Auswirkungen der Vorspannung auf das Tragverhalten von SL-Verbindungen

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515 © Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Stahlbau 79 (2010), Heft 7 Der Tragsicherheitsnachweis für Schrauben mit Zug- und Quer- belastung erfolgt nach DIN18800-1 (810) durch die quadratische Interaktion. Dabei stellt sich die Frage, ob bei reiner Querbean- spruchung eine Vorspannkraft als Zuganteil berücksichtigt wer- den muss. Um diese Frage zu klären, wurden am Fachgebiet Stahlbau der TU Darmstadt Abscherversuche an Schrauben mit unterschiedlichen Vorspanngraden durchgeführt. In diesem Beitrag werden die Versuche vorgestellt und Empfehlungen zur Behandlung der Vorspannkraft ausgesprochen. Influence of the preload on the resistance of bearing-type con- nections. The design resistance of bolts under tension and shear is given in DIN 18800-1 (810) by a quadratic interaction. The ques- tion is, whether the tension due to a preload has to be taken into account. The workgroup steel construction of the Technische Universität Darmstadt, Germany, has run tests to assess the influ- ence of the preload in bearing-type connections. In this paper the tests are presented and recommendations to take the preload in- to account are given. 1 Einführung Vorgespannt werden hochfeste Schrauben in der Regel zur Verbesserung der Steifigkeit, bei Ermüdungsbeanspru- chung oder zur Sicherung der Verbindung gegen Lösen. Abgesehen von gleitfesten Verbindungen (GV-Verbindun- gen), benötigen reine Scher-/Lochleibungsverbindungen (SL-Verbindungen) unter statischen Lasten keine Vor- spannung. Trotzdem kann es sinnvoll sein, diese Schrau- ben vorzuspannen, zum Beispiel, um die Montage zu ver- einheitlichen. In solchen Fällen stellt sich die Frage, ob die Vorspannkraft beim Nachweis der Tragfähigkeit als Zugkraft in der Schraube angesetzt werden muss. Bei gleichzeitiger Wirkung von Zug und Abscheren sieht DIN 18800 [4] eine quadratische Überlagerung vor. Wer- den Vorspannkräfte nach DIN 18800-7(Tabelle 6) [5] an- gesetzt, führt das bei gängigen Schrauben zu einer rechne- rischen Reduktion der Tragfähigkeit bei Abscheren um ca. 25 %, wenn der Schaft in der Scherfuge liegt (s. Tabelle 1) beziehungsweise um ca. 50 %, wenn das Gewinde in der Scherfuge liegt. Nach DIN-EN 1993-1-8 [6] ist beim Inter- aktionsnachweis das Ansetzen des Schaftquerschnitts bei Lage in der Scherfuge nicht vorgesehen. Die Entstehung des Nachweisverfahrens nach DIN 18800-1(El. 810) beruht unter anderem auf Versuchen der Universität Essen [10]. Dort wurden Scherversuche an Rundstahlproben und Gewindestangen bei unterschiedli- chen Zugkräften untersucht. In Bild 1 sind Ergebnisse die- ser Versuche dargestellt. Man erkennt den Zusammen- hang zwischen Zug- und Scherbelastung für unterschiedli- che Stahlsorten und Schraubentypen. Aus den Versuchen resultiert der Vorschlag für eine quadratische Interakti- onsbeziehung: (1) mit β z Zugbruchspannung β a Abscherspannung Aus der Kreiskurve hat sich der Interaktionsnachweis nach DIN 18800 entwickelt. Bei den zugrunde liegenden Versuchen wurden die Zugkräfte kraftgesteuert auf- gebracht. Wie würde sich die Traglast verhalten, wenn die Zugkraft aus einer Vorspannkraft resultiert? Durch Versuche an der TU Darmstadt sollte diese Frage geklärt werden. Im Folgenden werden die Versuche sowie die Er- gebnisse vorgestellt und mit den bisherigen Erkenntnissen verglichen. 2 Tragfähigkeitsversuche Es wurde ein Versuchsprogramm aufgestellt, um die Aus- wirkung der Vorspannkraft auf das Tragverhalten zu er- β β β β Z Z a a * * + = 2 2 1 Fachthemen Auswirkungen der Vorspannung auf das Tragverhalten von SL-Verbindungen Roland Friede Jörg Lange DOI: 10.1002/stab.201001285 Tabelle 1. Grenzabscherkräfte für Schrauben der Festigkeits- klasse 10.9 ohne und mit Berücksichtigung der vollen Vor- spannkraft nach DIN 18800-7 (Schraubenschaft in der Scherfuge) Table 1. Design values for shear resistance of bolts with a bolt grade of 10.9 with and without tension due to preload according to DIN 18800-7 (shank of the bolt in the shear plane) Schraubengröße M16 M20 M24 M27 M30 Grenzabscherkräfte [kN] 89 138 199 253 312 Grenzabscherkräfte bei 66 101 150 185 233 Berücksichtigung der (74 %) (73 %) (76 %) (73 %) (75 %) vollen Vorspannkraft [kN] (Prozent von reinem Abscheren)

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515© Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Stahlbau 79 (2010), Heft 7

Der Tragsicherheitsnachweis für Schrauben mit Zug- und Quer-belastung erfolgt nach DIN18800-1 (810) durch die quadratischeInteraktion. Dabei stellt sich die Frage, ob bei reiner Querbean-spruchung eine Vorspannkraft als Zuganteil berücksichtigt wer-den muss. Um diese Frage zu klären, wurden am FachgebietStahlbau der TU Darmstadt Abscherversuche an Schrauben mitunterschiedlichen Vorspanngraden durchgeführt. In diesem Beitrag werden die Versuche vorgestellt und Empfehlungen zurBehandlung der Vorspannkraft ausgesprochen.

Influence of the preload on the resistance of bearing-type con-nections. The design resistance of bolts under tension and shearis given in DIN 18800-1 (810) by a quadratic interaction. The ques-tion is, whether the tension due to a preload has to be taken intoaccount. The workgroup steel construction of the TechnischeUniversität Darmstadt, Germany, has run tests to assess the influ-ence of the preload in bearing-type connections. In this paper thetests are presented and recommendations to take the preload in-to account are given.

1 Einführung

Vorgespannt werden hochfeste Schrauben in der Regel zurVerbesserung der Steifigkeit, bei Ermüdungsbeanspru-chung oder zur Sicherung der Verbindung gegen Lösen.Abgesehen von gleitfesten Verbindungen (GV-Verbindun-gen), benötigen reine Scher-/Lochleibungsverbindungen(SL-Verbindungen) unter statischen Lasten keine Vor-spannung. Trotzdem kann es sinnvoll sein, diese Schrau-ben vorzuspannen, zum Beispiel, um die Montage zu ver-einheitlichen. In solchen Fällen stellt sich die Frage, obdie Vorspannkraft beim Nachweis der Tragfähigkeit alsZugkraft in der Schraube angesetzt werden muss. Beigleichzeitiger Wirkung von Zug und Abscheren siehtDIN 18800 [4] eine quadratische Überlagerung vor. Wer-den Vorspannkräfte nach DIN 18800-7 (Tabelle 6) [5] an-gesetzt, führt das bei gängigen Schrauben zu einer rechne-rischen Reduktion der Tragfähigkeit bei Abscheren um ca.25 %, wenn der Schaft in der Scherfuge liegt (s. Tabelle 1)beziehungsweise um ca. 50 %, wenn das Gewinde in derScherfuge liegt. Nach DIN-EN 1993-1-8 [6] ist beim Inter-aktionsnachweis das Ansetzen des Schaftquerschnitts beiLage in der Scherfuge nicht vorgesehen.

Die Entstehung des Nachweisverfahrens nach DIN18800-1 (El. 810) beruht unter anderem auf Versuchen derUniversität Essen [10]. Dort wurden Scherversuche an

Rundstahlproben und Gewindestangen bei unterschiedli-chen Zugkräften untersucht. In Bild 1 sind Ergebnisse die-ser Versuche dargestellt. Man erkennt den Zusammen-hang zwischen Zug- und Scherbelastung für unterschiedli-che Stahlsorten und Schraubentypen. Aus den Versuchenresultiert der Vorschlag für eine quadratische Interakti-onsbeziehung:

(1)

mitβz Zugbruchspannung βa Abscherspannung

Aus der Kreiskurve hat sich der Interaktionsnachweisnach DIN 18800 entwickelt. Bei den zugrunde liegendenVersuchen wurden die Zugkräfte kraftgesteuert auf-gebracht. Wie würde sich die Traglast verhalten, wenn die Zugkraft aus einer Vorspannkraft resultiert? DurchVersuche an der TU Darmstadt sollte diese Frage geklärtwerden. Im Folgenden werden die Versuche sowie die Er-gebnisse vorgestellt und mit den bisherigen Erkenntnissenverglichen.

2 Tragfähigkeitsversuche

Es wurde ein Versuchsprogramm aufgestellt, um die Aus-wirkung der Vorspannkraft auf das Tragverhalten zu er-

ββ

ββ

Z

Z

a

a

* *⎛

⎝⎜

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⎠⎟ =

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1

Fachthemen

Auswirkungen der Vorspannung auf dasTragverhalten von SL-Verbindungen

Roland FriedeJörg Lange

DOI: 10.1002/stab.201001285

Tabelle 1. Grenzabscherkräfte für Schrauben der Festigkeits-klasse 10.9 ohne und mit Berücksichtigung der vollen Vor-spannkraft nach DIN 18800-7 (Schraubenschaft in derScherfuge)Table 1. Design values for shear resistance of bolts with abolt grade of 10.9 with and without tension due to preloadaccording to DIN 18800-7 (shank of the bolt in the shearplane)

Schraubengröße M16 M20 M24 M27 M30

Grenzabscherkräfte [kN] 89 138 199 253 312

Grenzabscherkräfte bei 66 101 150 185 233Berücksichtigung der (74 %) (73 %) (76 %) (73 %) (75 %)vollen Vorspannkraft [kN](Prozent von reinem Abscheren)

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mitteln [1]. Dabei wurden einschnittige Einschraubenver-bindungen mit Schrauben der Größe M16 und der Festig-keitsklasse 10.9 untersucht. Bei allen Versuchen lag derSchraubenschaft in der Scherfuge. Die Festigkeit fu,b,k =1040 N/mm2 der Schrauben wurde aus früheren Versu-chen mit Schrauben des selben Herstellers abgeleitet. DieVorspannung wurde über Drehmomentenschlüssel aufge-bracht. Dabei wurden drei Vorspanngrade untersucht:– Fv = 0 drehmomentgesteuert handfest

(MA = 35 Nm nach [11])– Fv = 1,0 drehmomentgesteuert

(MA = 250 Nm nach [5])– Fv = pl Anziehen mit dem kombinierten Verfahren

nach DIN18800-7, Tabelle 6

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Die Vorspanngrade Fv = 0 und Fv = 1,0 wurden mit einemdefinierten Drehmoment aufgebracht, Fv = pl mit demkombinierten Verfahren. Das kombinierte Verfahren (Vo-ranziehmoment und Weiterdrehwinkel) führt zu deutlichhöheren Vorspanngraden als das Drehmomentenverfah-ren. Dabei werden Plastizierungen im Schrauben- undMuttergewinde in Kauf genommen [2], daher folgt die Be-zeichnung „pl“.

Die Versuche wurden an einer hydraulischen 40 t-Prüfmaschine weggesteuert durchgeführt. Die Prüfge-schwindigkeit lag bei 2 mm/min. Gemessen wurden Ma-schinenkraft, -weg und die zugehörige Zeit. Durch zusätz-lich angeschweißte Bleche an der Einspannung wurde si-chergestellt, dass die Kraftlinie in der Scherfuge liegt.Dadurch wurden Exzentrizitäten soweit wie möglich re-duziert. Bild 2 zeigt den Probekörper in der Prüfmaschine.

2.1 Abscherversuche

Die Abscherversuche fanden an Blechen Bl 12x100 S355dL = 17 mm mit ausreichendem Lochabstand statt. Die Er-gebnisse der Versuche (A1 bis A13) sind in Tabelle 2 dar-gestellt. Die aufgeführten Kräfte entsprechen den gemes-senen Kräften der Prüfmaschine.

Die Versuche sind in die drei Vorspanngrade einge-teilt. In der Zeile „Beginn Plastizierung“ ist die Last, beider Plastizierungen einsetzen, eingetragen (Punkt A inBild 3). Das Ergebnis wurde aus den Last-Verformungs-kurven abgelesen, so dass keine exakte Angabe des Plasti-zierungsbeginns möglich war. Daher wird in Tabelle 2 einWertebereich angegeben. In der Zeile „maximale Zug-kraft“ ist die Traglast der Versuche aufgetragen (Punkt Bin Bild 3). Die Werte liegen zwischen 133,7 kN (VersuchA7) und 140,4 kN (Versuch A6) und damit recht nah bei-einander. Die Abscherkraft beschreibt die Kraft, bei derdie Schraube schlagartig versagt (Punkt C in Bild 3).

Bild 1. Bruchinteraktion bei kombinierter Scher-Zugbeanspruchung, (li.) Vollstahl Ø 20 mm, (re.) Gewindestäbe [10]Fig. 1. Failure resistance under a combination of shear and tension, (l) steel Ø 20 mm, (r) threaded rods [10]

Bild 2. Probekörper in der Prüfmaschine mit angedeuteterWirkungslinie der Maschinenkraft [1]Fig 2. Sample in the testing machine with line of action [1]

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Die Trennfuge war bei allen Probekörpern ähnlich.Typisch für einen Sprödbruch hochfester Schrauben wa-ren ihre glänzenden Trennflächen. Aufgrund der hohenSchraubenfestigkeit war die Schereinschnürung in Formeiner plastischen Abplattung des Schraubenschaftes beid-seits der Scherfuge vorhanden aber nur gering ausgeprägt.

In Bild 3 sind die Last-Verformungskurven von dreiVersuchen exemplarisch dargestellt. Aufgetragen ist diegemessene Kraft der Prüfmaschine über dem Weg. ImGrenzzustand der Tragfähigkeit ist die Differenz zwischenden Kurven sehr gering. Beim Versagensmechanismusscheint die Vorspannung einen eher untergeordneten Ein-fluss zu haben. Hingegen hat die Vorspannung einendeutlichen Einfluss auf die Anfangssteifigkeit der Verbin-dung und der Lage des Gleitens zur Überwindung desSchraubenschlupfs (Bereich bis 4 mm).

Zusätzlich zu den Last-Verformungswerten wurde beiwenigen Versuchen der Verlauf der Vorspannkraft in derSchraube mittels Dehnmessstreifen (DMS) gemessen(Versuche A10 bis A13). Dafür wurde in den Kopf derSchraube ein Loch bis in den Schraubenschaft gebohrtund ein DMS eingeklebt. Durch die Dehnungsmessungdes Schaftes konnte die Vorspannkraft bestimmt werden.Das Messverfahren wurde vorab an einer Prüfmaschine

kalibriert. Die Ergebnisse der Vorspannkraftmessungstreuen stark und die Genauigkeit der Messmethode imVersagensbereich (Plastizieren des Schraubenschaftes inder Nähe des DMS) ist nicht näher geklärt und muss alssehr ungenau angenommen werden. Trotzdem ist dieTendenz eindeutig (Bild 4). Die Vorspannkraft beträgtnach dem Anziehen mit dem kombinierten Verfahren ca.150 kN. Es ist zu erkennen, dass die Vorspannkraft zu Be-ginn relativ konstant bleibt, um nach einem Anstieg konti-nuierlich abzufallen. Der Übergang in den Druckbereichkann auf die bereits erwähnten Ungenauigkeiten in derMessmethode zurückgeführt werden und wird bei der In-terpretation der Ergebnisse außer Acht gelassen.

2.2 Lochleibungsversuche

Die Lochleibungsversuche fanden an Blechen Bl 10x100S355 (Zugfestigkeit fu ≈ 540 N/mm2) bei einem Randab-stand in Kraftrichtung von e1 = 1,2 statt. Bei den Tragfähig-keitsversuchen ergaben sich keine Unterschiede zwischenden unterschiedlichen Vorspanngraden (s. Tabelle 3).

Tabelle 2. Ergebnisse der AbscherversucheTable 2. Test results of the shear tests

Versuchsbezeichnung A1 A2 A3 A10 A11 A13 A4 A5 A6 A7 A8 A9 A12

Vorspannungsart (FV) 1,0 1,0 1,0 1,0 1,0 1,0 0,0 0,0 0,0 pl pl pl pl

Beginn Plastizierung [kN] 88–91 88–90 87–89 86–89 83–85 81–83 93–95 94–96 95–97 89–91 87–89 86–89 85–88

max. Zugkraft [kN] 138,4 134,8 138,4 133,7 137,1 135,0 136,7 138,6 140,4 134,5 136,5 135,7 135,7

Abscherkraft [kN] 119,3 120,5 118,0 115,3 119,3 119,7 120,4 115,7 117,1 111,7 116,4 114,7 119,0

Bild 3. Last-Verformungskurve der PrüfkörperFig 3. Load over deformation of the specimen

-20

0

20

40

60

80

100

120

140

160

0 2 4 6 8 10 12

Maschinenweg in mm

Mas

chin

en-

Vo

rsp

ann

kraf

t in

kN

A12 Fv=pl

Vorspannkraft

Bild 4. Last-Verformungskurve mit Verlauf der Vorspann-kraftFig 4. Load over deformation with the development of thepreload

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Bild 5 zeigt exemplarische Last-Verformungskurvender Lochleibungsversuche. Im Bereich der Traglast liegendie Versuchsergebnisse sehr nah beieinander. Für den Ver-sagensmechanismus scheint die Höhe der Vorspannung,abgesehen von der Lage des Schraubenschlupfs, eine nuruntergeordnete Wirkung auf das Tragverhalten zu haben.

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In Bild 6 sind Versagenszustände abgebildet. BeiLaststeigerung kommt es zunächst zum Ovalisieren unddann zum Schubbruch (vgl. [9]). Der Ausbruch des Ble-ches direkt unterhalb der Schraube ist gut zu erkennen.

3 Interpretation der Versuchsergebnisse3.1 Abscheren

Aus den Abscherversuchen resultieren für die unter-schiedlichen Vorspanngrade folgende Festigkeitskoeffi-zienten αa = βa/βz:

αa,Pv=0 = 0,66 (mittlere Abscherkraft der Versuche VA = 139 kN)

αa,Pv=1 = 0,65 (mittlere Abscherkraft der Versuche VA = 136 kN)

αa,Pv=Pl = 0,65 (mittlere Abscherkraft der Versuche VA = 136 kN)

Vorausgesetzt wird ein Schaftquerschnitt von A = 2,01 cm2

und eine Festigkeit von fu,b,k = 1040 N/mm2. Der Ver-gleich zeigt, dass die Vorspanngrade einen nur geringenEinfluss auf den Versagensmechanismus haben. Dafürkommen zwei Gründe in Betracht:1. Die Beanspruchung in der Schraube aufgrund der Vor-

spannung hat für die Tragfähigkeit eine nur unterge-ordnete Bedeutung.

2. Die Vorspannung ist im Grenzzustand der Tragfähig-keit soweit reduziert, dass der Einfluss vernachlässig-bar ist.

Das Vorspannen durch Drehen der Mutter führt in derSchraube zu einer Kombination aus Zug- und Torsionsbe-anspruchung. Laut Definition [5] entspricht allein dieZugbeanspruchung einer Ausnutzung im Spannungsquer-schnitt von mindestens 70 % (ca. 55 % im Schrauben-schaft). Selbst bei Vernachlässigung der Torsionsbean-spruchung ist die Zugausnutzung so groß, dass sie nichtvernachlässigt werden kann. Eine deutliche Reduktion derAbscherkraft wäre die Folge. Daher kann Begründung (1)verworfen werden.

Die Reduktion der Vorspannkraft konnte in den Ver-suchen der TU Darmstadt qualitativ nachgewiesen werden(s. Bild 4). Die aus der Vorspannkraft resultierende Zug-kraft in der Schraube wird quasi weggesteuert aufge-bracht. Plastizierungen im Schraubenschaft im Traglast-zustand führen zu einem Abbau der Vorspannung, ohnedass die Quertragfähigkeit nennenswert reduziert wird.Voraussetzung ist eine ausreichende Duktilität desSchraubenmaterials.

Verglichen mit früheren Versuchsergebnissen aus[10] stimmen die mittleren Festigkeitskoeffizienten von

Tabelle 3. Lochleibungsversuche bei Schrauben M16 10.9 Bl 10x100 S355 e1 = 1,2Table 3. Bearing tests with bolts M16 10.9 plate 10x100 S355 e1 = 1,2

Versuchsbezeichnung L4 L5 L6 L7 L8 L9 L10 L11 L12

Vorspannungsart 0,0 0,0 0,0 1,0 1,0 1,0 pl pl pl

max. Zugkraft [kN] 118,7 121,1 118,6 120,9 124,4 118,0 119,3 120,9 120,1

Lochleibungskraft [kN] 90,5 90,0 91,7 94,5 89,0 91,9 87,4 94,5 93,0

Bild 5. Last-Verformungs-Kurve exemplarischer Lochlei-bungsversucheFig 5. Exemplary load over deformation of a bearing test

Bild 6. Versagenszustand Lochleibung – SchubbruchFig 6. Failure mode of a bearing test – shear failure

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nicht vorgespannten Schrauben sehr gut überein. Aus [10]ergibt sich der mittlere Festigkeitskoeffizient für Schrau-ben unter reiner Scherbeanspruchung zu αa = 0,65.

Dass die Vorspannkraft im Grenzzustand der Tragfä-higkeit „herausplastiziert“, wird in [7] auch für das Versa-gensszenario von GV-Verbindungen beschrieben: „ImBruchzustand ist die Vorspannung infolge der dem Bruchvorausgehenden plastischen Verformungen in den An-schlussteilen (weitgehend) abgebaut. Bei dicken Blechenerfolgt dieser Abbau erst kurz vor dem (Scher-)Bruch derBolzen.“ Eine Verringerung der Grenzabscherkraft wirdnicht vorgeschlagen.

Am Institut für Werkstoffkunde der TU Darmstadtwurden Abscherversuche für zweischnittige, lange Schrau-ben (M16x160) 8.8 und 10.9, Klemmlängen-Durchmesser-Verhältnis von lk/d ~ 8 durchgeführt [3]. Ergebnis dieserVersuche ist, dass die Abscherkräfte von vorgespanntenSchrauben (Fv = pl) um ca. 10 % geringer sind, als beinicht vorgespannten Schrauben. Der Unterschied zu denhier präsentierten Ergebnissen wird dadurch erklärt, dassaufgrund der großen Schlankheit der Schraube (lk/d ~ 4für eine Scherfuge) ein längerer Federweg zum Abbau derVorspannkraft benötigt wird. Das Plastizierungsvermögendes Schraubenwerkstoffs reicht nicht aus, um einen aus-reichenden Vorspannkraftabbau zu ermöglichen. Wobeidie Reduktion von 10 % immer noch geringer ist, als dierechnerische Reduktion bei Überlagerung der Querkraftmit der vollen Vorspannkraft (vgl. Tabelle 1).

3.2 Lochleibung

Scheer et al. [9] unterscheiden bei Lochleibung drei Ver-sagensszenarien:1. Schubbruch (Bruchbild entsprechend Bild 6)2. Biegebruch (Anriss an der Blechaußenseite, mittig un-

ter der Schraube)3. Zugbruch (Blechversagen im Nettoquerschnitt)

In den hier dargestellten Versuchen handelt es sich jeweilsum einen „Schubbruch“. Die Versuche zeigen, dass die Vorspannkraft im Grenzzustand der Tragfähigkeit kei-nen nennenswerten Einfluss hat. Nach Meinung derVerfasser liegt dies hauptsächlich daran, dass die maßge-bende Anrissstelle (s. Bild 6) außerhalb des gedrücktenBereiches (Druckkegel unter den Unterlegscheiben) liegt.Diese Erklärung ist auch auf einen möglichen Biegebruchübertragbar. Zusätzlich wird durch Querdehnungen undPlastizierungen im Blech auch eine Reduktion der Vor-spannkraft stattfinden. In den hier vorgestellten Versu-chen der TU Darmstadt wurden leider keine Vorspann-kraftmessungen bei Lochleibungsversuchen durchgeführt,so dass dies nicht experimentell nachgewiesen werdenkonnte.

Für das Szenario des Zugbruchs im Nettoquerschnittwird auch erwartet, dass die Vorspannkraft keinen Ein-fluss auf die Lochleibungstragfähigkeit hat. Es wird ver-mutet, dass durch Plastizierungen im Bereich des Druck-kegels die Reduktion der Vorspannkraft deutlicher aus-fällt. Frühere Versuche, zum Beispiel aus [8], bestätigen,dass der Vorspanngrad keinen Einfluss auf die Grenzloch-leibungstragfähigkeit hat. Bei zweischnittigen SL-Verbin-dungen ergab sich eine deutliche Abhängigkeit vom Rand-

abstand und der Zugfestigkeit des Grundmaterials, nichtaber von der Schraubenvorspannung.

Nach DIN 18800-1 besteht für GV-Verbindungen so-gar die Möglichkeit zur Vergrößerung der Grenzlochlei-bungskraft. Sofern die Grenznormalspannung fy,d im Net-toquerschnitt nicht erreicht wird (Gefahr des Zugbruchswird ausgeschlossen), kann die Grenzlochleibungskraftnach Gleichung (2) bestimmt werden.

(2)

Dieser Effekt resultiert aus dem zusätzlichen Lastabtragdurch Reibung zwischen den Blechen. In den hier präsen-tierten Versuchen konnte dieser Effekt nicht beobachtetwerden, da die für eine GV-Verbindung vorgesehenenReibbeiwerte nicht erzielt wurden.

3.3 Anfangssteifigkeit

Die Anfangssteifigkeit der SL-Verbindung ist deutlich ab-hängig vom Grad der Vorspannung. Die Last-Verfor-mungskurven (Bilder 3 und 5) zeigen, dass die vorge-spannten Verbindungen eine deutlich größere Anfangs-steifigkeit besitzen. Die Unterschiede beschränken sichallerdings auf den Bereich vor Auftreten des Schrauben-schlupfes. Auf dem Lastniveau der Gebrauchstauglichkeitsind die Steifigkeiten identisch.

4 Zusammenfassung

Am Institut für Stahlbau und Werkstoffmechanik derTU Darmstadt wurden Versuche an SL-Verbindungendurchgeführt [1]. Ziel der Versuche war es, die Aus-wirkungen der Vorspannkraft auf das Tragverhalten bei den Versagensszenarien Abscheren und Lochleibungzu untersuchen. Dabei stellte sich heraus, dass derVorspanngrad eine nur untergeordnete Auswirkung aufden Grenzzustand der Tragfähigkeit hat. Für den Versa-gensfall Abscheren wird dies dadurch erklärt, dass dieSchraube im Versagenszustand plastiziert, wodurch einAbbau der Vorspannkraft stattfindet. Die Reduktion derVorspannkraft konnte qualitativ gemessen werden. BeimLochleibungsversagen liegt die maßgebende Versagens-stelle außerhalb des Druckkegels der Verspannstelle, sodass die Vorspannung einen vernachlässigbaren Einflusshat.

Der Vergleich mit früheren Untersuchungen zeigt kei-ne grundlegenden Unterschiede. Die Ergebnisse der Ver-suche legen nahe, dass bei stahlbautypischen SL-Ver-bindungen mit Schrauben M12 bis M30 und einemKlemmlängen-Durchmesser-Verhältnis lk/d ≤ 3, die unterQuerbelastung stehen, die Vorspannkraft beim Tragfähig-keitsnachweis nicht angesetzt werden muss.

Literatur

[1] Baum, M.: Auswertung und Interpretation von Scher-Loch-leibungs-Versuchen. Diplomarbeit am Institut für Stahlbauund Werkstoffmechanik der TU Darmstadt, 2008.

[2] Blume, D., Illgner, K-H.: Schrauben Vademecum. 7. Aufla-ge, Bauer & Schaurte Karcher GmbH, 1988.

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[3] Bittner, D.: Scherfestigkeit von hochfesten Schraubenver-bindungen für Anwendungen im Stahlbau. Diplomarbeit amInstitut für Werkstoffkunde der TH Darmstadt, 1997.

[4] DIN 18800-1 Stahlbauten – Teil 1: Bemessung und Kon-struktion 2008-11.

[5] DIN 18800-7 Stahlbauten – Teil 7: Ausführung und Herstel-lerqualifikation 2008-11.

[6] DIN EN 1993-1-8 Eurocode 3: Bemessung von Konstruk-tion von Stahlbauten – Teil 1-8 Bemessung von AnschlüssenJuli 2005-07.

[7] Petersen, C.: Stahlbau. 3. überarbeitete Auflage. Braun-schweig: Vieweg Verlag 1993.

[8] Petersen, C.: Tragversuche an zweischnittigen SL- undVSL-Schraubenverbindungen. Stahlbau 58 (1989), S. 263–267.

[9] Scheer, J., Maier, W., Klahold, M., Vajen, K.: Zur „Lochlei-bungsbeanspruchung“ in Schraubenverbindungen. Stahlbau56 (1987), S. 129–136.

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Stahlbau 79 (2010), Heft 7

[10] Schmidt, H., Knobloch, M.: Tragfähigkeit und Tragverhal-ten stahlbauüblicher Schrauben unter reiner Scherbeanspru-chung und unter kombinierter Scher- Zugbeanspruchung.Forschungsberichte aus dem Fachbereich Bauwesen 41 derUniversität-Gesamthochschule-Essen, 1987.

[11] Schmidt, H., Zwätz, R., Bär, L., Schulte, U.: Ausführungvon Stahlbauten Erläuterungen zu DIN 18800-7. Berlin:Ernst & Sohn Verlag 2005.

Autoren dieses Beitrages:Prof. Dr.-Ing. Jörg Lange, [email protected] Dipl.-Ing. Roland Friede, [email protected]: Institut für Stahlbau und Werkstoffmechanik, TU Darmstadt,Petersenstr. 12, 64287 Darmstadt

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Als international erfolgreiches Inge-nieurbüro für Fassadenberatung und -planung sieht das Unternehmen großesPotenzial in der Vereinigung von spezia-lisiertem Ingenieurwissen und Kompe-tenzen in der elektronischen Datenver-arbeitung. Zentrales Thema des FacadeLab ist „Intelligent Facade Engineering“(IFE), ein virtuelles, integriertes Verfah-ren zur optimierten Planung, Ausfüh-rung und Bewirtschaftung von Fassa-denkonstruktionen nach der Methodedes „Building Information Modelling“

(BIM). Dabei werden alle relevanten In-formationen in einer digitalen Daten-bank hinterlegt und zu einem virtuellen,bauteilorientierten 3D Fassadenmodellvernetzt. Dieses enthält nicht nur dieGeometrie der einzelnen Bauteile, son-dern auch Sachdaten wie Kosten, Pri-märenergieaufwand und Kapazitätsvor-gaben. Das parametrische Volumenmo-dell dient der Generierung von Datenfür die Ausführungs- und Werkplanung,für Bestell- und Materiallisten bis hinzur Ansteuerung von CNC-Fertigungs-automaten. So lassen sich beispielsweisebereits im frühen PlanungsstadiumPrototypen und 1:1-Musterfassaden(Mock-Ups) für die Qualitätssicherungvon Gebäuden erstellen.

Um das zentrale Thema IFE herumgruppiert das Facade-Lab seine vierEckpfeiler zur Entwicklung und Markt-einführung nachhaltiger Technologienrund um die Gebäudehülle: Der Bereich“Forschung“ liefert zukunftsweisendeImpulse und entwickelt innovative Fas-sadentechnologien bis zur Marktreife.Unter dem Stichpunkt „Realisierung“entstehen durch einen CNC-Fertigungs-automaten oder in externer Herstellungfunktionale Prototypen sowie geschoss-hohe Mock-Ups im Maßstab 1:1. Der„Showroom“ bietet mit einer Vielzahlan Musterfassaden Fachbesucherneinen Überblick über die neuestenMaterialien und Technologien in derFassadenkonstruktion. Das „Forum“ alsVeranstaltungsort zum fachlichen Aus-tausch von Forschungs- und Entwick-lungsergebnissen schließlich ist dieGrundlage für die Implementierung derentwickelten Verfahren und Technolo-gien in die nationalen und internatio-

nalen Märkte und bereichert wiederumdie Forschung. Alle vier Bereiche unterdem Dach des Facade-Lab sind engverknüpft und stimulieren sich durchvielfältige Synergie-Effekte gegen-seitig.

Immer höhere Anforderungen an dieLeistungsfähigkeit der Fassade alsSchutz vor Hitze oder Kälte – insbeson-dere hervorgerufen durch die rasant an-steigende Bautätigkeit in Regionen mitextremen Klimaverhältnissen sowie diesich abzeichnende Verknappung natür-licher Ressourcen – verlangen nach ei-nem intensiven Bemühen um technolo-gisch fortschrittliche Lösungen im Be-reich des energieeffizienten und nach-haltigen Bauens. Diesem Ziel widmetsich das Facade-Lab mit seiner breit an-gelegten, interdisziplinären Forschungs-und Entwicklungsarbeit. Die enge Ver-knüpfung mit der Planungs- und Bau-praxis generiert hierfür ständig neueProblemstellungen, deren erarbeiteteLösungen wiederum direkt in die Praxiseingebracht werden können. AktuelleForschungsthemen neben IFE sind bei-spielsweise bauteilintegrierte Photovol-taik-Dünnschichtmodule, automatisierteFassadenreinigungsanlagen, vorge-spannte Glasstützen, Verglasungen mitintegrierten LED-Leitersträngen, Abluft-fassaden zur Reduzierung der Kühl- undHeizleistung sowie Steuerungsmodulefür komplexe Fassadenfunktionen.

Weitere Informationen:Facade-Lab GmbH,Dipl.-Ing. M. Eng. Andreas BeccardAm Wall 17, 14979 GroßbeerenTel.: 03 37 01/32 79 [email protected]

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