B06_Leseprobe

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Jan Wagner ist Schriftsteller und Übersetzer. Zuletzt

von Jan Wagner erschienen: „Achtzehn Pasteten“.

Gedichte, Berlin-Verlag, Berlin 2007, „Guerickes

Sperling“. Gedichte, Berlin-Verlag, Berlin 2004, Björn

Kuhligk, Jan Wagner (Hg.) Lyrik von Jetzt. 74 Stimmen,

Gedichte, DuMont Literatur und Kunstverlag, Köln 2003.

Die Anthologie „Lyrik von Jetzt zwei“, herausgegeben

von Björn Kuhligk und Jan Wagner, wird im September

2008 im Berlin Verlag erscheinen.

KolumneLiteratur | Jan Wagner

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die erste machte ihm ein maat,als er auf einer matteaus bast lag, stunden vorm beschussder spanischen armada,

im trüben bauch der galeone,der schon vor hunger knurrte,während die nadel punkt um punktsich in die schulter bohrte,

dem pulverdampf, dem tod zum trotz,den träumen vom ertrinken,um selbst aus einem sarg aus salznoch in ein grab zu finden.

beim landgang in der heimat zoger durch die docks von london,bedeckte erst den oberarmund später beide lenden.

den rücken dekorierte erbeim fall von jayakartaund schmuggelte sich aus der stadtals seine eigene karte,

marschierte in den kolonienmit hohem zuckerrohr,bis sich der tag verlor, verzierteden nacken bis zum ohr.

in burma wurde ihm die wachtzu lang, wenn nachts der regen-wald aufging wie ein pfauenradmit tausenden von augen,

tätowierungen

und nach der seeschlacht von suratstach er sich überm herzenden namen, der noch leuchten wird,wenn sich die dinge schwärzen.

in einer hütte auf der fluchtverbarg ein wahrer maîtrefür bares silber sein gesicht.war es auf sumatra

oder barbados, in virginiazwischen den tabakfarmen?waren es hände, füße, bauchund becken, unterarme?

man sah ihn zuletzt vor port royalüber die reling klettern –das schiff in flammen hinter ihm,der kapitän in ketten

und knatternd überm fockmasttopdie knochen der piraten –,mit einem satz ins meer hinabdie nackte haut zu retten.

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Als Nadja am Morgen aufstand, war ihr Polster nicht mehr da. Nadja war mitten in der Nacht aufgewacht und hatte ihn aus lauter Wut aus dem Bett gegen die Wand geschleudert. Und als um sieben Uhr morgens Nadjas Reisewecker läutete, war der Polster nicht mehr da. Nicht im Bett, nicht auf dem Boden. Zuerst machte sie sich keine großen Gedanken darüber. Vielleicht hatte sie ihn, ohne es zu merken, aus dem Fenster und nicht gegen die Wand geworfen. Immerhin hatte sie schlecht geschlafen, in dem fremden Bett. An der Rezeption, an der die faltige Frau mit der Schürze saß, die jeden Tag kleine Schokoladentaler auf das gemachte Bett legte, erklärte Nadja, dass sie den Polster verloren hätte. Die Alte nickte und fragte, woher sie wisse, dass es nicht umgekehrt sei. Dabei wischte sie unablässig mit der Spitze ihres Zeigefingers über ihren Daumen, als ob sie Worte aus der Luft pflückte und mit unsichtbarer Tinte auf den Daumen schriebe. Wortlos verließ Nadja die Pension und ging zur Arbeit. Natürlich war es nicht umgekehrt, dachte sie. Was sollte das überhaupt bedeuten? Nadja wusste, was es hieß, etwas zu verlieren. Manchmal, dachte sie, war es das einzige, was sie wirklich wusste.

Nadjas älteste Erinnerung war ein ungewöhnlich heißer Sommertag, als sie vier Jahre alt war. Ihre Eltern hatten mit ihr einen Ausflug in ein Freibad gemacht und Nadja hatte dabei ihr Lieblingsstofftier, eine braune Maus mit einem roten, langen Schwanz verloren. Selbst wenn sie heute daran zurückdachte, fühlte sie sich hilflos und ihr Bauch verkrampfte sich wie damals. Ihre Eltern standen schon in der Schlange zum Ausgang und hatten ihre eigenen Probleme, die weit gravierender waren als eine verlorene Maus. Sie stritten nicht, sie schwiegen nur und sahen sich dabei nicht an. Dann begann Nadja zu weinen.

An einem der darauffolgenden Tage verließ Nadjas Vater seine Frau und seine Tochter, um mit einer anderen Frau eine neue Familie zu gründen. An diesen Tag konnte sich Nadja nicht erinnern. Ob er sich verabschiedet hatte, ob er im Streit oder leise gegangen war, wusste sie nicht mehr. Sie wusste auch nicht mehr, ob sie wütend war oder traurig und wenn sie heute daran zurückdachte, war das Gefühl dabei nie so intensiv, wie bei dem Gedanken an die verlorene Maus.Nadjas Mutter wusste schon lange vorher, dass es so kommen würde. Manchmal sehnte sie es fast herbei, malte sich aus, wie es sein könnte ohne ihn. Doch als er dann endlich ging, war nichts so, wie sie gedacht hatte. Ihre Tränen begannen lautlos ins Innere ihres Körpers abzufließen. Sie bildeten schließlich einen Klumpen in ihrer Brust, der wucherte und Nadja das langsame Verlieren lehrte.

Als Nadja am Abend in die Pension zurückkehrte, lag ein neuer Polster auf ihrem Bett. Er sah fast gleich aus wie der der ersten Nacht. Sogar der Schokotaler lag genau an der gleichen Stelle, ein Stück zu weit links oben, nicht ganz in der Mitte.

LoSt & FounDLiteratur | Elisabeth Schmied | Illustration | Johannes Reinhart

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Als sie am nächsten Tag erwachte, war auch dieser Polster verschwunden.In der folgenden Nacht blieb Nadja wach. Bis drei Uhr morgens war noch immer nichts verschwunden, da packte Nadja ihren Polster und schleuderte ihn gegen die Wand. Er fiel hinunter und rollte über den abschüssigen Boden, direkt unter das Bett. Nadja beugte sich über die Bettkante, doch sie konnte ihren Polster nirgends entdecken. Sie griff sich die Sandalen, die sie vor dem Nachtkästchen ausgezogen hatte, und warf sie auch unter das Bett. Sie beschrieben einen flachen Bogen in der Luft und landeten danach nicht auf dem Boden, sondern schienen ungebremst durch ihn hindurch zu segeln.

Nadja sprang auf und schob das Bett zur Seite, um das Loch zu begutachten, über dem sie offensichtlich geschlafen hatte. Doch es war kein Loch zu sehen, nur ein kleine Mulde, nicht tiefer als eine Hand breit, mit solidem Grund. Nadja nahm ihren Reisewecker vom Nachtkästchen und stellte sich vor die Stelle, wo das Bett gestanden hatte. Ehrfürchtig stand Nadja da und warf den Wecker hinab.

Ins Grab ihrer Mutter hatte sie auch keine Blumen geworfen. Sie ertrug es nicht, dabei zuzusehen, wie der Sarg in das Erdloch hinabgelassen wurde. Sie ertrug auch den Anblick der anderen Trauernden nicht, die sie kaum kannte und die ihr Schluchzen und Heulen von Nadja bezeugt und anerkannt haben wollten. Deshalb heftete sie ihre Augen auf einen der Totengräber, durch dessen behandschuhte Hände langsam und bedacht das Seil glitt, auf dem der Sarg balancierte. Sie betrachtete seine gleichmäßigen, entspannten Bewegungen, seinen ausdruckslosen Blick auf das Seil, seinen sicheren Halt am weißen Kieselboden. Dann entdeckte Nadja den angebissenen Schokoriegel, der nur mit der Spitze aus seiner Hosentasche ragte. Nadjas Empörung wich bald einer absurden Faszination. Sie stellte sich vor, wie der Totengräber gerade vor ein paar Minuten von dem Riegel gegessen hatte, und dann von der Beerdigung unterbrochen wurde. Wahrscheinlich war sein Mund noch voller Nüsse und die Schokolade schmolz noch auf seiner Zunge. Sie stellte sich vor, wie er, nachdem er den Sarg in die Erde gelassen hatte, weiter essen würde, und sie konnte den süßen Geschmack auf ihrem eigenen Gaumen schmecken. Die letzten Trauernden hatten ihre Blumen noch nicht in das Loch in der Erde geworfen, da stahl sich Nadja fort, hinter die Friedhofsmauer, wo der Schuppen mit den Gießkannen und den Hacken war. Weinend war sie dem Totengräber gefolgt, ging wortlos auf ihn zu und küsste ihn. Sie schmeckte die Schokolade in seinem Mund.

Seither hatte sie nie wieder geweint und nie wieder Schokolade gegessen. Und sie hatte beschlossen, die Dinge nicht mehr zu lieben, weil man sie ohnehin nur verlor. Und immer, wenn sie Gefahr lief, sich zu sehr an etwas oder jemanden zu binden, kroch ihr der süße Geschmack von Schokolade über den Gaumen. Sie schmeckte den süßen Tod, den hässlichen Totengräber und die unsinnige Trauer, die die Liebe mit sich brachte.Ausgerechnet sie musste sich in einen Zuckerbäcker verlieben.

Nadjas Beziehungen hatten bis dahin die Dauer von zwei Monaten kaum überschritten. Selbst Freund-schaften brach sie nach dieser Zeit meist ab. Sie verhielt sich wie jemand, der alle Vorsichtsmaßnahmen ergreift, um sich nicht mit einer Krankheit anzustecken. Hätte sie sich impfen lassen können, hätte sie es getan. Doch so ließ sich Nadja bloß gegen die Sommergrippe impfen, worauf sie ein hartnäckiger Schnupfen befiel. Ansonsten hätte sie der Duft von Marzipan und Schokolade, der von Marco ausging, sofort angeekelt und abgestoßen. Sie spazierte durch einen Park, als Marco auf sie zu stürmte und sie nach einer blauen Holzente fragte. Auf dem Arm trug er seine Nichte, die sich die verweinten Augen rieb. Da war es um Nadja geschehen.

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Nach drei Monaten zog sie bei Marco ein. Nachdem sie nun einen ihrer Vorsätze ganz klar gebrochen hatte, beschloss sie zumindest an dem zweiten festzuhalten und aß kein Stückchen Schokolade. Marco tunkte Rosen und Erdbeeren in Schokolade, buk Kuchen mit Kakaocreme und kochte Puddings mit Schokopistazien-geschmack. Aber Nadja wollte nicht einmal daran riechen. Sie wusste, er würde ihr das Herz brechen, und sie wollte nicht auch noch daran erinnert werden. Sie versuchte ihm das zu erklären, aber Marco schien es nicht zu verstehen. Schließlich konnte er damit leben, dass Nadja Schokolade einfach nicht mochte und er brachte ihr fortan Zuckerstangen, türkischen Honig und Karamellkonfekt mit nach Hause.

„Wenn du mich verlässt, werde ich das vermissen,“ sagte sie eines Abends ganz nebenbei, während sie den Kopf von einer Zuckerfigur biss, die Marco für sie gemacht hatte.

Die Tür des Zimmers, das einen Stock tiefer lag, war nicht verschlossen. Nadja schlich sich hinein. Dann drehte sie das Licht auf und blickte auf das leere Bett, das direkt unter dem ihren stand. Nichts von den Dingen, die durch den Boden gesunken waren, war hier gelandet. Als Nadja sich vor das Bett kniete und ein Taschentuch darunter warf, stand plötzlich die Alte von der Rezeption in der Türe. Nadja drehte sich zu ihr um.

„Meine Sachen sind nach unten gefallen“ versuchte Nadja sich zu erklären, während sie das Taschentuch wieder unter dem Bett hervor fischte.

„Die findest du hier nicht“ sagte die Alte und winkte Nadja mitzukommen. Wortlos ging sie die Treppe hoch. Nadja folgte ihr hinterher.Als sie bei dem Zimmer, das ein Stockwerk über Nadjas lag, angekommen waren, sperrte die Alte die Türe auf.Nadja blickte in den Raum. Er war angefüllt mit verlorenen Sachen. Wie auf einem Ramschmarkt türmten sich die Gegenstände auf den Nachtkästchen, dem Bett und den Fensterbrettern. Nicht nur die Polster und die Dinge, die Nadja unter ihr Bett geworfen hatte, waren da, auch Kinderspielzeug, Schmuck, Süßigkeiten, Handtücher, Schuhe, Jacken, Bücher, Zahnspangen. Nadja versuchte, der Alten zu erklären, was sie gesehen und herausgefunden hatte: die Stelle unter dem Bett, die kleine Mulde und das Verschwinden, aber sie stammelte nur: „Dinge fallen nach unten.“

Die Alte schüttelte den Kopf. „Nicht immer. Manchmal sind die Dinge auch umgekehrt“ sagte sie, als ob keine andere Erklärung nötig sei. Danach sammelte Nadja ihre Sachen auf, ihren Wecker, die Sandalen, die zwischen einer Zahnspange und ein paar zerfledderten Büchern lagen, und die Alte brachte sie, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zurück auf ihr Zimmer.

Nadja setzte sich aufs Bett, das immer noch verschoben mitten im Raum stand und betrachtete das Loch im Fußboden, das keines war und durch das Sachen nach oben fielen.Nadja musste plötzlich daran denken, was sie zu Marco gesagt hatte: „Wenn du mich verlässt, werde ich das vermissen.“

Er hatte geschworen, sie nicht zu verlassen. Und er hatte sein Versprechen gehalten. Es war umgekehrt.Während Marco in der Bäckerei war, packte sie ihre Sachen, schrieb einen Zettel und kaufte sich den Reisewecker.

Vielleicht waren die Dinge wirklich oft umgekehrt, dachte sie, während sie den Wecker auf das Nachtkästchen zurückstellte. Dahinter stapelten sich die Schokoladentaler, die die Alte jeden Tag auf Nadjas Bett gelegt hatte. Sie nahm einen Taler, wickelte ihn aus und drückte ihren Daumen so lange auf die Oberfläche, bis sie ihren Fingerabdruck darauf hinterlassen hatte. Vielleicht war sie es selbst, die durch ein Loch im Boden gefallen war, dachte sie.Dann steckte sie den Taler in ihren Mund und die Schokolade schmolz auf ihrem Gaumen.

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