Auswanderungsbewegung -...

48
115 nachkommen mussten. Viele weitere melde- ten sich freiwillig, da der Dienst an der Waffe für viele Menschen eine attraktive Möglichkeit war, versorgt zu sein. Dies ist ja bis in unsere heutige Zeit so geblieben. Auch der Einsatz in fernen Ländern ist für uns wieder alltäglich geworden. Damals hofften viele Freiwillige auch auf Abenteuer und Beute im sagenhaf- ten Amerika. Auf Grund des Untertanenverhältnisses und der Tatsache, dass die meisten Rekruten nicht freiwillig in den Krieg zogen, war es verwun- derlich, dass die Hessen nicht scharenweise in Amerika davonliefen. Gemessen an den Ver- hältnissen in anderen europäischen Kriegen war die Zahl der Deserteure in der hessischen Armee unerwartet gering. Selbst bei den betroffenen Armeen der Briten und der Ame- rikaner war das unerlaubte Entfernen von der Truppe ein weitaus größeres Problem. Um die Verluste in Amerika aufzufüllen, muss- ten aus der Heimat neue Soldaten nachge- liefert werden. Insgesamt wurden 19000 Sol- daten von Hessen nach Amerika geschickt. In den eigentlichen Kampfhandlungen haben „nur“ 535 Menschen das Leben gelassen. Der gefährlichste Feind waren Klima und Krank- heiten, denen etwa 4 000 Söldner zum Opfer gefallen sind. Etwa 3 000 Soldaten blieben nach Friedensschluss freiwillig in Amerika. Der Rest von etwa 11000 Soldaten kehrte zumeist 1783 zurück in die Heimat. Wie es den Soldaten auf ihrem Weg nach und schließlich in Amerika erging, darüber gibt es nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein- fachen Soldaten existieren kaum. Interessant sind aber die Tagebuchaufzeichnungen des Regiment-Quartiermeisters Carl Bauer im Gre- Der Soldatenhandel unter Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel Die ersten Harler, die im großen Stil nach Nordamerika gingen, taten dies nicht durch- weg freiwillig. Sie waren Teil eines großen Söldnerheeres, das der hessische Landesfürst Großbritannien mietweise überlassen hatte. Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel unter- zeichnete am 15. Januar 1776 mit seinem Schwager König Georg III. von Großbritannien so genannte Subsidienverträge. Gemäß dieser Verträge verpflichtete sich Friedrich II. zur Ent- sendung von 12000 Mann in den Amerikani- schen Unabhängigkeitskrieg (1776–1783). Die Landgrafschaft Hessen-Kassel, deren Terri- torium etwa dem heutigen Nordhessen ent- sprach, war zu jener Zeit das Land mit dem wohl höchsten Anteil von Soldaten an der Gesamtbevölkerung und lag in dieser Hinsicht sogar noch vor Preußen. Da Hessen-Kassel auf Grund seiner ungünstigen naturräumlichen Gegebenheiten (viele Mittelgebirgsregionen mit ausgedehnten Wäldern, wenig frucht- baren Böden) ein relativ armes Land war, wurden die Einnahmen durch die Vermietung der Armee zur wichtigsten Finanzquelle. Mit seinem anerkannt guten Militär konnten die jeweiligen Kasseler Fürsten auch ihre politi- sche Stellung innerhalb Europas stärken. Für die Bevölkerung war die Versorgung der Armee mit Uniformen, Ausrüstung und Ver- pflegung ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Die Kehrseite des Soldatenhandels war neben den Opfern der militärischen Einsätze ein bis- weilen spürbarer Arbeitskräftemangel. Auf Grund seiner langen Söldnertradition (in der Zeit von 1677 bis Anfang des 19. Jahrhun- derts wurden Soldaten vermietet) verfügte Hessen-Kassel über eine große Anzahl an gut ausgebildeten Truppen und konnten deshalb schnell große Kontingente gen Amerika in Marsch setzen. Für die heutigen Betrachter erfolgt die Verur- teilung des sogenannten Soldatenhandels natürlich zu Recht. Gemessen an den Maßstä- ben der damaligen Zeit war dies jedoch gän- gige Praxis. Die Anwerbung der hessischen Truppen für den amerikanischen Unabhängig- keitskrieg erfolgte nach damals gültigem und im Reich anerkannten Recht. Presskomman- dos, die willkürlich Menschen zum Dienst pressten, gab es nicht oder waren die Aus- nahme. Die Rekrutierung erfolgte auf Grund einer Wehr- bzw. Dienstpflicht, der junge Männer überwiegend aus unteren Ständen Auswanderungsbewegung Hartmut Dilcher

Transcript of Auswanderungsbewegung -...

Page 1: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

115

nachkommen mussten. Viele weitere melde-ten sich freiwillig, da der Dienst an der Waffefür viele Menschen eine attraktive Möglichkeitwar, versorgt zu sein. Dies ist ja bis in unsereheutige Zeit so geblieben. Auch der Einsatz infernen Ländern ist für uns wieder alltäglichgeworden. Damals hofften viele Freiwilligeauch auf Abenteuer und Beute im sagenhaf-ten Amerika.Auf Grund des Untertanenverhältnisses undder Tatsache, dass die meisten Rekruten nichtfreiwillig in den Krieg zogen, war es verwun-derlich, dass die Hessen nicht scharenweise inAmerika davonliefen. Gemessen an den Ver-hältnissen in anderen europäischen Kriegenwar die Zahl der Deserteure in der hessischenArmee unerwartet gering. Selbst bei denbetroffenen Armeen der Briten und der Ame-rikaner war das unerlaubte Entfernen von derTruppe ein weitaus größeres Problem.Um die Verluste in Amerika aufzufüllen, muss-ten aus der Heimat neue Soldaten nachge-liefert werden. Insgesamt wurden 19 000 Sol-daten von Hessen nach Amerika geschickt. Inden eigentlichen Kampfhandlungen haben„nur“ 535 Menschen das Leben gelassen. Dergefährlichste Feind waren Klima und Krank-heiten, denen etwa 4 000 Söldner zum Opfergefallen sind. Etwa 3 000 Soldaten bliebennach Friedensschluss freiwillig in Amerika. DerRest von etwa 11000 Soldaten kehrte zumeist1783 zurück in die Heimat.Wie es den Soldaten auf ihrem Weg nach undschließlich in Amerika erging, darüber gibt esnur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum. Interessantsind aber die Tagebuchaufzeichnungen desRegiment-Quartiermeisters Carl Bauer im Gre-

Der Soldatenhandel unterLandgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel

Die ersten Harler, die im großen Stil nachNordamerika gingen, taten dies nicht durch-weg freiwillig. Sie waren Teil eines großenSöldnerheeres, das der hessische LandesfürstGroßbritannien mietweise überlassen hatte.Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel unter-zeichnete am 15. Januar 1776 mit seinemSchwager König Georg III. von Großbritannienso genannte Subsidienverträge. Gemäß dieserVerträge verpflichtete sich Friedrich II. zur Ent-sendung von 12 000 Mann in den Amerikani-schen Unabhängigkeitskrieg (1776 –1783).Die Landgrafschaft Hessen-Kassel, deren Terri-torium etwa dem heutigen Nordhessen ent-sprach, war zu jener Zeit das Land mit demwohl höchsten Anteil von Soldaten an derGesamtbevölkerung und lag in dieser Hinsichtsogar noch vor Preußen. Da Hessen-Kassel aufGrund seiner ungünstigen naturräumlichenGegebenheiten (viele Mittelgebirgsregionenmit ausgedehnten Wäldern, wenig frucht-baren Böden) ein relativ armes Land war,wurden die Einnahmen durch die Vermietungder Armee zur wichtigsten Finanzquelle. Mitseinem anerkannt guten Militär konnten die

jeweiligen Kasseler Fürsten auch ihre politi-sche Stellung innerhalb Europas stärken.Für die Bevölkerung war die Versorgung derArmee mit Uniformen, Ausrüstung und Ver-pflegung ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. DieKehrseite des Soldatenhandels war nebenden Opfern der militärischen Einsätze ein bis-weilen spürbarer Arbeitskräftemangel.Auf Grund seiner langen Söldnertradition (inder Zeit von 1677 bis Anfang des 19. Jahrhun-derts wurden Soldaten vermietet) verfügteHessen-Kassel über eine große Anzahl an gutausgebildeten Truppen und konnten deshalbschnell große Kontingente gen Amerika inMarsch setzen.Für die heutigen Betrachter erfolgt die Verur-teilung des sogenannten Soldatenhandelsnatürlich zu Recht. Gemessen an den Maßstä-ben der damaligen Zeit war dies jedoch gän-gige Praxis. Die Anwerbung der hessischenTruppen für den amerikanischen Unabhängig-keitskrieg erfolgte nach damals gültigem undim Reich anerkannten Recht. Presskomman-dos, die willkürlich Menschen zum Dienstpressten, gab es nicht oder waren die Aus-nahme. Die Rekrutierung erfolgte auf Grundeiner Wehr- bzw. Dienstpflicht, der jungeMänner überwiegend aus unteren Ständen

AuswanderungsbewegungHartmut Dilcher

Page 2: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

116

Harler Soldaten im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg1)

Heinrich Adolf (?) Pfeifer in der 2. Kompanie des Grenadier-BataillonKöhler, vermutlich Frühjahr 1777 nach Amerika einge-schifft .

Heinrich Schaeffer (geb. ≈1727) Sergeant, später Fourier in der 5. Kompanie des Garni-son-Regiments von Huyn, vermutlich von 1776 bis 1783in Amerika.

Christoph Schroeder (geb. ≈1758) Grenadier in der 3. Kompanie des Grenadier-Bataillonvon Minnigerode, im Februar 1781 rekrutiert.

Adam Wolff (geb. ≈1735) Grenadier, später Korporal in der 2. Kompanie des Gre-nadier-Bataillon Köhler, vermutlich von 1776 bis 1783 inAmerika.

Heinrich Wolff (geb. ≈1767) Pfeifer im Grenadierbataillon Köhler. Der Name HeinrichWolff wird im Februar 1783 erwähnt. Ob er als Soldatnoch nach Amerika verschifft wurde, ist sehr ungewiss.

Michael Schroeder (?) Gemeiner in der 5. Kompanie des Regiments vonDonop.

Bruessing (geb. ≈1743), Ab 1777 Gemeine im Garnison-Regiment von Wissen-Monse (geb. ≈1757) bach, beide vermutlich krank zurückgeblieben.

Anschließend nicht mehr nach Amerika eingeschifft .

Heinrich Burghard (geb. ≈1759) Gemeiner in der 3. Kompanie des Garnison-Regimentsvon Wissenbach, Zugang durch Rekrutierung im März1780.

Grundes (geb. ≈1754) Gemeiner in der 3. Kompanie des Leib-Infanterie-Regi-ments, Ersterwähnung im Februar 1783, daher nichtmehr in Amerika.

Konrad Fischer (geb. ≈1750) Kanonier im Artillerie-Korps, seit 1776 in Amerika,Februar 1777 in Gefangenschaft geraten. WeiteresSchicksal unbekannt.

1) Hessische Truppen im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (Hetrina), Veröffentlichungen der Archivschule Marburg,Bd. I – IV.

nadier-Bataillon Köhler. Interessant deswegen,weil sich in diesem Bataillon, welches bereitskurz nach der Vertragsunterzeichnung imFebruar 1776 in Wolfhagen zusammengestelltwurde, auch ein Harler befand: Es handeltesich um Adam Wolff.Die 2. Kompanie des Grenadier-Bataillonsmarschierte laut Tagebuchaufzeichnungen inder Zeit vom 8. Mai bis 3. Juni 1776 von Wolf-hagen nach Ritzenbüttel (bei Cuxhaven). Am9. Juni begann zunächst die Überfahrt nachPortsmouth in England, wo sie am 20. Junieintrafen. Am 20. Juli ging es in einem Konvoischließlich weiter nach Amerika. Am 23. Okto-ber legten die Schiffe in der Nähe von NewYork an.Auf See gab es bereits die ersten Toten. Aufdem Schiff des Tagebuchschreibers Carl Bauererreichten sieben Soldaten nicht das amerika-nische Festland. Sie starben zumeist an Fieberund wurden auf See bestattet.Im Tross der Soldaten befanden sich aucheinige Familienangehörige, zumeist Ehefrauenvon Soldaten. So sind auf dem Schiff des Tage-buchschreibers auch zwei Kinder geborenworden.Am 16. November kam es für das RegimentKöhler zum ersten großen Gefecht um FortWashington.

Page 3: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

117

Auswanderung aus Hessen-Kassel im 19. Jahrhundert2)

Eine erste Massenauswanderung aus Deutsch-land nach Nordamerika fand 1709 statt undging vor allem von Südwestdeutschland aus.Aus dem heutigen Hessen waren zahlreicheFamilien aus dem Fürstentum Nassau-Dillen-burg beteiligt.Um 1776 lebten bereits 225 000 Deutsche inAmerika und machten damit etwa 10% derweißen Bevölkerung aus. Diese frühen Aus-wanderer zogen wieder neue Auswanderermit sich. In einem Brief aus dem Jahr 1788 andie alte Heimat ist folgendes zu lesen: „Ihrwerdet doch lieber frei leben, als Euch undEure Kinder die Zeit Eures Lebens in Armutund schwerer Arbeit zu plagen. [. . .] Hier beiuns ist der Werktag besser wie bei euch derSonntag, denn wir essen mehr Fleisch als ihrBrot und trinken mehr Kaffee und Wein als ihrWasser.“So wie dieser Brief eines deutschen Auswan-derers liest sich auch der Brief eines Harlersaus Amerika aus dem Jahr 1855. Es handeltsich um Johann Jost Heinrich Dilcher, der1845 ausgewandert ist und noch genau dieZustände in seiner Heimat vor Augen hat:„Man lebt hier frei und unumschränkt, brauchtdurchaus nicht zu schwitzen und zu seufzenunter dem Druck eines Regenten oder einerstolzen Obrigkeit, hier braucht man keinenHut zu ziehen, und der fleißige, geschickteGeschäftsmann gilt so viel, und hat zu sagen,

was ein Millionär, ein Beamter und ein Pfaffezu sagen hat, und was ein jeder verdient, daskann er das Seinige nennen.“Von diesem Harler wird später noch die Redesein.Etwa 100 Jahre später wandert der Jude Sieg-mund Weinstein gezwungenermaßen vonGensungen in die USA aus. Weinstein warViehhändler und handelte auch in Harle vor1933 mit Vieh. Von den älteren Harlern konn-ten sich Liese Dünzebach und Wilhelm Mom-berg an Siegmund Weinstein erinnern. Zu

manchen Harlern hat er freundschaftliche Ver-bindungen gehabt, so dass Briefe von ihmvorhanden sind. In einem späteren Kapitelüber das 3. Reich wird noch die Rede von ihmsein. Was er im Jahre 1955 in einem Brief ausAmerika an Katharina und Justus Ebertschreibt, klingt nicht viel anders als der obigeBrief aus dem Jahr 1788: „Amerika ist ein wun-dervolles Land, bin schon 7 Jahre Bürger undbin stolz darauf. Hier gibt es alles Winter wieSommer, alles frische Gemüse, alle Läden sindvoll.“ Ein Jahr später schreibt Weinstein: „Hier

Wilhelm Metz (im Bild rechts) im Jahr 1910 auf Besuch in der alten Heimat. Dies war der erste und einzigeBesuch in Deutschland. Von Wilhelm Metz (1875 bis 1971) wird noch an anderer Stelle die Rede sein.

2) Aus: Hessisches Auswandererbuch, Hrsg. Hans Herder, Insel-verlag, 2. Aufl. 1984; Auswanderung aus Hessen, Ausstellungder Hess. Staatsarchive zum Hessentag 1984 in Lampertheim,Hess. Staatsarchiv Marburg, 1984.

Page 4: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

gibt es große Farmen. Das Vieh ist alle gutgefüttert. Ich war vorigen Winter im Süden, dagibt es überhaupt kein Winter, da ist es immerSommer. Da wachsen im Winter die Apfel-sinen und alles beste Obst. Das Vieh ist dasganze Jahr auf der Weide. Amerika ist dasbeste Land der Welt. Gott segne es.“Von den Auswanderungswellen im 18. Jahr-hundert nach Nordamerika, Ungarn (1723)und Russland (1765–1767) wird Hessen-Kas-sel auf Grund seiner strikten Auswanderungs-gesetzgebung kaum erfasst. Kassel, das im 18.Jahrhundert seine Armeen mehrfach gewinn-bringend vermietete, hatte daher aus wirt-schaftlichen Gründen ein großes Interesse am

Erhalt seiner Bevölkerungszahl. Erst im Jahr1831 stellte Hessen-Kassel die Auswanderungverfassungsmäßig frei. In der Anfangszeitwaren es dann vor allem Alleinstehende über20 Jahre oder Familien mit einem gewissenGrundkapital, die fortzogen.In Folge einer relativ langen Friedenszeit undverbesserter Lebensbedingungen stieg dieBevölkerung im 19. Jahrhundert stark an. DieErwerbsmöglichkeiten hielten dagegen mitder Bevölkerungsentwicklung nicht Schritt undmündeten in eine Massenarmut. Verschärftwurde diese Wirtschaftskrise durch etlicheMissernten. Dies führte dann ab etwa 1845 zueiner Auswanderungsbewegung, an der sich

zunehmend dieArmen beteiligten, inder Hoffnung, in derneuen Welt besserewirtschaftliche Vor-aussetzungen zu fin-den.Religiöse und politi-sche Motive spieltenfür diese Auswande-rungswilligen eineeher untergeordneteRolle. Die wirtschaft-liche und sozialeAusweglosigkeit vie-ler Menschen kommtin einem Zitat einesBäckerknechts zumAusdruck: „Ganz oh-ne Aussicht , fastohne Körperbedek-kung und nicht dastägliche Brot mehr,

stehe ich, mein Weib und beide Kinder träu-mend hier und erkenne, dass in Europa füruns kein Heil ist.“Auf dem Höhepunkt der Auswanderungs-welle in den Jahren 1852 –1857 verliert Hes-sen-Kassel etwa 4,3 Prozent seiner Bevölke-rung. In Zahlen ausgedrückt sind das 34 000Personen, die in diesen sechs Jahren auswan-dern. Mehrere Harler befinden sich auch dar-unter.Auf ganz Deutschland bezogen findet diegrößte Auswanderungswelle nach Nordame-rika in den Jahren von 1881–1890 statt.Insgesamt 1,45 Mio. Menschen verlassen indiesem Jahrzehnt ihre Heimat. Die Haupt-motivation zur Auswanderung ist in dieser Zeitdie Anziehungskraft der Länder „mit denunbegrenzten Möglichkeiten“.Nach 1890 sank die Auswanderungsbereit-schaft rapide. Zum einen hatte sich auchDeutschland zu einem Industriestaat ent-wickelt, zum anderen war die Grenze derNeulanderschließung in der USA erreicht.Neben dem Auswanderungsziel Nordamerika(90 Prozent aus Hessen-Kassel zog es in dieUSA) zogen die Menschen auch nach Süd-amerika (bevorzugt nach Chile), Australienund in die anderen deutschen Staaten, vorallem ins Ruhrgebiet und nach Preußen.Auch von den Harler Auswanderern im 19.Jahrhundert werden die USA mehrheitlichangesteuert.

Der Autor bedankt sich bei Hans Gerstmann vom Geschichts-verein Schwalmstadt-Ziegenhain für die wertvollen Hinweiseund Informationen zum Thema.

118

Das Foto zeigt Johannes Stieglitz (*1860) und Katharina (*1864), geborene Dil-cher, mit zweien ihrer drei Töchter. Die Aufnahme entstand um 1910 in Ame-rika. Da die Verbindung von der Familie Dilcher nicht erwünscht war, sindbeide Ende des 19. Jahrhunderts heimlich nach Amerika ausgewandert.

Page 5: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

119

Bis etwa Mitte der 1990er Jahre steckte dasInternet noch in den Kinderschuhen undkaum über die akademische Welt hinaus ver-breitet. Dann aber kam ein großer Schub, indem die Anzahl der Internet-Seiten und auchder Benutzer explosionsartig wuchs, und dasInternet erhielt eine breite Akzeptanz in derBevölkerung. Das war besonders in den USAausgeprägt, und weite Bevölkerungsschichtennutzten dieses neue Medium, um ihre Famili-engeschichte zu erforschen. In diese Zeit fielauch der Sommer 1995, als zum ersten Malentfernte amerikanische Verwandte mit mir inVerbindung traten.Ich will nun kurz beschreiben, wie die ver-schiedenen Kontakte zu den Nachkommeneiniger Harler Auswanderer zustande kamen.

1. Die Dilchers in AtlantaAus heiterem Himmel erhielt ich am 9. Juli1995 die folgende E-Mail von Jeff Dilcher:„Nur einmal ist mir ein anderer Dilcher begeg-net . . . Ich sah Ihren Namen im Internet unddachte, ich schreibe einfach mal.Gibt es viele Dilchers da oben in Kanada?“Dazu muss ich sagen, dass ich zu der Zeitschon eine (dienstliche) Internet-Seite hatte,und mit den ersten Suchmaschinen konnte

jeder, der „Dilcher“ eingab, ziemlich schnellmeine Adresse finden.Jedenfalls schrieb ich sofort zurück underwähnte auch, dass ich von einem Henry Dil-cher wusste, der in den 1840er Jahren nachAmerika ausgewandert war, und dass ich1979 dessen Spur bis zu dem StädtchenPomeroy in Ohio verfolgt hatte, aber dannnicht weiterkam. Zum Teil lag das auch anmangelndem Interesse meinerseits; späterwurde mir klar, dass ich nur etwas hartnäcki-ger hätte sein müssen.Schon zwei Tage später, am 11. Juli 1995,bekam ich eine ausführliche Mail von JeffsVater Hank Dilcher, der damals Anfang 60 warund eine hohe Stelle beim FlugzeugherstellerLockheed in Atlanta hatte. Hank hatte jahre-lang Ahnenforschung betrieben, hatte seineVorfahren auch bis nach Pomeroy zurück-verfolgen können, ist dann aber nicht weiter-gekommen. Er wusste zwar, dass HenryDilcher aus Deutschland kam und wusstesogar, auf welchem Schiff, kam dann abernicht weiter. Bei seinen Dienstreisen nachDeutschland rief er auch mit Hilfe von deut-schen Kollegen viele Dilchers an, die er inTelefonbüchern fand, aber auch das verlief imSande.Erst Jeffs kurze Mail an mich brachte die zweilosen Enden zusammen. Es war dann auchsofort klar, dass es sich um den gleichenHenry Dilcher handelte, von dem sowohlHank als auch ich schon lange wussten.Hank und ich hatten daraufhin einen ausgiebi-gen Briefwechsel und ich schickte und schriebihm so ziemlich alles, was ich über die Famili-engeschichte wusste, einschließlich Überset-zungen alter Briefe. Hank war mir überaus sym-

patisch und im folgenden Jahr vereinbarten wirein erstes Treffen, und zwar in Harle.Anfang November 1996, als ich auch geradein Harle war, kamen Hank mit seiner FrauMeryl, Schwester Mary Ann und Schwager Joezu Besuch in das Dorf und auf den Hof, ausdem ihre Vorfahren stammten.Anfang Mai 1999 besuchte ich dann mit mei-ner Familie die Dilchers in Atlanta und wir tra-fen dort noch mehr Familienangehörige. Lei-der starb Hank im folgenden Sommerplötzlich und unerwartet, nur wenige Monatenach seiner Pensionierung. Wir stehen aberimmer noch mit Meryl und Mary Ann in Ver-bindung.Nur wenige Monate nach dem ersten Kontaktmit Hank erhielt ich eine weitere Anfrage voneiner amerikanischen Familie Dilcher und ichschickte wiederum alle Informationen, die ichhatte. Doch dann kamen immer mehr Anfra-gen und es wurde mir bald klar, dass ich ein-fach nicht alles in gleichem Maße beantwor-ten konnte wie in Hanks Fall. Als Auswegschuf ich dann diese kleine Internet-Seite, diees immer noch gibt, wenn inzwischen auchsehr veraltet und technisch überholt. Jeden-falls konnte ich bei weiteren Anfragen (und esgab noch mehrere) immer auf diese Seite ver-weisen, was den meisten dann auch genügte.Es wurden auch kommerzielle Internet-Forengeschaffen, und es war erstaunlich, wie vieleDilchers sich dort elektronisch versammelten.Die meisten stammen in der Tat auch vom inHarle geborenen Henry Dilcher ab.Es gab sogar Familientreffen; so bekam icheine Einladung zu einem Treffen am 13.August 2000 in Pageville, Ohio. Auf der Einla-dung sieht man ein altes Bild von einem

Die Nachkommen vonAuswanderernKarl Dilcher

Page 6: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

„Grand Dilcher Hotel“, das Ende des 19. Jahr-hunderts dem Henry Dilcher in Pomeroy, Ohio,gehörte. Die Kontakte zu diesen anderenZweigen der Familie sind inzwischen ein-geschlafen, was zum Teil wieder an fehlen-dem Interesse meinerseits lag.

2. Die Familie Metz in AmerikaEine weitere große und nette Überraschungwar die unerwartete Mail, die ich von einemBill Metz aus Iowa erhielt. Hier ist der Anfang:

„Lieber Karl, ich heiße William Henry Metz,oder kurz Bill. Ich bin ein anderer Ur-Ur-Enkel von Conrad Metz, und wohne inSioux City, Iowa. Der Bruder Henry vonMaria Dilcher, geb. Metz war meinUrgroßvater. Ich glaube, dadurch sind wirVettern dritten Grades.“

In diesem Fall wusste ich sofort, um wen essich handelte. Waren doch die Iowa-Metzensfast hundert Jahre lang und zwei Weltkriegehindurch, mit der Maria Metz und dann mitderen Töchtern (meinen Großtanten) ununter-brochen in brieflicher Verbindung. Der letzteKontakt brach erst ab, als meine GroßtanteSophie 1981 starb. Auch verbinden mich noch„lebende Erinnerungen“ mit Bill: Von meinenGroßtanten und einem Großonkel hörte ichviele Geschichten über die drei amerikani-schen Metz-Brüder, und auch über die Brot-fabriken in Amerika, Bill kannte sie natürlichalle, und war dann später auch der letzteMetz als Geschäftsführer des Brotkonzerns. ImJahr 1961war man bei Dilchers und bei Met-zens in der Obergasse über die Nachrichteines Flugzeugabsturzes über New York

erschüttert, bei der eine Kusine der Groß-tanten ums Leben gekommen war; ich kannmich noch genau an die Aufregung erinnern.Bill kannte natürlich seine Tante, die um-gekommen war.Anders als bei den Atlanta-Dilchers, wo einemrelativ kurzen brieflichen Kontakt mit der altenWelt hundert Jahre „Funkstille“ folgten, stan-den bei den Metzens den erstaunlichen hun-dert Jahren Kontakt mit Harle nur eine Pausevon 23 Jahren gegenüber. Aber während inHarle noch viele Briefe aus Amerika erhaltensind, konnte Bill auf der anderen Seite keineHarler Briefe mehr finden; wahrscheinlichwurde das alles in den letzten Jahrzehntenweggeworfen, nachdem die alte Generationausstarb.Bei dem Kontakt mit Bill Metz ist noch interes-sant, dass er meine Internet-Seite von Harlenur deshalb fand, weil dort der Name Metz alseine Bildunterschrift vorkam. Erst später wurdeihm bewusst, dass hier eine verwandtschaft-liche Beziehung besteht, die um zwei Gene-rationen enger ist, als die zwischen mir undden Dilchers in Atlanta.Seit 1985 habe ich regelmäßig die Universi-tätsstadt Champaign in Illinois besucht undich wusste damals schon, dass es dort eineVerbindung mit den Metzens gab. Ich warallerdings bei meinen kurzen dienstlichenAufenthalten nie dazu gekommen, dieseSpuren zu verfolgen. Erst im Jahr 2005, als ichBill Metz zum ersten Mal traf, führte er mich zuden wesentlichen Stätten in Champaign undim nahe gelegenen Städtchen Tolono. Esstellte sich heraus, dass ich zuvor öfters, ohnees zu wissen, am ehemaligen Haus meinesUrgroßonkels Martin Metz vorbeigegangen

war. Die Verbindung zu Bill Metz und seinerFrau Nancy ist immer noch eng und herzlich.Nach meinem Treffen mit Bill in Illinois warenbeide schon zweimal in Harle, zuletzt EndeAugust 2007.

3. Die Familien Wee und Conway inAustralienIm April 1998 erhielten meine Eltern, ebenfallsunerwartet, einen am 12. April 1998 geschrie-benen Luftpost-Brief von einem Peter Conwayaus Sydney in Australien. Der Brief war in Eng-lisch, aber kurz darauf war ich zu Besuch inHarle, und so konnte ich mich darum küm-mern und ihn zunächst per Luftpost und spä-ter, zu Hause in Kanada, ausführlicher per Mailbeantworten. Durch die von Pfarrer Auel erhal-tenen Informationen und von dem, was PeterConway beitrug, ergab sich dann langsam dasBild der Familie Weh (oder Wee), das noch ineinem anderen Beitrag beschrieben ist. Peterund seine Frau besuchten vor einigen JahrenHarle und den Dilcherschen Hof, inzwischenist diese Verbindung eingeschlafen.

Der Autor ist in Harle geboren. Seit 1984lebt er mit seiner Familie in Halifax,Kanada, und arbeitet als Mathematiker ander Dalhousie-Universität.

120

Page 7: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

121

Johann Jost Heinrich DilcherJohann Jost Heinrich Dilcher wurde am 7. Juli1821 in Harle geboren. Seine Eltern waren derBauer Johann Heinrich Dilcher (17. Dezember1783 bis 12. Mai 1846) und seine Frau MariaElisabeth Dilcher, geborene Ackermann (30.August 1783 bis 12. April 1842). Es ist nichtgenau bekannt, welchen Rufnamen JohannJost Heinrich in Harle und in deutschen Lan-den hatte; in einem Brief, als er schon in Ame-rika war, erwähnte ihn sein Bruder beimNamen Jost Heinrich. Er selbst unterschriebdie noch erhaltenen Briefe von ihm mit Hein-rich Dilcher, und in Amerika nannte er sichHenry. Ich werde also im folgenden denNamen Henry benutzen.Henrys ältester Bruder Johann Heinrich (1807bis 1882) übernahm den Hof, wie es üblichwar, und deshalb lernte Henry ein Handwerk.Er ging im Oktober 1835 beim Schuhmacher-meister Wilhelm Hilgenberg in Felsberg in dieLehre, bis er im Oktober 1838 die Gesellen-prüfung bestand. Der Lehrbrief ist noch vor-handen und befindet sich nach wie vor imHause Dilcher in Harle. Nach genau 170 Jah-ren ist dieses Dokument noch erstaunlich guterhalten.

Es ist nicht bekannt, was Henry nach seinerLehre machte; 1845 aber, also im Alter von 23oder 24 Jahren, wanderte er nach Amerikaaus. Wie so viele andere Auswanderer ließ ersich zunächst in New York City nieder. Dortheiratete er am 2. August 1846 die KatharinaLutz aus Kirchheim im Kreis Hersfeld; sie warim Juli 1845 nach New York gekommen. Es istnicht bekannt, ob sich die beiden schon vorder Auswanderung gekannt oder ob sie sicherst in New York kennen gelernt hatten. DieTrauung fand in der „German MethodistChurch“ in der 2. Avenue statt. Zu dieser Zeitgab es in den meisten amerikanischen Groß-städten beachtliche deutsche Kolonien undStadtteile, oft „Little Germany“ genannt, miteigenen Geschäften, Kirchen und Tageszeitun-gen. Die Lebensbedin-gungen in New Yorkdürften jedoch injenen Jahren nichtsehr gut gewesensein, und so reistenviele Einwanderer baldweiter, darunter 1848auch Henry und seineFrau Katharina miteinem Säugling. Ineinem Brief nach Harlevom 22. Juli 1855,offenbar dem erstenBrief seit mehrerenJahren, schrieb er:„Vor 7 Jahren verließich die große Welt-stadt , das überallbekannte New York,um mein Glück im

Innern des Landes zu suchen, um mein Eigen-thum so schnell als möglich zu gründen, wasmir auch mit Hilfe Gottes, und durch den uner-müdeten Fleiß meiner Hände bald gelungenist. Ich habe mir schon vor einigen Jahren einsehr schönes großes Haus gebaut, darinnenich meinen schönen reich versehenen Kaufla-den von lauter Schuhen und Stiefeln habe. Ichbetreibe meine Profession mit den bestenErfolgen und beschäftige fortwährend vier bissechs Gesellen, und bin dennoch fast nicht imStande, soviel Arbeit zu verfertigen was ichverkaufen könnte. Ich habe noch so viel Raumübrig, dass ich jährlich über 100 Preussentha-ler Miete ziehen kann, von Hausleuten. InBeziehung auf meine Geschäfte bleibt mirnichts zu wünschen übrig.

Die Harler Dilchersin AmerikaKarl Dilcher

Der Lehrbrief des Johann Jost Heinrich Dilcher aus dem Jahre 1838.

Page 8: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

Ich habe es Gott sei Dank so weit gebracht,dass ich alle Tage wenn ich von hier wegwollte, und mein Eigenthum verkaufen würde,meine 5000 Preussenthaler habe. So keinUnglück über mich kommt, dem man freilichnicht im Stande ist, auszuweichen, so kann ichJahr für Jahr 500 Preussenthaler auf Zinsenanlegen.“Auch was die sonstigen sozialen Bedingun-gen betrifft , so scheint Henry sehr zufriedengewesen zu sein. Er schrieb weiter:„Man lebt hier frei und unumschränkt, brauchtdurchaus nicht zu schwitzen und zu seufzenunter dem Druck eines Regenten oder einerstolzen Obrigkeit, hier braucht man keinenHut zu ziehen, und der fleißige, geschickteGeschäftsmann gilt so viel, und hat zu sagen,was ein Millionär, ein Beamter und ein Pfaffezu sagen hat, und was ein jeder verdient, daskann er das Seinige nennen.“Auch die Stadt und die Umgebung scheinenHenry zu gefallen: „Was unsere Gegend hieranbelangt, so kann man sie zu einer der nahr-reichsten und gesündesten Gegenden desLandes zählen. Pomeroy, vor 20 Jahren kaumerdacht, ist bis jetzt schon zu einer Stadt her-angewachsen, Fabriken, Handel und Ackerbaustehen in Blüthe. Die Mehrzahl der Bewohnersind Deutsche. Was die Brot-Preise anbelangt,so sind sie hier billiger als in Deutschland,man hofft sie täglich noch immer billiger zubekommen, da wir dieses Jahr eine unge-heuer reiche Erndte haben, so dass es alleProdukte im mächtigen Überfluss hat.“Im übrigen scheinen die Brotpreise in vielenBriefen ein wichtiges Thema zu sein. Der fol-gende Auszug aus einem Brief von HenrysBruder, dem Harler Bauer Johann Heinrich an

den anderen Bruder Wilhelm in Amerika (vondem noch die Rede sein wird) ist auch im Hin-blick auf die politische Lage in Kurhesseninteressant und lässt ahnen, warum es vielejunge Menschen nach Amerika zog. JohannHeinrich schrieb am 28. September 1852:„Auch sind die Früchte seit 1846 in hohePreise gekommen, welches die armen Leutesehr drücket! Und was noch schlimmer war,lieber Bruder, es war auch im Jahr 1848 eineRevolution in ganz Deutschland und nament-lich auch in unserem Vaterlande ausgebro-chen, welche aber gottlob wieder durch frem-des Militär, nämlich durch Bayrische Soldatenvon welchen auch wir acht Wochen lang imQuartier gehabt haben, gedämpft worden ist.Es hat aber manche Stadt, manches Dorf undviele Familien sehr gedrückt und in Rückstandgebracht. Und hierdurch musste unser Militärauch vieles leiden. [. . .] Es sind auch nachdemmehrere Familien von hieraus [. . .] nach Ame-rika übergezogen, auch noch viele Burschenund Mädchen, welche ich nicht alle namhaftmachen kann.“Trotz seines überaus positiven Berichts hatHenry in seinem Brief von 1855 doch ein paarmahnende Worte an Freunde und Verwandtein Harle: „Schon seit 2 Jahren waren alleLebensmittel im hohen Preise, und der Armekonnte sich oft nicht satt essen, noch vielweniger seine arme Familie sättigen, was derFall am häufigsten war in den größeren Städ-ten. Ich als Landsmann und mit den hiesigenVerhältnissen ziemlich bekannt, warne jedenmeiner deutschen Landsleute, soviel als mög-lich wenn sie das gelobte Land betreten wol-len, die großen Städte zu meiden. Alles ziehtsich darauf hin, Arbeitskräfte sind überbesetzt,

während sie in kleinen Städtchen mangeln,und weit mehr erübrigen können, als in gro-ßen Städten.“Henry ermuntert daraufhin Freunde und Be-kannte, in seine Gegend zu ziehen, und erschreibt weiter: „Sollte es der Fall seyn, dassLeute aus Eurem Ort oder Umgegend hierherreisen, so würde es mir Freude machen, wennIhr solche an mich weisen würdet; seit 7 Jah-ren, dass ich mich hier niedergelassen haben,habe ich keinen Landsmann, noch wenigereinen Bekannten oder Freund gesehen. Arbeithat es in hiesiger Gegend immer, besser alsirgendwo, weil hier ungeheure Geschäftebetrieben werden. Die Reise von New Yorkhierher ist durchaus nicht beschwerlich undkostspielig, weil man bis hierher per Dampf-kraft theils zu Lande, theils zu Wasser fahrenkann.“Seiner eigenen Familie räumt Henry relativwenig Raum ein, doch er schreibt: „MeineFamilie besteht bis jetzt aus 3 Nachkömmlin-gen, zwei Buben und ein Mädchen, sie sindalle gesund und frisch, dergleichen ich vonmir und meiner lieben Frau berichten kann,und ebenfalls von Euch hoffen will.“Der Familie scheint es weiterhin gut zu gehen;1870 wird das Gesamtvermögen schon mit$ 30000 angegeben. Später wird das großeHaus zum „Grand Dilcher Hotel“; es existierenAufnahmen mit diesem grandiosen Namens-zug. Weiteren Einblick in Henrys Lebensum-stände bekommen wir durch Briefe in die Hei-mat von seinem damals 16-jährigen NeffenAndreas, der im Herbst des Jahres 1870 zuihm gezogen war; von ihm soll später nochdie Rede sein. Andreas schrieb im Februar1871:

122

Page 9: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

123

„Ich hatte mir Amerika nicht so vorgestellt, wiees ist. Wenn nichts vorfällt, kommt mein Onkeleinmal nach Hause, und besucht Euch. Ichkann Euch versichern, er ist reicher als Ihrgeglaubt habt. Soviel ich weiß, hat er aneinem Platze 10000 Dollar auf Zinsen, dannhat er viele Häuser, und sonst noch viel Geldauf Zinsen. Er hat auch viel Land, 400 Acker.Ich helfe im Laden Ware verkaufen. Er hat einSchuh und Stiefel Geschäft, die er kauft undwieder verkauft. [. . .] Mein Onkel ist ungefähr75–80000 Taler reich.“Aus einem späteren Brief von Andreas gehthervor, dass Henrys Geschäfte sich nicht aufSchuhe und Stiefel beschränkten. Am 20.Oktober 1872, seinem 18. Geburtstag, schriebAndreas, dass er und Heinrich (wahrscheinlichsein oben schon erwähnter Vetter Henry,damals 18 oder 19 Jahre alt) immer alleine imLaden seien. Er fuhr fort: „Mein Onkel geht fastjeden Tag nach Clifton, West Virginia, daselbstist er Führer eines Salzwerkes wo er Geld dar-innen hat . Und auch Hypotheken. Hierbekommt er 100 Dollar den Monat. [. . .] Ichgehe in bald 2 oder 3 Wochen nach Cincin-nati mit Onkel um Ware zu kaufen. Wir habendas größte Schuhgeschäft in dieser Stadt.“Pomeroy liegt direkt am Ohio-Fluss, ein schiff-barer Strom, der hier die Grenze zum StaatWest Virginia bildet. Es gab über die Jahreeinige verheerende Überschwemmungen; einaltes Bild zeigt das „Grand Dilcher Hotel“ mitden Fluten bis zum Oberrand des Erdge-schosses.Bis 1889 liegt dann kein Brief mehr vor. Zudem von Andreas erwähnten Besuch inDeutschland ist es offenbar nie gekommen,wahrscheinlich zunächst der Geschäfte we- Pomeroy, Ohio, Ende des 19. Jahrhunderts. Das „Grand Dilcher Hotel" ist in der Bildmitte zu sehen.

Hochwasser in Pomeroy, 1884.

Page 10: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

gen, und dann aus Gesundheitsgründen, wieHenry selbst am 7. April 1889 seinem NeffenJohann Georg Dilcher, dem damaligen Hof-besitzer, schrieb. Henry wundert sich in sei-nem kurzen Brief darüber, dass er lange nichtsmehr von seiner Schwester gehört hatte;wahrscheinlich handelt es sich um AnnaKatharina, die nach Gensungen geheiratethatte. Der damals 67jährige Henry schriebweiter: „Bei mir geht es rückwärts anstattvorwärts, bin schon ein ganzes Jahr krank undbeinahe blind. Aber morgen will ich fort undnach Cincinnati bei einen Doktor, um meineAugen zu operieren lassen, mit Gottes Hilfe eswird mir geholfen werden, denn am Herrnalleine steht meine Hoffnung. Genug davon.Wir können sonst nicht klagen, bloß wenn ichnur wieder gesund wäre und Licht hätte.“Weiter liegt uns über Henry Dilcher nichts vor.Seine Frau lebte 1889 auch noch, ich weißaber nicht, wann sie starb. Henry starb im Jahr1900 und liegt in Pomeroy auf dem Friedhof„Beach Grove Cemetery“ mit Katharina zusam-men begraben. Die Grabstelle und der Grab-stein bestehen noch. Der am Anfangerwähnte Hank Dilcher aus Atlanta war derUrenkel von Henry Dilcher.

Wilhelm (William) DilcherAußer Henry wanderte auch sein ein bis zweiJahre jüngerer Bruder Wilhelm nach Amerikaaus. Von ihm ist viel weniger bekannt, eswurde aber von den alten Dilchers erzählt, ersoll eher ein „Nichtsnutz“ gewesen sein. Ermuss in den gleichen Jahren wie Henry aus-gewandert sein und lebte lange in Texas. Nurein Brief aus Texas ist erhalten geblieben; dieSchrift ist schlecht und kaum leserlich. Ärger

und Verbitterung seiner Familie gegenübergehen daraus hervor. So schrieb er unteranderem, „Ihr hieltet mich immer für einenNichtsnutz, aber jetzt bin ich ein Mann derWelt !“ Am 28. September 1852 schrieb derBauer Johann Heinrich seinem Bruder Wil-helm, der offenbar seit seiner Auswanderung1846 (oder früher) noch nichts wieder ausHarle gehört hatte. So schrieb Johann Hein-rich: „Wir haben nun schon vier Briefe von Direrhalten und mit großer Freude daraus ent-nommen, dass Du mit Deiner lieben Familienoch damals bist gesund gewesen. Der Herrmag geben, dass Dich und die lieben Deini-gen diese wenigen Zeilen der Liebe mögennun auch einmal antreffen, denn wir habenDir schon zwei Briefe geschrieben wovonalso, wie wir aus Deinem letzten Schreibenvom 9. August d. J. ersehen haben, noch kei-ner angekommen ist, welches uns allen herz-lich leid ist. Ich ergreife daher nochmals dieFeder, um Dir, lieber Bruder, soviel was Noththut von hieraus mitzutheilen, was sich alles inunserer Familie seit Deiner Wegreise bis hier-hin zugetragen hat.“Dieser Brief ist uns erhalten geblieben, denner wurde aus irgendeinem Grund nie fertig-geschrieben (es fehlen Gruß und Unterschrift)und offensichtlich auch nicht abgeschickt. Derandere Bruder, Henry in Pomeroy, drückt sichweniger herzlich über Wilhelm aus. Soschreibt er in seinem oben schon zitiertenBrief vom 22. Juli 1855 nach Harle: „Von Bru-der Wilhelm kann ich Euch wenig Auskunftgeben. Er hat mir zwar schon mehrere Briefegeschrieben, welche aber von verschiedenemInhalte sind, so dass ich wenig Gewicht darauflegen kann. Einmal schreibt er mir, es ginge

ihm sehr gut, das anderemal ersucht er michum Geld; ich habe ihm, um seinem Wunschezu begnügen, 10 Dollar geschickt. Das ist alles,was ich von ihm zu sagen weiß.“Dennoch muss sich Henry doch etwas um sei-nen wahrscheinlich schwierigen Bruder Wil-helm gekümmert haben. Denn die schonerwähnten Volkszählungs-Aufzeichnungenvon 1860 in Pomeroy zeigen einen 37jähri-gen Kaufmann Wm. Dilcher, in Deutschlandgeboren, und mit einem Vermögen von $ 300,aber ohne Grund und Boden. Im gleichenHaushalt wohnten die 29-jährige Elizabeth,ebenfalls in Deutschland geboren, und dieTöchter Josephine (10) und Anna (8), beide inTexas geboren. Weiter ist über Wilhelm undseine Familie nichts bekannt; so weiß ich auchnicht, ob sie 10 Jahre später bei der nächstenVolkszählung noch in Pomeroy wohnten.

Andreas DilcherAuch Mitglieder der nächsten Generation vonDilchers wanderten nach Amerika aus. Einervon ihnen war Andreas, Sohn des BauernJohann Heinrich (1807 bis 1882) und seinerzweiten Frau Anna Elisabeth, geborene Faber(1824 bis 1884), und jüngerer Bruder des spä-teren Bauern Johann Georg (1850 bis 1918).Andreas wurde am 20. Oktober 1854 in Harlegeboren; zu dieser Zeit lebten also schonzwei seiner Onkel in Amerika. Seine Nichten,die Großtanten auf dem Dilcherschen Hof,erzählten später, dass Andreas sehr begabtgewesen sei. Der damalige Harler PfarrerFriedrich Heinrich Brauns erkannte das undgab ihm Latein-Unterricht, wohl mit dem Ziel,dass er später Lehrer oder Pfarrer werdenkönne. Andreas spielte auch Klavier, wahr-

124

Page 11: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

125

scheinlich ebenfalls beim Pfarrer gelernt. ImHerbst 1870, es herrschte gerade Krieg mitFrankreich, reiste Andreas nach Amerika zuseinem Onkel Henry. Ob der Krieg und dieGefahr des späteren Einzugs mit der Entschei-dung zur Auswanderung zu tun hatten, istnicht bekannt. Durch drei erhaltene Briefe indie Heimat in den Jahren 1871–1873 wissenwir einiges über Andreas und seine erstenJahre in Amerika.Er beginnt den ersten dieser Briefe mit einerbitteren Klage darüber, dass ein früherer Briefnoch nicht beantwortet wurde, und schreibt:„Ich möchte deshalb wissen, was der Grunddes langen Zögerns ist.“ Er wiederholt danndie Beschreibung seiner langen Reise: „Ichhab 10 Tage in Bremen gelegen und 1 Tag inBremerhafen, dann bin ich mit dem [unlesbar]nach Hull gereist. Hier hab ich abermals zweiTage müssen liegen. Sodann bin ich mit derEisenbahn nach Liverpool gereist, wo ich 21Tunnel passiert habe. Hier hab ich sechs Tagegelegen, sodann bin ich auf das Schiff Man-hattan gegangen, und hat 16 1/2 Tage genom-men, bis wir nach Neu-York gekommen sind.Hier bin ich einen Tag liegen geblieben, sodann bin ich mit der Eisenbahn bis nach Bal-timore gefahren, hier hab ich abermals einenTag gelegen, und bin dann mit der Eisenbahnweiter fort bis Pittsburg, dann bin ich auf einSchiff gestiegen und bin von dort nach Pome-roy gereist, wo es mir bis jetzt ganz gutgefällt . Als ich hier ankam, hat mich der Onkelgleich erkannt.“ Er schrieb, dass es ihm dortgut gefalle, aber er klagte etwas über dieviele Arbeit. Im dritten und letzten uns vorlie-genden Brief schrieb Andreas am 27. Juni

1873: „Auch ich befinde mich im besten Wohlin meinem neuen Geschäfte. Ich habe esEuch schon in einem anderen Briefe mitge-teilt , dass ich nicht mehr beim Onkel bin. Esgefällt mir hier sehr gut. Jedoch die Sehn-sucht nach Hause steckt noch immer in mir.“In diesem Brief teilt er seinen Eltern einigesehr wichtige Dinge mit. Er schreibt weiter:„Liebe Eltern, inliegend übersende ich Euchdas Bild von mir und meiner Braut. Katie Mil-ler ist ihr Name und ist 16 Jahre jetzt alt . Siekann sehr wenig deutsch sprechen. Es ist jetztein Jahr dass ich mit ihr gegangen bin. Sie hatmir einen goldenen Ring gekauft for 22 Dol-lar. Sie ist jetzt nicht hier, sie ist zu Besuchgegangen 36 Meilen von hier. Ich gehe dahinnächste Woche und hole sie. [. . .] Ich bin näm-lich den May bekannt mit dem Mädchengeworden. Ich habe mehrere Schüler gehabtKlavierspielen zu lernen. Ich habe ihr Klavier-stunden gegeben, und habe sie frei gelernt,sie war damals bei ihrer Tante.“ Die zweitewichtige Mitteilung betrifft seine beruflicheZukunft. „Ich bin schon so weit in meinemStudieren, dass ich schon Hilfsdoktor bin undeinen sehr guten Lohn verdiene. Ich mussjetzt so viel studieren, dass ich nicht viel Zeitbekomme zu schreiben. Es ist jetzt 11 Uhr desNachts, und bin soeben fertig mit studierengeworden. Ich wette, wenn Ihr mir jetztbegegnen tätet, Ihr tätet mich nicht kennen.[. . .] Ich bin auch Buchhalter für einen Doktorhier, der bezahlt mich auch gut, so dass ichmein gutes Auskommen habe.“Diese beiden Themen hat Andreas übrigensziemlich durcheinander geschrieben, bevor erdann mit der großen Nachricht kam: „Ich

wollte ich könnte bei Euch sein den 20. Okto-ber wenn ich 20 Jahre alt werde, dann istunsere Hochzeit. Ich erinnere mich öfters andie Worte welche meine Mutter sprach. Geldund Gut kann einem genommen werden,aber Wissenschaft nicht.“ Dann kommt erdoch noch einmal auf die Medizin zurück:„Die Cholera ist jetzt hier und da muss ich alleTage fort und die Kranken besuchen. DieseWoche muss ich einem Kinde von 13 Jahrendas rechte Bein abnehmen, denn es ist einhartes Ding. Obwohl es das zweite ist, das ichabnehme.“Andreas entschuldigt sich noch wegen desschlechten Schreibens, denn es sei in Eilegeschehen, und fügt am Ende noch als Nach-schrift hinzu: „Schreibt so bald als möglich,denn ich werde wahrscheinlich nach zweiMonaten auf die Universität gehen, um meinePapiere zu bekommen als Doktor und Apo-theker.“Ob Andreas überhaupt noch die Universitätbesucht hat (und welche eigentlich?) stehtnicht fest. Er ist jedenfalls jung gestorben,möglicherweise bei der Ausübung seinesBerufes; er erwähnte ja eine Cholera-Epidemie. Eine Tochter soll er gehabt haben,und mehr ist über Andreas Dilcher nichtbekannt.

Page 12: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

Eisenbahn immer weiter gen Westen getrie-ben, und mit ihr auch die Armee. Durch bei-des wurden den Siedlern relative Sicherheitund gute Transportmöglichkeiten für ihr neuesLeben in Amerika beschert. Balthasar sah inAnzeigen in den Lokalzeitungen, dass ein grö-ßerer Eisenbahnknotenpunkt in Tolono, einemkleinen landwirtschaftlichen Städtchen imZentrum des Staates Illinois, gebaut werdensollte. In der Hoffnung, am daraus resultieren-den Wachstum dieser Gemeinde teilnehmenzu können, zog er 1858 mit Frau und Tochterund mit seinem Bruder nach Tolono und grün-dete dort eine Schirrmacherei.Die ersten Jahre waren gut. Phillip Williamwurde 1860 geboren und George im Jahr1863. Doch dann wendete sich vieles für dieFamilie zum schlechten. 1882 starb Balthasaran einer Herzkrankheit, die durch Alkohol ver-schlimmert worden war. Die Tochter Elizabethstarb 1884 an den Folgen einer Geburt. DiePechsträhne für die Familie riss nicht ab, imOktober 1887 kam der jüngste Sohn Georgebei einem Eisenbahnunglück in Centralia, Illi-nois, ums Leben. Fast genau ein Jahr späterstarb die Mutter Elizabeth. [. . .]

Wilhelm J. MetzDer zweite Harler Metz, der in Amerika lan-dete, war der schon erwähnte Wilhelm Johan-nes Metz, seinen Eltern Wilhelm und Marthaam 23. Januar 1835 geboren. Im Alter von 19Jahren kam er am 26. Juli 1854 in New Yorkan. Er könnte dort schon auf seinen BruderBalthasar gestoßen sein, aber es ist wahr-scheinlicher, dass er die Reise nach Amerikaerst gewagt hat, als sein Bruder schon Fußgefasst hatte. Das bedeutet, dass Wilhelm

126

Die Harler Metzin AmerikaBill Metz

Die folgende Geschichte handelt von fünfHarlern aus der Familie Metz, die nachAmerika ausgewandert sind. Aufgeschrie-ben hat sie Bill Metz, ein Cousin 3. Gradesaus den USA.Bill Metz hat sich intensiv mit der Ge-schichte der nach Amerika ausgewander-ten Familienangehörigen auseinanderge-setzt, so dass an dieser Stelle nur Auszügewiedergegeben werden können.

Der 2. März 1794 in Harle sah die Geburt vonWilhelm Metz, Sohn von Arnold Metz undAnna Elisabeth, geborene Röll. Wilhelm heira-tete Martha Elisabeth Siebert am 9. Juni 1822in Harle. Zwei Söhne und drei Enkel, die ausdieser Ehe hervorgingen, wanderten nachAmerika aus. Dies ist ihre Geschichte.

Balthasar MetzBalthasar Metz, Sohn von Wilhelm und Mar-tha, wurde am 23. Mai 1826 in Harle (Anm.:Harler Mühle) geboren. Balzer, wie man ihnnannte, war das dritte von neun Kindern, undder zweitälteste Junge. Er arbeitete auf dem

elterlichen Hof und auch als Schirrmacher bis1851. Im April 1851 starb sein Vater, und derHof ging an Balzers älteren Bruder Arnold.Dies war wahrscheinlich der Anlass für den25-jährigen, sein Los zu verbessern. Am 21.August 1851 traf Balthasar im Hafen von NewYork ein.[. . .] 1865 siedelte er sich in Allen County imStaat Ohio an, einer landwirtschaftlichenGegend mit sanften Hügeln und vielen Flüs-sen, Bächen und Kanälen. Allen County mussBalzer an seine Harler Heimat erinnert haben.Es gab viele Möglichkeiten, denn der größteOrt, Lima, war erst 16 Jahre zuvor gegründetworden und hatte jetzt schon mehr als 2500Einwohner. Irgendwann zwischen 1854 und1856 wurde Balzer mit seinem jüngeren Bru-der Wilhelm wieder vereint, der am 26. Juli1854 in New York angekommen war.In der Kreisstadt Lima wurden am 23. Januar1857 Maria Elisabeth Klinger aus Darmstadtund Balthasar getraut. Am 17. Oktober 1857wurde eine Tochter, Elisabeth, dem jungenPaar geboren.In den Jahren vor dem Bürgerkrieg wurde die

Page 13: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

127

wahrscheinlich direkt nach Allen County inOhio reiste. Im Jahr 1858 zog Wilhelm mit Bal-thasar und seiner Familie nach Tolono, undfünf Jahre lang lebte er mit ihnen und arbei-tete mit seinem Bruder im Schirrmacher-Gewerbe.Am 27. Januar 1863 heiratete Wilhelm eineMathilda Auguste Rothermund aus Hannover.Wilhelm arbeitete weiter in der Schirrmachereiseines Bruders und dem Paar wurden 7 Kin-der in Tolono geboren.In den späten 1870er Jahren erwogen Wil-helm und sein ältester Sohn Adolph die Mög-lichkeit, in Sioux City im Staate Iowa ihreeigene Schirrmacherei zu eröffnen. Die Zeitun-gen schrieben, dass Sioux City, mit seiner Lageinmitten besten Farmlandes und mit einemhervorragenden Binnenhafen und Eisenbahn-verbindungen, das „nächste Chicago“ seinwürde. Nach Balthasars Tod im Jahr 1882erfüllte Wilhelm seinen Traum, und er undAdolph zogen nach Sioux City. Mathilda undder Rest der Familie kamen 1883 nach.

Der Familie ging es zunächst gut in Sioux City.Im Jahr 1888, als der Jüngste gerade fünfJahre war, zog Wilhelm allein nach Emerson inNebraska, etwa 40 Kilometer von Sioux Cityentfernt. In Emerson öffnete er eine neueSchirrmacherei und man las in Anzeigen:„Zwei Standorte – Sioux City und Emerson“. InWahrheit allerdings konnten er und Mathildanicht mehr friedlich miteinander leben. Im Juli1891 ließ Mathilda sich nach 27 Jahren Ehescheiden. Alten Briefen zufolge waren die Kin-der und Verwandten schockiert darüber, dasssie die Scheidung von „Willy“ ersucht hatte.Im August 1901 erschien Wilhelm wieder anseinem alten Haus in Sioux City. Er hatte klei-nere Schlaganfälle erlitten und konnte nichtmehr für sich selbst sorgen. Mathilda nahmsich selbstverständlich seiner an, brachte ihnins Bett und pflegte ihn die folgenden vierWochen. Am 24. September starb „Willy“,umgeben von seiner ganzen Familie.“

Die nächste GenerationKonrad Metz, ein Bruder von Wilhelm undBalthasar, wurde am 8. April 1833 in Harle ge-boren. Er zog durch seine Heirat mit AnnaKatharina Mose 1857 in das Haus 18 (heuteObergasse 1) ein. Von den neun Kindern, diediese Ehe hervorbrachte, wanderten dreiSöhne nach Amerika aus.

Heinrich MetzDer erste von den dreien, die auswanderten,war Heinrich, geboren am 22. Februar 1866.Als Heinrich 18 wurde, reiste er nach Londonund besuchte dort bis 1889 eine Bäckerei-schule. Bereits zu dieser Zeit wurde HeinrichsZukunft 6000 Kilometer weiter westlich inSioux City bestimmt.Vermutlich durch Vermittlung eines Cousins inAmerika kam Heinrich Metz am 11. Mai 1889in New York an. Er fuhr mit der Bahn nachSioux City und begann für Henry Fachmann,einen Bäckereibesitzer, zu arbeiten, währender zunächst bei Wilhelm und Mathilda Metz

Heinrich Metz und Henriette Fachmann-Metz, 1895Martin und Anna MetzWilhelm und Marie Metz, 1924

Page 14: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

wohnte, seinem Onkel und seiner Tante. Derjunge Metz passte ganz gut in die „FachmannVienna Bakery“. Heinrich hatte eine gute Aus-bildung in seinem Beruf, und er war ein hei-ratsfähiger Junggeselle. Die Beziehung zwi-schen Heinrich und der Familie Fachmannwurde enger und das Geschäft blühte.Schließlich verkaufte Henry Fachmann im Juni1892 seine Bäckerei an Heinrich Metz. Hein-rich hatte weiterhin ein gutes Verhältnis zuseinem früheren Arbeitgeber und im Novem-ber 1895 heiratete er Henry Fachmannszweite Tochter Henrietta Angelica.Henrietta war damals 24 und bald war daserste Kind unterwegs. Am 30. Oktober 1896wurde Henry Metz, jun. geboren. Doch gingdie Freude schnell inTrauer über, denn am5. November starbHenrietta am Kind-bettfieber, kurz vorihrem 1. Hochzeits-tag. Am 8. Februar1898 heiratete Hein-rich Metz Senior dievierte Tochter derFachmanns, die 21-jährige Virginia Con-cordia. Das Paar hatteeinen Sohn und dreiTöchter.Im Jahr 1908 begannHeinrich Metz einezweite Karrierre, alser zum Stadtverord-neten für den 4.District in Sioux Citygewählt wurde, eine

Gegend mit etwa 10000 Einwohnern. 1912begann er eine 6-jährige Amtszeit im Kreisrat.Im folgenden Jahr wurde Heinrich von WinnCampbell, einem anderen Bäckereibesitzer,aufgesucht. Dieser hatte den mittleren Westendurchreist und hatte Mehrheitsanteile anBäckereien aufgekauft, während er die Vorbe-sitzer in den Vorständen und Geschäften be-ließ, um weiteres Wachstum und Wohlerge-hen der einzelnen Bäckereien zu garantieren.Winn und Heinrich schlossen einen Vertragab, unter dem Heinrich seine Bäckerei an dieCampbell Baking Company für Bargeld undAnteile in der neuen Firma verkaufte. Sie arbei-teten drei weitere Jahre unter diesem Abkom-men zusammen und vollendeten 1919 den

Bau einer neuen kommerziellen Bäckerei mitgroßem Ausstoß. Heinrich verkaufte dannseine verbliebenen Anteile an der neuenFirma und ging in den Ruhestand.1922 eröffnete Heinrichs Sohn Henry MetzJunior einen eigenen Betrieb, die MetzBrothers Baking Company, „Bakers of ButternutBread“. 1926 wurde der Betrieb an einenneuen und größeren Standort verlegt. DieBäckerei von Heinrich Senior war 1919 ge-schlossen worden, als der neue Campbell-sche Betrieb eröffnet worden war. Und nunkaufte Henry Junior das alte Gebäude, bauteneue Maschinen ein, und es wurde als „MetzBrothers Old Home Bakery” wiedereröffnet,sinngemäß die „Alte-Heimat-Bäckerei der Ge-

brüder Metz.“ Dasneue Geschäft wuchsschnell. Wie zuvorsein Vater, belieferteHenry jun. die ganzeStadt mit Lieferwa-gen, und er belieferteauch Ortschaften perBahn, die in alle Rich-tungen an der Eisen-bahnlinie lagen. ImJahr 1929 starb Hein-rich Senior, der Aus-wanderer aus Harle,ziemlich unerwartetan einer Bauchfell-entzündung nach ei-ner Krebsoperation.Im Jahr 1935, mittenin der „Great Depres-sion”, wie die Welt-wirtschaftskrise in

128

Blick in eine Filiale von Henry Metz Sen. Bäckereigeschäften, 1892. Henry steht links am Verkaufstresen.

Page 15: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

129

Amerika genannt wurde, hatte Metz Baking70 Lieferwagen in Betrieb und einen jähr-lichen Brotumsatz von 3 Mio. Dollar. 1939kaufte Henry jun. einen anderen Bäckereibe-trieb in Sioux Falls im Staat South Dakota, etwa120 Kilometer nördlich von Sioux City. Im Jahr1945 produzierte der Gesamtbetrieb 225 000Kilo Brot pro Woche mit einem Jahresumsatzvon 4 Mio. Dollar.Im Jahr 1946 tritt Henrys Sohn William C. Metzim Alter von 24 Jahren als stellvertretenderGeschäftsführer in den Betrieb ein.Das nächste Jahr 1948 war wieder ereignis-reich für die Familie. Eine neue Bäckerei wurdeim Februar in Water-town in South Da-kota eröffnet undeine neue Brotfabrikging im Juli in SiouxCity in Betrieb. Mit11000 Quadratme-tern und einer Inve-stition von 1,25 Mio.Dollar war dies diemodernste Groß-bäckerei des Landes.Während 1926 in derersten Metz BrothersBakery 8 500 LaibBrot am Tag gebak-ken wurden, warenes nun 8500 LaibBrot pro Stunde.1953 wurde WilliamC. zum Geschäftsfüh-rer ernannt und eineweitere neue Brotfa-brik wurde in Sioux

Falls in South Dakota gebaut. 1955 wurdeeine andere Großbäckerei aufgekauft, die inHuron und Rapid City, South Dakota, ansässigwar; ein Gesamtumsatz von 10 Mio. Dollarwurde 1958 überschritten.Im Jahr 1971 bestand der Betrieb aus neunFabriken und der Jahresumsatz betrug 35 Mio.Dollar. Während der 1970er Jahre kamennoch Großbäckereien in Minnesota und Utahhinzu und es wurden moderne neue Produk-tionsstätten in Minneapolis und Salt Lake Citygebaut mit einem Ausstoß von je 10000 Kilopro Stunde. 1978 betrug der Umsatz 105 Mio.Dollar mit 15 Großbäckereien in neun Staaten.

Im Mai 1980 starb Henry Metz Junior in SiouxCity. [. . . ] Er hinterließ ein beachtliches Ver-mächtnis mit dem fünftgrößten Bäckerei-konzern des Landes, einem Sohn, der denKonzern weiter ausbaute, und zwei Enkeln,die die Zukunft sicherten. Und weiteresWachstum stand noch bevor.Die 1980er Jahre sahen eine Konsolidierungder Betriebe vor, wobei weitere neue Produk-tionsstätten errichtet wurden, ältere unrenta-ble hingegen geschlossen wurden. William H.(Urenkel des aus Harle ausgewanderten Hein-rich Metz und Autor dieser Abhandlung.Anzumerken ist, dass Bill die Kurzform von

William ist) wurde1983 stellvertreten-der Geschäftsführerim Alter von 34 Jah-ren, sein BruderHenry wurde Produk-tionsleiter mit 32 Jah-ren. William C. Metzwar bis dahin dereinzige, der zweiAmtsperioden hinter-einander zum Vorsit-zenden der Ameri-kanischen Bäckerei-Vereinigung gewähltwurde, unter derenMitgliedern sich alleGroßbäckereien desLandes befanden.1988 kam es zurFusionierung mitdem Heilman-Kon-zern, wobei WilliamH. Metz (Bill Metz)

Die „Metz Baking Company” im Jahr 1969 mit den wichtigsten Standorten ihrer Brotfabriken und den Ver-triebszentren im Mittleren Westen der USA. Die Hauptzentrale mit Sitz in Sioux City ist auf dem Bild eben-falls zu erkennen.

Page 16: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

Generaldirektor wurde. Der Gesamtkonzernhatte mit 6 400 Mitarbeitern einen Umsatzvon 500 Mio. Dollar und einen Ausstoß von10 Mio. Kilo Brot und Backwaren pro Woche.Der Konzern verkaufte nun seine Produkte ineinem Drittel des Landes, von Detroit bis SaltLake City, und von Kansas City bis an die kana-dische Grenze.Die folgenden fünf Jahre waren jedoch sehrschwierig. Durch den schlecht geführten Heil-man-Konzern geriet der Gesamtkonzern inSchwierigkeiten, und am Ende sah sich Wil-liam H. 1993 zum Rücktritt gezwungen und imgleichen Jahr wurde der Konzern an einetexanische Investoren-Gruppe verkauft.William C. Metz (Enkel von Heinrich Metz)starb 2001. Einer der beiden Söhne, Bill, lebtmit seiner Frau Nancy an der Stadtgrenze von

Sioux City und hat eine Tochter, Hillary, undeinen Sohn, Conrad.

Wilhelm und Martin MetzNach Heinrich Metz wanderten noch zweiweitere Söhne von Konrad und KatharinaMetz nach Amerika aus: Martin Metz traf 1888in Baltimore ein, sein Bruder Wilhelm Johan-nes Metz im Februar 1903 in New York.Martin verbrachte zunächst ein Jahr in SiouxCity bei seinem Onkel Wilhelm (genannt Willy)und Tante Mathilda. Willy hatte seine Bezie-hungen zur Gegend um Champaign im StaatIllinois aufrechterhalten, und konnte Martineine Arbeit als Geselle in einem Wagenbau-Betrieb vermitteln. Martin zog also 1889 nachChampaign, um in der Firma „George ElyWagons” zu arbeiten. 1892 kaufte er den

Betrieb und war damit sein eige-ner Herr. Martins Betrieb wuchsund er wurde sogar Teilhaber ineinem örtlichen Kohlevertrieb.Champaign war nicht nur einwichtiger Eisenbahnknotenpunktin Illinois geworden, die Stadtbeherbergte auch die größteStaats-Universität von Illinois.Wilhelm Metz arbeitete nach sei-ner Ankunft in Amerika vieleJahre bei seinem Bruder Heinrichin der Bäckerei. Weil Heinrich sei-nen wichtigsten Leuten Anteileam Betrieb gegeben hatte, hatteWilhelm nun genug Geld, umsich ein Lebensmittelgeschäft inSioux City zu kaufen. Es war dieZeit der Prohibition und Wilhelmmachte ein gutes Geschäft mit

der Lieferung von Zucker, Malz und Hefe anillegale Brauer in Nebraska. Wilhelm war nichtnur bei den Alkohol-Schmugglern beliebt,sondern auch bei den Damen; doch all dasendete abrupt, als er Marie kennen lernte.Für den 49-jährigen William war die Marie mitihren 34 Jahren eine Schönheit. Und siekonnte kochen. Keiner von beiden war vorherverheiratet gewesen, als sie am 26. November1924 in Chicago getraut wurden und dann inSioux City zusammen lebten. Martin und Wil-liam pflegten ein enges Verhältnis über dieJahre.Es stellte sich dann heraus, dass Martin späterviel Beistand von der Familie nötig hatte.1940 starb Martins älteste Tochter Marie nacheiner schweren Operation in Champaign. ImJahr 1955 starb Martins geliebte Frau Anna,was Martin sehr schwer traf. Damit aber nichtgenug: Kurz vor Weihnachten 1960 flog Elsie(Martins andere Tochter) nach New York, umdas erste Enkelkind zum ersten Mal zu sehen.Es war bewölkt an diesem Tag in New Yorkund wegen der Feiertage war der Luftverkehrsehr dicht. Durch einen tragischen Fehler derFlugsicherung stieß das Flugzeug, in dem Elsiesaß, mit einer anderen Passagiermaschine in1600 Meter Höhe über dem New YorkerStadtteil Staten Island zusammen. Der einzigeÜberlebende von beiden Maschinen war ein11-jähriger Junge, der dann allerdings zehnTage später auch seinen Verletzungen erlag.Martin Metz war damals 97 Jahre und nunpraktisch allein. Er starb im Mai 1961 in einemPflegeheim in Champaign.1971 starb Wilhelm Metz ebenfalls im Altervon 97 Jahren in Sioux City. Er war der letzteder Metz-Jungen, die aus Harle ausgewandert

130

Heinrich Metz mit seinen Söhnen Henry Jr. und Arnold, 1903. BruderWilhelm steht hinter Henry Jr.

Page 17: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

131

Der Ausschnitt eines Zeitungsartikels einer amerika-nischen Lokalzeitung zu Ehren des 90. Geburts-tages von Martin Metz.

ganzen Platze alles Maschinen hat 60 Milch-kühe alles Holsteiner und daneben ungefähr300 junge Stiere zum Fettmachen, jedenMonat 50 fette Schweine alles was auf derFarm gezogen wird, wird verfüttert. Nun diesesist so ungefähr alles für Heute. Wie es scheinthat euch der Besuch von Onkel Martins Enke-lin gut gefallen! Herzliche Grüße an euch allevon uns beiden Onkel Will“Die Briefe waren meistens unpolitischer Natur.Manchmal findet man aber auch zu politi-schen Ereignissen Kommentare.Martin Metz, Dezember 1938:„es ist jetzt hier große Aufregung über euernHerr Hitler wegen den Juden und auch überalle anderen (. . .?) wegen Österreich und Böh-men usw. und die Zeitungen bringen vielenHaß gegen Deutschland ob es aber alles so istweiß man ja hier nicht. Natürlich weiß man,was Hitler so alles vorhat, man will es nur

waren. Seine Marie war schon 1967 gestor-ben. In seiner Trauer konnte William nursagen: „Das war der übelste Streich, den siemir je gespielt hat”.

Epilog von Hartmut DilcherWilhelm und Martin Metz standen in all denJahren bis zu ihrem Tod in enger Verbindungmit Harle. Aufgrund der „Sammelwut” der Dil-chers liegen auf unserem Hausboden Kistenvon Briefen und Zeitungsausschnitten ausdem vergangenen Jahrhundert.Von allen drei Brüdern hat Martin am intensiv-sten an seine alte Heimat gedacht. In seinenBriefen taucht immer wieder die Sehnsuchtnach Harle auf. Hier ein Auszug aus dem Jahr1938: „Liebe Marie Dilcher und alle zumersten wünsche ich euch allen fröhliche Weih-nachten und seliges neues Jahr um diese Zeitdes Jahres und Zeit vor Weihnachten ist dieSehnsucht manchmal nach der alten Heimatso muss ich ein paar Zeilen schicken und eskönnte vielleicht das Letzte sein die Jahrerücken bei mir ja heran.“Die deutsche Sprache hat in all den Jahrenetwas gelitten, aber wer kann das verdenken.Zeichensetzung sucht man ebenfalls vergeb-lich.Auszug aus einem Brief von Wilhelm Metz andie alte Heimat (1947):„Meine lieben Dilchers[. . . ] Wir waren letzte Woche zu Besuch beiArnold – den zweiten Sohn von Onkel Henry(Anm.: Heinrich Metz) – er hat eine 640 AckerFarm so ungefähr 100 Kilometer nördlich vonhier und ich wünschte bloß daß Karl (Anm.:Landwirt Karl Dilcher, Obergasse 9) sich diemal ansehen könnte nicht ein Pferd auf dem

nicht wahrhaben. Auch nicht als Auswandererim fernen Amerika.”Wilhelm Metz im Juli 1940:„Meine lieben Dilchers Euern lieben Brief, wel-cher am 9. März geschrieben war, haben wiram 28. Juni erhalten wo er all die Zeit herum-getrieben ist nun das ist eben ein Rätsel Viel-leicht war er in Französischen Händen undwenn die Deutschen ihnen zu nahe auf dasFell gerückt sind haben sie die Post vielleichtabgeschickt Doch das ist bloß eine Vermu-tung vielleicht war er auch in England wie ichsehe geht es euch ja noch allen gut wenig-sten bis dahin seither hat sich ja so mancheszugetragen dass man kaum mit den Ereignis-sen schritt halten kann und hoffen das bei derZeit ehe ihr diese Zeilen erhaltet auch denEngländern etwas näher gerückt wird dasBuch über die Politischen Sch(?)lichkeiten kameine Woche später wie der Brief jedenfallskam das über Spanien oder Portugal und fielnicht in die Hände der Engländer denn diehätten es sicherlich nicht durchgelassen.“Briefe aus Harle sind in Amerika keine mehrvorhanden – leider, denn diese hätten etwasüber das Leben der Menschen in Harle aus-gesagt, über die soziale, wirtschaftliche undpolitische Lage eines Dorfes im ereignisrei-chen 20. Jahrhundert.

Bill Metz lebt in Sioux City, USA.Folgende in Harle aufgewachsene bzw. dort noch wohnendePersonen haben den gleichen Verwandtschaftsgrad zu BillMetz: Rolf Metz, Frank Metz und Kerstin Palisaar (geb. Metz),Wolfgang Wiegand, Angelika Wiegand und Martina Rose (geb.Wiegand), Thomas und Ingo Schäfer, Anke Mader (geb. Ger-hardt) und Iris Schrei (geb. Gerhardt), Ellen und Sven Gerhardt,Karl, Harald (†) und Hartmut Dilcher.Übersetzung: Karl Dilcher

Page 18: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

Am 15. November 1799 stirbt Jacob Dilcher(Geburtsdatum nicht bekannt).Er hatte am 27. Dezember 1780 Anna Catha-rina Bachmann geheiratet, die vom 5. Juni1763 bis zum 6. Dezember 1808 lebte; es istnicht bekannt, ob Jacob und Anna Catharinagemeinsame Kinder hatten. Im zweiten Jahrnach Jacobs Tod bringt Anna Catharina am 12.September 1801 ein uneheliches Kindnamens Anna Maria Dilcher zur Welt; sie wirdam 14. September 1801 in Harle getauft. DerVater ist unbekannt. Diese Anna Maria Dilcherbringt dann am 8. November 1833 einenunehelichen Sohn, Ludwig Dilcher, in Harle zurWelt. Als Vater wird der Schäfer Ernst Wehevom Mittelhof genannt, der wahrscheinlichaus Bilshausen (Eichsfeld) stammt.Am 10. August 1834 heiraten Anna Maria Dil-cher und Ernst Wehe. Das zweite Kind, Niko-laus (August) Wee (das „h“ ist irgendwann ver-lorengegangen) wird am 11. Februar 1837 inGensungen geboren. Pate ist der SchusterNikolaus Hilgenberg; das ist wahrscheinlichder Sohn des Schuhmachermeisters Hilgen-berg, bei dem zu dieser Zeit der Heinrich(Henry) Dilcher, von dem an anderer Stelle dieRede ist, das Schuster-Handwerk gelernt hat.Das nächste Kind, Anna Marthe, wird 1841geboren; Patentante ist Anna Marthe Metz,

Witwe von Conrad Metz. Später wird noch einKind, Louisa, geboren. Mittlerweile wächst diebritische Kolonie New South Wales (NSW) inAustralien, die im späten 18. Jahrhundertgegründet und besiedelt wurde. Mitte des 19.Jahrhunderts gibt es in NSW durch einen wirt-schaftlichen Aufschwung einen akuten Man-gel an Arbeitskräften, zum Teil ausgelöst durchGoldfunde. Zu dieser Zeit gehört den BrüdernDangar eine Kette von (hauptsächlich) Schaf-Ranches in NSW, und auch sie leiden untereinem Mangel an Arbeitskräften.Sie fanden, dass, verglichen mit anderen Ein-wanderer-Gruppen, die Deutschen besondersverlässlich und treu waren. Während einesAufenthaltes in Deutschland im Juni 1853 fin-det Henry Dangar eine Anzahl von Arbeits-kräften; er überlässt das Anwerben aucheinem Wilhelm Kirchner, den er als Agentenangestellt hatte. Üblicherweise bekamen dieso gefundenen Arbeiter einen Vertrag für zweiJahre; während dieser Zeit mussten sie inAustralien die Kosten für die Überfahrt abar-beiten.Zu den auf diese Weise gefundenen Arbeits-kräften gehörte wahrscheinlich auch die Fami-lie Weh (die Schreibweise des Namens hattesich abermals geändert). Am 5. September1854 verlassen Ernst und Anna Maria mitihren Kindern August, Anna Martha, undLouisa den Hamburger Hafen auf der„Helene“; im Januar 1855 kommen sie in Syd-ney an. Der älteste Sohn, Ludwig Dilcher, bleibtoffenbar zurück; von ihm ist nichts weiterbekannt.Von den ersten Jahren der Familie Weh inAustralien ist wenig bekannt. Wahrscheinlichhielt sich die Familie auf einem der Dangar-

Besitzungen auf. Im Februar 1857 heiratetLouisa einen John Dahlen in Sydney. AugustWeh heiratet im Oktober 1865 Elizabeth JaneCarlyon, die in 1846 in Cornwall in Englandgeboren wurde und mit ihren Eltern undGeschwistern 1853 nach Australien kam.Zur Zeit seiner Heirat arbeitete August Weh alsSchäfer oder Viehhirte auf der Besitzung „Yal-laroi“, die auch den Dangars gehörte. (Yallaroiist ein Wort der dortigen Eingeborenen, undheißt „Land der Steine“). August und Elizabethwohnten auch dort, und ihre 10 Kinder wur-den dort geboren. Die Dangars waren als guteArbeitgeber bekannt, aber die Lebensbedin-gungen und Schulen müssen bestenfalls sehrprimitiv gewesen sein. August blieb auf Yalla-roi bis etwa 1889, als er sich eine Farm mitdem Namen „Myall Forest“ unweit von Yallaroikaufte.Anna Maria Weh starb am 7. Januar 1886 imhohen Alter in Woolgoola, in der Nähe ihrerTochter Anna Martha und deren Familie. Es istnicht bekannt, wann und wo Ernst Weh starb.August Weh starb am 10. Juli 1910 auf seinemBesitz Myall Forest, und Elizabeth Jane Wehstarb am 11. Mai 1926 auf dem in der Näheliegenden Besitz „East Glen“, der der FamilieConway gehörte und in den die Tochter AnnieAugusta (1883 –1974) hineingeheiratet hatte.Es war schließlich ein Enkel von Annie Augu-sta Conway, nämlich Peter Conway, der 1998mit den Dilchers in Harle Kontakt aufnahm,wodurch diese Geschichte erst bekanntwurde. Peter und seine Frau Carol besuchtenHarle im Jahr 2001 dann auch.

Die Informationen über Australien und die Zeit nach der Aus-wanderung beruhen auf einer Abhandlung von Peter Conway.

132

Auswanderung nachAustralienKarl Dilcher

Page 19: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

133

Diese Liste soll einen Eindruck vermitteln, wieviele Bürger den relativ kleinen Ort Harle indem oben genannten Zeitraum (16 Jahre) ver-lassen haben. Die wirkliche Zahl dürfte sogarnoch höher liegen, da viele sich vor der Aus-reise nicht registriert haben lassen oder imLaufe der Jahre Unterlagen verloren gegan-gen sind.Für die Zeit nach 1857 liegen keine fertigenListen der Archivschule Marburg vor. Das Auf-finden weiterer Auswanderer in unerschlosse-nen Akten und in anderen Archiven steht inkeinem vernünftigen Verhältnis und wurdedaher unterlassen.Bei den meisten Auswanderern wurde ange-geben, mit wie viel Geld sie die Heimat ver-lassen haben. Die Währung war damals Taler.Um ein Gespür dafür zu bekommen, was einTaler wert war, muss man es in Verhältnis zuden damals üblichen Preisen und Gehälternsetzen.Lehrer Henkel, Lehrer in Harle von 1852–1869,hatte jährlich ein Einkommen von 150 Talern;Handwerksmeister: 200 – 600 Taler jährlich;einfache Soldaten in Preußen: 24 Taler jährlich(Armutsgrenze).

Dilcher, Wilhelm (17 J.), Schuhmacher, im April1841 mit 60 Talern nach Nord-Amerika.

Schröder, Justus (24 J.), Tagelöhner, mit Frauund Sohn Johann Jakob (2 J.) im Oktober1847 mit 150 Talern nach Nord-Amerika.

Herwig, Johannes (55 J.), Landwirt, mit Frauund den 7 Kindern Gerhard (17), Justus(16), A. Martha (13), Jakob (12), Marie (10),August (7) und Heinrich (5) im Mai 1850mit 1000 Talern nach Nord-Amerika.

Bräutigam, Bernhard (31 J.), Schneider, imAugust 1850 mit 50 Talern ins KönigreichSachsen.

Meyer, Konrad (39 J.), mit Frau und den Kin-dern Anna Katharina (2) und Friedrich (1)im April 1851 mit 600 Talern nach Amerika.

Hense, Johann Georg, Stellmacher, mit Frau,zwei Töchtern, einem Sohn im Jahr 1852mit 600 Talern nach Australien.

Wagner, Johannes (18 J.), mit 75 Talern nachAmerika.

Heese, Johann Georg (44 J.), mit Frau,drei Töchtern, einem Sohn im Jahr 1852mit 600 Talern nach Nord-Amerika.

Blackert, Maria Elisabeth (23 J.), im Jahr1852 nach Amerika.

Metz, Wilhelm, im Jahr 1852 mit 1000 Talernnach Nord-Amerika.

Heese, Johann H., Schuhmacher, mit Frau,zwei Söhnen, einer Tochter, im Jahr 1854mit 30 Talern nach Nord-Amerika.

Conradi, Johannes, Tischler, mit Frau undTochter, im Jahr 1854 mit 800 Talern nachNord-Amerika.

Freudenstein, Heinrich, im Jahr 1854 mit100 Talern nach Nord-Amerika.

Wehe, Johann Ernst, Schäfer, mit Frau Katha-rina, zwei Töchtern, einem Sohn, im Jahr1854 mit 200 Talern nach Australien.

Schröder, Kaspar, Tagelöhner, 1855 nachNord-Amerika.

Vogel, Dietrich, Maurer, mit Frau im Jahr1855 nach Nord-Amerika.

Conradi, Dorothea, Tagelöhnerin, im Jahr1856 nach Nord-Amerika.

Landgrebe, Elias, mit Frau, zwei Töchtern,einem Sohn, 1857 mit 100 Talern nachNord-Amerika.

Auswanderer aus Harle im19. Jahrhundert: 1841 bis 1857

Page 20: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

134

Der Mann aus AmerikaClaudia Brandau

Der Harler Georg Brandau wanderte 1907aus – jetzt waren die Nachkommen aufSpurensuche

Als Robert King im Juli 2007 Brandes Haus inder Harler Hundegasse besichtigte, fiel derAmerikaner von einer Ohnmacht in dieandere. Der Mann aus Idaho kam gar nichtmehr aus dem Staunen heraus über das uraltekleine Haus und seine beinahe ebenso altenMöbel, über die historische Küche und dieniedrigen Zimmerdecken. Was er nicht fassenkonnte war, dass es kein Bad drinnen, sondernnur ein Plumpsklo draußen gibt. Aber es warja nicht das Plumpsklo, das die Familie Kinghatte sehen wollen. Vielmehr war sie wegendes Dorfes gekommen, in dem Robert KingsUrgroßvater Georg Brandau geboren wordenwar. Dafür waren sie viele tausend Kilometergereist. Der Uropa war ein waschechter Har-ler gewesen. Er stammte aus Brandes Haus,wurde dort 1877 geboren und wuchs zusam-men mit sechs Geschwistern auf, bevor er1907 nach Amerika auswanderte. Er war derOnkel meines Opas Heinrich Brandau. Dasnennt man wohl eine weitläufige Verwandt-schaft. Aber weitläufig ist sie nur so lange, bisman die Ähnlichkeiten sieht.

Robert King tauchte im Frühjahr 2007 aus denTiefen des Internets auf. Er war auf der Suchenach den Wurzeln seiner Familie und seinerdeutschen Verwandten – und fand mich. Wirschrieben uns eine Zeitlang per E-Mail. MeineEltern und ich waren recht gelassen, als dieAmerikaner schnell ankündigten, schon imSommer zu kommen. Und ich war auch nochgelassen, als sie im Juli vorunserem Haus in Homberg vor-fuhren. Endgültig vorbei mit derGelassenheit war es aber, als ichdie Fotos und das Video sah, dieRob und seine Frau Betty mitge-bracht hatten. Der ausgewan-derte Georg Brandau sah auswie mein Opa Heinrich Bran-dau. Aber nicht irgendwie undnicht nur ein bisschen: Er sahwirklich ganz genauso aus. EinZwilling, beinahe! Der Gatte undich staunten Bauklötze überdem Fotoalbum und konnten esnicht fassen.Was aber noch viel verblüffenderanmutete, war eine zweite, nochviel frappierendere Ähnlichkeit:Der Sohn vom Ausgewanderten

sah haargenau so aus wie mein Vater GeorgBrandau. Unglaublich. Mein Mann und ich fie-len fast vom Sofa, als wir das Video überHenry sahen, der 2006 mit fast 90 Jahren ver-storben war. Wir haben versucht, Rob undBetty vorzuwarnen. Haben gesagt, dass RobsOpa Henry genauso aussah wie mein VaterGeorg und dass sie sich auf eine ungeheureÄhnlichkeit gefasst machen sollen. Es hatnichts genutzt. Als wir am nächsten Tag nachHarle kamen und Georg ihnen die Tür auf-machte, sind die Amis vor Überraschung fastrückwärts von der Treppe gekippt. Mein armerPapa musste sich den ganzen Tag „Henry“nennen und sich von wildfremden Menschenherzen, küssen und umarmen lassen – unddas auch noch auf Englisch. Ganz geheuerwar meinem Vater das wohl nicht. Die einen

Auf Spurensuche: Der Amerikaner Robert King, Urenkel des ausge-wanderten Georg Brandau, mit dessen Großneffen Georg Brandauund Betty Scott vor Brandes Haus, aus dem die Harler Brandausstammen.

Page 21: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

sprachen kein Deutsch, die anderen kein Eng-lisch, mein Manfred und ich haben jedes Wort– na ja, soweit wir das breite Amerikanischverstanden haben – übersetzt und das warauch ein bisschen anstrengend. Und trotz desSprachproblems war sofort eine Verbindungzwischen uns allen da. Völlig verrückt, dasGanze.Um zu verstehen, woher die Amis denn soplötzlich kamen, erzähle ich die Geschichtevom Ausgewanderten, von dem beinahe 70Jahre niemand mehr etwas gehört hat. GeorgBrandau, Bruder meines Uropas JohannesBrandau, wanderte 1907 nach Amerika aus. Erverschwand ganz plötzlich auf Nimmer-wiedersehen – keiner weiß mehr warum.Erstaunlich aber vor allem ist, dass er zu Leb-zeiten nie über seine Kindheit und Jugend inNordhessen gesprochen hat. Erst als der ehe-malige Harler 1976 im amerikanischen Idahostarb, entdeckten seine Kinder in seinemNachtspind ein uraltes Foto von der HarlerKirche. Dabei waren eine Adresse und derName eines Dorfes, den seine Nachfahren niegehört hatten. Kein Wunder: Georg Brandauhatte nie von Deutschland erzählt. Ab demMoment, als er in Amerika ankam, hieß erGeorge Brandau und hat, nachdem er Harleverlassen hatte, seine Vergangenheit undseine Herkunft abgestreift wie eine alte Haut.Es muss ein echtes Abenteuer gewesen sein,welches der Mann aus Brandes Haus erlebthat. Bereits auf dem Schiff nach New Yorklernte er Minnie Olson, eine Schwedin, ken-nen. Die beiden heirateten kurz nach derAnkunft in Amerika und machten sich zusam-men auf den langen Weg nach Westen. End-lose Planwagenfahrten, Angriffe von Indianern,

das Jagen von Bisons und das mühsameÜberwinden von Bergen und Schluchten: WasGeorg Brandau alles erlebt hat, können wiruns heute wohl nicht mehr vorstellen. In Idahoendlich – ganz im Westen und gleich unter-halb von Kanada gelegen – wurden Georgeund Minnie sesshaft. Erst schürfte er in einergroßen Mine recht erfolglos nach Silber, dannbaute er ein Haus, wurde Farmer und bekammit seiner Frau Minnie acht Kinder, darunterauch jenen Henry, der meinem Vater Georg soähnlich sieht.Mit keinem dieser Nachfahren habe er je vonHarle gesprochen, erzählt sein Urenkel RobertKing. Nur einen Kontakt zwischen den Ameri-kanern und den Harlern gab es 1978: Damalsstanden nach Georges Tod – er starb imDezember 1968 mit 91 Jahren –drei Nachfahren urplötzlich vorder Tür im Haus im Bindeweg, dasder Bruder des Ausgewanderten,mein Uropa Johannes, gebauthatte. Damals sprach ich nochnicht richtig gut Englisch, dasGanze ähnelte eher einem Über-fall als einem Besuch oder gardem Anfang einer wunderbarenFreundschaft. Auf die Idee, selbstnach Amerika zu fahren und sichdie Verwandtschaft einmal zurBrust zu nehmen und anzu-gucken, sind wir seltsamerweisenicht gekommen.Georges Sohn Henry übrigens,der Großcousin und die ältereKopie meines Vater Georg, mussübrigens ein Bilderbuch-Cowboygewesen sein. Überhaupt sehen

alle Fotos der amerikanischen Verwandtschaftso aus, wie man sich Fotos aus dem ameri-kanischen Westen vorstellt: Zufriedene Män-ner reiten auf Pferden, mit einer Zigarette imMundwinkel und mit ihrem Hund an derSeite, gemächlich bei Sonnenuntergang nachHause auf ihre Ranch.Ob das wirklich alles so stimmt, werden derGatte und ich bei einem Besuch in Idahosehen. Wir fahren hin und schauen uns dortalles an: Bei der einen einzigen Begegnungim Sommer 2007 in Harle ist eine Freund-schaft und eine tiefe Verbindung entstanden.Mit der haben wir alle nicht gerechnet – umso schöner, dass wir sie genau 100 Jahre,nachdem Georg Brandau Harle verlassen hat,wieder gefunden haben.

Große Familienzusammenführung: Hinten Robert und Scott King,Claudia Brandau, Betty King, Kyle King, Helga Brandau, GeorgBrandau.

135

Page 22: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

Harle unterm HakenkreuzPfadfindergruppe Anfang der 1930er Jahre am Schützenhaus im Lehmgraben

SA-Umzug zum 1. Mai 1934

Page 23: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

137

Harle unterm HakenkreuzDie Geschichte derHarler Gemeinde 1933 bis 1945Hartmut Dilcher

Was war los in Harle von 1933 – 1945?Viele ältere Harler, die das dritte Reich noch als Kinder undJugendliche erlebt haben, meinen, hier hätten sich nur unbedeutende Dinge ereignet.Zieht man Falkenberg und Wabern zum Vergleich heran, so mag dies tatsächlich zutreffen. Esgab keine jüdische Bevölkerung, die misshandelt und aus ihren Häusern vertrieben wurde,auch politisch Andersdenkenden blieb dieses Schicksal erspart. Dennoch, auch hier hat einekleine Anzahl von Menschen das Regime durch aktive Mitarbeit gestützt und immerhin zweiDrittel der Dorfbewohner haben 1933 die NSDAP gewählt. Hinzu kam natürlich die ständigeAngst vor Denunziation und die Ächtung der jüdischen Händler. Diese Alltäglichkeiten sollenhier erzählt werden.Die folgende Abhandlung basiert auf einem Aufsatz von Hans-WinfriedAuel unter dem Titel „Harle unterm Hakenkreuz: Die Geschichte derHarler Kirchengemeinde 1933 bis 1945“, der im Bonifatius-BotenNr. 11 am 9. 11. 1998 veröffentlicht wurde. Eine der Quellen vonHans-Winfried Auel waren die Harler Kirchenbücher. Dies war fürmich eine dankbare Grundlage, die durch weitere Quellen undZeitzeugenbefragungen1) in den Jahren 2006 und 2007 ergänztwurde. Viele Ereignisse werden dagegen für immer verlorensein, da die noch lebenden Zeitzeugen in jener Zeit Kinderund Jugendliche waren und von politischen Entschei-dungen ausgeschlossen waren. Auch andere Quellen wieschriftliche Aufzeichnungen und Fotos sind eher rar bzw. müss-ten durch intensive Nachforschungen noch aufgetan werden.Im folgenden Text werden Namen genannt, die vielen Harlernnoch bekannt sind. Ich bin mir bewusst darüber, dass dies eineheikle Sache ist: Nazizeit und Namen. Aber: Ohne die Nennungder Namen finden wir auch keinen Bezug zu unserem Dorf,wir könnten dann gleich den Text einer x-beliebigen anderenDorf-Chronik einfügen.

Ausgangspunkt „Weimarer Republik“Am 30. Januar 1933 ergriff Adolf Hitler dieMacht in Deutschland. Es war ein staatspoliti-sches Ereignis, welches natürlich nicht vonden Entscheidungen in unserem Dorf abhing.Es ist dennoch sehr interessant, wie sich dieWähler von Harle bei der Reichstagswahl1933, aber auch bei den vorangegangenenUrnengängen in der Zeit der Weimarer Repu-blik (1919 –1933) verhielten. Zwar hatte dieSPD – neben der linksliberalen DVP (DeutscheVolkspartei) und dem römisch-katholischgeprägten Zentrum die einzig staatstragendePartei in der ersten deutschen Republik – eineansehnliche Stammwählerschaft, aber die Har-ler hatten in Krisenzeiten anscheinend denHang dazu, Parteien der äußersten rechtenParteienlandschaft zu wählen. So wurde inHarle die der Republik gegenüber distanziertstehende DNVP (Deutschnationale Volkspar-tei) in den drei Wahlen 1920 bis 1924 jeweilsdie stärkste Partei mit bis über 50 % der Wäh-lerstimmen. Das liegt darin begründet, dasserhebliche Krisen die Menschen in der jungenRepublik verunsicherten. So brachte die Hy-perinflation des Jahres 1923 die Bürger umihre Ersparnisse. Dies wurde noch verstärktdurch die Tatsache, dass die meisten Harler inihrem landwirtschaftlich geprägten Ort ohne-hin in bescheidenen Verhältnissen lebten. ImGegensatz zu Rhünda beispielsweise, wo dieArbeiter durch ihre Beschäftigung im Stein-bruch zumindest zu einem gewissen Lebens-standard kamen, muss man das Harle der

1) Dank an Katharina Bäcker, Elise Beck, Erika und Georg Berg-mann, Rudi Dieling, Helmut Dilcher, Anna und Liese Dünzebach,Otto Eubel, Werner Hoppe, Wilhelm Momberg, Heinz Ostheimer,Heinrich Wenderoth.

Heinrich und Emilie Amert mitElisabeth und Luise.

Page 24: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

ihnen Arbeitsplätze versprach und dem Volkverhieß, Deutschland aus der erlebten Miserein eine neue „Herrlichkeit“ zu leiten. Viele woll-ten die Gefahren nicht sehen, welcher dieserUmbruch mit sich brachte. Auch der damaligePfarrer von Harle, Franz Georg Peter Witzel,begrüßte die Machtergreifung Hitlers. Seineneigenen schriftlich fixierten Aussagen zufolgewar Witzel kein Freund der Republik, eckte1925 sogar mit Sozialdemokraten des Dorfesan – ein Konflikt wurde sogar vor Gericht aus-getragen. In dem Maße wie Witzel manchesSPD-Mitglied ausdrücklich als „Kirchenfeind“bezeichnete, die hohe Arbeitslosigkeit zuBeginn der 1930er Jahre als Ursache für denspärlichen Kirchgang verantwortlich machte,befürwortete er die Kanzlerschaft Hitlers undbekannte sich auch dazu:

„Die Berufung Adolf Hitlers zum Kanzlerdurch den Reichspräsidenten erweckte inden Herzen aller Gutgesinnten neue Hoff-nung. Am Abend des 4. März lohte einFreudenfeuer auch auf unserem Küllbergund ein mächtiger Fackelzug bewegtesich durch die Straßen unseres Dorfes. (Mitden Reichstagswahlen vom 5. März 1933)war auch in Harle die Entscheidung fürHitler gefallen [ . . . ]. Am 1. Mai fand in Harleein Feldgottesdienst auf dem Hitlerplatzstatt, an dem die ganze Gemeinde teil-nahm.“

Der Harler Pfarrer hoffte wohl, dass durch dieNationalsozialisten das Ansehen der Kirchenauf den Stand von 1918 wiederhergestellt

Zwischenkriegszeit als ein armes Dorf be-zeichnen.Erst das Jahr 1924 brachte eine wirtschaftlicheBeruhigung. Hereinströmende amerikanischeKredite führten zu einer Wiederbelebung derWirtschaft und zu einer trügerischen äußerenBlüte. Dem Radikalismus war dadurch weitge-hend der Wind aus den Segeln genommen.Auch in Harle schlug sich diese positive Stim-mung im Land in der Reichstagswahl vom 20.Mai 1928 nieder. Die beiden rechtsradikalenParteien NSDAP und DNVP verloren beträcht-lich an Stimmen, während die SPD und klei-nere demokratische Parteien deutlich Stim-men gewannen. Diese kurze Zeit derpolitischen und wirtschaftlichen Stabilitätendete abrupt 1929 mit dem Beginn derWeltwirtschaftskrise.So ist es nicht verwunderlich, dass die NSDAPin unserem Ort einen so hohen Zulauf erhielt.Da es in einem evangelisch geprägten Ortüberdies undenkbar war, die letzte starke bür-gerliche Partei, nämlich das katholisch ge-prägte Zentrum, zu wählen, votierten ab 1932mehr als die Hälfte der Harler für die NSDAP.Die Anzahl der Stimmen für die Hitler-Parteierhöhte sich sogar noch in der November-wahl 1932, bei der sie andernorts erheblicheStimmenverluste zu verzeichnen hatte.Der Vergleich mit anderen Orten und Städtenin der Umgebung zeigt, dass Harle und Uns-hausen aufgrund ihrer ärmeren Strukturen vielfrüher und verstärkt anfällig waren für dierechtsextremen Parteien.

„Freudenfeuer“ und „Feldgottesdienst“Offensichtlich setzten viele Menschen unseresDorfes ihre Hoffnungen auf den „Führer“, der

würde. In der Weimarer Republik nämlich hat-ten die Kirchen als Gesellschaft öffentlichenRechts juristisch die gleiche Stellung wie etwader Turnerbund.Dass derlei Hoffnungen jedoch trogen, zeigtesich alsbald. Denn die neue Staatsführungwollte die Kirchen nicht stärken, sondern ver-suchte, sie für ihre Zwecke zu instrumentalisie-ren. So wurden die einzelnen evangelischenLandeskirchen zu einer deutschen evangeli-schen Landeskirche zusammengefasst. Übri-gens stimmte die Mehrheit der niederhessi-schen Pfarrer 1933 gegen diesen Schritt, undWitzels Nachfolger, Heinrich Klepper, zähltesich zur „Bekennenden Kirche“, der Organisa-tion, die eine nationalsozialistische Vereinheit-lichung der Kirche ablehnte. Freilich war auchKlepper national gesinnt. Eine Politisierung derKirche konnte er nicht verhindern. Wie inanderen Gemeinden auch wurde das Ernte-dankfest in den Dienst der nationalsozialisti-schen Politik gestellt: Es gab Ehrengottesdien-ste für den verstorbenen ReichspräsidentenHindenburg (1934) und einen Dankgottes-dienst zum Anschluss des Saarlandes an dasReich (1935). Schon jetzt zeigte sich deutlich:Die Kirche hatte keine Macht, wie von vielengehofft, wiedergewonnen, sondern ihren Ein-fluss vollends verloren. 1938 legte die NSDAPdem Harler Lehrer Brandau nahe, sich mit sei-nen Schülern nicht am weihnachtlichen Krip-penspiel in der Kirche zu beteiligen. Klepperinterpretierte die Situation präzise:

„Die Partei arbeitet unausgesetzt dahin,dass die Lehrer den Kirchendienst als Orga-nisten und Lektoren niederlegen sollen.“

138

Page 25: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

139

Was sich in Harleab 1933 veränderteFür die Bevölkerung des Dorfes änderten sichvon 1933 an einige Gewohnheiten. Sonn-abends fiel die Schule aus; die Jungen wurdenjetzt für Spiele und Übungen der Hitler-Jugendeingesetzt. Die Übungen fanden zusammenmit den Rhündaer Jugendlichen im Lehmgra-ben statt. Der Reichsarbeitsdienst veränderte1936 den Lauf der Schwalm. Auch die Arbeits-losigkeit ging zurück, allerdings nur durcheine völlig desolate Wirtschaftspolitik, die ein-zig und allein auf den von Hitler von Anfangan geplanten Krieg ausgerichtet war. Unddass das Regime auf Gewalt baute, musstendie Menschen von Harle allerspätestens 1938mitbekommen haben, als im November dieSynagoge im Nachbarort Falkenberg zerstörtwurde und die Juden des Dorfes verschlepptwurden.Aber auch die jüdischen Händler hatten es inHarle nicht leicht.2) Was im einzelnen vorgefal-len ist, lässt sich nicht mehr rekonstruieren.Durch Zufall sind aber noch Briefe des Felsber-ger Viehhändlers Siegmund Weinstein,3) ge-schrieben 1956 und 1957 aus der neuen Hei-

mat Amerika an Justus bzw. Katharina Ebert,erhalten. Aus diesen Briefen ist, 20 Jahre nachseiner Vertreibung, noch immer die Ratlosig-keit und Verbitterung über das Gescheheneherauszulesen. Viel ist nicht über SiegmundWeinstein bekannt. Er hat mit seiner Frau PaulaFelsberg am 20. Januar 1939 verlassen und istnach Kassel gezogen4). Wann die Weiterreisenach New York erfolgte, ließ sich in den Fels-berger Archiven nicht mehr nachvollziehen. Inseinen Briefen von 1955/56 schreibt er: „[ . . . ].Hab Euch nicht vergessen. Ihr wart immeranständig zu mir. [ . . . ]. Sind noch Nazi Gerhartnoch in Harle. Lebt denn Schuhmacher Ost-heimer noch. War ein Nazi aber gegen michwar er sehr gut. [ . . . ]. Ich kam viel mit deut-schen Leuten zusammen, die können nichtverstehen, dass das deutsche Volk von einemVerbrecher Hitler führen lassen.“In einem zweitenBrief ist zu lesen:„Meine Frau istschon sieben Jahretot . Bin froh, daßsie hier in Amerikawenigstens ihre Ru-he gefunden hat. [ . . . ].

In Harle war es immer ganz gut. Nur die Naziin Harle die hangen am seidenem Faden.5) IhrBruder Fritz weiß ja, wen ich meine, die habennichts Gutes angestellt . Die bekommen nochihre Strafe. Unser Herr Gott hat dieselben nichtvergessen. [ . . . ].“Zwei weitere Begebenheiten während desKrieges zeigen den Hass einiger Nazis auf dieKirche und deren Repräsentanten. Auf demWeg zu einem Hausabendmahl am Sonntag-morgen wurden Pfarrer Klepper und Jo-hann Heinrich Momberg, Kirchenältester undKastenmeister, von Harler SA, die bei Necklo-wes ihre wöchentliche Versammlung abhiel-ten, aus den Fenstern heraus bespuckt. Umnicht noch mehr Ärger zu bekommen, habenbeide betroffene Personen, auch im engstenFamilienkreis, geschwiegen. Da LandwirtJohann Heinrich Momberg nichts mit den

Erntedankfest 1934: Konrad Wenderoth, Konrad Momberg, Lehrer Brandt.

2) Der Festschrift zur 700. Wiederkehr der ersten Nennung Felsbergs als Stadt (1286 –1986) ist zuentnehmen:„Am 1. November 1935 berichtet der Felsberger Bürgermeister über die Situation: „[ . . . ] Die hiesigenjüdischen Viehhändler haben seit längeren Wochen den Handel mit Vieh überhaupt nicht mehr be-trieben. Sie wagen sich nicht mit einem Stück Vieh heraus, wie auch die Bauern hier ( . . .) mit denJuden die früher gehabten Handelsbeziehungen völlig abgebrochen haben. [ . . . ].“3) Siegmund Weinstein wurde am 25. 11. 1878 in Felsberg geboren.4) Die beiden Kinder der Weinsteins, Julius (*30.10.1911) und Herda (*9.6.1912), sind bereits am 22.2. 1938 nach New York ausgewandert. (Dank für die Hilfe bei den Recherchen an den Verein fürhessische Geschichte und Landeskunde e. V. Kassel, Zweigstelle Felsberg.)5) Soll ausdrücken, dass sie zahlungsunfähig waren. Viele Schuldner hatten im Zuge der Entrech-tung der jüdischen Bevölkerung ihre Schulden an die Juden nicht mehr beglichen. Ob dies auchauf die Harler zutrifft , lässt sich nicht mehr klären. Bekannt ist aber, dass auch Harler bei SiegmundWeinstein Schulden hatten.

Page 26: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

Nazis zu tun haben wollte, wurde ihm wäh-rend der Kriegszeit offen angedroht, ihn nach(siegreicher) Beendigung des Krieges in diebesetzten Ostgebiete zwangsumzusiedeln.6)

Andere zeigten sich geradezu begeistert vonder Idee, nach dem Krieg in der Ukraine einenlandwirtschaftlichen Betrieb mit großen Län-dereien zu übernehmen. Auf HeimaturlaubEnde Februar 1943, sechs Wochen vor seinemTod, hat Landwirt und Hoferbe Karl Dilcher7)

noch verkündet, dass er nicht mehr nachHarle zurückkehren werde, sollte der Krieggewonnen werden.Der 1939 von Deutschland begonneneZweite Weltkrieg veränderte recht bald dasLeben im Dorf. Schon ab September mussten,um sich vor möglichen Luftangriffen zu schüt-zen, in den dunklen Stunden alle Lichter der

Häuser ausbleiben. Außerdem durften dieGlocken, ohne dass dies näher begründetworden wäre, vom 23. September 1939 nichtmehr läuten, sogar bei Beerdigungen nicht.Groteskerweise wurden die Kirchengemein-den jedoch dazu verpflichtet, die EinnahmeWarschaus mit einem einstündigen Glocken-geläut bekannt zu machen!Gefahr drohte den Glocken, als diese aus demKirchturm geholt und zur Waffenherstellungeingeschmolzen werden sollten. Anscheinendaber war der technische Aufwand aufgrundder Architektonik des Harler Kirchturmes zugroß für das angestrebte Unterfangen. Diedamals schon mehr als vierhundert Jahrealten Glocken blieben im Kirchturm.

KriegsleidDer Winter 1939/40 zeigte aber auch derDorfbevölkerung die Entbehrungen im Krieg.Weil der Güterverkehr massiv eingeschränktwurde, fehlte die Kohle zum Heizen. In denüberwiegend kalten Wintern des Krieges zogder Frost somit in manches Haus ein.Am meisten aber litten die Menschen unterden Einberufungen. Die Söhne und Väterzogen in den Krieg und in den Familien mach-ten sich große Sorgen um das Leben der-selben breit. 38 Männer, einer von ihnen,Heinrich Brandau, erst 17 Jahre alt, fielen imKrieg.Was die Männer durchmachen mussten, lässtsich nur erahnen. In einem Brief von GeorgOtto, Vater von Ernst Otto, an die befreundeteFamilie Amert am 4. Oktober 1943 hören sichdie unvorstellbaren Erlebnisse so an:„[ . . . ], daß waren wieder harte Tage, die wirnun wieder mal gut hinter uns haben. Da

kam doch keine Post und ging auch keinevon hier fort. Das kann man Euch in den Brie-fen so gar nicht schildern, wie das so vor sichgeht. [ . . . ]“Am 16. Februar 1944 schreibt der ObergefreiteGeorg Otto:„[ . . . ]. Ich habe auch die letzte Zeit wenig Postbekommen, das lässt aber daraus schließen,weil ich selber auch wenig schreibe. Dieganze Scheiße hängt einem bald zum Halseraus, wir sind jetzt wieder auf eine be-schissene Ecke gekommen, nach Witebsk,wird Euch wohl durch das Radio bekannt sein.[ . . . ]“Dies sind die ersten Briefe aus dem Krieg, indenen nicht ständig vom heldenhaften Kampfgeschrieben wird. Am 24. Juli 1944 fällt GeorgOtto an der Ostfront. Vielleicht haben dieAngehörigen von Georg Otto auch einen Briefdes Kompanieführers mit einigen „tröstendenWorten“ erhalten. In dem Brief an die Ange-hörigen von Karl Dilcher war folgendes zulesen: „[ . . . ] Ihr Sohn fiel als einer meiner tap-fersten Männer der Kompanie, der in vielenGefechten unerschrocken sein Leben zumSchutze der Heimat und für unseren Führereingesetzt hat. Möge die Gewissheit, daß IhrSohn nicht zu leiden brauchte, Ihnen ein klei-ner Trost sein.“

140

Soldat Paul Gerhardt sen.

6) Erinnerungen von Wilhelm Momberg. Dieser hat die Bege-benheit von seinem Vater auf einem Heimaturlaub 1943 erfah-ren.7) Da der Hof der Dilchers in der Obergasse 9 ohne Nachkom-men war, wurde der Neffe Karl Dilcher als Hoferbe auserkoren.Im Alter von neun Jahren ist Karl von seinen Eltern in der Gen-sunger Straße weg zu seiner Verwandtschaft in die Obergassegezogen. Karl war mit Leib und Seele Landwirt. Dies kommt ausden vielen Feldpostbriefen deutlich zum Ausdruck. Nach demKrieg hat sein Bruder Helmut Dilcher die Landwirtschaft über-nommen.

Page 27: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

141

Auch viele Männer, die den Krieg als Soldatenüberlebten, haben lebenslänglich mit traumati-schen Erlebnissen zu kämpfen. Ein Harler Mannhatte im hohen Alter immer wieder vor Augen,wie drei deutsche Soldaten gegen Kriegsendewegen „Feigheit vor dem Feind“ vor den eige-nen Kameraden aufgehängt wurden.Als beispiellose Katastrophe stellte sich dieÜberschwemmung der Ländereien an derSchwalm und des Unterdorfes dar, welchedurch die Bombardierung der Edertal-Sperreim Mai 1943 hervorgerufen wurde. Anders alsandere Dörfer hatte Harle kein Menschenle-ben zu beklagen. Dennoch war der materielleSchaden immens. Um nur ein Beispiel zu nen-nen, musste Heinrich Dilcher in Folge derÜberschwemmung sein Malergeschäft ruhenlassen, ab 1945 wurde es dann schließlichwegen Materialmangel geschlossen. DasWasser stand bis unter die Decke des Kellersdes Wohnhauses, in dem die Malerutensiliengelagert wurden. Diese wurden überwiegendunbrauchbar. Um zu retten was zu retten war,hat sich Heinrich Dilcher durch stundenlangesArbeiten im Wasser ein Rückenleiden zugezo-gen, so dass er über ein halbes Jahr keinerschweren Arbeit nachgehen konnte.Eine weitere regionale Katastrophe war dieBombardierung Kassels durch englische Flie-gerverbände in der Nacht vom 22. auf den 23.Oktober 1943. Ältere Harler können sich nochgenau an den Angriff und den Lichtschein derbrennenden Stadt erinnern. Zwei Tage späterist eine Gruppe von Harler Männern undJugendlicher auf einem Lkw nach Kassel zuAufräumarbeiten gefahren. Kassel hatte injener Bombennacht mehr als 10000 Men-schenleben zu beklagen.

Ein Teil des Bombenschutts aus Kassel wurdeentlang des Bahndammes zwischen Alten-burg und Wabern abgeladen. Wenn mangenau hinschaut, erkennt man, dass der Bahn-damm besonders breit ist und in diesemBereich die Trümmer enthält. Auch die Tennis-anlage beim Bahnübergang nach Lohre istdarauf angelegt. Zur Entladung des Schuttswurden ukrainische Zwangsarbeiter heran-gezogen, die in einem Lager an der Bahn

zwischen Lohre und Harle untergebrachtwaren. Da die Verpflegung offensichtsichtlichschlecht war, sind einige der Zwangsarbeiterabends ins Dorf gekommen und habengegen Essen Arbeiten im Stall bzw. auf demFeld übernommen. Das abgebildete Doku-ment des Zwangsarbeiters Iwan Pilipienko ver-deutlicht diesen Zusammenhang. Dies kamder Bevölkerung durchaus gelegen, da dieMänner im wehrfähigen Alter alle im Krieg

Page 28: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

waren und akuter Arbeitskräftemangelherrschte. Es gab aber auch Kriegsgefangene,die größeren Bauern im Ort zugewiesenwaren.Ab Herbst 1944 kam es zu ersten Luftangriffenin unserer Region, die in Wabern und Gen-sungen erhebliche Schäden anrichteten. InGensungen kamen bei einem Angriff mehr als80 Menschen ums Leben. In spärlichen Auf-zeichnungen von Maria Dilcher während derKriegszeit fand dieses Ereignis allerdings sei-nen Niederschlag: „Im Nov war ein Angriff aufdie Bahn in Gensungen, fielen Volltreffer aufden Hockenhof, der vollständig zerstört wurdeund viele Menschen, die in dem massiven

Hause Schutz suchten, fanden dort den Tod.“Ziel der amerikanischen Luftwaffenverbändemit den berüchtigten doppelrumpfigen P-38Lightnings waren strategisch wichtige Ver-kehrsverbindungen. Am 5. November 1944und am 22. Februar 1945 fanden die Angriffeauf Eisenbahnzüge in Wabern statt. Dabei grif-fen die Flieger über Harle hinwegfliegend dieWaggons an.Aus Angst vor Luftangriffen auf die Harler Kir-che hat im Dezember 1944 Pfarrer Klepper dieHochzeit von Wilhelm und Maria Mombergim Elternhaus stattfinden lassen.Besonders bitter für die Harler war die Einbe-rufung der 15- und 16-jährigen Jugendlichen

zum Volkssturm. Zunächst ging esim Oktober und November 1944zu Schanzarbeiten an den West-wall. Mit dabei waren GeorgBergmann, Gustl Botte und HorstRichter.8) Auf der nächsten Seiteist ein Brief von Gustl Botte anLehrer Brandau abgedruckt. Soschön, wie es der Brief vermittelt,muss es dann doch nicht gewe-sen sein. In Erinnerung an dieseTage blieben die mangelhafteAusrüstung, durchgefrorene Füßeund durchnässte Kleidung. Auchdie eintönige Schanzarbeit habenicht zur guten Stimmung beige-tragen.Mitte März 1945, 14 Tage vordem Einmarsch der Amerikanerin Harle, musste sich eine kleineGruppe Harler Jugendlicher(unter ihnen Georg Bergmann,Willi Brandau und Herbert Hahn)

in der Walkenmühle in Melsungen-Adelshausen melden, um im letzten AufgebotHitlers, dem Volkssturm, für den Endsieg zukämpfen.Der Vater von Georg Bergmann wollte seinenSohn kurz vor dem Einmarsch der Amerikanervon dort wieder abholen. Er fand die Jugend-lichen aber nicht mehr vor. Bei seiner Rückkehrwar Harle bereits von den Amerikanernbesetzt.Für die Jugendlichen ging es von Melsungenzu Fuß und in Nachtmärschen in den Harz. Siehatten zwar noch alte Gewehre und Panzer-fäuste bekommen, aber eine Ausbildung fandpraktisch nicht mehr statt. In Schierke gerietensie kampflos in amerikanische Kriegsgefan-genschaft. Von dort ging es in ein Kriegsge-fangenenlager nach Bad Kreuznach, wo dieGefangenen unter freiem Himmel Wetter undHunger ausgeliefert waren. Erst Ende August1945 wurden sie entlassen.

Das bittere Endeund die EntnazifizierungIm März 1945 rückten die Amerikaner immernäher. Der Bevölkerung wurde aber unterAndrohung der Todesstrafe verboten, sich zuergeben. So dauerte es bis zum Karfreitag,den 30. März, dass Harle besetzt bzw. befreitwurde. Aber auch die nächsten Tage warennoch durch erschreckende Szenen geprägt.Zwischen Harle und Unshausen sowie im Har-ler Wald fand man jeweils einen erschosse-

Das Bild aus dem Fotoalbum der Familie Dilcher zeigt ArnoldStieglitz, Ernst Momberg, Karl Dilcher und Willi Lohr. Drei der hierabgebildeten Jungen sind später im Krieg gefallen, Willi Lohrverstarb 1988.

8) Horst Richter ist in der Obergasse 6 geboren worden undnach dem Krieg nach Falkenberg gezogen. In seinem Geburts-haus ist hin und wieder die Verwandtschaft aus Recklinghausenanzutreffen, die das Wochenende in Harle verbringt.

142

Page 29: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

143

nen und ausgeraubten Mann. Auch an derZuckerfabrik lagen noch drei Tage nach Ein-marsch der Amerikaner getötete deutscheSoldaten eines Flak-Geschützes. Erich Freuden-stein ist dieser Anblick bis heute im Gedächt-nis geblieben.Der verlorene Krieg malte seine eigenen Bil-der, welche Pfarrer Klepper folgendermaßenbeschrieb:

„Auf den Landstraßen vollzieht sich einungewohnter Wanderverkehr. Ausge-bombte und Evakuierte ziehen nach allenRichtungen mit Kind und Kegel, ihre Habeauf Handwagen befördernd, zu Fußdurchs Land, der Heimat zustrebend. AufFuß- und Nebenwegen begegnet mandeutschen Soldaten in Zivil, die ihre Fami-lien aufsuchen und sich dann den Fein-den stellen wollen.“

Nach dem Krieg wurde die Entnazifizierungzum Teil durch Masseninhaftierungen einge-leitet. In Harle betraf dies bereits vier Wochennach Kriegsende Oberstellwerksmeister AdamSämmler und Landwirt Otto Ast, vermutlich aufGrund ihrer Stellung als NSDAP-Ortsgruppen-leiter. Im September 1945 wurden dannebenfalls Lehrer Brandau, Kaufmann HeinrichDilcher, Schuhmacher Johannes Ostheimer,Landwirt Heinrich Wiegand und LandwirtJohannes Griesel verhaftet. Die Inhaftierungder Letztgenannten dauerte bis Juni 1946.Diese Verhaftungen gingen auf eine Listezurück, die einige Harler Bürger angefertigthatten.Warum nur diese Personen denunziert wur-den, andere Nazis aber verschont blieben,

lässt sich nicht abschließend klären. LandwirtKonrad Wenderoth, begeisterter Parteigängerund SA-Mitglied, wurde nach dem Krieg nichtverhaftet. Dieser hatte im neu entstandenenGemeinderat einen Fürsprecher, der ihn vonder Liste hat streichen lassen.Die Entnazifizierung war ein Maßnah-menbündel der vierSiegermächte nachdem Sieg über Hit-ler-Deutschland, diedeutsche Gesell-schaft vom Natio-nalsozialismus zubefreien. Dies sollteim Zusammenhangmit einer umfassen-den Demokratisie-rung und Entmilitari-sierung geschehen.In der amerikani-schen Besatzungs-zone, dazu gehör-te unser heutigerKreis, wurden meh-rere hundert regio-nal zuständige Laien-gerichte, die soge-nannten Spruchkam-mern, von der ameri-kanischen Militär-regierung eingerichtet . Damit wurde diepraktische Durchführung der Entnazifizierungan deutsche Behörden übertragen. Unter Auf-sicht der Amerikaner wurde in vielen Fällenindividuell zu Gericht gesessen, um die Ange-klagten in die folgenden fünf Gruppen einzu-teilen: Hauptbeschuldigte, Belastete (Aktivi-

sten, Militaristen, Nutznießer), Minderbelastete,Mitläufer und Entlastete.Es ist anzunehmen, dass von den obengenannten Harlern alle vor einer solchenSpruchkammer erscheinen mussten. Exempla-risch für die vielen Entnazifizierungsverfahrensoll hier über eine Verhandlung vor einer

Spruchkammer berichtet werden.In den Hessischen Nachrichten vom 17. Janu-ar 1948 ist über den ehemaligen Ortsgrup-penleiter Otto Ast folgendes zu lesen:9)

Westen, den 22.11.1944

Lieber Herr Lehrer Brandauund liebe Kinder der Harler Schule!Ich will Ihnen und den Schulkindern einige Reihen aus demWesten senden.Es geht mir noch sehr gut, welches ich auch von Ihnen undden Kindern hoffe. Bei uns lag der Schnee schon einmal 20cm hoch, was bei Euch da unten wohl noch nicht der Fallsein wird. Das Essen ist bei uns sehr gut. Es gibt alle paarTage Bonbons, das ist bei mir nämlich die Hauptsache. Ineinigen Wochen werden wir wieder entlassen werden, sodass wir Weihnachten zu Hause feiern können.Es grüßt Sie und die Schulkinder,

Jg. Gustl Botteund Jg. Horst Richter. Besonders viele Grüße an Erich Freu-denstein und Ewald Stieglitz

Diese Sätze schrieb Gustl Botte vom Westwall an Lehrer Brandau.

9) Quellenverzeichnis: Hessische Nachrichten vom 17. Januar1948; freundlichst überlassen von Thomas Schattner.

Page 30: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

144

Das Leben des Soldaten Georg Otto: oben links Georg Otto als Soldat, rechts daneben die Familie. DasEnde einer hoffnungsvollen Familie: Der Totenschein, ausgestellt in einem Feldlazarett in Sambor/Galizien.

„Die Revision von Otto Ast, dem zeitwei-ligen NSDAP-Ortsgruppenleiter von Harle, warim Entnazifizierungsverfahren soweit . Nunging es vor der Spruchkammer in Melsungenweiter. Zuvor war Ast bereits am 14. November1946 von der Spruchkammer Darmstadt-Lagerzu drei Jahren Arbeitslager verurteilt worden.Danach wurde er am 13. Mai 1947 in dasArbeitslager Wetzlar zur Ableistung seinerSühne überwiesen.Ast war seit 1930 NSDAP- und SA-Mitgliedgewesen, dazu Blockleiter, stellvertretenderZellenleiter, sowie von 1939 bis 1940 Zellen-leiter. Diese Ämter führte er aus voller po-litischer Überzeugung aus und noch 1948stand er voll und ganz zu seiner damaligenpolitischen Haltung. Allerdings waren in seinerOrtsgruppe andererseits keine Vergehengegen die Menschlichkeit feststellbar.So lautete der Spruch, dass Ast in die Gruppedrei von fünf möglichen (Minderbelaste-ter; zwischen Hauptschuldigen und Mitläu-fern) einzustufen sei. Das bedeutete, zweiJahre auf Bewährung (die Maximalstrafe) und2000,– Mark Sühne. Dazu kamen drei Mor-gen Landentzug zu Siedlungszwecken und60 Tage Arbeit für öffentliche Zwecke. Paralleldazu wurde sofortige Haftentlassung ange-ordnet.“

Danke an Johanna Dilcher für die Übersetzung alter Dokumente.

Page 31: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

145

Was hat der gemeine Soldat von der Front zuberichten? An dieser Stelle werden zweiBriefe des Gefreiten Karl Dilcher veröffentlicht.Der erste Brief ist an Lehrer Georg Brandaugerichtet:

Im Osten, d. 12.07.42Liebe Familie Brandau!Vorerst recht herzlichen Dank für das Päck-chen mit Zigaretten. Freute mich sehr darüber,aber es tat doch nicht nötig, so viele zuschicken. Hoffe, daß es Ihnen allen dreiennoch recht gut geht, kann das auch von mirsagen.Heute Abend nun gehts wieder weiter, wer-den verladen, Ziel unbekannt, nur das Eine istgewiss, daß wir zu einem neuen Einsatzkommen. Haben hier in Konstantinowku meh-rere Tage in Ruhe gelegen, und auch einenschönen Kameradschaftsabend verlebt. UnserChef hatte für eine Ukrainer Kapelle und eineTanzgruppe gesorgt. War das erste Mal, daßwir in Russland ein anständig gekleidetesMädel gesehen haben.1) Bevor wir nach hierkamen, waren wir auf der Krim, sollten vorSevastopol eingesetzt werden, aber am Vor-abend fiel die Festung auch ohne unser Ein-greifen. Die Krim ist auch ein ödes, armes

Land, besonders im Jailagebirge, allerdings einvorzügliches Gelände für den Krieg. Der Russehat das auch gut ausgenutzt, an jeder Stra-ßenecke, an jedem Abhang und besonders indie Kalkfelsen hatte er seine Bunker gebaut. Eswar deshalb schon schwierig, überhaupt andie Festung heranzukommen. Nur durch diedauernden Großeinsätze der Luftwaffe, dieTag und Nacht rollten, konnte die Festung fal-len. Von der Größe und Wucht der dort ein-gesetzten Geschütze können Sie sich kaumeine Vorstellung machen, auch ich hätte nochvordem so etwas nie für möglich gehalten. AnInfanterie war auf der Krim meist die rumäni-sche Wehrmacht vertreten. Die bewachtenauch die endlosen Gefangenenkolonnen undLager, die manchmal ein ganzes Tal ausfüllten.Wollen hoffen, daß der Russe bald geschla-gen ist, und der Krieg in diesem unwirtlichenLande sein siegreiches Ende findet.Was macht Klein Gudrun? Bei dem schönenWetter wird sie sicher den ganzen Tag im Gar-ten spielen, was? Würde ihr gern mal einKörbchen saftiger Kirschen bringen, die gibt'snämlich hier in Mengen.In der Schule haben sie sicher auch Arbeitgenug, Herr Lehrer, fast 100 Kinder das ganzeJahr alleine unterrichten, ist doch keine Klei-nigkeit. Glaube, Herr Dietzel hat es beim Kom-mis besser.Na, in den Sommerferien können Sie ja malausruhen. Hier haben wir zur Zeit eine unge-heure Hitze, der Schweiß läuft in Strömen.Unsere Bekleidung ist ja auch zu dick. OhneBefehl darf weder auf dem Marsch, noch vordem Freunde ein Ärmel hochgekrempelt,noch das Käppi abgesetzt werden. Die sturedeutsche Infanterie. Will nun Schluß machen.

Viele herzliche Grüße und nochmals bestenDankIhr Karl Dilcher(Abs. Soldat Karl Dilcher Fpnr. 08319C)

Neun Monate und einen Winter später, nochist vorsichtiger Optimismus zu erkennen.Brief an Landwirt Karl Dilcher in Harle:

Im Felde, d. 9.4.43Meine Lieben! Oben und Unten!Vorerst die herzlichsten Ostergrüße. Hoffe, daßIhr das schöne Fest gesund und munter alleverleben könnt. Mir geht's noch gut. NachRegen folgt Sonnenschein. So ist's auch hier, 5Tage regnet es ununterbrochen, und heuteist's schön. Eben April. Hier war und ist nochein unvorstellbarer Schlamm. Könnt Euch garkeinen Begriff davon machen. Es geht hart her,aber doch zu ertragen. Die Verpflegung istsehr gut, gibt bis zu meinen Jahrgang proKopf und Tag 1000g Brot. Da kommt man gutmit aus. Wie ich schon schrieb, bin ich jetzt beider 5. Komp., ob für immer, weiß ich nicht, vor-läufig erst kommandiert. Also statt C B hintendran schreiben. Wie lange das hier noch dau-ert, weiß ich nicht. Heute Morgen machte dieLuftwaffe wieder rollende Einsätze, da bumstees ganz gehörig. Auch Ari [Artellerie] ist inrauen Mengen da, aber auch auf der Feind-seite. Mit Urlaub sieht's mies aus. Na, bis Weih-nachten oder Neujahr wird's schon mal klap-pen. Eine Menge alter Post habe ich aucherhalten, wie ich Euch schon schrieb. Sonst istmit Post auch hier sehr mies. Anderes gehteben vor. Von unserer Stellung aus haben wireinen schönen Blick auf die Berge, auf denenwir so lange gehockt haben, und die auch

Briefeaus dem KriegHartmut Dilcher

Page 32: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

hier in dem Abschnitt nachgehalten werden,auch weiterhin. Liegen nicht weit von Krims-kaja, was wir ja auch mit dem Batl. im Sturmeinst genommen haben. Glaube, daß derBrückenkopf gehalten wird, und das derAngriff bald wieder weitergeht. Aber Letzteresist nur eine Vermutung. Ich bin ja noch aus-geruht, aber die Kameraden, die schon denganzen Winter ununterbrochen in derScheiße liegen, bedürften doch mal der Ruhe.Die Angriffe des Feindes bei uns sind bis jetztalle abgewiesen worden, und werden esauch in Zukunft. Die Stellungen sind ziemlichschlecht, hocken richtig gesagt in Erdlöchern.Na, es geht alles vorüber.Was macht Ihr noch alle? Wie weit seid ihr mitder Frühjahrsarbeit? Ist das Fohlchen gesundund munter? Denke doch, daß es da ist. Sinddie Bilder schön geworden?Für Heute nun die herzlichsten OstergrüßeEuer KarlHoffentlich ist auch Helmut noch wohlauf,letzte Post von Ihm hatte ich letzten Februar.Nachschrift .Noch ein klein wenig schönes will ich Eucherzählen, so etwa zwischen den Schlachten?Wir haben bei uns in Bunker eine "Mientze-katze“, morgens steht sie vor der Tür, gucktrein, und geht dann auf Jagd, ist aber ziemlichmager, auch verwundet ist sie schon mal.Trotzdem keine 200 m von hier Häuser sind,wo der Russe drin sitzt, teilt Mienze doch mituns Germanskis Freud und Leid. Mag wohl dieIvanen genauso wenig leiden wie wir. Hat jaauch recht! Nachts liegt sie auf dem Bunkerneben dem Ofenrohr. Ist doch eine schöne,kleine Geschichte, was?Herzlichst Karl

Dies ist der vorletzte Brief, den Karl Dilcher indie Heimat schreibt. Am 13.4.1943 schreibt erseinen letzten Brief. Zwei Tage später ist ertot.In Harle hat der Ortsgruppenleiter der NSDAP,Adam Sämmler die Aufgabe, die Angehöri-gen vom Tod ihrerVäter und Söhnezu benachrichtigen.Da Adam SämmlerNachbar in der Gen-sunger Straße undgut mit dem HauseDilcher befreundetist , vergeht eineWoche, bis er sichtraut, die Todesnach-richt des Sohnes zuüberbringen. Dies ge-schieht am 2. Mai1943.Die Benachrichtigungträgt er all die Zeitmit sich herum. Fa-milie Dilcher erhieltwenig später einenweiteren Brief desKompanierführers mitder Todesnachrichtvon Karl Dilcher. Hierist eine Abschriftwiedergegeben, dieHeinrich Dilcher aufdas Briefpapier sei-nes Kolonialwaren-ladens für die Ver-wandten in derObergasse anfertigte.

1) Die schlecht und z. T. schmutzig gekleideten russischenFrauen tauchen in vielen Briefen auf. Aus meiner Sicht drängtsich die Frage auf, ob den Soldaten nicht klar war, dass Russ-land gerade Opfer eines Vernichtungskrieges, auch gegen dieZivilbevölkerung, wurde? Umgekehrt muss man auch fragen,welches Bild sich den alliierten Soldaten 1945 in Deutschlandgeboten hat.

146

Brief des Kompanieführers an Familie Dilcher. Hier ist eine Abschrift wieder-gegeben, die Heinrich Dilcher auf das Briefpapier seines Kolonialwaren-ladens für die Verwandten in der Obergasse anfertigte.

Page 33: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

147

Polnische Kriegsgefangenein Harle

Mitte November 1939 kamen zehn polnischeKriegsgefangene in unser Dorf. Sie erhieltenein Lager neben der Scheune des GastwirtsStieglitz. Sie mussten unter Bewachung einesSoldaten Holzarbeiten im Harler Wald verrich-ten. Manchmal müssen die Polen auch denBauern helfen. Ende des Winters wurden fünfPolen in das Gefangenenlager Ziegenhainzurückbeordert.Die Polen wurden im April 1940 aus demLager entfernt und den einzelnen Bauernzugeteilt . Sie wohnten nun bei den Bauernund mussten landwirtschaftliche Arbeiten ver-richten. Jetzt im Winter 1941 sind 15 Polenbeschäftigt. Sie tragen auf der Brust ein Abzei-chen, damit man sie als Feinde erkennenkann.

Französische Kriegsgefangenein Harle

Am 4. August 1940 kamen zwanzig französi-sche Kriegsgefangene in unser Dorf. Siewohnten in dem früheren polnischen Lagerbei Wirt Stieglitz. Unter Bewachung von dreiLandesschützen haben sie lange Zeit Uferbe-festigungsarbeiten an der Schwalm geleistet.Im Winter 1940/41 haben sie im Holzwaldgearbeitet. Am 16. März 1941 wurden dieGefangenen nach Niedermöllrich verlegt.

Beide Berichte aus: Kriegstagebuch der HarlerSchule, von zwei Mädchen aufgeschriebenunter der Anleitung von Lehrer Brandau.

Diese Originalseite aus dem Kriegstagebuch drucken wir ohne die Übersetzung ab, umdem interessierten Betrachter ein Lesen der Originalhandschrift zu ermöglichen.

Page 34: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

148

kommen würde. Und tatsächlich stand dasWasser schon bis an den Steinweg, wo nachdem Krieg Walkenhorsts Bäckerbude stand(Küllmer Berg). Als nächstes galt es, herauszu-bekommen, wo wir mehr sehen konnten undwo es am ungefährlichsten war. Also gingenwir nach oben bei Wedemanns um die Eckein Richtung Griesels und Otten bis an GrieselsRain. Hier konnte uns nichts passieren, dennes waren schon viele Erwachsene aus demDorf versammelt und wir fühlten uns sicher.Da sahen wir das ganze Elend: Alles eineWasserflut bis hinüber an die Bahn, ein Strom,der alles mitbrachte und alles mitnahm, wasihm in die Quere kam. Dieses enorme Aus-maß der Flut habe ich heute noch vor Augen,immerhin hatte die Bombe, wie man spätererfahren musste, ein 70 Meter breites und 22Meter tiefes Loch in die Sperrmauer gerissen:160 Millionen Kubikmeter Wasser stürzten zuTal. Was an diesem Morgen bis mittags hiervorbei trieb, konnte man sich gar nicht allesmerken. Aber so manches geht einem nichtaus dem Kopf, z.B. eine Kuh, ein Schwein, vieleGänse und Hühner, Ackerwagen, Misthaufenoder Strohbantzen (Strohgebunde), Holz-zäune und vieles mehr. Hier stand ich nun biszum späten Mittag. Ob mich meine Muttergesucht hat (ich war damals ja erst 7 Jahrealt), und ob ich etwas zu essen oder zu trin-ken bekommen habe, daran kann ich michnicht mehr erinnern.Gegen 2 oder 3 Uhr nachmittags ging dasWasser langsam zurück, das beobachtetenwir wieder am Steinweg. Gegen 4 Uhr fing ichan, durch das Wasser zu waten bis an unserHaus und konnte dann hinein gehen. In denZimmern war alles okay, aber dann die Keller-

baren Schweinestärze auf den Hof. DasSchwein hinein und ab mit ihm ins Oberdorf.Im Wegfahren rief meine Mutter noch: „Machtin der Zeit die Ziegen los und bindet sie anden Handwagen, fangt die Hühner und stecktsie in Säcke, ich komme dann gleich zurückund helfe euch." Mein Bruder und ich taten,wie die Mutter gesagt hatte und ehe sie zu-rück kam, standen wir mit unserem Ziehwa-gen und den Ziegen schon bei DilchersLebensmittelladen. Die Mutter kam den Binde-graben herunter und rief schon von weitem:„Hier hoch bei Lissjchens in den Stall."Lissjchens waren die Schreinermeister Bran-dau/Meier (Ecke Bindeweg/Obergasse).Mit Karacho fuhren wir den Bindegrabenhoch und brachten die Tiere in den Stall. Dannsind wir noch einmal nach Hause, um eventu-ell noch etwas zu retten, aber wir kamen nurnoch bis zur Linde. Die Nachbarn winkten unsschon zurück und sagten dann: „Wir hören esschon von weitem rauschen." Einige Leute ausdem Unterdorf und wir Kinder gingen dannden Bindegraben wieder hoch und die Ober-gasse entlang, dort waren wir vermutlich aufder sicheren Seite. Danach sind wir EbertsGasse wieder herunter gegangen, um neu-gierig abzutasten, wie hoch das Wasser nun

„Rudi, Rudi, schnell aufstehen, das Wasserkommt ! Heute Nacht haben die Flieger dieEdertalsperre kaputt geworfen. Zieh’ dichschnell an, wir müssen alles retten."Gastwirt und Metzger Heinrich Müller hatteüber Telefon Bescheid bekommen und lief imMühlenweg von Haus zu Haus, um alle zuinformieren.Die Zuckerfabrikarbeiter kamen von ihremArbeitsanmarsch zurück (natürlich zu Fuß). Siewussten auch schon mehr als wir, denn siewaren an der Harler Mühle vorbeigekommenund schon gewarnt worden. Die Mühle hattebereits einen früheren Anruf erhalten. Die Flie-ger sollen ein riesiges Loch in die Sperrmauergeworfen haben. Gegen 2.00 Uhr morgenssei es passiert.„Dann müsste ja das Wasser bald kommen!" –Aber wie hoch wird es steigen? Eine Tantevon mir, die auch vom Arbeitsweg zurückkam,hatte unterwegs schon so einiges gehört – eswird mindestens das halbe Dorf über-schwemmt werden. Also, nicht lange über-legen, wir müssen von hier unten im Mühlen-weg weg ins Oberdorf; aber was wird ausunserem Vieh – einem Schwein, vier Ziegenund 10 Hühnern? Während wir noch ratlosdastanden, kam Heinrich Müller mit einer fahr-

Wie ich als 7-Jährigerdie Flut der Edertalsperream 17. Mai 1943erlebt habeRudi Dieling

Page 35: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

149

Diese Bilder können nur einen kleinen Eindruck von dem Leid vermitteln, welches die Menschen in Harle und in anderen Dörfer entlang des Ederflusses in der Folgedes Bruchs der Edertalsperre in der Nacht auf den 17. Mai 1943 erlebt haben.

treppe hinunter, waren alle Stufen vollerSchlamm. Als ich dann in die Waschküchekam, sah ich die Reste bzw. die obere Krustevon vier Brotlaiben an der Decke hängen, derRest war sicherlich im Schlamm und imSchleim auf der Treppe geblieben und aufdem Fußboden. Die Kartoffeln im Keller lagenalle im Matsch und Schlamm. Ein zum Teil ausLehm gemauerter Backofen war total zusam-mengefallen.Das Gesehene wollte ich nun schnellstensmeiner Mutter und meiner Tante im Dorf mit-teilen, ging wieder die Außentreppe herunter,rutschte auf den Schlammspuren aus und saßmit dem Hintern im knietiefen Wasser.Am Abend konnten wir dann alle zurück insHaus. Mutter, Tante und Bruder; unser Vaterwar damals im Krieg in Russland. Hier konntenwir nun alle Schäden begutachten: Schlamm,

Schlamm und nochmals Schlamm im gesam-ten Untergeschoss und im Stall. Auch der Gar-ten war eine Schlammebene und sein Zaunweggerissen. Am nächsten Tag ging es gleichans Reinigen und Schmutz entfernen. Am dar-auffolgenden Tag haben wir die Kartoffeln ausdem Keller zum Trocknen auf den Hofgebracht. Damals hatte man noch 20 bis 30Zentner Kartoffeln im Keller für Mensch undVieh.Bei näherer Betrachtung hatten wir als Laienschon festgestellt, dass das Wasser bis zurDecke gestiegen war. Als dann aber Fachleuteden Schaden begutachteten, stellten sie fest,dass das Wasser bis in die Decke eingedrun-gen war. Somit mussten Trockenöfen aufge-stellt werden und in die oberen Dielenfuß-böden wurden Trocknungslöcher gebohrt.Nach vielen Tagen des Trocknens fiel uns

dann in den oberen Zimmern auf, dass sichalle unsere Fußbodendielen beim Betretennach unten durchbogen. Der beim Bau unter-füllte Sand war zum Teil ausgespült wordenund hatte sich erheblich gesetzt. Nach vielenWochen und Monaten, zum Teil erst nach Jah-ren haben wir dann alle Decken in unseremHaus erneuern müssen. Weiterhin wurde spä-ter noch festgestellt, dass der untere Rundum-Balken (untere Mauerpfette) im Fachwerknicht ausgetrocknet und zum großen Teil ver-fault war. Das bedeutete für meinen Vater undmich nach dem Krieg, das ganze Hausrundum von einem Fachwerkhaus in ein Mas-sivhaus umzubauen. Diese Nacht vom 16./17.Mai 1943 und seine Folgen haben sich derartin mein Gedächtnis eingeprägt, dass ich esheute, nach mehr als sechzig Jahren, in dieserForm noch aufschreiben kann.

Page 36: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

150

Wie ich den Einmarschder Amerikaner erlebteOtto Eubel

Karfreitag, den 30. März 1945Wir wohnten im Hause meiner Großeltern inder Hauptstraße 92, der heutigen GensungerStraße 3. Mein Großvater Konrad Mombergwar Bürgermeister.Durchziehende Menschen auf der Flucht vorden Amerikanern kündigten schon einigeTage zuvor das Nahen der Front an. Unruhebemächtigte sich der meisten Dorfbewohner.Einige bereiteten sich auf ihren Rückzug inden vermeintlich sicheren Wald vor.Am Karfreitagmorgen kamen kleinere Grup-pen von Soldaten durch das Dorf. Sie berich-teten, dass die amerikanischen Panzerspitzenschon recht nahe seien. Andere gruben sichin einem wahnwitzigen Versuch nahe derSchwalmbrücke ein, um mit einer Panzerfaustdie Amerikaner aufzuhalten. Einige Soldatenversuchten sich Zivilkleidung zu beschaffen,um der Gefangenschaft zu entgehen.Im Laufe des Vormittages zeigten sich auf derLendorfer Höhe die ersten Panzer, um dieLage im breiten Tal zu sondieren. Die auf denAbstellgleisen des Waberner Bahnhofes abge-stellten Nachschub- und Materialzüge wurdenbeschossen. Ebenso die große Feldscheunedes Karlshofs nahe der Zuckerfabrik. Sie gingin Flammen auf. Hier hatten sich wohl einigeder zurückweichenden deutschen Soldaten in

Stellung gebracht. In der Scheune war einegrößere Menge an Rohzucker gelagert. Durchdie große Hitze wurde dieser flüssig undtränkte das Erdreich. Noch nach vielen Mona-ten lag über diesem Platz ein widerlich süßerGeruch. Es wurden auch tote deutsche Solda-ten hier gefunden. Immer wieder versuchtenSoldaten sich festzusetzen. Ein weiterer toterSoldat wurde in der Nähe vom Bäuwinkelgefunden. Er wurde auf dem Harler Friedhofbeigesetzt. Heute ruht er auf dem Soldaten-friedhof Merxhausen. Einige der zurückwei-chenden Soldaten hatten wohl die Hoff-nungslosigkeit ihrer Lage erkannt undtauschten ihre Uniform gegen Zivilkleidungum. Das wurde sehr aufmerksam von den bisdahin Kriegsgefangenen und ehemaligenZwangsarbeitern verfolgt. Diese lieferten dieso Untergetauchten später an die einge-rückten Amerikaner aus.In der folgenden Zeit kamen die Motorenge-räusche immer näher. Unruhe kam auf. UnsereFamilie ging in den Hohlen Weg in einen sogenannten Splitterbunker. Heute stehen dortdie Häuser Metz und Ostheimer. In dem Erd-graben war es feucht und eng. Da es bisdahin relativ ruhig blieb, gingen wir in der Mit-tagszeit nach Hause. Daheim erreichte uns einAnruf aus Niedermöllrich, dass gleich die Eder-brücke gesprengt würde, was auch nach kur-zer Zeit geschah. Man wollte wohl den Vor-marsch aufhalten. Vereinzelt wurde auch ausNiedermöllrich geschossen. Die amerikani-schen Panzer nahmen daraufhin Niedermöll-rich unter Beschuss. Wir versammelten uns mitNachbarn in unserem Keller. Mein Opa undich schauten hin und wieder aus der Haustürnach der Lage. Dann fuhr ein aus Richtung

Schwalmbrücke kommender Panzerspäh-wagen durch das Dorf bis zum Ortsausgangnach Rhünda. An manchen Häusern wehtenweiße Fahnen. Er kam zurück und kurz daraufrückten Panzer, Kettenfahrzeuge und Lkw imDorfe ein. Bald darauf hielt ein Jeep vor unse-rem Haus. Man war wohl gut informiert. DerOffizier in schussbereiter Begleitung fragte ingutem Deutsch: „Ist hier das Bürgermeister-amt?“ Auf die Bejahung kam die unmiss-verständliche Auforderung „Alle Personenverlassen sofort das Haus. Hier ist die Kom-mandantur“. Im Haus von Konrad Schmidtschräg gegenüber wurde der Sanitätsbereicheingerichtet. Wir verließen ohne großes Hand-gepäck das Haus. Unsicher suchten wir einenWeg zwischen all den Kriegsfahrzeugen insOberdorf und fanden im Haus von Lehrer Diet-zel erste Aufnahme (heute Familie RainerWalkenhorst).Der Vormarsch der Amerikaner kam insStocken. In Werkel leisteten deutsche PanzerWiderstand. Jagdbomber und Panzer nahmendas Dorf unter Beschuss und richteten großeZerstörung an. Ebenso in Niedermöllrich, woviele Gebäude durch Brand und Granattrefferzerstört wurden.Am späten Nachmittag – in der Futterzeit –wagten wir uns wieder nach Hause, um nach-zuschauen und das Vieh zu versorgen. DerWeg zurück war ein einziger Hindernislaufzwischen den Militärfahrzeugen, umgefah-renen Licht- und Telegrafenmasten und demdamit einhergehendem Gewirr an Drähten.Dazu kam die Angst in dieser bedrohlichenSituation vor der Ungewissheit und demNeuen. Von weitem sahen wir schon die zer-rissenen Akten aus dem Bürgermeisteramt auf

Page 37: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

151

der Straße liegen. Wegen der zerstörten Lei-tungen gab es weder Strom noch Telefon.Neben unserem Haus stand im Kümpeswegein Aggregatfahrzeug und versorgte die Kom-mandantur mit Elektrizität.Vor dem erleuchteten Haus angekommen,fuhr mir der Schrecken in die Glieder. Vorjedem der beiden Eingangspfosten standein baumlanger Farbiger mit einem Messer inder Hand. Dieser ungewohnte und über-raschende Anblick steigerte meine Angst.Sicher war von beiden nichts zu befürchten.Psychologisch war der Anblick jedoch sehrwirkungsvoll für alle, die daran vorbei mussten.Wir wurden an der Haustür abgewiesen undgingen verängstigt ins Oberdorf zurück. Abernicht zu Dietzels, sondern zu Mombergs (Kas-persch), einer Schwester meiner Oma, weildort mehr Platz war. Dort angekommen, ver-missten wir meinen Opa Konrad Momberg.

Wir nahmen nun an, dass er von den Amerika-nern, weil er der Bürgermeister war, festgehal-ten worden sei. Er hatte sich nach einer kurzenBefragung, uns nicht mehr ansichtig, wieder zuDietzels, unserem Ausgangsort begeben. SeineAbwesenheit machte uns große Sorge. Wirkonnten wegen der Ausgangssperre nichtnach ihm suchen. Erleichtert fanden wir amanderen Morgen wieder zusammen.Die Nacht war sehr unruhig. An Schlaf warnicht zu denken. Panzer waren an mehrerenPunkten in der Gemarkung aufgefahren undbeschossen über das Dorf hinweg weitergele-gene Ziele. Aber auch die auf dem Verschie-bebahnhof Wabern stehenden Güterzügewurden beschossen. Dazu kamen die Erleb-nisse des vergangenen Tages, die uns keinenSchlaf finden ließen.Karsamstag, den 31. März 1945Am Karsamstagmorgen wurde meinem Opa

und meiner Tante erlaubt, das Vieh zu fütternund zu melken. Während ihrer Arbeit traf einQuerschläger – woher der auch immer kam –auf einen der Panzer. Sofort gab es laute,kurze Befehle. Die Fahrzeugmotoren sprangenan. Das Haus wurde fluchtartig verlassen. Mandachte wohl an einen Angriff auf die Kom-mandostelle. Der Zustand im Haus warerschreckend. Schränke waren aufgebrochen,deren Inhalt lag herum. Vieles fehlte. Beson-ders Dinge, die als Souvenir zu gebrauchenwaren, wurden mitgenommen. Andereswurde achtlos zerstört. Wiederholt musstenFamilien ihre Häuser räumen. Sie dienten dennachrückenden Truppen als Quartier.Für uns Kinder brachte die Zeit viel Neues. Wirbekamen Süßigkeiten wie Schokolade undKaugummi und Dinge, die uns bisher unbe-kannt waren. Wir arrangierten uns leichter alsmanche Erwachsene mit der neuen Zeit.

Lager der Kinderlandverschickung in HarleViele Städte waren durch Luftangriffe bis zur Unbewohnbarkeit zer-stört und wurden durch weitere Angriffe in Angst und Schrecken ver-setzt. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Dingen des täglichenLebens war schlecht. Am meisten litten die Kinder unter diesenZuständen. Um die Lage der Kinder zu verbessern und die Mütter fürandere Aufgabe frei zu bekommen, wurden diese Lager eingerichtet.Sie entstanden auf dem Land in größerem Abstand zu den Städtenund möglichen Angriffszielen. Die Lager der Kinderlandverschickung(KLV Lager) unterstanden der Hitlerjugend (HJ).Im Mai 1944 entstand ein solches Lager in unserem Dorf. 35 bis 40Mädchen aus zwei unterschiedlichen Altersklassen der Bürgerschuleaus Kassel-Niederzwehren waren hier untergebracht.Die Schülerinnen wurden von zwei Lehrerinnen unterrichtet.

Frau Schade unterrichtete die älteren Mädchen im Saal der Gastwirt-schaft und Metzgerei Müller (heute Landgasthof Bartalos). Frau Loh-fink, die ihren 10-jährigen Sohn Elmar mit dabei hatte, unterrichtetedie jüngeren Mädchen zusammen mit den Harler Kindern im unte-ren Saal der Harler Schule. Der Saal der Gastwirtschaft Stieglitz (heutedas Dorfgemeinschaftshaus) diente als Schlafraum. Die aufgestelltenEtagenbetten wurden durch Spindreihen getrennt.Unterstützt wurden die beiden Lehrerinnen bei der Betreuung durchzwei ältere BDM-Führerinnen (Bund Deutscher Mädchen).Im Saal des Gasthauses Müller wurden auch die Mahlzeiten einge-nommen. Für die Verpflegung waren eine Küchenleiterin und zweiKüchenhelferinnen zuständig. Gekocht wurde in der Küche und inder Metzgerei.Die Einrichtung bestand von Mai 1944 bis zum Einmarsch der Ame-rikaner im März 1945.

Page 38: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

152

In der Mitte der 30er Jahre des vorigen Jahr-hunderts entstand in Harle der erste Kinder-garten. Geöffnet war er vom zeitigen Frühjahrbis zum Herbstende. Der überwiegende Teilder Frauen und Mütter war damals in derLandwirtschaft tätig, um, wie es hieß, dieVolkswirtschaft zu stärken und um möglichst

viele Frauen für andere Aufgaben frei zubekommen. So wurden die Kindergärten aufdem Land aus politischen Gründen einge-richtet.Der Harler Kindergarten bestand räumlich auszwei Teilen. Mittelpunkt war das Haus 981/2

von Christian und Helene Bäcker am Ortsein-gang aus Richtung Wabern, heute das Hausder Familie Detlef Klein. In der ersten Etagewaren die Aufenthaltsräume und die Ruhe-räume. Im Keller befanden sich die sanitärenAnlagen.Bei gutem Wetter ging es über einen Feldweg,den heutigen Flurweg, zum Schützenhaus imLehmgraben. Die Räume des Schützenhausesdurften mitbenutzt werden. Natürlich gab eseine Rasenfläche und einen großen Sand-

kasten für das Spiel im Freien. Am südlichenRande des Geländes befand sich ein doppel-tes Häuschen mit Herzchen in den Türen. Aufder Friedhofseite stand das Verladegerüst derSand- und Lehmgrube. Ein ideales Spielge-lände für uns Kinder.Anfangs war Elisabeth Demel aus Kassel alsKindergärtnerin tätig, ihr folgte Erna Sippel,ebenfalls aus Kassel, danach kam GustchenMänz aus Spangenberg. Alle drei Kindergärt-nerinnen wohnten während ihrer Dienstzeitim Hause Momberg, Hauptstraße 92.Nach Kriegsbeginn setzte der Staat anderePrioritäten und der Kindergarten wurde in denfolgenden Kriegsjahren aufgelöst.Die Zeit des Kindergartens war eine neue undinteressante Erfahrung für uns Dorfkinder.

Der Harler Kindergartenvor dem zweiten WeltkriegOtto Eubel

Von links: Walter Schnettler, Kindergärtnerin Gustchen Mänz, davor IngeSchnettler, Berta Eubel, Günter Schmidt, Helga Schmidt, Luise Amert, EmmaGerhardt, Änne Riemenschneider, Hans Lohr, Anni Meier, Elli Lumm.

Kinder spielen vor dem Schützenhaus im Lehmgraben.

Page 39: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

153

Gefallen:Heinrich Freudenstein 1915 – 1939 (W)Andreas Bähr 1918 – 1940 (W)Konrad Riemenschneider 1911 – 1941 (O)Georg Clobes 1918 – 1941 (O)Ludwig Meier 1920 – 1941 (O)Heinrich Reitze 1915 – 1941 (O)Heinrich Gude 1921 – 1942 (O)Ernst Freudenstein 1921 – 1942 (O)Karl Brandau 1912 – 1942 (O)Ernst Momberg 1922 – 1942 (O)Heinrich Steinbach – 1942Arnold Stieglitz 1922 – 1942 (O)Arnold Eckhardt 1904 – 1943 (O)Johannes Sämmler 1923 – 1943 (O)Karl Dilcher 1922 – 1943 (O)Martha Kuhn – 1943 (H)Heinrich Wollenhaupt 1917 – 1944 (H)Arnold Bergmann 1923 – 1944 (O)Wilhelm Schmidt 1902 – 1944 (W)Georg Otto I 1906 – 1944 (O)Johannes Brandau 1914 – 1944 (O)Johannes Besse 1906 – 1944 (O)Karl Emde 1901 – 1944 (O)Konrad Dünzebach 1919 – 1944 (W)Erich Scherp 1926 – 1944 (O)Hans Momberg 1925 – 1945 (O)Eduard Gumbel 1923 – 1945 (H)Heinrich Brandau 1927 – 1945 (O)Karl Clobes 1908 – 1947 (G)

Harler Soldaten im Zweiten Weltkrieg

Vermisst blieben:Heinrich Eberwein 1941 (O), Konrad Jäger 1943 (O), Georg Otto II 1944 (O), Karl Pittich1944 (O), Albert Müller 1944 (O), Karl Stieglitz 1944 (O), Wilhelm Schmidt 1944 (O), Hein-rich Bäcker 1944 (O), Heinrich Besse 1945 (O), Karl Keim 1945 (O), Heinrich Wiederhold1945 (O).

Aus den 1945 abgetrennten deutschen Ostgebieten fielen:August Reichelt (1940), Werner Herzmann (1941), Leo Jochim, Willi Braun, Heinz Lübke(1942), Ernst Lindhof (1943), Josef Bielert, Heinz Skowron, Walter Kirbis (1944), HubertusKlein, Emil Klarner, Günter Klein, Anton Krusch, Georg Sobotzki, Franz Scholz, Karl Wagner,Alfred Erdmann (alle 1945).Vermisst blieben:Karl Hess, Richard Motl, Rudolf Lehanka, Franz Lübke, Anton Rubisch.

(W) = Westfront, (O) = Ostfront, (H) = Heimat, (G) = Gefangenschaft

Page 40: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

154

gebombte ihr Leben. Auch in den Dörfernlebten die Menschen in Not, wenn sie hierauch meist nicht vom Hungertod bedrohtwaren.Im April 1946 kamen aus Schlesien 108 Per-sonen, ungefähr 27 Familien oder Frauen mitKindern. Sie stammten fast alle vom Gut Son-nenberg im Kreis Falkenberg in der Nähe vonOppeln. Die ganze Domäne hatte im Februar1945 in einem Treck von 16 Wagen die Hei-mat verlassen müssen und war nach vierWochen strapaziöser Fahrt in Labant, KreisTachau, im Sudetenland angekommen. Unter-wegs versagten bei einem Gefährt die Brem-sen, es kam zu einem Unfall mit sieben Toten.Erst nach einem Jahr erfolgte dann die Aus-weisung. Siehe hierzu den Artikel aus denHessischen Nachrichten vom 11. April 1946.

Flucht,Vertreibung,Neuanfang

Nach Ende des II. Weltkriegeswurde West- und Mitteldeutsch-land in die vier Besatzungszonender Siegermächte aufgeteilt . Ost-deutschland – das waren Schlesien,Ostbrandenburg, Pommern, Danzigund Ostpreußen – wurde lediglichunter polnische und russische Verwaltunggestellt . Das Sudetenland war wieder Teil derTschechoslowakei geworden. Restdeutsch-land musste zirka 14 Millionen Flüchtlingeund Heimatvertriebene aufnehmen, davonetwa 10 Millionen in Westdeutschland (BRD)und ca. 4 Millionen in Mitteldeutschland(DDR). Ungefähr 2 Millionen Menschen fan-den durch Flucht und Vertreibung den Tod.Auch in Harle kamen 1946 zwei große Flücht-lingstrecks aus dem Sudetenland und ausOberschlesien an. In Harle waren schon ausKassel Ausgebombte und einzelne Flüchtlingeoder Flüchtlingsfamilien untergekommen, alsdem Dorf noch diese zwei großen Gruppenzugeteilt wurden. Sie kamen in Städte undDörfer, deren Bevölkerung selbst geschundenwar: Millionen fristeten als Evakuierte und Aus-

Im Juli 1946 kam ein zweiter Flüchtlingstrans-port nach Harle, diesmal aus dem Sudeten-land. Es waren Sudetendeutsche, die aus ihrerangestammten Heimat im Landkreis Mies beiPilsen vertrieben und nach Westdeutschlandausgewiesen wurden.

Dieser Zeitungsartikel vom April 1946 aus den Hes-sischen Nachrichten berichtet über die Entwicklungder Flüchtlingsbewegung im Kreis Melsungen.

Page 41: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

155

Zeitzeuge Martin Hentschker

Mit diesem Flüchtlingstransport sind wir Schle-sier aus Sonnenberg im Kreis Falkenberg undTurawa im Kreis Oppeln/Oberschlesien mit108 Personen am 2. April 1946 nach Harlegekommen.Am 5. Februar 1945 begann unsere Flucht mit180 Personen vor der russischen Armee inRichtung Westen. Der Treck bestand aus Plan-wagen mit Pferdegespannen und Traktoren. Erführte uns über Neisse, Bad Landeck, Glatz,durch das Glatzer Gebirge, Bad Reinerz,Königgrätz, nördlich an Prag vorbei, durch dasgesamte Sudetenland über Saaz und Marien-bad nach Labant im Kreis Tachau, 18 Kilome-ter vor der Bayerischen Grenze. Es wurdenzirka 520 Kilometer getreckt, überwiegend zuFuß bei Kälte, Schnee und Eis; auch ich mitacht Jahren musste diese Strecke zu Fußzurücklegen.Zu den Strapazen kam noch ein tragischerUnglücksfall am 14. Februar 1945 bei BadReinerz im Adlergebirge. Der in dem Treck mit-fahrende Trecker fuhr voraus und ver-unglückte auf einer abschüssigen Strecke. Der

Trecker und dererste Anhängerhatten sich durchdas Bremsenschräg gestellt .Der zweite An-

hänger hatte alles den steilen Abhang herun-ter geschoben und war dann über den erstenAnhänger nach Bruch der Kupplung in dieTiefe gerollt . Bei diesem schweren Unfallwaren sieben Tote zu beklagen und zwölfmehr oder weniger schwer Verwundete.Nachdem die Verwundeten versorgt waren,fuhr der Treck am 16. Februar 1945 weiter. DieAngehörigen der Toten und Verwundetenblieben zurück. Am 4. März 1945, also nach28 Tagen, kamen wir in Labant an. Die Tsche-chen ließen uns aber nicht nach Bayern wei-ter fahren (die Amerikaner waren noch nichtin der CSSR einmarschiert), sondern zwangenuns, auch nach einer Entscheidung der Sie-germächte vom 2. August 1945 insgesamt einJahr lang in der Tschechoslowakei zu bleiben.Erst am 30. März 1946 erfolgte die Ausreisenach Hessen. Das Ziel war unbekannt. DieHoffnung aller, in unsere Heimat Schlesienwieder zurückkehren zu können, war von denAlliierten zunichte gemacht worden. Am 31.März 1946 begann unsere Ausreise aus derCSSR in einem Güterzug mit dem Ziel Hessen.Am 1. April 1946 kamen wir in Gensungen imKreis Melsungen an. Übernachtung im Güter-wagen auf dem Bahnhofsgelände. Am 2. April1946 wurden wir mit Lkw und Pferdewagennach Harle gebracht, bei diesem Transportwaren auch einige heimatvertriebene Sude-tendeutsche. Nach 14 Monaten Flucht undVertreibung kamen wir mit nur noch 108 Per-

sonen in Harle an und fanden hier eine neueHeimat. Im ehemaligen Gasthaus Stieglitz(jetzt Dorfgemeinschaftshaus) wurden wirdann von dem Wohnungskommissar HansSämmler in die einzelnen Häuser/Bauernhöfeeingewiesen. Die zugewiesenen Wohnräumewaren für beide Seiten nicht immer zufrieden-stellend. So wurden z. B. fünf Erwachsene undein Kind in zwei Räumen von 20 Quadratme-tern Wohnraum mit drei Betten einquartiert !Wir waren am Ende unserer Flucht angekom-men und nunmehr wieder in Deutschland,hatten erst einmal ein Dach über dem Kopfund es bestand die Hoffnung, dass es nurnoch besser werden konnte. Für viele Schle-sier sind Harle und Hessen zur neuen Heimatgeworden. An dieser Stelle möchte ich michfür die gute Aufnahme in Harle bedanken, daich mich noch sehr gut an die Kinder- undJugendzeit, auch an die Schulzeit erinnernkann. Bedanken möchte ich mich für die um-sichtige Treckführung des LandesforstmeistersHertz-Kleptow und dem Förster Franz Jonietzund anderen, die gemeinsam unseren Treckbestens durch die Wirren am Ende des zwei-ten Weltkrieges geführt haben.Herr Jonietz hatdann unsere Aus-reise nach Harleorganisiert undsich weiterhin füruns engagiert.

Das schlesische Wappen repräsentiert die seit 1163 selbständigen Herzogtümer Breslau und Rati-bor. Auf Beschluss des Völkerbundes 1921 wurde ein großer Teil Oberschlesiens dem polnischenStaat zugeschlagen. 1926 erhielt Oberschlesien ein eigenes Wappen. Es zeigt die obere Hälfteeines goldenen Adlers als Symbol der Teilung. Die Sensenklinge steht für Landwirtschaft, Ham-mer und Schlegel für Bergbau.

Page 42: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

156

Ergänzen möchte ichdie Berichte desHerrn Jonietz zu derSituation der Flücht-linge mit einigenpersönlichen Bemer-kungen:In Zeitungsartikelnvom 18. April 1946(Chronik Archiv) wirdrealistisch die Le-benssituation derFlüchtlinge und Hei-matvertriebenen undder einheimischenBevölkerung geschil-dert. Es fehlte insbe-sondere an Wäsche,Kleidung, Haushalts-gegenständen, Koch-gelegenheiten, anWohnraum und Nahrung, und an Arbeitsplät-zen. Auch wir Schulkinder haben für ein Mit-tagessen oder Abendessen in der Landwirt-schaft helfen müssen. Es wurde improvisiertund es muste irgendwie weitergehen. Soschildert Herr Jonietz in seinem abschließen-den Bericht, dass er mit seinen Männern vonApril 1946 bis Juni 1946 Brennholz imGemeindewald geschlagen hat und danachFichten gepflanzt wurden. An einer Wege-kreuzung in der Gemarkung wurde eineFlüchtlingseiche gepflanzt. Ob die noch exi-stiert?Für eine Gemeinde war es schon eine Her-ausforderung, so viele Flüchtlinge aufzuneh-men und zu versorgen. Ich kann mich nocherinnern, dass wir vom Winter 1945 bis zum Ein Flüchtlingstreck auf dem Weg Richtung Westen.

Sommer 1946 keinen Schulunterricht hatten.Durch die erhöhte Schülerzahl wurden ca. 40bis 50 Kinder und mehrere Jahrgänge in einerKlasse unterrichtet. Unterricht war in zweiSchulräumen vormittags und nachmittags.Die Flüchtlinge waren überwiegend katho-lisch. Einige Jahre wurde der katholische Got-tesdienst in der evangelischen Kirche zu Harleabgehalten.Nachdem die anfäng-lichen schwierigen Jahreüberstanden waren, ha-ben in den 1950er Jah-ren viele Flüchtlinge undHeimatvertriebene Einhei-

mische geheiratet ,Häuser gebaut undsich vollständig in dasdörfliche Leben inte-griert. Sie haben damitbekundet, dass sie inihrer neuen Heimatangekommen warenund nunmehr dazu-gehörten. Eine Rück-kehr in die alte Heimatwar stets ungewiss.Wir haben zuerst beiFamilie Heinrich Meierin der Obergasse ge-wohnt, später bei OttoMetz und dann beiBürgermeister HansSämmler.Meine Mutter (†1982)und mein Bruder

Walter († 2005) zogen 1958 nach Felsbergwährend ich mit meiner Frau seit 1957 in Mel-sungen lebe. Wir erinnern uns gerne an dieZeit, die wir in Harle verbringen durften undbesuchen noch heute gern viele Bekannte.

Historische Postkarte der Stadt Falkenberg in Ober-Schlesien aus dem Jahr 1900.

Page 43: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

157

Im Januar 1945 im Alter von 13 Jahren muss-te ich mit meiner Familie (Mutter, Großmutterund 6 Kinder – ich war die älteste, die beidenjüngsten, Zwillinge, waren gerade ein drei-viertel Jahr) Breslau, unsere Heimat, verlassen.Nach einer Odyssee durch Deutschland –vom Sudetenland bis an die Ostsee – lande-ten wir in Bartelshagen in der russisch besetz-ten Zone. Über das Rote Kreuz erfuhren wirdie Adresse meines Vaters. Ihn hatte es nachHarle verschlagen.Man brauchte eine Zuzugsgenehmigung, umvon der russischen in die amerikanische Zoneumzuziehen. Durch persönlichen Einsatz desdamaligen Bürgermeisters Pitticherhielten wir sie schließlich imOktober 1946.Es war für uns ein aufregenderMoment. Nun endlich konntegepackt werden. Die paar Hab-seligkeiten, die wir besaßen,waren schnell zusammengepacktund verstaut. Wir waren sehr auf-geregt, was uns nun erwartete.Wir freuten uns riesig auf dasWiedersehen mit unserem Vater!Unsere Fahrt ging von Bartels-hagen nach Wabern. Zu der Zeitlief in Wabern in der Zuckerfabrikgerade die Rübenkampagne, beider Vater Schichtdienst hatte. Alsogingen mein Bruder und ich dorthin, um meinen Vater zu holen. In

einem Brief beschrieb er uns den genauenPlan. An der Pforte wusste man schonBescheid und mein Vater wurde auch gleichgeholt. Die Wiedersehensfreude war riesen-groß.Nun ging es zum Bahnhof, wo die Mama, dieGeschwister und die Oma warteten. Um-armungen und Tränen lösten sich ab.Nun endlich sollte es nach Harle gehen. Wirnahmen den Weg hinter der Schwalm durchdie Wiesen. Von da aus war es bequem zumHaus von Familie Lohr zu kommen, wo meinVater ein Zimmer hatte. Er gab zu, dass es ihmpeinlich gewesen war, uns in unserem abge-rissenen Zustand durchs Dorf zu führen,unsere Kleidung sah mittlerweile doch sehrmitgenommen aus. In der Küche bei FamilieLohr stand für uns ein großer Topf mit Gemü-sesuppe und ein Gugelhupf bereit. Kaffee

kochte uns mein Vater. Familie Lohr war aufdem Feld zur Arbeit und so konnten wir unsam Abend erst bedanken und uns vorstellen.Ein paar Nächte war dies unser Zuhause.In der Zwischenzeit hatte man uns eine Woh-nung zugewiesen, die noch mit den nötigstenMöbeln bestückt werden musste. Diese Woh-nung bestand aus einem großen Zimmer undaus einer schmalen Kammer. Das große Zim-mer war Küche, Wohnraum und Schlafzimmerfür die Eltern. In der Kammer schliefen wirsechs Kinder und die Oma. Wir hatten Stock-betten, was immer große Gaudi gab für die,die nach oben mussten. Zur Toilette musstenalle Hausbewohner ums Haus auf den Hof,das sogenannte Plumpsklo. Wasser für dentäglichen Gebrauch holten wir aus derWaschküche im Keller. Die Vermieter warenganz nett bis auf die Oma, sie bezeichnete

uns ständig als Russen, weil wirKinder barfuß gingen und ausdem sogenannten Osten kamen.Sie war sehr böse zu uns. Sieselbst nahm auf nichts Rücksicht.Sie stellte sich mitten auf den Hof,zog die Röcke breit und verrich-tete ihre Notdurft. Oder sie schüt-tete aus dem ersten Stock ihrenNachttopf aus, wenn wir untenvorbeigingen. Für uns war dasunerklärlich, aber wir ließen unsvon ihr nicht unterkriegen, ob-wohl wir sehr darunter litten.Mein Vater arbeitete inzwischenbei der Bahn in Wabern. Ermachte dort Schrankendienst ,bekam daher wenig mit, was sotagsüber passierte.

Die Familie Dittmann vor ihrer Flucht in der Heimat an der Oder: von links Wolf-gang, Ulla, Mutter Käthe, Werner und Christa.

Schilderung vonUrsula Lehnhart, geb. Dittmann

Page 44: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

Die Einheimischen waren nicht so gern bereitFlüchtlinge aufzunehmen. Aber wir konnten jaauch nichts dafür, dass wir unsere HeimatBreslau hatten verlassen müssen. Nach gerau-mer Zeit bekamen wir eine größere Wohnungzugewiesen. Dort waren wir Kinder überhauptnicht gern gesehen. Bei jeder Gelegenheitbekamen wir dies zu spüren.Nun einmal ein paar Worte zum Umzug. DieWohnungen lagen nur zwei Häuser entfernt,also konnten wir unsere paar Habseligkeitenper Hand tragen. Mein Vater hatte einigeMöbel von guten Bekannten bekommen, fürjeden ein Bett, einen Kleiderschrank und et-liche Sachen für eine Kücheneinrichtung. Amschwierigsten war der Transport des Kleider-schrankes, denn das Treppenhaus war zuschmal, aber er musste in den ersten Stock.Also wurde ein Strick besorgt und das Ganzedurchs Fenster von der Straße aus probiert.Aber, oh Schreck, der Strick riss, bevor das Fen-ster erreicht war. Der Absturz war nicht zu ver-meiden, unten fing mein Vater den Schrankmit dem Rücken auf. Beide blieben heil. Einneuer Versuch wurde mit einem neuen Strickgestartet, der hielt, es war geschafft.Die Wohnung war räumlich sehr angenehm,aber das Drum und Dran sehr beschwerlich.Jeder Tropfen Wasser musste rauf und runterbefördert werden. Bei acht Personen kein Pap-penstiel. Wenn es ans Baden ging, wareneinige Liter für alle nötig. Rauf und runter. DerWasserhahn war unten auf dem Hof.Mein Vater bewarb sich bei der Bahn in Kas-sel und wurde auch angenommen. Er arbei-tete auf der Strecke beim Gleisbau, war vonMontagmorgen bis Freitagnachmittag unter-wegs. Wenn er dann heimkam, mussten wir

ihm berichten, was in der Woche so losgewesen war. Er war immer dann stinksauer,wenn etwas vorgefallen war und es gab hef-tige Debatten zwischen ihm und dem Ver-mieterehepaar. Wenn wir zum Beispiel Holzund Kohlen hoch trugen, hatten wir in derenAugen schmutzige Schuhe, oder beim Was-sertragen haben wir selbstverständlich etwasverschüttet. Jeder von uns hatte Angst, alleindurchs Treppenhaus zu gehen. Sofort ging dieKüchentür auf und es wurden uns böseSchimpfworte nachgerufen. Sie scheuten auchnicht davor zurück, einfach unsere Türen zuöffnen und in unsere Räume zu schauen, allesohne einen Vorwand.

Meine Mutter und wir Kinder gingen nach derKornernte zum Ährenlesen, welche wir danngegen Mehl eintauschen konnten. Ebensostoppelten wir Kartoffeln auf den abgeernte-ten Feldern. Wir gingen Bucheckern im Waldsammeln, wofür wir in Caßdorf in der MühleÖl eintauschen konnten. Wenn es die Zeiterlaubte, ging mein Vater zu den Bauern zumGetreidedreschen, dafür bekam er dannWeizen und Roggen. Das Getreide konntenwir dann in Mehl umtauschen, um beimBäcker Brot dafür zu bekommen. Die Lebens-mittel waren ja immer noch rationiert. MeinVater sah immer zu, dass er etwas zu Essen fürdie Familie organisieren konnte. Zum Beispielspielte er mit dem Bäcker aus Wabern Tisch-tennis, dafür bekam er, wenn er verlor, Brotund Brötchen, er verlor natürlich öfters. Es gabja immer noch Lebensmittelmarken, und sowar für uns Vertriebene alles reichlich knapp.An dieser Stelle möchte ich auch einige posi-tive Dinge berichten. Einige Einheimischegaben uns Kindern Kleidung mit einem liebenWort. Außerdem bekamen wir mal etwasGeschlachtetes, eine Wurst, Fett, Speck undein Stück Fleisch. Auch hatten wir einen Gar-ten, in dem wir Kartoffeln und Gemüse anbau-ten und Beerensträucher pflanzten.Wir Kinder wurden älter und es stand an, eineLehrstelle zu finden. Zuerst aber musste meinVater bei der Bahn eine Festanstellung haben,was dann auch glückte. Am 15. Februar 1951zog meine Familie nach Kassel-Rothendit-mold. Ich blieb in Harle, weil ich hier meineLiebe fand. Wir heirateten am 24. Februar1951. Noch heute lebe ich in Harle bei derFamilie meiner älteren Tochter.

158

Bruno Dittmann verdiente sich als Eisverkäuferzusätzlich Geld für den Lebensunterhalt seinerFamilie. Das Eis wurde mit Hilfe von Heinz Stieglitzim Keller des ehemaligen Gasthauses Stieglitz (Pau-els) selbst hergestellt.

Page 45: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

159

Magdalene Weiss, Hanni Besseund Franz Kraus erinnern sichaufgezeichnet von Sigrid Foerster

Die in Harle angekommenen Sudetendeut-schen stammten aus den Ortschaften Schön-tal, Ottrotschin, Lingau bei Schweißing imKreis Mies und Kottiken, 4 Kilometer von Pil-sen entfernt.Alle Männer dort waren im Mai 1945 abge-holt und im Schlosskeller in Schweißing inter-niert worden. Danach wurden sie ins „Porey“verbracht – das berüchtigte Gefängnis derRegion für Schwerverbrecher. Von rund 15dort Internierten starben mehr als die Hälfte inder ungefähr siebenmonatigen Haft.

Sie und andere nach Tschechien Verschleppte,die dort bei Bauern Fronarbeit leisten mussten,wurden kurz vor dem Termin der Aussiedlungfreigegeben. Innerhalb weniger Tage musstenalle die Heimat verlassen. Dabei wurden auchFamilien auseinandergerissen, einige landetenin Bayern beispielsweise, ihre Angehörigen inNordhessen.Dies bedeutet, dass allein für diese beidengroßen Flüchtlingsgruppen aus Schlesien unddem Sudetenland – meist Familien oderFrauen mit ihren Kindern – mindestens 50Unterkünfte gefunden werden mussten.Harle hatte vor dem Zuzug der Flüchtlinge,den Zuweisungen von Ausgebombten undanderen Personen, die in den Nachkriegswir-ren eine neue Heimat suchten, rund 700 Ein-

wohner. Diese Zahlerhöhte sich auf zeit-weise ungefähr 1200.Aus den Nachkriegs-jahren gibt es keineoffiziellen Unterlagenmehr.Es blieb nicht aus,dass es da zu Span-nungen kam, dieWohnung oder daseigene Haus musstemit den Zugezoge-nen, den „Flücht-lingen“, geteilt wer-den. Die Ablehnungbasierte noch aufeiner anderen Ebe-ne, dem unterschied-lichen Glauben. Wäh-rend die Einheimi-

schen evangelisch waren, waren die Flücht-linge und Vertriebenen in der Regel katho-lisch. „Du kannst jede Frau/jeden Mann mitnach Hause bringen – aber verschone uns miteiner/einem Katholischen. Die/der soll unsnicht ins Haus!“ Das hörten junge Leute häu-fig, auch noch nach vielen Jahren.Diese Ressentiments wurden zum Teil auchals von der Kirche geschürt empfunden. ZumBeispiel bemerkten „Flüchtlinge“, dass derdamalige Pfarrer aus den USA angekommeneCare-Pakete nur an „Hiesige“ verteilte.Einmal wurden die Katholischen, die am Kon-firmationsgottesdienst teilnahmen, vor demAbendmahl der Konfirmanden von ebendie-sem Pfarrer aus der Kirche geschickt. (Übri-gens gingen auch die Evangelischen, die nichtan dem Abendmahl teilnahmen, während desPredigtliedes aus dem Gottesdienst).Auf der anderen Seite war den „Flüchtlingen“erlaubt, jeden Sonntag in der Harler Kircheihren Gottesdienst abzuhalten. Der damalsneu eingesetzte katholische Pfarrer setzte imJahr 1981 dieser Tradition ein Ende und diekatholischen Harler Bürger besuchten von nunan den Gottesdienst in Wabern.Es waren oft Kinder und Jugendliche, die alserste Gräben überbrückten. Ein Kind z. B., dasohne Scheu beim Bauern nebenan vorbei-schaute, bekam schnell etwas zu essen oderein nötiges Kleidungsstück zugesteckt. Hinzukam der offensichtliche Fleiß der Angekom-menen. Sie waren sich für keine Arbeit zuschade. Dies wurde natürlich gesehen – undrespektiert. Heute, nach mehr als 60 Jahren,sind alle, die hier im Ort geblieben sind, Harlergeworden – wenn auch manchmal mit demZusatz „Flüchtling“ versehen.

Die neuen Harler Bürger zeigen bei einem Festumzug in Harle stolz Trachtenaus ihrer verlorenen Heimat. von links Theresia und Karl Lehnhart, Hedwig Kas,Herbert und Trudel Glatzel, Marie Reichelt. Mit dem Rücken im Bild MargitHasch. Im Hintergrund spielt auf der Klarinette Matthias Hasch.

Page 46: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

Im Jahre 1944 habe ich meinen Mann FranzWurm geheiratet. Wir wohnten ab dieser Zeitauf unserem Bauernhof in Lingau GemeindeSchweißing Kreis Mies, den wir von meinenSchwiegereltern übernahmen. Zu dem Hofgehörten zirka elf Hektar Ackerland, einigeWeiden, sowie zehn Kühe, zwei Ochsen undvier Schweine. Mein Mann betrieb auf unse-rem Hof eine Schmiede und er war nebenbeiGemeinderechner der Gemeinde Schweißing.Im Januar 1945 mussten wir eine ausge-bombte Familie mit 4 Kindern aus Bochumund eine Flüchtlingsfamilie mit 3 Personen ausSchlesien bei uns im Haus aufnehmen.Damals wussten wir noch nicht, dass auch wireinmal irgendwo Zuflucht finden mussten.Wie es dazu kam, lesen Sie nachfolgend.Am 9. Juli 1946, ich war damals gerade 27Jahre alt und zwei Jahre verheiratet, wurdenwir, d.h. mein Mann Franz Wurm (42 Jahre),mein Sohn Franz Wurm (5 Monate) undmeine Schwester Margareta Zolles, jetzt Rei-chelt, und ich von den Tschechen ganz über-

raschend zu Hause abgeholt und in ein Lagerin der damaligen Kreisstadt Mies gebracht.Wir konnten nur noch schnell einige Klei-dungsstücke und ein paar kleinere Habselig-keiten in zwei Koffern verstauen, die wir mit-nehmen konnten. Es waren 50 Kilogramm proPerson erlaubt. Zwei Tage später, am 11. Juli,mussten wir zum zwei Kilometer entferntenBahnhof laufen und wurden zu je 30 Perso-nen in einen Viehtransportwaggon verfrachtet.Gegen Mitternacht setzte sich der Zug, deraus 10 Waggons bestand, in Bewegung unddie Fahrt ins Ungewisse ging los. Am nächstenMorgen hielt der Zug in Waidhaus. Dort muss-ten wir alle aussteigen, uns nackt ausziehenund eine Entlausungskammer durchlaufen.Dabei wurden wir alle eingepudert und derSchmucksachen, sowie der versteckten Spar-bücher beraubt. Danach wurde die Fahrt fort-gesetzt und in Wiesau gab es den nächstenHalt. Die Begleitumstände in den Viehtrans-portwagen waren alles andere als menschen-würdig, weil die Notdurft auf Eimern verrichtetwerden musste, die bei einem Halt des Zugesjedes Mal ausgeleert wurden. Es ging weiterRichtung Bamberg, mit der Befürchtung, dasswir in der damaligen „Ostzone“ landen wür-den. Als wir aber an Würzburg vorbeifuhren,waren wir erst einmal beruhigt. Der nächsteHalt war Melsungen, wo einige Waggonsabgehängt wurden. Die Fahrt ging weiter überdie Behelfsbrücke bei Gunterhausen bis nachGensungen, wo wir am 12. Juli gegen Abendankamen. Die ersten wurden sodann in einigeder umliegenden Ortschaften verbracht.Wir blieben aber noch in der darauf folgen-den Nacht in unserem Waggon zusammenund wurden am nächsten Morgen, es war ein

Sonntag, um 10 Uhr nach Harle gebracht. Wirstanden mit zirka 60 Personen vor der Gast-stätte Stieglitz (später Pauels, heute DGH).Dabei waren u. a. die Familien: Rimsa/Cho-dora, Lehnhart , Kruse, Kas/Schart , Frank,Lehanka, Fischer, Zederer, Meier, Kraus, Klik,Hasch, Mathias, Motl, Wenig.Der damalige Bürgermeister Pittich und Hans

160

Bericht von Theresia Wurm,geb. in Neustadl, Kreis Miesaufgezeichnet von Otto Wurm

Die Eltern Theresia und Franz Wurm mit ihren Söh-nen Franz und Otto im April 1954 auf der Treppevor dem Haus Ast.

Das Wappen der Sudetendeut-schen zeigt links eine Hälfte desReichsadlers, Symbol für die jahr-hundertealte Zugehörigkeit zumReich. Die rechte Hälfte zeigteinen Teil des Kreuzes des deut-schen Ritterordens in Komotau.Als Brustschild trägt der Adler

einen Teil des Wappens der Stadt Eger.

Page 47: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

Sämmler mussten für uns alle ein Quartiersuchen. Dies war gewiss nicht leicht, dennmeist waren es selbst große Familien, diebereits die Ausgebombten aus Kassel sowieFamilien aus dem Ruhrgebiet aufgenommenhatten. Es dauerte bis zum späten Nachmit-tag, bis alle eine Unterkunft hatten. Wir warendie letzten, weil es mit einem Säugling nichteinfach war eine Unterkunft zu finden. Sobekamen wir bei Familie Georg Ast in derHundegasse zwei kleinere Zimmerchen.Wochen später zog ein dort wohnendes Ehe-paar nach Wildungen und wir bekamen danneinen etwas größeren Raum. Frau Ast hatteeinen großen Garten, dort hat sie meine Hilfegerne angenommen. Wenn sie etwas übrighatte, legte sie uns ein Stückchen Speck,Gemüse für eine Mahlzeit oder zwei Eier aufden Schrank vor unserem Zimmer. Wenn manheute zurückdenkt, kann man die Leute vondamals verstehen. Gerade weil wir wenig hat-ten, haben wir doch immer wieder versucht,

uns gegenseitig zu helfen. Unser zweiter SohnOtto kam im Januar 1948 zur Welt. Getauftwurde er wenige Tage später in der gutenStube von Familie Ast. Eine katholische Taufe,keinesweg selbstverständlich in dieser Zeit ineinem evangelischen Haushalt.Mein Mann Franz Wurm fand zunächst inFritzlar auf dem Flugplatz bei den amerikani-schen Besatzungstruppen eine Anstellung.Etwa ein Jahr später bekam er in der Zucker-fabrik Wabern eine feste Arbeit bis zu seinemtödlichen Unfall in 1964. Ich selbst habe sehroft bei den Bauern im Stall und auf dem Feldgeholfen, um zum Lebensunterhalt meinerFamilie beizutragen.1956 zogen wir in die Jeppe (heute Turm-straße), in ein Häuschen mit der Hausnummer45 1/2, welches der Familie Roland Gerhardtgehörte. Nach unserem Auszug 1961 erwarbder Nachbar Karl-Heinz Wickert das Grund-stück und ließ das Haus abreißen. 1960 bau-ten wir am ehemaligen Feldgarten (Ober-

gasse 41) ein neues Haus, in dem ich heutenoch bei meinem jüngeren Sohn Otto undmeiner Schwiegertochter Marlis wohne.Vor ca. 15 Jahren hatte ich nochmals die Gele-genheit meine Heimat zu besuchen undmusste feststellen, dass unser ehemaligerBesitz einen sehr heruntergewirtschaftetenEindruck machte. Heute bin ich froh, dass wirin Harle trotz aller Schwiegkeiten, die die Zeitmit sich brachte, so gut aufgenommen wur-den und eine neues Zuhause aufbauen konn-ten. Das gute Verhältnis zur Familie Ast währteüber all die langen Jahre, besonders zu MinnaAst hatte ich über die Jahrzehnte eine freund-schaftliche Verbindung, wofür ich sehr dank-bar bin.Dieser Beitrag wurde von Otto Wurm am 2.Juni 2008 nach Gesprächen mit seiner MutterTheresia Wurm geschrieben. Theresia Wurmverstarb am 15. Juli 2008, wenige Wochennach diesen Aufzeichnungen im gesegnetenAlter von 89 Jahren.

Theresia Wurm und Minna Ast auf einer Familien-feier im Jahr 1997. Theresia Wurm verstarb 2008,Minna Ast verstarb 2006.

Die Vorderansicht des Hofes in Lingau, aufgenom-men im Jahre 1970, zeigt den schlechten Zustanddes Anwesens.

Dieses Modell des heimatlichen Hofes in Lingau fer-tige Franz Wurm als Spielzeug für seine Söhne. Diehandwerkliche Arbeit ist heute noch erhalten.

161

Page 48: Auswanderungsbewegung - kasserver.comharle-hessen.de.w016f677.kasserver.com/wp-content/uploads/2017/… · nur wenig Zeugnis. Aufzeichnungen von ein-fachen Soldaten existieren kaum.

In der Nähe unseres Dorfes in Verlängerung der Mühlengasse ist imJahre 1923 von der Gemeinde eine neue Betonbrücke für landwirt-schaftliche Zwecke über die Schwalm gebaut worden. Ausgeführt wur-den die Arbeiten durch die Firma Gerdum u. Breuer aus Kassel für dieBausumme von 5500 Reichsmark. Vorher stand an dieser Stelle eineschwere hölzerne Brücke mit zwei Eisbrechern, für Fuhrwerksverkehrjedoch zu schmal. Diese Holzbrücke wurde im Frühjahr 1871 von Johan-nes Clobes aus Harle für den Betrag von 900 Talern errichtet. Sie ersetzteden alten Gänsesteg, der im Winter 1870 durch Hochwasser und Eis-gang zerstört und fortgeschwemmt wurde. Weil die meisten Wiesen aufder anderen Seite der Schwalm liegen, mussten die Fuhrwerke durchsWasser fahren um Grünfutter, Heu und Grummet einzufahren. Bei Hoch-wasser war sogar der Umweg bis zur Straße Wabern–Homberg und der

Zuckerfabrik erforderlich. Über die „Weiße Brücke“ konnten die Bauernendlich ihre Wiesen auf der anderen Schwalmseite zu jeder Jahreszeitmit ihren Fuhrwerken erreichen.

Arnold Freudenstein, aus dem Jahr 1937

Die weiße Brücke