B. Liberalismus und Naturalismus

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Wolfgang Cernoch Der vorrevolutionäre Liberalismus des bürgerlichen Nationalstaates und die nachrevolutionäre Naturalisierung der Gesellschaft Vom unbestimmbaren Individuum zur konkreten Handlung als bestimmbarer Einzelfall und die Verfehlung der Spontaneität des Bewußtseins durch den einfachen Nominalismus der bestimmbaren Dinge a) Die Kollektivität als Grund und Folge der kulturellen Spontaneität Die Betrachtung der Komplexität der kollektiven Kommunikation anhand der affektiven und kognitiven Bindung an historisch gewordene »Gemeinbildern«, die den fortlaufenden Vergesellschaftungsprozess darstellen, erlaubt insofern in der Wertanalyse von Max Weber die Verfremdung von Strukturentwicklungsprozessen aus der Naturwissenschaften und deren kybernetischen Selbstbezüglichkeit komplexerer Systeme, welche die Differenz zwischen Prozessstruktur und Steuerungssystem erst herstellen. Die Gesellschaft als Institution der Kommunikation bedarf aber der Kommunikation über die Institution, und diese ist erst nach der Konversion durch Konstitution und Gewöhnung möglich. Die Konstitution, konkret psychologisch betrachtet, kann ein Urteil sein oder kollektiver Zwang zur Verbindlichkeit, die Konversion erfolgt erst im Anschluß. Kollektiv betrachtet erfolgt die Konversion unter dem Zwang der Aufrechterhaltung der Struktur durch Systembildung. Von hier aus scheint eine Querverbindung zur Entropie möglich. Politik als solche ist hingegen erst dann möglich, wenn die Vorstellungen über die Vergesellschaftungsformen sich von der systematischen Kosmologisierung der Gesellschaft und deren Symbole, also von der politischen Theologie der frühen Reichsgründungen, befreit hat. Politik setzt Aufklärung über die natürlichen Bedingungen der Umwelt und der eigenen Existenz wie über die Entstehung unserer Kommunikation, m. a. W., die Aufklärung über die Differenz des Fragenden und des Befragten bis zu einem gewissen Grad voraus. Insofern steht die Politik als Institutionsform und andere Gründe unserer sozialen Verhaltungen (Kommunikation) von politischer Relevanz zuerst sowohl der Natur als Umwelt wie der Natur als Kollektivität unserer Kommunikation gegenüber. Diesen schon bekannten Doppelsinn von Natur in der Fassung unserer postmodernen Naturalisierung zu kritiseren und wieder offenzulegen (hier: zwischen Physik und Geschichtlichkeit), ist die Voraussetzung jeder wissenschaftlich vorgehenden politischen Philosophie.

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MODERNE UND POSTMODERNE. Die wichtigsten Achsen der vorliegenden Arbeit sind:(1) Das Auflegen der Sprache auf die Lebenswelt des späten Wittgenstein, soweit auch bei Quine und der analytischen Philosophie, aber auch bei Brandom die Grundlage, das Verhältnis von Sprache und Semantik vorzustellen, wurde von mir andernorts als unzureichend kritisiert, zumindest den Unterschied zwischen wissenschaftlichen Denken und dem Denken der Alltagspragmatik (a) hinsichtlich der Liberalität des Gebrauches des principium contradictionis in den Konzepten, (b) hinsichtlich der Liberalität der Distribution der Merkmale zu treffen. Im Rahmen einer radikalen Kommunikationstheorie, die zwischen Kommunikationsabsicht und der Verständigkeit der Beobachtung einer Handlung im ersten Schritt keine Unterscheidung trifft, soll anhand der Unterscheidung in Institutionen der Sprache und in Institutionen sozialer Organisation die in der Wahrheitsfrage entscheidende Differenz unabhängig von dieser wieder eingeholt werden. In meiner Aufstellung, welche Kommunikationstheorie und Wahrheitstheorie als disparat setzt, obwohl die Wahrheitstheorie als ein Teil der Kommunikationstheorie behandelt werden kann, bleibt die Diskussion der Unterscheidung in belief und justified knowledge von der Kommunikationstheorie als Medium der Soziologie unberührt, denn es muß auch jede Kommunikationstheorie als Teil einer jeden vollständigen Wahrheitstheorie behandelt werden können.(2) Eine soziologische Machttheorie, die nach dem Vorbild von Comtes Einteilung in eine mythische Epoche der Sippengesellschaft, eine Epoche der politischen Theologie und den Reichsgründungen und die Epoche der Vernunft und den Wissenschaften, die Entwicklung zur ökonomischen Gesellschaft als Ergebnis der Anwendung der theoretischen Vernunft auf die Organisation der Gesellschaft vorstellt. Vom einfachen Modell der Machtzentren der theologischen, politischen und ökonomischen Macht und deren Veränderungen ausgehend werden andere Faktoren wie der Kolonialismus und der Fortschritt der Naturwissenschaften in einer historischen Skizze der Umgestaltung des Reiches zum Zentralstaat im Achzehnten Jahrhundert als Ursachen eingespielt.(3) Die historischen Aspekte der Darstellung dient zur Skizzierung der Varianz des bürgerlichen Liberalismus. Doch habe ich nicht beabsichtigt, eine historische Arbeit zu schreiben, vielmehr ist es auch ein Zweck dieser Arbeit zu zeigen, daß es unsere gattungsmäßige Spontaneität ist, welche im wesentlichen die gesellschaftliche Entwicklung ab der Neuzeit verursacht hat. Deshalb versuche ich die Entwicklung der Öffentlichkeit mit dem Problem der Kollektivität der Semantik unserer Sprachen in dem Moment zu verbinden, in welchem die theologische und die politische Macht nicht mehr ausschließlich die Öffentlichkeit strukturiert und inhaltlich besetzt. Schließlich präsentiert die Öffentlichkeit den Anschein von Wissen und gewinnt eine eigenständige Dynamik, deren Selektionswirkung nicht im Sinne politischer und ökonomischer Rationalität, auch nicht im wissenschaftlichen Sinn, vernünftig sein muß.Der vorrevolutionäre Liberalismus des bürgerlichen Nationalstaates und die nachrevolutionäre Naturalisierung der Gesellschafta) Die Kollektivität als Grund und Folge der kulturellen Spontaneitätb) Die philosophischen (emanzipatorischen), die soziologischen (kommunikationstheoretischen) und die ökonomischen (kolonialistischen und globalen) Bedingungen zur demokratischen Entwicklung des bürgerlichen Liberalismus c) Der historische Zusammenhang und dessen Brechung zwischen soziologischer Struktur und dem Systembegriff der politischen Philosophied) Episteme der Theorie und der Öffentlichkeite) Die Differenz der Dynamik der gesellschaftlichen Totalität und der Dynamik verschiedener Perspektiven im Kulturausdruck und in den Folgenf) Historische Oligarchisierung und philosophische Naturalisierung als moderne Fehlform des Gleichgewichts der Kräfteg) Tendenzen und Artefakte der Methoden

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Wolfgang Cernoch

Der vorrevolutionäre Liberalismus des bürgerlichenNationalstaates und die nachrevolutionäre Naturalisierung

der GesellschaftVom unbestimmbaren Individuum zur konkreten Handlung als

bestimmbarer Einzelfall und die Verfehlung der Spontaneität desBewußtseins durch den einfachen Nominalismus der bestimmbaren Dinge

a) Die Kollektivität als Grund und Folge der kulturellen Spontaneität

Die Betrachtung der Komplexität der kollektiven Kommunikation anhand deraffektiven und kognitiven Bindung an historisch gewordene »Gemeinbildern«,die den fortlaufenden Vergesellschaftungsprozess darstellen, erlaubt insofernin der Wertanalyse von Max Weber die Verfremdung vonStrukturentwicklungsprozessen aus der Naturwissenschaften und derenkybernetischen Selbstbezüglichkeit komplexerer Systeme, welche dieDifferenz zwischen Prozessstruktur und Steuerungssystem erst herstellen. DieGesellschaft als Institution der Kommunikation bedarf aber derKommunikation über die Institution, und diese ist erst nach der Konversiondurch Konstitution und Gewöhnung möglich. Die Konstitution, konkretpsychologisch betrachtet, kann ein Urteil sein oder kollektiver Zwang zurVerbindlichkeit, die Konversion erfolgt erst im Anschluß. Kollektiv betrachteterfolgt die Konversion unter dem Zwang der Aufrechterhaltung der Strukturdurch Systembildung. Von hier aus scheint eine Querverbindung zur Entropiemöglich.

Politik als solche ist hingegen erst dann möglich, wenn die Vorstellungen überdie Vergesellschaftungsformen sich von der systematischen Kosmologisierungder Gesellschaft und deren Symbole, also von der politischen Theologie derfrühen Reichsgründungen, befreit hat. Politik setzt Aufklärung über dienatürlichen Bedingungen der Umwelt und der eigenen Existenz wie über dieEntstehung unserer Kommunikation, m. a. W., die Aufklärung über dieDifferenz des Fragenden und des Befragten bis zu einem gewissen Gradvoraus. Insofern steht die Politik als Institutionsform und andere Gründeunserer sozialen Verhaltungen (Kommunikation) von politischer Relevanzzuerst sowohl der Natur als Umwelt wie der Natur als Kollektivität unsererKommunikation gegenüber. Diesen schon bekannten Doppelsinn von Natur inder Fassung unserer postmodernen Naturalisierung zu kritiseren und wiederoffenzulegen (hier: zwischen Physik und Geschichtlichkeit), ist dieVoraussetzung jeder wissenschaftlich vorgehenden politischen Philosophie.

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Der Akkumulierungssprozess, welcher den steigenden Organsisationsgradder Vergesellschaftung in der Neuzeit herstellt, wird begleitet von dersteigenden Wichtigkeit und dem steigenden Durchbildungsgrad der Symboleder öffentlichen Kommunikation. Ich gehe von einem Verhältniswechselseitiger Beeinflussung aus, wobei die Stellung der Symbole von derkonzeptuellen Funktion in die repräsentative Funktion wechseln, und derAkkumierungsprozess von der Stellung einer Tendenz, die als solche nocherkannt werden muß, zur Stellung eines absichtlichen und geplantenVerhaltensablaufs verschoben wird. Das hat nicht nur Folgen in derOrientierung im semantischen Raum, wie etwa welche Elemente desVerhaltensablaufes in der Wahrnehmung hervorgehoben oder in einenanderen Kontext verbracht werden, der Stellungswechsel vom unanalysiertenzweckgerichteten Verhaltensablauf zum verständig wahrgenommenenVerhaltensablauf macht diesen erst vollständig zur Handlung (Hannah Arendtim vorhergehenden Abschnitt). Dieser Stellungswechsel greift auch konkret inden Verhaltensablauf hinsichtlich der Folgen im »biologischen undphysikalischen Enviroment« ein (Peter Conring im nachfolgenden Abschnitt).Insofern kann mit dem Stellungswechsel im semantischen Raum ein konkreterEingriff in der sozialen und in der natürlichen Umgebung notwendigerweiseverbunden sein. Insgesamt kann die Verwandlung von Verhaltung zumHandeln demnach als Grund der Effizienzsteigerung identifiziert werden.

Die mit der ökonomischen einhergehende Macht, ohne ouverten politischenZwang Öffentlichkeit herzustellen, besetzt diese immer mit den Symbolendieses Akkumulationsprozesses. Das ist abstrakt und allgemein alsDepotenzierung der politische Theologie wiederzuerkennen. Die Ebene dersymbolischen Kommunikation aus der politischen Theologie derReichsgründung und die damit verbundene Konversion wird mit demAufstieg des Bürgertums ab der zweiten Hälfte des Achtzehnten Jahrhundertsnicht überwunden, sondern erfährt selbst nur eine Systematisierung durchAnlagerung, Verschiebung und ab den Neunzigern des ZwanzigstenJahrhunderts wieder die Ausscheidung oder Relativierung von politischrelevanten Symbolen, wie in der Restauration oder in der Zwischenkriegszeit.

Die politische Macht ist zuerst die Konversion der militärischen Macht derKonstitution; in der feudalen Stabilisierungsphase tritt zum ersten Malökonomische Macht explizit als Bedingung der politischen Macht auf(Landbesitz und Agrarwirtschaft, in der Stadt: Gewerbe und Banken). Diebürgerlich-urbane Politik war selbst ständisch organisiert und erzeugt schonim ausgehenden Mittelalter in der Auseinandersetzung von Stadtrecht undReichsrecht eine Konversion der Funktion der durch die politische Macht

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hergestellten Öffentlichkeit. Die Symbole dieser emanzipatorischenKonversionen werden zu den neuen politisch relevanten Symbole einerIdeologie, die nun die Stelle der politischen Theologie eingenommen hat.

b) Die philosophischen (theoretischen und emanzipatorischen), diesoziologischen (kommunikationstheoretischen und politischen) und die

ökonomischen (produktiven und kolonialistischen) Bedingungen zurdemokratischen Entwicklung des bürgerlichen Liberalismus

Zwei Kritiker der Verwandlung der klassischen Diktatur und Tyrannei ineinen naturalisierten, unpolitischen Totalitarismus des Sachzwangs derBiologie sind Hannah Arendt und in gewisser Weise auch Michel Foucault.Letzterer scheint diese Entwicklung wie Leo Strauß als historischer oder RogerMasters als verhaltensbiologischer politischer Philosoph als Diagnose einerunausweichlichen Struktureigenschaft der modernen Massengesellschaft zuverstehen. Auch Hannah Arendt kommt zu dieser Auffassung, jedoch ohneeine politische Rechtfertigung daraus abzuleiten. Ich bezweifle weniger diehistorische Diagnose als solche, eher wie sie zustande gekommen ist, und vorallem: Mit welcher Determiniertheit läuft dieser Prozess ab? Die Behauptungeiner naturgesetzlichen Notwendigkeit scheint mir nirgends gut begründet zusein.

Die zentralen Fragen sind nach dieser ersten Diagnose, inwieweit derNationalsozialismus (schwächer auch der Stalinismus) eine unvermeidbargewordene Form moderner und postmoderner Entwicklung derMassengesellschaft angezeigt hat, und inwieweit diese Entwicklung zu einemübernationalen Rassismus biologischer Normen führen muß. Duchgehendwird Biopolitik als die Verringerung der Unterschiede zwischen denmodernen demokratischen Massengesellschaften und den totalitären Systemeverstanden.

Die Quelle der Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung ist aber nichtprimär unser biologisches Substrat oder das verhaltensbiologische Muster, dasaus den kulturell aufgeprägten Motiven abstraktiv erschlossen oder alskulturelle Maske und bloße Verschiebung unseres Begehrens dechiffriertwerden kann. Insbesondere die seit dem Neunzehnten Jahrhundert sichzeigende Dynamik entstammt vielmehr einer kulturellen, ökonomischen,wissenschaftlichen und politischen Entwicklung, die nur in ihrerAufeinanderbezogenheit als Syndrom und Horizont des sich veränderndenVergesellschaftungsprozesses zu verstehen sein wird. Die zunehmendeBedeutung der ökonomischen Perspektive befördert oder behindert auch

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andere Bereiche des Horizontes der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. InFrage steht, inwieweit andere als ökonomische Interessen eine eigeneDynamik als Beitrag zum Erfolg der ökonomischen Rationalität hinsichtlichder Umgestaltung und Modernisierung der europäischen Gesellschaftenentwickeln, oder welche Bereiche des notwendigen Horizontes oderkulturellen Syndroms erst durch die Umgestaltung der Gesellschafthinsichtlich Wirtschaft und Handel ihre Dynamik und deren Ausrichtungerhalten haben.

Ich habe im ersten Abschnitt versucht, einen ersten Aufriss der politischrelevanten Dynamik zu skizzieren. Auch da ist die Aufeinanderbezogenheitverschiedener philosophischer politischer Perspektiven im Zuge derAusgestaltung des bürgerlichen Nationalstaates bei Max Weber wie beiHannah Arendt deutlich geworden. Beide blenden die räuberischeVorgeschichte des Imperialismus als eine materiale Bedingung derEntwicklung des ökonomisch erfolgreichen modernen bürgerlichenNationalstaates weitgehend aus. Es ist einstweilen zu konstatieren, daß dieaugenfälligste Dynamik neben dem ökonomischen Interesse dasZusammenwirken verschiedener politischer Philosophien in der Ausbildungdes bürgerlichen Rechtsstaates und die Organisation desnaturwissenschaftlichen Fortschrittes mit technischem und militärischemFortschritt gewesen ist. Ich werde hier versuchen, den Zusammenhang vonökonomischer und politischer Macht als grundlegend herauszustellen, ohnedaß damit ein eindeutiges Ursache-Wirkung-Verhältnis hergestellt werdenwird, aus welchem analytisch auf eindeutige Determiniertheit geschlossenwerden könnte.

Die Kritik an der Exzessivität und Krisenhaftigkeit des Kapitalismus kann sichnicht darin erschöpfen, Adam Smith damit zu entschuldigen, daß er der Thesevom wirtschaftlichen Eigennutz als rationale Leitidee des öffentlichenwirtschaftlichen Handelns noch eine harmonisierte Naturvorstellungzugrunde gelegt, und die Magna Charta als Indiz zur Verbesserung desMenschengeschlechtes angesehen hat. Daß die Formel Benthams »Dasgrößtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl« uninterpretiert zwischenAusbeutungswirtschaft und Kommunismus alle möglichen Interpretationenerlaubt, ist typisch für jede Art von prästabilierter Harmonievorstellung undist Adam Smith sicherlich nicht entgangen. Der Utilitarismus unterhält auchBeziehungen zur Idee der Zweckmäßigkeit eines geordneten Staatswesens. Sohätte gemäß den moralphilosophischen Vorstellungen von Smith nach denvon Interessen geleiteten Handlungen unser moralisches Gefühl, durchBildung angeleitet, für Ausgleich zu sorgen. Wenngleich, wie Descartes

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gemeint hat, eine provisorische Moral, sollte sie uns doch die Einsicht insrichtige Verhalten liefern können. John Stuart Mill bearbeitet ebenfalls diesenStrang der Urteilslehre weiter und entwirft eine Theorie der politischenÖkonomie, welche den Zusammenhang von Demokratie, Handel undWirtschaft grundlegen soll.

Offenbar hat sich die Ausgangslage bei der Interpretation des Bentham’schenKalküls bald geändert Die mit der Industrialisierung an Einfluß zunehmendeNaturalisierung des bürgerlichen Gesellschaftsmodelles mündet im Zuge derUmorganisation der Gesellschaft immer wieder in verschieden ausgeprägtensozialdarwinistischen Minimalismus. Insofern markiert Henry Spencer eineGrenze, die der Wirtschaftsliberalismus nicht überschreiten sollte, ansonstendie politische Radikalisierung droht. Der Zusammenbruch rechtsstaatlicherInstitutionen in Folge der Umgehung und Aufhebung der Gewaltentrennungoder die allmähliche Verlagerung der Zielsetzungen der politischen undpolitisch relevanten Macht von organisatorischen und kontrollierendenAufgaben zu Durchsetzungs- und Machtfragen sind nur zwei verschiedeneWeisen der Überschreitung der erst näher zu konstituierendenStabilitätsgrenze einer weiterentwicklbaren Gesellschaft.

Der Liberalismus hat aber ungeachtet seiner das menschliche Maßüberschreitenden Ausprägungen gegenüber der Monarchie, Aristokratie undKirche grundsätzlich die Meinungsfreiheit befördert, indem er dieNaturwissenschaften befördert und den Aberglauben bekämpft hat, und vorallem: Ohne Kapitalismus und Industrialisierung hätte die bereits teilweisegemäß physiokratischer Grundsätzen organisierte Wirtschaft der Epoche desausgebildeten Gewerbes, der Manufaktur und des (imperialistischen) Handelseiner allmählichen Massenverelendung entgegegengesehen, wie sie schonRicardo nach dem grundsätzlichen Scheitern der rechnerischen Ableitung desgerechten Lohnes aus der modernen physiokratischen Nationalökonomieanhand von Malthus Theorie der Ressourcenknappheit radikal skizziert hat.Die liberale Wirtschaftspolitik in Folge der ersten postphysiokratischenindustriellen Revolution verhindert zwar nicht verlässlich die Verelendungder Massen, aber schafft Phasen der gesamtwirtschaftlichen Produktivität, inwelcher die Eigennutzthese von Adam Smith sich zu bewähren scheint, undunter entsprechenden politischen Umständen das werktätige Proletariat vorder Verelendung bewahren kann. Neben der Verwissenschaftlichung desBlickes auf die Gesellschaft und der Lebenswelt und derenVerwissenschaftlichung durch die Technisierung selbst besitzt dieses Feldsynergetischer Effekte zwischen Wissenschaft, Technik und Wirtschaft auchemanzipatorische und partizipatorische Folgen im Zuge des gesamten

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Umgestaltungsprozesses der Gesellschaft. Es ist naheliegend, daß derökonomische Prozess auch zur politischen Machtbasis des Bürgertumswährend der Umgestaltung der politischen Institutionen zum bürgerlichenNationalstaat geworden ist.

Es hat sich gerade anhand der politischen Entwicklung der europäischenNationalstaaten in der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts gezeigt,daß eine gewisse Zähmung des kapitalistischen Wirtschaftsprozesses möglichist, wenn die ökonomische Macht der kapitalistischen Oligarchie und diepolitische Macht des Staates einander ausgleichen können. Erst diestrategische und finanzielle Dominanz des Finanzmarktes über die Märkte derProduktion und Dienstleistung hat den bereits aus verschiedeneninnenpolitischen und außenpolitischen Gründen kleiner werdendenSpielraum der Politik eines Staates nach innen und nach außen radikaleingengt und die Möglichkeit einer kooperativen Achse von Politik undWirtschaftsmacht einseitig reduziert.

Zweifellos liegen die Gründe für die Beschleunigung dieser Tendenz in derGlobalisierung der Wirtschaft überhaupt, die wiederum einenfunktionierenden internationalen Finanzmarkt benötigt. Doch halte ich esnicht für möglich, den schon mit Kolumbus und Magellan begonnenen, mitdem Imperialismus fortgesetzten Prozess der Globalisierung zu stoppen,zumal eine funktionierende Weltwirtschaft die Bereitschaft der daranteilnehmenden Nationen und Blöcke untereinander Kriege zu führen,vermindert.

Der Zusammenbruch der UdSSR als machtpolitisches Gegengewicht hat nurdie Gewissheit bestätigt, daß das westliche Wirtschaftssystem, also eineinigermaßen gezähmter Kapitalismus, in verschiedenen Belangen demkommunistischen Staatskapitalismus überlegen war. Allerdings wurde derZusammenbruch des politischen Ostblocks zum Anlass genommen, wiedereiner romantischen Dehnung des bürgerlichen Idealismus zum Opfer zufallen, diesmal nicht als nationale Dehnung der territorialen Bindung in derder Übertragung auf ein Staatsgebiet, sondern diesmal in Form desWirtschaftsimperialismus und des ökonomischen Neoliberalismus. WieHermann Broch formuliert hat: Statt Geschichte bestimmt der Kramladen denHorizont der historischen Vorstellungskraft. Mit der damit einhergehendenEntwertung des Nationalstaats hat sich der Wirtschaftsiberalismus deutlichgegen die politische Aufklärung und gegen die Idee der Republik alsbürgerlicher Rechtsstaat mit demokratischer Legitimierung gestellt. Der imKern autoritäre Neokonservatismus ist die politische Philosophie dieserReduktion der Spannung zwischen den Ständen auf die Achsen von

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militärischer, ökonomischer und politischer Macht.

c) Der historische Zusammenhang und dessen Brechung zwischensoziologischer Struktur und dem Systembegriff der politischen Philosophie

Die Emanzipation des Bürgertums von der Aristokratie führt aber nichtverlässlich zur Demokratie. In den entwickelten Stadtstaaten deroberitalienischen Renaisssance bildet sich eine Patrizierherrschaft heraus,deren Zynismus durch Machiavelli sprichwörtlich geworden ist. DieAusbildung des Reiches zum Zentralstaat und die Umgestaltung der feudalenOrdnung durch Handel, Gewerbe und Manufaktur hatte hingegen zur Folge,daß verschiedene Stände in Konkurrenz um Einfluß kamen, wobei dieseKonkurrenz im Zuge des aufgeklärten Absolutismus zugleich auch einenWandel in der Auffassung der Organisation eines Reiches und der Erklärungder Natur mit sich brachte. Der Wandel der Grundlagen der Ökonomie istschon vor der industriellen Revolution eine wichtige Bedingung derGesellschaftsentwicklung, die mit der Entwicklung der Naturwissenschaftenund dem Kolonialismus, der den geographischen Entdeckungen gefolgt ist,eine sich steigernde Wechselwirkung erfahren hat.

Die Demokratie als eine politische Idee der Aufklärung bleibt so zuerst einegegenüber der Zentralmacht relative bleibende Vorstellung, und hat inDeutschland zweifellos auch eine starke Wurzel im Bauernstand. ZahlreicheKonflikte entstanden aus der Differenz von Landes- und Reichsrecht und dermangelnden Durchsetzungsfähigkeit einer einheitlichen Rechtsauffassung.Allein schon die unregelmäßigen Privilegien der kleinen Aristokratie sorgtenregelmäßig für Konflikte. Daraus und aus der schon beachteten Differenz desReichsrechtes zum Stadtrecht schließe ich auf ein Grundmuster derbeginnenden Selbstorganisation der Stände, das zusätzlich zur Idee derzentralstaatlichen Organisation des aufgeklärten Absolutismus nachfranzösischem Vorbild zu einer anderen Dynamik der Verrechtlichung führtals die Organisation eines Stadtstaates, in welchem die Patrizier ihren Kampfum Einfluss politisch institutionalisiert haben.

Ähnlich, wie man der Auffassung sein kann, daß der Gesellschaftsvertrag, wieer von Rousseau als kollektive Idee vorgestellt wird, die allgemeineZweckrationalität des Zentralstaates nicht an die nicht zu vereinheitlichendeStruktur der Gesellschaft, aber an die politische Einbildungskraft derpolitischen Individuen anpasst, ergibt sich auch ein Moment des zufälligenZusammenspiels von revolutionären und demokratischen Ideen im Bereich

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urbaner politischer Philosophie und bäuerlicher politischer Philosophieeinerseits, die sich an der unzureichenden Organisation der historischgewachsenen Privilegien entzündet haben, und der Politik des aufgeklärtenAbsolutismus andererseits, den Einfluss der Aristokratie zurückzudrängen.

Meine These zu dem Postulat eines Grundmusters der Divergenz derInteressen der Stände im Achtzehnten Jahrhundert ist also, daß dadurch diebloße Idee des Gesellschaftsvertrages Rousseaus und vor allem der Entwurfder Gewaltenteilung Montesquieus eine passende Antwort der politischenPhilosophie auf die soziologischen und politischen Schwierigkeiten allereuropäischer Nationen, letztendes auch Deutschlands bei der Umgestaltungdes Reiches zum Zentralstaat und zum bürgerlich werdenden Staat gewesenist. Die historische Dimension der Staatswerdung der europäischen Nationenweist darauf ein, daß die theoretische Reflexion über denVergesellschaftsungsprozess immer schon selbst Einfluß genommen hat.

Obwohl Montesquieus Konzept der Gewaltenteilung nicht selbst dierealgesellschaftlichen Divergenzen der Stände und deren ökonomischen Basisabbildet, beginnt damit meiner Auffassung nach die bürgerlicheRekonstruktion des Zentralstaates mit absoluter Zweckrationalität, wie er imaufgeklärten Absolutismus gedacht worden ist, welche den gesellschaftlichenDynamiken besser als dieser politisch zum Ausdruck verhilft. Es muß imKonzept der Gewaltenteilung Montesquieus allerdings nicht zwingend diemoderne Vorstellung der demokratischen bürgerlichen Republik im Zentrumstehen.

Das Bürgertum kann am Ende des Achtzehnten Jahrhunderts also nichtdurchwegs als republikanisch eingeschätzt werden, auch wenn die Bestrebungnach der Veränderung der Privilegienwirtschaft und der geregeltenpolitischen Einflußnahme des Bürgertums verschiedentlich historischbedeutsam war. Der Liberalismus beförderte insgesamt eine gewisse kulturelleEgalität zwischen Aristokratie und dem Großbürgertum einerseits, undteilweise des Umgangs innerhalb der Schichtungen des Mittelstandes. Esentsteht am Ende des Achtzehnten Jahrhunderts neben dem kulturellen undökonomischen Selbstbewußtsein des Bürgertums auch ein politischesSelbstbewußtsein. Damit wird die politische Interpretationshohheit derMonarchie und der Aristokratie im öffentlichen Raum in Frage gestellt. InDeutschland und Österreich, das auf die Alternative zwischen klein- undgroßdeutscher Lösung zusteuerte, erhalten demokratische Ideen zum erstenMal wieder regelmäßig Aufmerksamkeit im Zusammenhang mitverschiedenen Vorstellungen von der Selbstorganisation des Volkes in einemNationalstaat. Die Rationalität der zentralsstaatlichen Organisationsgewalt

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und die Ausgewogenheit der politisch relevanten Instanzen in der Idee einesbürgerlichen Rechtsstaates mit Verfassung impliziert zusammen derMöglichkeit nach demokratische Ideen. Doch sind damit nicht sofort alleFragen entschieden: Ausgehend von der Frage nach der Repräsentanz undStellung des Parlaments, und davon zunächst unabhängig, die Abhängigkeitdes Kanzlers von der Majestät, der ja zunächst nichts als der Vorstand desKabinetts ist, bis hin zur Frage, ob nicht doch Besitz zur Ausübung vondemokratischen Grundrechten Voraussetzung sein soll, — die Bandbreite derVorstellungen von den Instituten der Partizipation variieren.

Die Blüte des deutschen Idealismus ist dafür in Deutschland einebestimmende Bedingung, und damit ist auch der protestantische Pietismusindirekt mit verantwortlich, daß die Vorstellung der Einbindung derGemeinde im Überzeugungsprozess in beiden Richtungen eine weiteVerbreitung gefunden hat. Ich denke, man kann daraus ersehen, wie einanderpolitische Situation und Philosophie des Bürgertums in Deutschlandbegünstigt haben, daß politische Philosophien mit demokratischen Elementenentstanden und auch historisch zur Wirkung gekommen sind.

d) Episteme der Theorie und der Öffentlichkeitund deren kollektive und historische Dimensionen

Es muß die Verbindung zwischen diesen verschiedenen Ausprägungen derFolgen der wachsenden Bedeutung des Bürgertums in der politischenPhilosophie und die Vorstellung eines bürgerlichen Rechtsstaates mitparlamentarischer Demokratie erst hergestellt werden. Die Beschränktheit desrevolutionären bürgerlichen Liberalismus und Rationalismus scheint mirschon an der Installation einer Vernunftreligion im Zuge der französischenRevolution erkenntlich. Schließlich ist ersichtlich geworden, daß auch dieökonomische Rationalität vor der Verfassungsfrage halt machen muß, wasaber kein ausreichender Grund sein kann, vom bürgerlichen Liberalismus zuerwarten, daß die bürgerliche Republik ohne weitere Bedingung eine für alleEinwohner gleichmäßig geltende demokratische Verfassung erhält.

Eine weitere Bedingung kann zusammenfassend in der philosophischen,kulturellen und kulturpsychologisch relevanten Vorstellung vom Menschenals Natur- und Sozialwesen einerseits und als Kulturwesen mit Zivilisationund technischen und wissenschaftlichen Urteilsvermögen andererseitsgedacht werden. Der klassische moderne Liberalismus geht systematisch inder Soziologie wie in der Ökonomie vom handelnden Individuum aus. Das

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kann zweierlei nach sich ziehen: Entweder werden die Motive der Individuenvor dem Hintergrund verschiedener Interpretationen des relevantenUmkreises des Handelns eines als konkret gedachten Individuumsberücksichtigt, was den kultursoziologischen und historischen Horizont inFolge in die systematische Erörterung mit einbezieht, oder es wird ausGründen der Denkökonomie und nicht nur nach Gesichtspunkten derZugänglichkeit von empirischer Referenz, das Handeln des Individuums nurin Hinblick auf die Relevanz der institutionssoziologischen, ökonomischenoder verhaltensbiologischen Theorieidee gedacht.

Ich habe im ersten Abschnitt dieses Problem in der Soziologie behandelt.Gleiches ist von Carl Mengers Vorgehen in der Begründung derGrenznutzentheorie zu sagen, die den Staatsbürger solange behandelt, solangeer als freier Wirtschafter, d. h. als Käufer auftreten kann. Ansonsten belastetdas betreffende Individuum die ökonomische Theorie nicht weiter. Da wiedort ist festzustellen, daß diese Konversion zur Theorie durch die radikaleHinwendung zum individuellen Einzelfall einer konkreten, womöglichphysikalisch-öffentlich bestimmbaren Handlung aus rein formalen undlogischen Gründen unvermeidbar ist. Das Problem verschärft sich durch dieBestimmung des Individuums zu konkret beobachtbaren Handlungsfolgengegenüber einer bestimmten Umgebung, die je nach Theorieauffassungverschiedene input-output-Korrelationen definiert, die sich zunehmend an einReiz-Reaktions-Schema anpassen lassen. Dadurch wird das Individuumkonzeptuell mehr und mehr aus der Theorie gedrängt, indem es auf dasVerhältnis der konkreten Handlungsabfolge zum Zustand dertheoriespezifisch eingeschränkten Umgebung reduziert wird, wobei dieHandlungsfolgen und die Umgebung je nach dem Ansatz der Theoriebestimmt wird. Die theoretischen Vorstellungen und Einbildungen desIndividuums, seine Interpretation und Antizipation wird nach der jeweiligenTheorie beschnitten, sodaß die Motive, welche als Ursachen oder Mitursachender konkreten Handlungsabfolge in Stellung zu bringen wären, willkürlichselektioniert, oder gleich gar nicht in Betracht gezogen werden.

Die unumgängliche Abhebung auf ein theoriespezifisches Tableau derAbstraktion kann aussagekräftig sein, wenn sich zeigen lässt, daß dievernachlässigten Aspekte für das spezifische Erkenntnisinteresse nur wenigBedeutung besitzten, oder von anderen Theorien besser erfasst werdenkönnen. So gibt es zweifellos viele gelungene Beispiele in Soziologie undÖkonomie, die erst in der ausschließlichen Anwendung als grundlegendesModell ökonomischer und gesellschaftlicher Rationalität zum Aberglaubeninmitten des wissenschaftlichen Denkens führen. Komplementär gedacht,

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wäre zu einer ökonomischen Theorie wie die von Carl Menger einesozialpsychologische und politische Theorie zu bedenken, welche dasProblem, daß mit der Exklusion aus dem Kreis der freien Wirtschafter auchder Ausschluß aus der Gesellschaft mittelbar verbunden ist, schon ausGründen wissenschaftlicher Methodik nicht ausschließlich unter den Primatder ökonomischen Vernunft stellen kann.

Das theoretischer Problem besteht näher darin, daß die Theorien einerkomplementären Theoriemannigfaltigkeit sich durch rein logischdenkmögliche Universalisierung wechselseitig auszuschließen beginnen,wenn die jeweilige Universalisierung erst durch gezielte Abstraktion möglichwird, die danach ausgerichtet wird, um der Konstruktion des Satzsystemsimmanente Widersprüche auszuschließen. Damit werden Wechselbegriffe (diedem Gegenstand gegenüber komplementären Theorien), die entgegen OuinesAuffassung keinerlei analytische Beziehungen untereinander besitzen, zuTeilbegriffe, die nach Kant ein »wesensnotwendiges Prädikat« enthaltensollen, die allgemeine Gesetzesaussagen beinhalten sollen, die nicht mehraffirmativ bestätigt werden müssen. Vergleiche dazu Karl Popper, Logik derForschung (5) zum Unterschied zu »spezifisch allgemeine Sätze«, »Allsätze«und Sätze von numerischer Allgemeinheit, S. 34 f. und Wolfgang Stegmüller,Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und AnalytischenPhilosophie, Band I. Wissenschaftliche Erklärung und Begründung,(Studienausgabe, Teil 2). Kap. V., Das Problem des Naturgesetzes, der irrealenKonditionalsätze und des hypothetischen Räsonierens; zur Unterscheidungder akzidentiellen Allaussagen und naturgesetzlichen Aussagen.

Die Theorien über soziales Verhalten, seien sie nun soziologisch, ökonomischoder verhaltensbiologisch, erschleichen sich nur den Status naturgesetzlicherAussagen, indem die Abstraktionstheorie, welche die Verhältnisse zwischenProtokollsätze (Schlick), Basissätze und den allgemeinen Sätzen derspezifischen Theorie (Popper) regelt, von den Basissätzen nicht mehr dienämliche Zeitbedingung zusammenhängender Erfahrung wie von denProtokollsätzen fordert, was die Bedingung ist, damit die allgemeinen Sätzemit ihrem geregelten Verhältnis zu ihren Basissätzen Sätze einer empirischenErfahrungswissenschaft sein können. In der Frage, was ein zusamengesetzterempirischer Satz bei Bolzano sein kann, irrt Bar-Hillel, nicht Popper: In einerendlichen Konjunktion von Sätzen reicht ein empirischer Satz aus, um eineempirische Aussage zu sein. Es wird vielmehr ausschließlich das Verhältnisvon einseitig von der Theorie qualifizierte Basissätzen und allgemeinen Sätzenbetrachtet und so eingerichtet, das es logisch möglich wird, die allgemeinenSätze der Theorie als naturgesetzliche Aussagen zu behandeln, ohne mit der

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ausgeblendeten Qualifikation von Protokollsätzen zu Basissätzen einerbestimmten Theorie oder oberste allgemeine Sätze derselben (Axiome undPostulate) in logische Widersprüche zu geraten. Das ist um so eher logischmöglich, ohne sofort in der Perspektive der logischen Untersuchung vonSatzsysteme als Problem aufzutreten, als daß Soziologie, Ökonomie undVerhaltensbiologie kaum imstand sind, die Bedingungen des zeitlichenErfahrungszusammenhangs der Basissätze für komplexes soziales Verhaltenzu erfüllen, gerade weil schon die zusammenhängenden Aspekte derverschiedenen Ansätze deren verschiedenen Datensätze (Basissätze), undderen Auswahlkriterium der jeweiligen Theorie angehört, sodaß derkontinuierliche Erfahrungszusammenhang schon immanent theoretischprinzipiell nicht mehr hergestellt werden kann. Bereits die Symbolik unsererdurchschnittlichen Lebenswelt ist von einer literarischen Komplexheit, in derdiskontinuierliche Übergänge und Zusammenhänge charakteristisch sind, undspontane Ballungen oder Verzweigungen Determinationen entstehen lassenoder zum Verschwinden bringen. Die Rekombination verschiedener Ansätzeüber den Menschen und seine Vergesellschaftung, die wissenschaftlich erstinterdisziplinär geleistet werden muß, kann sozialpsychologisch hinsichtlichder Motive unserer Handlungen nicht auf die Kontinuität der physikalisch-öffentlichen Objektwelt zurückgeführt werden, sondern verlangt eine andereArt von Kontinuität, die ich zunächst für das Natur- und Sozialwesen mit demGrundbedürfnis nach Sicherheit, schließlich für das Kulturwesen mit oderohne Zivilisation (Weltbürgerlichkeit) mit der historischen Sinnstiftungidentifiert habe.

Das ist der entscheidende Unterschied von soziologischen Theorien zurmathematisch-naturwissenschaftlichen Theorie, die Ereignisreihen mitAusgangsbedingungen notwendig verknüpft, die selbst der Natur derEreignisreihe bzw. den Mitteln ihrer Deskription angehören.

Das historische und kultursoziologische Problem bleibt die bereits skizziertephilosophische Spannweite des bürgerlichen Liberalismus, der zwischenzunehmendem Gesellschafts- und Geschichtsverständnis einerseits undbiologischer und mathematischer Naturwissenschaft und derenempiristischen, skeptisch-rationalistischen, metaphysisch-rationalistischenNaturphilosophie andererseits, immer wieder in verschiedenen kulturellenKonjunkturen als Vorstellung über den Menschen und die richtigeGesellschafts Einfluß auf die Entwicklung der historischen und soziologischenPerspektive wie auf die kulturwissenschaftliche Dimension desnaturwissenschaftlichen Denkens selbst genommen hat, und auf diese Weise

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geschichtsmächtig geworden ist. Die angesprochenen Konjunkturen sind nunhistorisch verschieden verursacht.

Erstens sind es die Kriege um Vorherrschaft und Kriege, um tributpflichtigeKolonialstaaten zu besitzen, welche das Geschichtsverständnis der politischMächtigen bestimmt hat.

Zweitens die ökonomische und die damit einhergehende soziale Entwicklung,welche ein weiteres Verständnis von Politik nach sich gezogen hat, das zuerstim Zentralstaat des aufgeklärten Absolutismus als geschlossene Formation derStaatsidee auftritt. Diese Fragen wurden im letzten Kapitel bereits ein erstesMal skizziert.

Drittens die Religion und die Wissenschaft, die in der Neuzeit ouvert inOpposition getreten sind, obgleich die Traditionen der aristotelischenErkenntnisphilosophie und der augustinisch-platonischen Willensphilosophieder Ordensphilosophie noch in der Neuzeit als Klammer fungiert haben, diebeide Exhaltationen der Einbildungskraft in Verbindung zu haltenvermochten. Es gelingt ab der Renaissance in den Kulturwissenschaften, diehistorisch vorzugehen beginnen, wie in der Naturphilosophie noch bis insNeunzehnte Jahrhundert hinein, diese Klammer aufrecht zu erhalten, undbeide richten sich gegen die Deutungshoheit der katholischen Kirche oder derReligion überhaupt. Noch in der Folge der Negationen des Theismus, desDeismus und des Pantheismus bis hin zum ausdrücklichen Atheismus istdiese Klammer zwischen Naturphilosophie und Willensphilosophie anhandder Idee der Mathesis im menschlichen Denken und in der Naturbetrachtungeinerseits und in der Gestalt der historischen Sinnfindungsversuche desMenschen der Neuzeit andererseits zu bemerken.

Viertens ist die Ästhetik des Naturschönen und Kunstschönen und derenStellung zur ökonomischen, theologischen und politischen Macht, derenStellung zu den Themenstellungen des Monumentalen, der Idylle, derreligiösen Verherrlichung Gottes oder der in der Beschäftigung mit der Antikewiederenteckte Verherrlichung des Menschen als Ausdrucksmedium desKulturwesens wie als Instrument des zuerst künstlerischen, dannkulturwissenschaftlichen Selbstverständnisses anzusehen, in welchen aufverschieden direkte oder akzendentielle Weise alle Quellen der Dynamik derGesellschaftsentwicklung in die Darstellung einfließen. Die verschiedenenPositionen in der Topologie der Machtorganisation (Theologie, Politik,Ökonomie) setzen die Mittel und die Wirkung des Kunstschönen gezielt zurBeeindruckung und zur Beeinflußung des Staatsvolkes ein. Gleichzeitigerwächst aus der Ausbildung einer epochenspezifischen Auffassung des

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Kunstschönen und auch des Naturschönen für die Stände eine eigeneKultursphäre, die in einer hinreichend komplexen Gesellschaft dieDeutungshoheit der zentralen Machtpole zu beeinspruchen, zumindest zumodifizieren beginnt. Das geht meiner Auffassung so weit, daß sichv e r s e l b s t s t ä n d i g e n d e M o d e n v o m K u n s t s c h ö n e n u n dWeltanschauungensphilosophien als voneinander unmittelbar unabhängigeAusdrucksformen im Aufeinandertreffen die gesamtgesellschaftlicheDynamik kulturpsychologisch zu beeinflussen vermögen.

Zu den bereits genannten Quellen der gesellschaftlicher Dynamik kommt dasFeld metaphorischer Ermöglichungen und die verstärkenden oderabschwächenden Synergien zwischen assoziativen Strängen vonVorstellungsfamilien im Zuge eines erweiterten, auch als deflationitisch zubezeichnenden Rekonstruktionsversuches des gesellschaftlichen Rahmens unddes individualpsychologischen Rahmens der Semantik im Horizont derwechselseitigen Interpretation oder Beeinflussung hinzu. Damit kann inMassengesellschaften die Sphäre der Verselbstständigung der Dynamiken deröffentlichen Meinung vorstellbar gemacht werden. Zu diesem Zweckpostuliere ich Assoziationsstränge, die ein Potential aufgebaut haben, insöffentliche Bewußtsein zu treten, dazu aber eine Reihe von Anlässenbenötigen, um sich zum öffentlichen Thema zu verbinden (Meinong:Wollenswert und Beiwert — der Beiwert wird zum neuen Wollenswert).Derart läßt sich eine einfache Erklärung anbieten, weshalb vergleichbareEreignisse nicht immer vergleichbare Reaktionen im Publikum hervorrufen.Neben der Frage, was erzeugt und lenkt die öffentliche Aufmerksamkeit istauch die Frage nach der Zusammensetzung und der näheren Art derMotiviertheit zu stellen.

e) Die Differenz der Dynamik der gesellschaftlichen Totalität und derDynamik verschiedener Perspektiven im Kulturausdruck und in den Folgen

Der Aufriss der Gesellschaftsentwicklung aus den gesellschaftlichenHauptpolen der Macht und den sich ausbildenden politischen Philosophien istnicht ausschließlich mit der Dynamik aus der immer bessser gelingendenVerbindung der Naturwissenschaften mit der Technik im Zusammenspiel mitder Dynamik der Wirtschaftsräume im Zeitalter des Kolonialismus und derpolitischen Umgestaltung des Reiches zum Nationalstaat zu begründen. DieUntersuchung ist auf die Dynamik zwischen Kulturgeschichte undNaturwissenschaft einerseits und Politik und Theologie andererseits zuerweitern. Die Dynamik des öffentlichen Raumes unterhält sowohl zu den

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Epistemen der institutionalisierten Polen der Macht wie mit den Epistemendes Kunstschönen als Kulturausdruck vielfältige Beziehungen, um damit voneinem philosophisch-ästhetischen Standpunkt ausgehend das Phämomen derÖffentlichkeit themenneutral charakterisieren zu können.

Daß die Prägung der semantischen Gegenden im öffentlichen Raum nichtausschließlich durch die, ihre Stellung zueinander und sich selbstverändernden Pole von theologischer, politischer und ökonomischer Machtsondern auch durch eine epochenspezifischen Auffassung des Kunstschönenund des Naturschönen motiviert ist, die ihrerseits eine Dynamik desKulturwesens im Selbstwahrnehmungsversuch zwischen Avantgarde undKollektivität besitzt, ist ein weiterer Hinweis darauf, was man als relativeigenständige Kulturdynamik bezeichnen kann. Die von mir zunächst neutralbetrachtete Möglichkeit zur Verselbstständigung einer Dynamik imöffentlichen Raum möchte ich als eigenes, formales Indiz verstehen. Der erstepolitisch relevante Definitionsversuch des Kulturwesens ist mit der abstraktenAbhebung der innerkulturellen Auffassung des Kunstschönen im Vergleichmit anderen Epochen und Kulturen gelungen. Diese differentielle Definitionkann unter bestimmten einschränkenden Bedingungen auf Parallelkulturenausgedehnt werden.

Die schon früher aufgezeigte Konstitution von Öffentlichkeit im Zuge derAusbildung der politischen Institutionen und die Trennung von theologischer,dann von ökonomischer Macht muß demnach um die kultursoziologischverzeichenbare Dynamik unseres Kulturwesens erweitert werden.

Wie ich vorgestellt habe, bleiben wichtige Charakteristika der Ästhetikerhalten, die je nach Definition des genuin Ästhetischen des Schönen vonEmpfindungen (angenehm, unangenehm) zu unterscheiden sind,anschließend aber mit Gefühlen und Bedeutungen assoziert und verbundenwerden. Ich gehe auch hier von einer gewissen kulturellen und kollektivenPrägung aus, die anhand des Kunstausdruckes selbst, durch interkulturelleVergleiche und mittels großflächigen Theorien zu gesellschaftlichenEntwicklungen in diejenige Distanz geraten, die von der Perspektive desBemerkens und Reflexiven zur Perspektive des Bestimmens undReflektierenden überzugehen instand setzen soll.

In dieser kulturwissenschaftlichen Überlegung muß die Komplementarität dermultilateral voneinander unterscheidbaren Kommunikationshorizonte, aberauch die Überlappungen, die jeweils spezifischen thematischen Auslassungenund Einlassungen, deren verschiedenen Zielsetzungen und die teils durch

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Unvollständigkeit der Vorstellungshorizonte oder deren Kommunikation undteils durch entstehende reale oder konzeptuelle Widersprüche sicheinstellende Unzureichendheit berücksichtigt werden. Die Untersuchungender semantischen Strukturiertheit der möglichen, die Aufmerksamkeitlenkenden Assoziationsstränge müssen zuest unabhängig von der aktuellenWahrscheinlichkeit, den näher ins Auge gefaßten Kreis relativer Öffentlichkeitzu besetzen, stattfinden. Allerdings wird die semantische Komplementaritätund die logische Stringenz, die mit den untersuchten Themenstellungenallenfalls ins Blickfeld rücken können, häufig nicht zu den Motiven gehören,die in einer breiteren Öffentlichkeit als die der unmittelbar Verständigen dieAufmerksamkeit an sich ziehen. Daraus ergibt sich ein Maßstab für dieAufgeklärtheit einer Gesellschaft: Je häufiger Assoziationsstränge undThemenstellungen die öffentliche Meinung besetzen, die in kontinuierlicherund folgerichtiger Verbindung mit überprüfbaren Behauptungen und damitverbundenen Schlußfolgerungen stehen, um so eher wird eine affirmativeAktion (Rawls) oder eine demokratische Legitimation verlangendeEntscheidung den Möglichkeiten unserer rechtfertigbaren Kenntnisse adequatsein. Darunter fallen eben nicht nur auf naturwissenschaftliche Basissätzerückführbare Bedeutungen. Schon die Untersuchung der Verhältnisse dieserBedeutungen zur Sprache und zur Logik greift über die materielle Existenzhinaus. Die Selbstreferentialität wird im Kulturwesen des Menschen durch dieKollektivität der Kultur hindurch im Erfaßtwerden durch ein Kunstwerk oderin der Einsicht in eine Erfindung ausdrücklich, und zwar wie in denBewußtseinstheorien der Urteilstheorien und deren psychologischen Postulateder Intentionalitätslehre oder in der Diskussion über justified Knowledge, diebeide auf Sprache und Bewußtsein bezogen bleiben.

Die nötigen Untersuchungen, um die Verschiedenheit der Öffentlichkeiterzeugenden Kommunikationsstrukturen untereinander und von derInstitutionalisierung der Kommunikation durch soziale Institutionensystematisch zu erörtern, können hier nicht weiter verfolgt werden, dochwerden die dazu nötigen Untersuchungen immer mit der Frage zu tunbekommen, was nun unter Kollektivität im sozial bedeutsamen Verhalten undder sprachlichen, schriftlichen und bildlichen Kommunikation verstandenwerden kann, das über die Auskunft hinaus geht, daß die Kollektivität diesemantische Voraussetzung ist, um Artefakte, Situationen und Maschinengebrauchen zu können. Die spezifischen Arten der Kollektivität, die von denKommunikationshorizonten der theologischen, politischen und ökonomischenMacht erzeugt wird, spiegeln sich idealisiert, verschoben, oder verzeichnet inden dazu komplementären Kommunikationshorizonten, welche die

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Öffentlichkeit des Kulturwesens am Leitfaden des Kunstschönen erzeugen.Letzteres verdichtet sich zu Moden und Weltanschauungsphilosophemen, dieallerdings wieder von allen möglichen Quellen, also auch von derKommunikation der gesellschaftspolitisch relevanten Machtpolen gespeistwerden.

Die relative Anonymität des oligarisch werdenden globalen Kapitalismusprägt die epistemologisch relevante Kollektivität anders, als die politischeMacht und deren Instituionen. Abermals anders verläuft die Prägung desöffentlichen Kulturwesens, die einerseits von den Produkten von Kunst,Design und Technik ausgeübt wird, andererseit sich im Nachvollzug desErfinders oder des Künstlers im verständigen Gebrauchs des Artefakts, derdieses erst zur Maschine oder zum Kunstwerk werden lässt, einstellt. Die jetztnur angerissenen Unterschiede der Prägungen hinsichtlich desdurchschnittlichen Zielsetzungshorizonts und in der Wirkungsweise auf einIndividuum oder einer gemeinsam verständigen Gruppe stehen in innigemZusammenhang mit der individualpsychologischen Fragestellung, inwieweitkollektive Vorstellungen und nicht hinterfragten Sinnstiftungsmechanismenbewußt werden können, unter welchen Umständen sie bewußt werden, undwelche Folgen die Bewußtwerdung für das Individuum und seinekulturspezifische Gruppe besitzt. Schließlich wird ein großer Anteil derkollektiven Vorstellungen bereits vor der Kollektivierung bewußt gewesensein, wie man dem ersten Abschnitt dieser Arbeit entnehmen kann: DasZusammenwirken von erster Institutionalisierung der Sprache und zweiterInstitutionalisierung der sozialen Organisationsformen setzt zumindest in derKonversion den Moment des individuellen Bewußtseins voraus, und zwargleichgültig, ob es sich bei diesen Moment um ein bloßes Gewahrwerden, umein verständiges Bemerken oder um einen willentlichen und absichtlichenEntschluß handelt.

Ein R e s u m é e der versuchsweisen Zusammensetzung vonkulturwissenschaftlichen, soziologischen und historischen Aspekten zeigtdeutlich eine Entwicklung der politischen und kulturellen Idee von derGesellschaft an, die das Menschenbild seit der Renaissance ins Zentrum rückt,und sowohl aus der Bevormundung durch die Kirche und dem Staat wie ausder Abhängigkeit von der Natur ein Stück weit geführt hat. Dabei drückt sichim Zentralstaat des aufgeklärten Absolutismus und dessen Idee einerallgemeinen Zweckrationalität noch die gesellschaftswissenschaftlichenVerkürzungen der Versuche aus dem Durchblick zwischen Individuum undGattungswesen aus der Frühneuzeit durch, der jedoch eine erste wechselweiseBestimmung erlauben sollte. Die Verschiebung dieses Topos einer Frage nach

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dem Verhältnis von Individuum zur Allgemeinheit in den Topos der Fragenach der sozialen, kulturellen und historischen Identität, also in das Verhältnisvon Individuum und Kollektivität macht nur die allmähliche Umprägung desMenschenbilds seit der politischen Theologie aus der Zeit derReichgründungen sichtbar. Seit den letzten Jahrzehnten des ZwanzigstenJahrhunderts führt die Fortführung des Nominalismus auf den Einzelfallzurück und von der Überlegung der spezifischen Kollektivität desBewußtseins des Kulturwesens des Menschen weg; und daß unter Bewußtseinimmer ein individualisierender Akt und verallgemeinernder Akt zu verstehensein wird, wenn Bewußtsein nicht mit dem Gewahrwerden der Perzeptionenidentifiziert wird, hingegen zwischen belief und justified Knowledge diskutiertwerden muß.

Alois Riegel zeigt in seinen kunsthistorischen Untersuchungen die Tendenzan, wie im Laufe der Betrachtung historisch aufeinander beruhendenKulturepochen die zunehmende Präzision der Darstellung der räumlichenVerhältnisse mit der zunehmenden Individualisierung in denMenschendarstellungen in Verbindung steht. Er fügte entgegen GottfriedSempers Auffassung, die Kunst würde durch das Verhältnis von Material undTechnik bestimmt, noch das Kunstwollen hinzu, daß von einergesellschaftlichen Gruppe getragen werde (Grundlegungen zu einerGeschichte der Ornamentik, von Alois Riegl. - Berlin : Siemens, 1893. - XIX, 346S. : Ill.). Hier ist auch eine Verbindung zu Robert Zimmermanns ÄsthetischerPhilosophie festzustellen. Der Impressionismus im 19. Jahrhundert und derImpressionismus der Mumienporträs der römischen und nachrömischenEpochen in Ägypten stellt die Vorstellung einer strikten Verknüpfung vonweiteren Epochenverläufen allerdings in Frage; in beiden Fällen scheint es sichum eine weitere Verbreitung von ursprünglich aristokratischen Moden in derwohlhabenden Mittelschicht zu handeln, die dort verändert worden sind, umanschließend von der Aristokratie wieder aufgenommen zu werden (Diespätrömische Kunstindustrie. 2 vols. 1) Die spätrömische Kunst-Industrienach den Funden in Österreich-Ungarn im zusammenhange mit derGesammtentwicklung der bildenden Künste bei den Mittelmeervölkern.Vienna: K. K. Hof- und Staats-druckerei, 1901, 2) and Zimmermann, E.Heinrich, ed. Kunstgewerbe des frühen Mittelalters auf Grundlage desnachgelassenen Materials Alois Riegls. Vienna: K. K. Hof- und Staats-druckerei, 1923).

Also nicht nur die politische, ökonomische, naturwissenschaftliche undtechnische Entwicklung, die ich als die grundlegenden Quellen einernachhaltigen gesellschaftsverändernden Dynamik ansehe, auch die

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kultursoziologisch verzeichenbaren Strata in der Semantik einer Kultur, diesich auf die Vorstellungen über das Individuum und dessenVergesellschaftung beziehen, sind von entscheidender Bedeutung, um dieVorstellungen von Produktions- und Wirtschaftsorganisation zu entwickelnund kollektiv zu verbreiten. Diese Tendenz ist noch in der liberalen Soziologieund Ökonomie zu bemerken, allerdings wird damit schließlich nicht mehr dasIndividuum weiter bestimmt, sondern nur mehr genau bestimmbareHandlungsfolgen gegenüber genau bestimmten Umgebungen, die allein vomspezifischen sachlichen Erkenntnisinteresse aus gesehen werden. DemNominalismus auch in der Gestalt eines rationalen Konzeptualismusentschlüpft das Subjekt, das sich nicht auf Handlungen reduzieren lasst, undkann dessen Kontingenz nicht erreichen, denn die subjektive Kontingenz istals variable Potentialität und Spontaneität aufzufassen. Mit derVerwissenschaftlichung der Lebenswelt wird das handelnde Subjekt selbst ausdem Diskurs um die Regel der Gesellschaft allmählich ausgeschlossen.

Die systematische Verknüpfung von Wissenschaft und Technik mit derEntwicklung der Industrialisierung befördert den ökonomischen Prozess, undist die eine entscheidende Bedingung für die Entwicklung derOrganisationsform der Gesellschaft überhaupt, die in der modernenGesellschaft nur ausdrücklich wird. Die Tendenz zur politischenEmanzipation von der einseitigen Deutungshoheit der politischen Machtbesitzt unmittelbar eine Wurzel im ökonomischen Prozess, der nach demFeudalismus den Ständen ihr politisches Gewicht verleiht. Die ökonomischeund gesellschaftliche Bedeutung des Proletariats, die mit der industriellenRevolution grundsätzlich zugenommen hat, ist als eine der historischenBedingungen anzusehen, daß die in unsere Kulturentwicklung eingelegteemanzipatorische Tendenz auch in der politischen Konzeptbildung anGewicht zugenommen hat.

Schließlich darf nicht übersehen werden, daß gerade die Naturwissenschaftendas Ergebnis einer Kulturentwicklung sind, die einerseits eine gewisse Politik-und Wirtschaftsentwicklung voraussetzen, aber nicht aus dieser von selbstentspringen (vgl. Riegl gegen Semper) und erst wieder in dieAlltagspragmatik eingebracht werden müssen. Das wissenschaftliche Denkenim allgemeinen und das naturwissenschaftliche Denken im besonderen wareine der Voraussetzungen, daß eine qualifizierte Minderheit sich vomAberglauben in Religion und Politik befreien konnte. Anhand derKunstgeschichte, aber auch anhand der Geschichte der Pädagogik und derLehrpläne lässt sich bildungssoziologisch die Tendenz zur partizipatorischenEntwicklung des Menschenbildes in der kollektiven Kulturentwicklung

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nachzeichnen. Insofern ist der Schluß zu ziehen, daß die historisch-soziologische Evolution der Gesellschaft einen Strang der emanzipatorischenDynamik erzeugt hat, die neben den bestehenden machtpolitischen undökonomischen Faktoren immer wieder eine entscheidende Rolle bei derenWeiterentwicklung übernommen hat.

Ich schließe daraus, daß die bildungssoziologischen Bedingungen zurAusbildung von rechtsstaatkonformen und demokratisch legitimiertenpolitischen Institutionen eine philosophische und kulturpsychologischeDimension und eine naturwissenschaftliche und technische Dimensionbesitzen. Der Liberalismus kann explizit zur Idee einer demokratischenVerfassung gelangen, doch bleibt das revolutionäre Potential desMittelstandes selbst zwischen Solidarität und Eigennutz in der Frageamphibolisch, welchen Ständen die Solidarität eigentlich gelte.

f) Historische Oligarchisierung und philosophische Naturalisierung alsAusdruck der modernen Fehlform des Gleichgewichts der Kräfte

Die politische Schwierigkeit des ausgehenden Achtzehnten und desNeunzehnten Jahrhunderts, die erst im Zwanzigsten nach Gewaltherrschafteneinigermaßen bewältigt werden konnten, lag offenbar immer wieder darin,daß der Akkumulationsprozess der realen ökonomischen Macht institutionellimmer weniger mit der politischen Institution übereingestimmt werdenkonnte, gleichgültig, welche politisch relevante Symbole kommuniziertworden sind. Die grundsätzlich damit verbundenen Schwierigkeiten sind nunschon seit der Patristik bekannt, als die Auseinandersetzung zwischentheologischer und politischer Macht um die Nachfolge des römischenImperiums begonnen hat, das politische Geschehen zu beeinflussen. Auch hierhat sich ein Doppelsystem der Abhängigkeit bei gleichzeitigerAbsetzbewegung zwischen universalisierbarer Legitimierung und dermilitärischen und ökonomischen Macht eingestellt, dessen Grundmuster bisins Zwanzigste Jahrhundert von Bedeutung gewesen ist. Nunmehr rückt nachder politischen und nach der demokratischen Legitimation das ökonomischeInteresse in die Stelle der Legitimation durch Sachzwang.

Mit der Umgestaltung zum Zentralstaat ist an der Problematik derVerschiebung und Reorganisation der ständischen Privilegien diegrundlegende Uneinheitlichkeit der Vergesellschaftung in Hinblick aufökonomische Grundlagen, Ausbildung und Bildung, Art des Beitrages zumGesamtstaat, aber auch die unvermeidliche Dynamik verschiedener

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Interessenslagen und deren verschiedener Selbstinterpretationen ein erstesMal zusammenhängend als Organisationsproblem deutlich geworden. Abererst mit der gesamtkulturellen, näher rechtsphilosophischen und politischenFähigkeit zum demokratischen Grundkonsens aller relevanten Stände wird diepolitische Philosophie konzeptuell instand gesetzt, zu begreifen, daß es zumVorzug einer demokratisch verfassten Republik gehört, daß die ökonomische,die militärische und die politische Macht nicht in einer Institutionzusammenfällt.

Die Demokratie als Bathos und als das Medium der Veränderung des vomaufgeklärten Absolutismus geplanten Zentralstaates (eine Übergangsform vonMonarchie zur Diktatur) zur bürgerlichen Gesellschaft des NeunzehntenJahrhunderts (Bürgerkaiser und Restauration) hat nach den Totalitarismen alsinstitutionelle Verfassung der Republik die Bedeutung und Funktion einesvon der Ökonomie unabhängigen politischen Steuerungselementes erhalten,welches die politische Anpassungsleistung der bürgerlichen Gesellschaft desZwanzigsten Jahrhunderts an den Krisen der Industrialisierung und desKapitalismus zu bewältigen hatte. Der strukturelle Grund derInternationalisierung der Beziehungen zwischen den Staaten liegt in derBedeutung des Außenhandels für entwickelte Wirtschaften, der historischeGrund war selbst ein pädagogischer, nämlich um den neuerlichenZusammenschluß von elitärem Faschismus und Pöbelfaschismus wie inDeutschland zu verhindern. Außenpolitisch bedeutet das die Distanzierungvon Bodin und die Bestätigung von Grotius.

Die soziologisch betrachtete Gewaltenteilung unterscheidet sich von denunabhängigen politischen Gewalten der politischen Theorie darin, daß erstereals Hochleistungsgesellschaft die von politischen Institutionen unabhängigwerdende Ebene der Akkumulation erst erzeugt. Mag dergleichen Überhangzur Beschleunigung der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklunghinsichtlich der Organsisationsleistung auch als nützlich erkannt werden,inzwischen gefährdet die Zunahme des Ungleichgewichts an ökonomischerMacht nicht nur die Grundlagen des Menschen als Kulturwesen, vielmehrwerden schon die Grundlagen der Organsisiertheit derVergesellschaftungsprozesse des ökonomischen Gesamtsystems durch dieDynamik der Geldmengen des Finanzmarkts erodiert. Es scheint, als wäreaber gerade die Beschleunigung des Auseinanderklaffens von wirklicherökonomischer Elite und den meisten Teilen des Mittelstands auch einer derHauptgründe rascher Wachstumsperioden, auch hier vorwiegend desFinanzmarktes.

Meiner Auffassung nach zerstört der oligarchisch werdende Kapitalismus

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tendenziell den Zusammenhang der Gesellschaft und entrückt dasMachtzentrum, das sich aus der Koordinierung der Interessen in denpolitischen Institutionen ergeben sollte, aus dem politischen Zentrum derRepublik. Damit verliert die Politik sowohl durch die von der ökonomischenMacht eingeschränkte Machtausübung wie durch die öffentlicheWahrnehmung relativer Machtlosigkeit laufend an Vertrauen. DieAußenhandelspolitik nach Adam Smith beschränkt noch die überbordendeSouveränität des politischen Machtzentrums gegenüber dem Bürgertum auchnach innen. Das ökonomische Doppelsystem von internationalemFinanzmarkt und internationalem Handel zwingt aber das produzierende unddienstleistende Unternehmertum mit der Kreditwirtschaft in einenAnpassungsprozess zweier Märkte, ob die Firmen nun Aktiengesellschaftensind, oder nicht. Damit wird mittels der Internationalisierung undGlobalisierung der Wirtschaft die Souveränität des Staates grundsätzlicheingeschränkt, weil die nationalen Verhandlungen des politischenMachtzentrums mit den ökonomischen Machtzentren zusammen nichtgenügend Einfluß auf die Rahmenbedingungen des Wirtschaftsprozessesbesitzen.

Die Besitzer der überwiegenden Geldmenge kommen im politischen Prozessvon Staaten als eigene Institution gar nicht vor, und scheinen so privat imbürgerlichen Rechtsstaat integriert, damit aber auch ihrer eigentlichen Rolleentkleidet und so entpolitisiert zu sein, obwohl sie ihre ökonomische Machtbehalten. Das Private verkehrt sich so zur Illusion, welche die kollektiv undallgemein operationalisierbare ökonomische Macht verschleiert. Mit demgesellschaftlichen Prototyp des Erfolgsmenschen wird das Wesen des Privatenauch kollektive auf die Fähigkeit, freier Wirtschafter zu sein, reduziert. DasPrivate entzieht sich jedoch der Öffentlichkeit. Auf diese Weise bleibt dieökonomische Macht im Grunde politisch anonym. Die relative öffentlicheAnonymität der politisch relevanten ökonomischen Macht und die relativeDurchsetzungsfähigkeit in eigenen Wirtschaftsorganisationen und inpolitischen Verhandlungen (Kammern oder Lobbying) beschreibt dieAnonymität der oligarchischen Machtausübung in einem Rechtsstaathinreichend als politische Unzurechnungsfähigkeit.

Der oligarchische Aspekt einer entwickelten Wirtschaft ist mit der Ausbildungeines demokratisch legitimierten Rechtsstaates insofern als historischeBedingung desselben darstellbar, weil die emanzipatorischen undpartizipatorischen Tendenzen erst nach der institutionellen Trennung vonpolitischer Macht und ökonomischer Macht nachhaltig an Einfluß gewinnenkönnen, gerät aber in eine Dynamik, welche den Einfluß des Staates von der

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Frage der Verrechtlichung ausgehend in wirtschaftspolitischen Fragen undunter Prioritätensetzung der politischen Aufgabenstellungen auf die Rolle desNotars zurückzudrängen versucht. So tritt an Stelle der institutionellenVereinheitlichung der ökonomischen und der politischen Macht dieEntwicklung einer gemeinsamer Terminologie in Deskription und Zielsetzungeinerseits und bezüglich des Menschenbildes des erfogreichen Managersandererseits. Letzteres wird zunehmend von individuellenKarrierevorstellungen geprägt, die die jeweiligen internen und externenZielsetzungen der jeweiligen Organisation zu überdecken beginnen. DieseTendenzen sind sowohl als eines der relevanten Problemkreise zu beobachten,wie auch vor dem Hintergrund der Verzweigungen der ideologischenVarianten des bürgerlichen Liberalismus selbst auch historisch kritisierbar.Wir akzeptieren allem Anschein nach rational oder implizite durchGewöhnung die gesellschaftsentwickelnden Input der ökonomischenOligarchie, deren kognitiv und affektiven Akzeptanz ursprünglichdurchschnittlich aus der Allianz gegen die Macht des Zentralstaatesentsprungen ist. Kann aber ein internationaler politischer Apparat überhauptdemokratisch legitimiert werden, welcher die Schwäche des Staates gegenüberder Internationalisierung der Wirtschaft ausgleichen können soll?

g) Tendenzen und Artefakte der Methoden

Die Artefakte der statistischen und kollektiven Betrachtungsart der Soziologieund Ökonomie können hingegen unabhängig von den offenen Fragen zu denrelevanten politischen Institutionen als wissenschaftlicher Nachweis für dieUnabwendbarkeit der Oligarchisierung der Organisation der politischenMacht durch die Naturalisierung der Gesellschaft mißverstanden werden.Insofern unterstützt der einseitige Begriff des wissenschaftlichen Denkens, deranhand des Nominalismus und aus den mathematischen Naturwissenschaftenentstanden ist, kollektive mittelbar die biopolitische Philosophie, die auf derEbene der Bedeutungen und der epistemischen Funktion derenAnlagerungswahrscheinlichkeiten den sachlich verschieden motiviertenNaturalisierungen der analytischen Philosophie, der Verhaltensbiologie, derVerhaltensgenetik und der Neurologie eine fatale bildungssoziologischverfolgbare Synergie geboten haben, über den Mittelbegriff derNaturalisierung die Tendenz der modernen Massengesellschaft zumFaschismus als kollektive Wahrheit anzusehen. Quines Identifizierung derSemantik einer Sprache mit Wissen begünstigt den bis zur Indifferenzgehenden Liberalismus gegenüber dem principium contradictionis. M. a. W.,pragmatisch rationale Handlungen des alltäglichen Besorgens sind logisch von

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wissenschaftlichen Theorien, welche die allgemeinen Prinzipien der technisch-praktischen Handlungen ausfindig machen, weder von der Zwecksetzungnoch vom logischen und wissenschaftstheoretischen Anspruchunterscheidbar. Schon die Identsetzung der Zwecksetzung vonAlltagspragmatik und wissenschaftlicher Theorie, wie sie Davidsonausdrücklich macht, ist nur in Hinblick des Rationalitätstypus unsereszweckgerichteten Handelns diskutierbar, aber die Indifferenz hinsichtlichlogischer Kriterien des Konzepts und Kriterien der Distribution ist zudeflationär.

Diese tendenzielle Defizienz jeder Sprachphilosophie, wird sie zur einzigenGrundlage in der Wahrheitsfrage genommen, hat auch die modernepostanalytische Philosophie an sich, und gesellt sich in verschärfter Form zumklassischen Problem der Natur- und Willensphilosophie des Siebzehnten undAchzehnten Jahrhunderts: Die Gesetzmäßigkeit der kontingenten Natur unddie Kausalität. Die Idee der Mathesis in der ersten Frage nachGesetzmäßigkeit, Determination und Wahrscheinlichkeit identifiziertmathematische Formen und Regeln in der Natur und mathematischen Formenund Regeln im Denken des Menschen in einem uneinsehbaren Moment desDenkens. Diese Identifizierung ist der Beginn der Verdrängung der Affinitätzwischen dem Subjekt und dem Objekt (Descartes in der objektiv gesetztenformalontologischen Terminologie des Christian Wolff) und der subjektivenDistanzbildung in der kritischen Skeptik gegenüber Wahrnehmen, Erfahrenund Denken. Grundsätzlich: Die implizite Metaphysik der Idee der Mathesiskonnte mit der modallogisch rechtfertigbaren Voraussetzung von der damitnotwendigerweise verbundenen unbestreitbaren Möglichkeit geregelterErfahrung bereits von Kant kritisiert werden. Kant versteht das zuerst alsKritik an der unhinterfragbaren Setzung der unausgedehnten Intelligibilitätdes fragenden Subjektes (res cogitans bei Descartes) und dann als Kritik an derbloßen Setzung der Affinität von Subjekt und Objekt, wie Christian Wolff denDualismus des Descartes von res cogitans und res extensa formalontologischformuliert hat. Der transzendentale Idealismus Kants setzt die Affinitätebenfalls voraus, doch wird die Affinität transzendental exponiert und nichtanalytisch vorausgesetzt.

Da in der Frage, was denn eine Theorie charakterisiert, die Erörterung derEinbildungskraft zu Gunsten der Diskussion axiomatischer Satzsystemeverdrängt worden ist, entfällt auch die sprachliche Möglichkeit der kritischenErörterung dieser epistemisch relevanten Verdrängung der Differenz despassiven Erfahrung-Machens und des mit Konzepten Erfahrung-Anstellensaus dem philosophischen Grund des mathematisch-naturwissenschaftlichen

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Rationalitätstypus. Der oftmals behauptete Ausschluß der Differenz vonEntdeckungszusammenhang und Begründungszusammenhang reduziert dieKenntnisse über Heuristik auf Fragen der Entwicklung technisch-praktischerStandart-Anwendungen. Schließlich: Die spezifische Struktur des Wissens istnicht mit der logischen Behandlung von Satzsystemen allein beschreibbar.Weder die Bedeutung der Zeitbedingungen des Erfahrungsmachens in derverfließenden Zeit noch in der historischen Erfahrung bei der Anwendung vonTheorien werden von wichtigen zeitgenössischen philosophischenStrömungen behandelt. Die diffuse Verdrängung des allgemeinen Horizontsdes Erfahrungmachens geht in die philosophischen Grundlagen desRationalitätstypus der mathematischen Naturwissenschaften mit ein und wirddurch die radikalen Fassungen des »linguistic turns« noch verstärkt. Da nundie Gesellschaftswissenschaften im Zuge der Wissenschaftsentwicklung in denSog der naturwissenschaftlichen Methodenfragen geraten sind, überträgt sichder Horizont der Methoden samt seinen Beschränkungen auf politologischeund soziologische Fragestellungen, was die schon erörterten Folgen nach sichzieht.

Hingegen wird die Affinität zwischen Sprecher und Empfänger unabhängigvom Problem der Perlukation als gewiss gesetzt, und, obwohl ausKommunikation nicht zwingend die Gelungenheit der Vermittlung folgt, diesestatistisch oder durchschnittlich angenommen. In den CartesianischenMedidationen von Edmund Husserl wird das transzendentale Subjekt auf eineIntermonadologie der (rationalen) Kommunikation erweitert, insofern dieEröffnung einer Modifikation des metaphysisch normativen Gattungswesensin die Richtung des Benutzers einer »Logik der Situation« (später Popper) oder»physikalisch-öffentliche Sprache« (mittlerer Wittgenstein). Das führt zurÜberlegung der Möglichkeit der Ausstauschbarkeit der grundllegendenRelationalität im sozialen und kommunikativen Verhalten. Von da aus bewegtsich die Reflexion der Kollektivität der Kommunikation innerhalb gewisserungesättigter patterns (Rhemas), die gleichgültig ob axiomatisch oderkollektive, das Individuelle oder die Konstellation des Einzelfalls (Ereignisund Horizont) wieder verlassen, um bestimmte Prädikate oderVerhaltensformen als Reihe durchbestimmbarer Einzelfälle, die einer Regelunterworfen werden können, an die Stelle des Individuellen mit Beharrlichkeitund Gedächtnis zu setzen.

Die abstrakte Perspektive einer umgestülpten »Soziologie« des Wissens alspraktische Einubung in zueinander historisch gewordene Parallelen der sichverzweigenden Abfolgemöglichkeiten von Gemeinbilder der Methexis(Adorno) oder des externen Gedächtnisses (Kandl) innerhalb einer Sprache

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der jeweils Verständigen bleibt bei verschiedenen horizontal (themenzentriertbzw. inhaltlich) zu bedenkenden Fassungen stehen. Die logozentrische, nachdem Vorbild der mathematischen Naturwissenschaften und dermathematischen Logik entwickelte Auffassung von Theorie entkommtkonzeptuell allerdings nicht den Alternativen der Bestimmung vonGrenzwerte zur Aussteuerung eines erträglichen status quo und einerGroßtheorie zur eindeutigen Bestimmung der Dimensionen dieser Grenzwerteund der quantitativen Festlegung der Grenzwerte selbst. Allein in diesemAusschnitt wird schon deutlich, daß die Interpretation der Idee derallgemeinen Zweckrationalität immanent nicht eine einfache Frage nach derbesseren Theorie sein kann, sondern bereits extern aus der sachlichensoziologischen Perspektive das Ungleichartige zusammenzusetzen hat.

Allerdings bedarf die Verwaltung von wirtschaftlichen wie von politischenInstitutionen auch allgemeiner Regeln, die man sich von der Anwendungwissenschaftlicher Rationalität erwartet. In beiden Horizonten, dem dersachlichen Abwägung und dem der politischen Abwägung ist esentscheidend, inwieweit verhindert werden kann, die doppelte Kontingenzdes Politischen zu verfehlen, die darin liegt, daß es sich letztendes erstensimmer um das einzelne Individuum handelt, das eben eineindividualpsychologische und eine kulturpsychologische, schließlich einekultursoziologisch beschreibbare Dimension über die Reihen von produziertenHandlungsfolgen hinausgehend besitzt, und daß zweitens sowohl dasIndividuum wie seine kollektiven Institutionen eine historische Ausdehnungbesitzen. Die historische Ausdehnung zieht nicht nur eine Bindung nach sich,wie Max Weber die Wertbeziehung in die Soziologie einführt, sondern kannauch eine Verschiebung oder Beendigung einer Wertbeziehung nach sichziehen, ohne daß eine explizite Wertanalyse stattfinden hätte müssen.Trotz der Kollektivität des semantischen Raumes und seiner Gegenden kanneine individuelle Entscheidung als Ursache der Verschiebung oder Selektionzugrunde liegen. Aus der Kontingenz des Historischen sind immer zweiFolgen zu ziehen: Die Struktur bestimmt die Wahrscheinlichkeit derVerbindung, und die Spontaneität der Herstellung der Verbindung bleibt,wenn sie als solche allein durch die Verbindung als bloße Gelegenheit gedachtwerden soll, ein unterbestimmter Einzelfall. Politik und Wissenschaft habenaber zumindest eines gemeinsam: Sie geschehen nicht ohne individuelleSpontaneität, welche Gelegenheiten für bereits gefasste Absichten sucht.