichnungen sehen kann, wird mit den Jahren ein Star.Auf mich wirkt er wie ein Koloss der Ausdrucksgewalt, münd-lich und schriftlich. Diese Schaffenskraft, so kommt mir vor,mit normalen Maßstäben ist sie nicht zu erklären. Ein Rätselbleibt, wie Sie das bewältigt haben.

SLOTERDIJK: Daß durch mich eine Menge hindurchgegangenist, soviel kann ich zugeben. Hin und wieder habe ich Freudean dem starken Durchzug, keineswegs immer. Mein Grund-gefühl ist wie bemerkt nicht das von übertriebener Produktivi-tät, sondern das von Empfänglichkeit für Evidenz aus allenRichtungen, was ich eben Wehrlosigkeit nannte. In der Entste-hungsphase gefallen mir auch meistens die Dinge, die ich ma-che, ich verliere sie aber schnell aus dem Blick. Es mag seltsamklingen, Erfolgsgefühl kommt nur kurz und selten auf, sollteauch ein größeres Werk zustande gekommen sein. Ich kann sol-che Regungen entweder nicht entwickeln oder nicht festhalten.Vor mir liegt immer wieder das leere Blatt, das beweist, es istnoch nichts geleistet. Ich fahre also die Antennen aus und fan-ge mit dem Neuen an. So absurd es klingt, ich habe mich mei-stens im Verdacht, nicht genug zu tun. Das zeigt wohl, daß ich

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nicht mit Rückblicks-Intelligenz ausgestattet bin. Ich sehe mei-ne Vergangenheit nicht, es bleibt mir gar nichts anderes übrig,als in Bewegung zu bleiben. Vielleicht wäre das die nächsteLektion: Verlangsamung und Rückkehr in den Augenblick.Aber ich mißtraue noch solchen Suggestionen und schimpfesie Pensionärsgedanken.

KLEIN: Es heißt, Sie hätten in jüngeren Jahren in einer Wohn-gemeinschaft gelebt. Wie schafften Sie es, mitten im Chaoskreativ zu sein? Viele würden sagen, in einem solchen Umfeldkönnte ich nie etwas zu Papier bringen!

SLOTERDIJK: In der Münchener Wohngemeinschaft war ichnicht als Interner, aber als besuchendes Mitglied auf täglicherBasis. Was mir schon damals anmir selber auffiel,war die Fähig-keit, durch nichts aus der Bahn geworfen zu werden. Ich hatteimmer ein intensives Beziehungsleben, ich war mit Frauen undFreunden eng liiert, wir waren viel aus und oft unterwegs. Seitzwanzig Jahren dominiert bei mir die Lebensform Familie, dasist auch keine reine Solitüde. Sehr gut erinnere ich mich an dieZeit, als ein wirbeliges Kleinkind durch mein Arbeitszimmerstürmte. Es amüsierte mich, ich konnte nicht gestört werden.Heute kommt mir das seltsam vor, da die Irritierbarkeit zuge-nommen hat. Auch durch das Telefon war ich nicht zu stören,ebensowenig durch Handwerker und Zeugen Jehovas. Ich sahin allem Anregung, nicht Unterbrechung. Ein wundertätigerAberglaube war am Werk: Was auch immer kommt,verwandeltsich auf der Stelle in einen Teil der Produktion. In jener mitt-leren Phase lebte ich wie unter einer Schutzhülle, ich war mei-ner Themen sicher oder die Themen waren sich meiner sicher.Ich war durch nichts aus der Spur zu bringen.

KLEIN: Wenn man »Wehrlosigkeit« hört, könnte man auchan Müdigkeit und Aufgeben denken. Diese Option haben Sieoffensichtlich ständig durch die Kreativität des Schreibens ausdem Weg geräumt.

SLOTERDIJK: Alte Arbeitstiere wissen, selbst Müdigkeit kannzu einer Antriebsenergie werden, sofern sie die Regeneration

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auslöst. Sobald man sich nur einmal richtig ausgeruht hat, sa-gen wir mal einen ganzen Tag lang, fühlt es sich an, als hätteman Schwung geholt für drei neue Leben. Früher habe ich denUnterschied zwischen Regeneration und Urlaub betont. Letz-terer war in meiner Sicht illegitim, es durfte ihn nach meinerAnsicht gar nicht geben. Hochmütig ausgedrückt: Urlaubbraucht man nur vom falschen Leben. In diesem Punkt denkeich heute anders, ich gebe die Berechtigung des Urlaubs all-mählich zu.

KLEIN: Lassen Sie mich noch einmal zu Ihren Interviews zu-rückkommen. Aus aktuellem Anlaß steht der Suhrkamp Verlag,dem Sie seit Ihrem ersten Buch vor dreißig Jahren angehören,in den Schlagzeilen. Es gab bei Suhrkamp eine Zeit, da wärees seinen Autoren ein Gräuel gewesen, in einem Springer-Blattzu publizieren. Sie aber publizieren praktisch in jedem Medi-um, das auf Sie zukommt, fast wahllos, möchte man meinen,einmal sogar in der Bild-Zeitung und im Playboy. Wie beurtei-len Sie sich selbst in diesen Zusammenhängen? Der Suhrkamp-Autor, wie hat er sich verändert seit jenen Jahren, in denen esundenkbar war, in Zeitungen der Springer-Presse Interviews zugeben?

SLOTERDIJK: Eines ist sicher, den typischen Suhrkamp-Autorgibt es heute nicht mehr, falls er je existierte. Schon früher wa-ren es sehr idiosynkratische Charaktere, die unter demselbenDach zusammenkamen. Was sollten Bloch und Beckett mitein-ander gemeinsam gehabt haben? Oder Hesse und Luhmann?Die Diversität hat inzwischen eher noch zugenommen. Einigewenige Kollegen sind allerdings weiter Suhrkamp-Autoren imSinn der sechziger oder siebziger Jahre geblieben, sie verkör-pern mildere Positionen des Zu-Spätmarxismus. Daß auchsie Kinder des Zeitgeists sind, sieht man daran, wie sie fast un-merklich vom Thema Utopie aufs Thema Gerechtigkeit umge-stellt haben – darin leben Reste der Frankfurter Ziviltheologienach. Dagegen sind viele neue Temperamente im Spektrumaufgetaucht, auf der literarischen wie auf der wissenschaftlichen

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Seite. Der Erfolg meines ersten Buchs 1983 war ein Signal da-für, daß die Musik künftig auch anderswo spielt. Warum nichtin bisherigen Tabu-Medien? Für die überlieferten Aversionenhabe ich mich mit der Zeit immer weniger interessiert. Ichbin Gesprächspartnern aus den politisch heterogensten Me-dien ohne ideologiekritische Hintergedanken und wenn mög-lich auf Augenhöhe begegnet, ausgenommen die Presse derneo-nationalistischen Tendenz – hier kam dann doch die Prä-gung durch das Herkunftsmilieu zum Tragen. Vielleicht hätteich auch diese Hemmung ablegen und gelegentliche Hausbesu-che bei den rechtsaußen verirrten Seelen machen sollen.

KLEIN: Viele von diesen Gesprächen knüpfen an Ihren je-weils aktuellen Publikationen an, andere gehen von Themenaus, die zur gegebenen Zeit in der Luft lagen. Haben Sie Ge-spräche in Erinnerung, die sich besonders einprägt haben?

SLOTERDIJK: Die meisten in unserem Band dokumentiertenGespräche und Interviews liegen so weit zurück, daß ich michan die Situationen, in denen sie geführt wurden, nicht erinnernkann, bestenfalls diffus. Sehr lebhaft sind mir die Umstände ge-genwärtig, unter denen das breit angelegte Doppel-Gesprächmit dem Leiter des Deutschen Literaturarchivs, Ulrich Raulff,über das Motiv »Schicksal« stattgefunden hat – vor etwa zweiJahren, das erste hier in Karlsruhe, das zweite in Marbach, woRaulff mir als Hausherr und als Hüter seiner Schätze gegen-übersaß. Das waren Momente puren intellektuellen Glücks.In solchen Augenblicken begreift man deutlicher als sonst, wasLiteratur sein kann, auch als gesprochenes Wort. Sie ist einesyntaktische Glückstechnik. Mit der nicht-alltäglichen Zusam-menfügung von zwei, drei Wörtern beginnt die Levitation.

KLEIN: Das vorliegende Buch ist ein Florilegium von poin-tierten Formulierungen. Man hat den Eindruck, für Sie ist derDialog auch immer ein Metalog. In dem kommen und gehenviele Stimmen. Der äußeren Form nach sind die InterviewsZwiegespräche, doch kommt es mir vor, als fühlten Sie sich imGespräch mit mehreren Partnern am wohlsten.

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SLOTERDIJK: Ich erlebe schon das Zwiegespräch als Polylog,das heißt als Gespräch mit vielen. Der gute Interviewpartnerbringt ja außer seiner eigenen Stimme in der Regel alle mög-lichen anderen Stimmen mit. Er ist schon selber eine akkor-dische Subjektivität. Die erzeugt beim Befragten unweigerlichResonanzen. Wenn etwas existiert, was mir überhaupt nichtliegt, so ist es Phrasen-Austausch im Verlautbarungston.

KLEIN: Es gibt in diesem Buch garantiert keine Stelle, vonder man sagen könnte, es würden Phrasen verlautbart.

SLOTERDIJK: Vielleicht kann ich Ihnen erklären, woher mei-ne Abneigung gegen die Phrase kommt. Seit jeher leide ich un-ter einer kindlichen Furcht vor Langeweile. Am langweiligstenschien mir seit jeher das Reden in fertigen Sätzen, wie man sieauf dem akademischen Diskursmarkt hört, um von den Preß-Spanplatten vom politischen Baumarkt zu schweigen. Damitwir uns nicht mißverstehen, ich kenne eine gute Langeweile,die beruhigt und integriert. Man kann sich ihr anvertrauenwie einer alten Erzieherin – ich denke an die subtile Langewei-le einer Landschaft, die befreiende Langeweile des Meeres, dieerhabene Langeweile des Gebirges und manchmal die geduld-fördernde Langeweile großer Erzählliteratur. Eine bösartigeLangeweile geht von der zudringlichen Borniertheit stolzerPhrasenbesitzer aus, sie ist wirklich so tödlich wie ihr nach-gesagt wird. Ich weiß nicht, ob Sie solche Situationen kennen:Man wechselt ein paar Worte mit einem Menschen, der dirnicht einmal a priori unsympathisch sein muß. Nach drei, vierausgetauschten Sätzen fühlst du dich lebensmüde. Es ist, als obdie vitale Batterie binnen Sekunden entleert worden wäre, unddu weißt nicht warum. Vor dieser Art von Langeweile schreckeich zurück wie vor Tod und Teufel, sie ist ein pathologischerZustand, in dem die Freude am Gespräch, am Meinungsaus-druck, am Etwas-sehen-und-sagen-Können, ja am Leben über-haupt verloren geht. Das Symptom der schlimmen Langeweileist der Sprachzusammenbruch. Mit einem Mal wollen die Wör-ter nicht mehr in der richtigen Reihenfolge herauskommen, du

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schaffst gerade noch ein Nomen, aber das Verbum folgt nichtmehr, ein fürchterliches Gefühl von Nichts-mehr-sagen-Wol-len greift um sich – was man auf keinen Fall mit dem guten Zu-stand des freien Nichts-zu-sagen-Habens verwechseln darf.Ich nähere mich manchmal diesem gefährlichen Punkt, wennich merke, daß ein Gesprächspartner völlig ausgelaugte Fragenaus dem Koffer holt, Fragen, die ihrem Wesen nach Verdum-mungsangebote sind. Deren Subtext lautet immer: Komm end-lich mit ins Elend! Unter großen Anstrengungen habe ich ge-lernt, solchen Attacken auszuweichen, indem ich die Frage um-formuliere, bis ich wieder Lust habe, auf sie zu reagieren.

KLEIN: Es gibt also Fragen, die den Befragten wie Vampireaussaugen?

SLOTERDIJK: Es gibt solche Fragen und solche Fragende. Intheosophischen Kreisen nannte man negativ geladene Leutedieser Art prana suckers, Lebensatemvampire. Manchmal istdie mentale Erschöpfung der Fragesteller von Anfang an deut-lich. Im besten Fall versuche ich dann, wie ein Animateur zuantworten oder wie der Notarzt.

KLEIN: Ich bin absolut sicher, daß es in diesem Buch keinGespräch gibt, in dem Sie den Notarzt spielen mußten, und anSprachzusammenbruch wird niemand denken, der diese Stük-ke liest. Hingegen frage ich mich, ob nicht hin und wieder beimGegenüber eine Art Respekt, um nicht Ehrfurcht zu sagen, zuspüren ist.

SLOTERDIJK: Wenn das je der Fall war, wäre es falsch gewe-sen, dabei stehenzubleiben. Gespräche vor der Öffentlichkeitsind eine Sportart, bei der es nicht darum geht, zu gewinnen,sondern auf höherer Ebene unentschieden zu spielen. In jedembesseren Frage-Antwort-Fluß erinnern sich die Gesprächspart-ner gegenseitig an ihre intelligenteren Möglichkeiten. Man ent-deckt die Freude, navigationsfähig zu sein in einem Problem-raum.

KLEIN: Ich möchte noch einmal auf den Enthusiasmus zusprechen kommen, den man in Ihren Äußerungen oft wahr-

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nimmt, ob man ihn nun jugendlich nennt oder nicht. Die Ex-plosion Ihres Ausdruckstriebs setzte nach Ihrem Indienaufent-halt im Frühjahr 1980 ein. Kann es sein, daß damals, nach In-dien, eine gleichsam archaische vorsprachliche Begeisterungmit den späteren akademischen Prägungen zusammenkam?Wahrscheinlich ist Ihnen diese Frage schon öfter gestellt wor-den. Ich finde es faszinierend, daß es danach für Sie kein Zu-rück mehr zu geben schien. Mit einem Mal war nur der Wegzur Produktivität noch offen.

SLOTERDIJK: Sagen wir eher der Weg zur praktischen Prü-fung eines Vorgefühls. Mir war bis dahin wohl latent bewußt,daß ich wie hinter vorgehaltener Hand lebte. Nach 1980 wares soweit, daß ich anfangen konnte, mich weiter vorzuwagen.Damals habe ich meinen Ton gefunden, falls man das so unbe-darft ausdrücken kann. Es war, als hätte ich das Instrumententdeckt, auf dem ich meine Art von Musik machen sollte.Das Instrument wurde gestimmt in dem Moment, als ich be-griff, worin meine Chance besteht.

KLEIN: Das möchte man natürlich näher erklärt haben.SLOTERDIJK: Lassen Sie mich’s versuchen. 1947 geboren,

blieb ich ein von der Vaterseite her so gut wie völlig ungepräg-ter junger Mann. Zur rechten Zeit sah ich ein, ich sollte michzu einer Art von Selbstbevaterung entschließen. Was Bemutte-rung ist, vorgefunden oder gewählt, und wie man sie allmäh-lich zurückläßt, das wußte ich schon ziemlich gut. Was Bevate-rung bedeutet, wußte ich nicht. Ich mußte mir meine Väteroder Instruktoren zusammensuchen, dazu war es nötig, sichin der Welt umzusehen. Väter sind Vorbilder, nicht wahr, dieman aufsucht, um etwas zum Überwinden zu haben, irgend-wann später? So machte ich mich am Leitfaden der Bewun-derung auf den Weg. Niemand, der etwas zu sagen hatte, warvor meiner Bewunderung sicher – auch nicht vor meiner Ent-täuschung. Der Durchbruch kam, als ich verstand, daß ich mirselber die Welt erzählen sollte. In meinem Fall konnte das nurdadurch geschehen, daß ich mich selber an die Hand nahm –

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als Lehrer und Schüler in einer Person. Irgendwie gelang es mir,mich in einen größeren und einen kleineren Part zu verdop-peln. Also habe ich mich selber an die Hand genommen undmir die Welt und das Leben erklärt. Offensichtlich hat das vie-len Beobachtern eingeleuchtet, die gerne mitlasen, was ich mirzu sagen hatte. Sie amüsierten sich wohl darüber, wie ich demJunior zuliebe in die Rolle des alten Weisen schlüpfte. Ich den-ke noch immer, dieses Vorgehen war nicht die schlechteste Zu-gangsweise zur philosophischen Sphäre. Sie empfahl sich inmeinem Fall besonders, sie entsprach der Lage eines jungenMenschen, der wie so viele aus seiner Generation mit dem Ge-fühl starker kultureller Unsicherheit aufgewachsen war.

KLEIN: Was trieb Sie nach der Dissertation bei den Ham-burger Professoren gen Osten? Was haben Sie von BhagwanShree Rajneesh bzw. Osho gelernt? Warum sind Sie damalsnach Indien gegangen und nicht an der Universität geblieben?

SLOTERDIJK: Das ist eine längere Geschichte, ich kann denAblauf nur kurz andeuten. Ich bekam um 1974 zeitweilig eineVertretungsassistentenstelle an der Hamburger Universität an-geboten, ich akzeptierte und übersiedelte. Das folgende Jahr inHamburg wurde für mich eine sehr fruchtbare Zeit, ein Wen-dejahr in meinem Leben. Die damalige Nähe zu Klaus Brieg-leb, dem Ordinarius für neuere deutsche Literatur, war fürmich ein Glücksfall, ich kannte ihn aus München, er war inmeinen Augen, und nicht nur in meinen, der herausragende Li-teraturwissenschaftler des Landes und in den Hamburger Jah-ren auf der Höhe seiner Kunst. Und genauso glücklich war dieKonstellation mit den älteren Kommilitonen, ein intellektuel-ler Spiralnebel mit enormen Ladungen, auch gruppenerotischnicht uninteressant. Was die Universität anging, wußte ich vonda an, das ist nicht mein Maulwurfshügel. Als mein Vertragauslief, bin ich nach München zurückgegangen. Anschließendbegannen die wilderen Gruppenjahre: Wohngemeinschaft, Psy-chotherapie, Meditationsgruppen, Neue Linke, Neuer Mensch.Ständig spukten solche Motive durch den Raum. Man glaubte

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damals an die Theorie wie an eine messianische Kraft. Die Zeitzwischen 1974 und 1980 wurde die Experimentierphase mei-nes Lebens. Die Dissertation war geschrieben, viele Möglich-keiten standen offen, das einzige, was ich eindeutig wußte, war,daß ich in die Universität nicht zurückgehe. Sollte es ein Lei-den an der Unbestimmtheit geben, so war es mir damals unbe-kannt. Ich empfand die Freiheit, noch einige Orientierungsjah-re vor mir zu haben, als beflügelnde Nichtfestlegung.KLEIN: Das erklärt aber nicht, wie es es kam, daß Sie den Wegnach Indien einschlugen.

SLOTERDIJK: Die Indienreise war seit den Tagen des seligenHermann Hesse im spirituellen Curriculum des Westens dis-kret vorgezeichnet. Auch wenn man Marx und Lenin und Mar-cuse gelesen hatte, die Morgenlandfahrt fehlte. Eines Tages warsie fällig, in ihr kam alles zusammen, was damals zählte, dertherapeutische Aufbruch, der spirituelle Aufbruch, der Coun-ter-Culture-Aufbruch, außerdem stand über dem Unterneh-men das Epochenthema »freie Liebe« wie eine Leuchtreklameam Times Square. Man hätte ein Idiot sein müssen, es nicht zuprobieren. Überdies traf man in Indien halb Frankfurt wieder,und halb München. Meine besten Adorno-Kolloquien erlebteich am Rand des Ashrams von Poona. Es begann eine unvor-stellbar intensive Zeit, weil man in Indien nur Menschen be-gegnete, die auf ihre Weise mutig waren, offensiv, konfrontativ,freigiebig mit Gefühlen, Beobachtungen und Berührungen.Heute wird das Klima vor allem vom Bedürfnis nach Absiche-rung definiert, das kannte man seinerzeit nicht. Natürlich wa-ren damals alle verrückt, das kann man im Rückblick nüchternfeststellen, doch daß sie mutig waren bis zum Exzeß, muß manihnen lassen. Nach Indien zu gehen zu den Bedingungen jenerJahre, das war wirklich ein Sprung, ein Bruch mit der Hinter-grundkultur.

KLEIN: Wenn man alte Videos einlegt, in denen die Augenvon Osho dich anblicken, dann schwingt noch heute eine Di-mension jenseits der europäischen Akademia mit. Wie kam es,

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