B02_Leseprobe
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02
Für jedes Ding gibt es ein Maß. Also auch Grenzen,
innerhalb welcher es festgestellt werden kann –
durch die Feinheit der Wahrnehmung.
Man kann, man muss manches Ding dafür ver-
stärken, lauter werden lassen, größer. In einem
Elektronenmikroskop beispielsweise, oder durch
ein Mikrofon.
Nikola Tesla hat ein Maß gefunden für die Fluss-
dichte eines elektromagnetischen Impulses, der nötig
ist, um die Dinge voneinander unterscheidbar
schwingen zu lassen, auf diese Weise Bilder von ihnen
zu machen und sehen zu können, was normaler-
weise vor unserem Blick verborgen bliebe. Aber
was ist schon normal. Wahrnehmung?
Jeder Mensch empfindet eine Grenze, bis zu der er
Dinge erträglich findet. Erträglich im Sinne von
ertragen können, nicht zu verwechseln mit einträg-
lich, also Ertrag einbringend. Obwohl wir wirken
können, als könnten wir beides nur sehr willkürlich
in unserem Wesen und durch unser Wesen unter-
scheiden: wir können Dinge ertragen, die in Maßen
anrühren, stinken, laut sind, enervierend, scharf,
salzig oder süß schmecken.
Die Fähigkeit Dummheit ertragen zu können
ist bei vielen ausgeprägter als diejenige, Schmerz
gut aushalten, dulden oder ignorieren zu können,
präziser: Schmerz, der sich körperlich äußert, beein-
flusst unser Wesen nachhaltiger und direkter im Aus-
druck und Gefühl unseres Wesens als jeder andere
Sinneseindruck.
Wie um dies zu beweisen, brach sich Karmelin Knirp
den linken Fuß im Gelenk, als er vorgab, dass alles
nicht so schlimm werden würde, wie befürchtet. Er
tat so wider besseres Wissen, und eben das sollte
ihm nichts nützen, denn meistens kommt es dann
noch schlimmer.
Wir wollen auch nicht vordergründig die These
damit stützen, dass wir argumentieren, eben spür-
bar war es für ihn nun, da die Umwelt ihm Hürden
und Stolpersteine entgegen hielt und warf, dass
Dinge, die er sonst in aller Souveränität überwand,
bezwang und benutzte, sich nun als sperrige, ver-
schlossene Güter zeigten, die sich nur unter großem
Aufwand und dem Gebot aller gegebenen Geschick-
lichkeit dienstbar gaben. Es wäre also zu einfach,
zu behaupten, eben dadurch, dass ihm seine Woh-
nung zum Hindernisparcours wurde, der nicht be-
hindertengerecht eingerichtet war, sei Karmelin
Knirp sich seiner Behinderung bewusst und darauf
zurückgeworfen worden, wurde dadurch seiner
Körperlichkeit in einem Maße gewahr, das er für
unerträglich hielt.
Vielmehr möchten wir hinterlistiger darauf hin-
deuten, wie mit einem gut gesalzenen Finger auf
seine Wunde weisend, dass er vielmehr seine
Dummheit spürte, die sich Raum schaffte, indem
sie den Raum seiner Wahrnehmung auf den
Schmerz verengte; die Dummheit fand ihren Aus-
Autor | Andreas Kamp | Illustration | Ute Kleim
365/eins Dynamische Systeme erzeugen fraktaleGebilde, sogenannte Seltsame Attraktoren[ ]
6 | ERSTENS: 365/eins | Erzählung
druck im nicht Ursächlichen (schließlich dachte er
nicht mit den Füßen), sie nahm sich ihren Aus-
gleich im Maß des Schmerzes, für ihn spürbar als
Veränderung der Bedeutung des Fußes (f) zum Rest
seines Körpers und dessen Funktionen (k).
xD = (∆f/k)/(f/k)
Das hieße in diesem Fall: So sehr mehr (∆) als
sonst er gerade nur Fuß (f) war, so groß (x) müsste
seine Dummheit (D) sein, sie würde schwingen in
der Unfähigkeit, etwas anderes zu sein. Mit seinen
Gehilfen bzw. Gehhilfen würde er die Frequenz
feststellen können – sie gaben die Taktung an, an-
hand der x zu bestimmen war, unregelmäßig wie
alles Leben, das Heben und Senken des Meeres, wie
Flammen an Holz, wie Wolkenformation. Wenn die
Größe der Dummheit aber nicht festgeschrieben,
sondern fortschreitend nur immer sich selbst ähn-
lich wäre, würde sie kleiner werden, je ungefährer
man sie betrachtete. Denn je genauer man das Ob-
jekt betrachtete, desto mehr würde man die vielen
verkleinerten Kopien seiner selbst wahrnehmen
können, die Oberfläche würde sich bis ins Unend-
liche ausdehnen – nur durch Beobachtung. Es war
wie mit der Ludolph’schen Zahl π: Es käme darauf
an, ob sich nicht doch ein erkennbares Muster er-
gäbe, je länger man sie betrachtete. Entweder war
jede Entscheidung zufällig und die Konsequenz
chaotisch, oder man war entschieden zu dumm.
Besser war, man sah nicht zu genau hin.
Das war des Knirps Trost; wie die Aussicht, dass
Heilung für seinen Fuß möglich war, der Schmerz
also vorübergehen würde, denn gerade im Moment
fühlte er sich unerträglich dumm, etwa so dumm
wie eine juckende Stelle unter einem Gipsverband
um ein geschwollenes Gelenk. So dumm wie die
schlaue Zeichnung des Homunkulus auf diejenigen
wirkt, die über dessen große Extremitäten lachen,
die darstellen sollen, wie viel Hirnaktivität und
Nerven in unseren Händen stecken. Sie hatten gut
lachen und Karmelin Knirp schmunzelte wenig-
stens darüber, dass es mit der Dummheit so schlimm
nicht sein konnte, er hatte wenigstens nur einen
Fuß in Gips und noch alle Finger.
Mit Mühe machte er sich vor anderen schon wieder
über sich selbst lustig, wenn er etwa seine Wohnung
als Behindertenparcours schilderte.
Wie zum Beweis, wie gesagt, las Karmelin Knirp
an dem Tage, an dem sein Fuß zwecks Schadens-
analyse in einen Elektromagneten gehalten wurde
(wobei die Knochen und Bänder zum Schwingen
gebracht werden, damit man ihre Resonanz auf-
zeichnen konnte), ein Buch, das ein Gelehrter über die
Dummheit verfasst hatte beziehungsweise genauer:
Karmelin Knirp trug dieses Buch nur bis zum Ort
der Untersuchung mit sich und wieder zurück, um
dann keine Zeit zu haben, darin zu lesen, denn
schließlich sollte er untersucht werden und dafür
musste er gehen, stehen, liegen, sitzen und so weiter
und so fort, wobei ihm die junge Ärztin sagte, wie
und wohin, an ihm ruckte, unter ihn schob und ihn
verzurrte. Für das Buch hatte er gerade so viel Ver-
wendung, es auszupacken, wobei ihm die Krück-
stöcke hinfielen, sodass die Ärztin sie aufheben
musste und ihn praktisch unterwies, wie man diese
stellen könne, ohne dass sie fielen, worauf er sagte,
das (also fallen) täten sie ja bei ihm zu Hause auch
immer, wobei ihr Blick auf sein Buch fiel. Sie mochte
in dem Moment x am genauesten erfasst haben, als
es in ihrer Toleranzbereichsanzeige für auffallend
unerträglich dumme Patienten, die sie direkt hinter
ihren hellen Augen trug, für ihn einen Ausschlag
gab.
Später, während des fortschreitenden Heilungs-
prozesses kam ihm der Gedanke, dass es vielleicht
nur für das Lachen kein rechtes Maß gebe, das als
Ausgleich diente, um der Dummheit zwar nicht
Herr zu werden, sie aber wenigstens erträglich sein
zu lassen – somit sogar einträglich.
Ameisen fliegen durch die Luft
Regen in der kleinen Stadt.
So wie immer. Regen.
Ameisen marschieren
Ohne Ordnung
Ihrem Ziel
Durch die kleine Stadt der Straßen
Ihrem eignen Ziel
Entgegen.
Ihre Träume konzentrieren, kondensieren
In den Regenwolken.
Pusteblumen,
Die vom Wind davongetragen
Werden, immer waren.
Und das Flugzeug landet.
London, Heathrow Punkt
Ich weiß noch in der kalten Nacht
Als unsre Wege sich vereinten.
Trüber Schimmer in den aufgerissnen Straßen
Vereinzelte Gestalten,
Doch wir wanderten zu zweit.
In den Worten, die wir sprachen
In dem Schweigen, das uns band
Meine Hand, die du gefunden,
Ohne irgendwer zu sein.
8 | Ich weiß noch … | Ameisen | Gedichte | Autorin | Anna Hetzer | Illustration | Tanja Kischel
Sie wird fragen, wie meine Reise gewesen ist und
ich werde denken, dass jede Reise zu ihr angenehm
sein muss. „Es war ein bisschen zu warm im Bus“,
werde ich sagen und fühlen, dass es auch in der
Stadt zu warm ist. Möglicherweise zerfließen meine
Erinnerungen. Sie sind alt und empfindlich. Foto-
filme soll man auch im Kühlschrank lagern.
Dieser Gegensatz von Winter und Sommer. Ob sie
sich wohl verändert hat? Es ist anzunehmen. Wie
viel Schnee sie mit ihren graugrünen Augen zum
Schmelzen gebracht hat, ist nirgendwo festgehalten.
Auch nicht für wen sie noch die Muse gespielt hat.
Wobei das ein falscher Ausdruck ist. Spielen ist
nicht sein.
Ich komme zu ihr. Schaue ihr beim Leben zu. Min-
destens weitere sieben Jahre wird es dauern, bis ich
in ihrem Leben bin. Noch bin ich der Besucher, der
sich bei ihr von Besuchern erholt. Sie soll Leben
inszenieren. Für mich. Damit bürde ich der kleinen
Person eine große Last auf. Aggressiv und egois-
tisch hänge ich ihr den Rucksack auf die Schultern,
streiche vorher ihr von der Sonne gebleichtes Haar
zur Seite.
Durch ein Fenster getrennt. Oder schätze ich die
Entfernung falsch ein; näher oder weiter. An dem
Punkt, hinter dem man nicht mehr das Aufeinan-
derprallen der Augenlider hören kann, ergibt es
keinen Sinn, Entfernungen genau bestimmen zu
wollen. Es kann niemand genau sagen, ob es dieses
Fenster wirklich gibt. Wir haben unsere Erfah-
rungen mit Missverständnissen. Wenn sie mir die
Der Schnee, der für immer mit dir verbunden sein wird.
Autor | Sebastian Himstedt
Frage nach der Existenz der Scheibe beantworten
würde, wäre ich verwirrt. Sie könnte mich küssen,
als Zeichen für unsere große Distanz. Nähe ist im-
mer ein Indiz für ausgeprägte Disharmonie. Für
eine Störung des Gleichgewichts. Man geht nur
aufeinander zu, wenn man mit seinem Körper etwas
hinter sich verstecken möchte.
Ich könnte zu ihr herüber gehen, um die Schritte
zu zählen. Dann hätte ich eine greifbare Entfer-
nungsangabe. Sind es fünf oder mehr als hundert
Schritte, möglicherweise entflieht die Zahl ins Unend-
liche. Schon bei einem geringen Ergebnis könnte
ich wahrscheinlich nur mathematische Angaben
machen.
Woran erinnerst du dich, wenn ich dich nach dem
Schnee frage?
Geistige Verbundenheit. Ein besserer Gradmesser,
du bist so still.
Es fällt etwas vom Himmel. Es ist kein Schnee,
der würde den Raum nur noch weiter verdunkeln.
Draußen läuft Regen in die Rinne, um irgendwo in
ein Fass oder einen Fluss abzufließen. Nicht nur du,
kleine Eva, wurdest schon lange aus dem Paradies
vertrieben, wovon auch nur ich glaube, dass es im
Himmel gewesen sein muss. Und jetzt, wo ist es
jetzt?
Wir haben einen Schmetterling eingesperrt, als
wir die Türen des Glashauses geschlossen haben.
Auch er fragt sich, was hinter dem Fenster ist und
beobachtet uns.
Man könnte sagen: Ich fühle mich in der Nähe
wohl. Nur weiß ich nicht, ob ich in deiner Nähe bin.
Es ist schwierig, den Quell meines Hochgefühls zu
bestimmen. Du liegst zwischen den Malereien dei-
nes Vaters. Ein kräftiges Blau leuchtet halbdunkel
zwischen den Rahmen und gibt dir eine Form. Es
verleiht dir eine Aura. Wäre ich näher dran, könnte
ich nur eine Farbe sehen, in der du zu verschwimmen
drohst.
Ich mache mir nichts aus Schönheiten. Es stellen
sich andere Dinge in den Vordergrund, wenn man
sich drei Jahre lang nicht sieht. Jetzt habe ich Fo-
tos von dir. Es wird alles anders werden. Ich werde
sie entwickeln lassen und nach Hause tragen, um
dich zu beschreiben. Ich könnte jetzt schon damit
anfangen, für den aktuellen Zusammenhang, der
Vollständigkeit halber; noch sind meine Eindrücke
frisch und unberührt wie eben gefallener Schnee.
Aber nein – Ich möchte nicht damit beginnen. Wir
wollen bei der Schrift bleiben.
Und dann? Die Zeit wird voranschreiten und die
Jahre werden wechseln. Ohne unser Zutun oder ge-
meinsame Teilnahme an irgendwelchen Festen. Es
werden Briefe kommen. Werden beantwortet wer-
den. Vielleicht nur mit ein paar Zeilen zur gegen-
seitigen Beruhigung des gemeinsamen Gewissens.
Aber ab jetzt werde ich dich beim Schreiben vor mir
sehen. An deinem Schreibtisch, den Blick nach
draußen gerichtet, in den Garten, auf die Kastanien-
bäume, die ihre Blätter verlieren werden, bevor sich
der erste Schnee auf sie niedersetzen kann.
Erzählung | Der Schnee, der für immer mit dir verbunden sein wird. | 11