Babich - Zu Nietzsches Stil

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Fordham University DigitalResearch@Fordham  Articles, Book-Chapt ers, etc. by Babe e Babich Philosophy 4-1-2009 Zu Nietzsches Stil Babee Babich Fordham University  , babich@fordham. edu Follow this and additional works at: hp://fordham.bepress.com/phil_babich Part of the Classical Literature and Philology Commons  , Continental Philosophy Commons  , German Literature Commons  , Other German Language and Literature Comm ons  , and the Rhetoric Commons Tis Article is brought to you for free and open access by the Philosophy at DigitalResearch@Fordham. It has been accepte d for inclusion in Articles, Book-Chapters, etc. by Babee Babich by an authorized administrator of DigitalResearch@Fordham. For more information, please contact [email protected] . Recommended Citation Babich, Babee, "Zu Nietzsches Stil" (2009).  Articles, Book-Chapters, etc. by Babe e Babich. Paper 17. hp://fordham.bepress.com/phil_babich/17

Transcript of Babich - Zu Nietzsches Stil

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    Articles, Book-Chapters, etc. by Babette Babich Philosophy

    4-1-2009

    Zu Nietzsches StilBabette BabichFordham University, [email protected]

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    Recommended CitationBabich, Babette, "Zu Nietzsches Stil" (2009). Articles, Book-Chapters, etc. by Babette Babich. Paper 17.http://fordham.bepress.com/phil_babich/17

  • Henning Hahn

    I: Zu Nietzsches Stil

  • 9Das Thema von Nietzsches Stil ist hier sowohl von Bedeutung als Frage nachdem Wesen jenes Stils wie auch als Frage danach, was er in philosophischer,nicht einfach in sthetischer oder literarischer Hinsicht erreicht hat. In diesemSinne und vor diesem Horizont konnte Hans-Georg Gadamer Nietzsche als daseuropische Ereignis1 am Beginn der 20. Jahrhunderts betrachten, wobei das,was Nietzsches Stil vor allen anderen groen Schriftstellern, Goethe eingeschlos-sen, kennzeichnet, der Eindruck eines Fehlens aller Schwere der deutschen Spra-che ist. Nietzsche intendierte dies nicht nur, er erreichte es auch. Allein diesespezisch deutsche Leistung lsst Nietzsche zu den groen Stilisten der deut-schen Sprache zhlen.2 Damit wollte Gadamer, so subtil und vorsichtig wiestets, den forcierten Stil des Zarathustra-Buches ausscheiden. Ohne einen sol-chen Vorbehalt konnte Gottfried Benn Nietzsche ein Erdbeben der Epoche undseit Luther das grsste deutsche Sprachgenie nennen.3

    In den folgenden Beitrgen zu Nietzsche (aber auch zu Hlderlin und Heidegger)lege ich nahe, dass die Kunst des Lesens, die technische Kunst des Hrens4 alseine Art des Hrens in einer philosophischen Seinsweise zu verstehen sei. Damitsetzt sie nicht allein eine diskursive Kunst musikalischen Gesprs seitens desSchreibenden, sondern eigentlich auch seitens des Lesenden voraus. Der Beitragdes Hrers war lange Zeit ein zentrales Thema meiner Forschung ber das, wasich Nietzsches stilistische Konzinnitt nenne.5 In diesem Sinne entwickeltNietzsche keine konstatierende oder deklarative Philosophie. Dies bedeutetnicht, dass er keine Aussagen treffen wrde. Doch Nietzsche schreibt keineAbhandlungen und er exponiert keine philosophischen Geltungsansprche, d. h.,Behauptungen oder propositionale Stze. In jedem Fall ist der Ton der Schlsselzu seinem Denken. Ich zeige in meiner (Re-)lektre von Nietzsches aphoristi-schem Stil in Zur Genealogie der Moral, wie weit dies im Zusammenhang vonNietzsches vermeintlichem Antisemitismus geht.6

    Der Leser oder die Leserin selbst stehen in dieser Kunst des Hrens im Zentrum.So gesehen wird der philosophische Autor gefordert, mehr als nur prophetischerHermes zu sein, der einer verblfften ffentlichkeit eine dmonische Botschaftmitteilt, in dem Sinne, wie Platon die Betonung auf philosophische Inspiration(oder das Musizieren) bei Sokrates berliefert hat. Vielmehr bringt es eine Her-vorhebung und Akzentuierung des philosophischen Lesers mit sich, dass es sichin Nietzsches (und ebenso in Heideggers) Fall immer schon um eine wesentlichgegenseitige, das heit dialogische Hermeneutik handelt.7 Diese gegenseitigeStimmigkeit betont den kreativen Beitrag des Lesers als Hrer und damit denBeitrag des Lesers als eines Mit-Besinnenden, als eines Denkenden, der sich aufden philosophischen Text, aber vor allem ber ihn hinaus einlsst, da dies dieBedeutung von Hren oder wohlwollend geneigter Stimmigkeit ausmacht. Eshandelt sich dabei um eine lauschende Aufmerksamkeit seitens eines Sprechen-den/Hrenden, so wie Nietzsche sich einen solchen Hrer ertrumt, fr den das

  • Hren eine wohl gebte Kunst geworden ist: die Kunst der Zwiesprache oderwie Gadamer es schlicht nennt, die Kunst des Gesprchs.8

    Das implizit musikalische Ethos einer solchen Kunst des Hrens mag vielleichtnoch wie ich im dritten Kapitel nahelege einer musikalischen Philosophie indem Sinn, wie Nietzsche sie beschwor, den Weg bahnen; es handelt sich dabeium dieselbe Musikalitt, die in Poesie tragend wird und die Hlderlin in seinemHyperion als unverzichtbar fr die Bildung jedweden philosophischen Erbes be-trachtet.9 Tatschlich wirkt diese Dynamik, so wie dies Heidegger auch immerhervorhob, in der Sprache selbst wie auch im hermeneutischen Gesprch und inder Philosophie, in dem, was gesagt wird, und in dem, was Heidegger das Unge-sagte Ungedachte nennt. Doch jetzt ist ganz wrtlich genommen zu fragen: Wie sollen wir das Ohr zumLesen bringen, ganz zu schweigen vom Lesen zwischen den Zeilen? Wie soll derLeser Nietzsches Hinterfragen des Werts und selbst des Ursprungs und desMaes der Wahrheit hren und sich gleichzeitig damit auseinandersetzen? Wel-cher Takt, welcher diskursive Rhythmus wohnt Heideggers Anforderung inne,Nietzsches Aufforderung zu einem berwinden sei es der Metaphysik, sei esder Moderne anzunehmen, womit ein neuer Anfang, ein Schritt zurckoder das, was Heidegger berhaupt unter Denken versteht, eingeleitet wrde?

    Polemik, Stil und die Kunst des Lesens

    Ein Exzerpt von Descartes, Discours de la Mthode, diente An Stelle einer Vor-rede fr die Erstausgabe von Nietzsches Menschliches Allzumenschliches,10 einBuch, das prototypisch fr Jenseits von Gut und Bse und Zur Genealogie derMoral war. Und wie Ren Descartes neigte auch Nietzsche dazu, seine eigenenIntentionen preiszugeben, whrend er sich nichtsdestoweniger zugleich verschlei-erte: Ich trete in einer Maske auf; larvatus prodeo. Daher fgt Nietzsche denwarnenden Untertitel Eine Streitschrift seiner Genealogie der Moral11 hinzu. Doch der Hinweis im Untertitel, der die provozierende Dimension des Buchesbetraf, hinderte gelehrte Forscher nicht daran, Zur Genealogie der Moral als einenTraktat zu lesen oder als geradlinige Rechenschaft von Nietzsches moralphiloso-phischem Denken, und es ist ein Gemeinplatz zu behaupten, dass die Genealo-gie Nietzsches systematischstes und kohrentestes Buch ist.12

    Nietzsche selbst frchtete die Aussicht, missverstanden und vor allem: falsch ge-lesen zu werden. Daher sind Zeugnisse der Furcht des fehlenden Einusses oderNicht-Einusses, wie wir sie nennen knnen, eine seiner am meisten wiederhol-ten Redensarten. Das Problem des falschen Lesens (eine stilistische und rhetori-sche Frage) hngt mit dem hauptschlichen Gegenstand von Zur Genealogie derMoral selbst zusammen. Im Folgenden befrage ich den rhetorischen Anspie-

    I: Zu Nietzsches Stil

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  • lungscharakter des Buches, einen allusiven Umweg, den Nietzsche in seinen bio-bibliograschen Reexionen ber die Genealogie in Ecce Homo hervorhebt:

    Jedes Mal ein Anfang, der irre fhren soll, khl, wissenschaftlich, ironisch selbst, absichtlichVordergrund, absichtlich hinhaltend. (eh, gm)

    Am Ende der Vorrede der Genealogie fhrt Nietzsche detailliert aus, was er alseine wesentliche Voraussetzung fr eine angemessene Lektre erachtet.13 Sie istkeine Frage der Verantwortung des Autors, die Schuld, so schreibt Nietzsche,werde bei dem Leser liegen, der nicht seine frheren Schriften mit verschwen-derischer Aufmerksamkeit gelesen hat. Mit dieser Vorannahme verlangt Nietz-sche mehr, als dass seine Leser gegenber seinen Schriften offen sein sollten, sie sollten, wie er mit Bezug auf seinen Zarathustra sagt, fhig sein,

    irgendwann einmal tief verwundet und irgendwann einmal tief entzckt (gm viii)

    von jedem Wort zu sein. Neben solcher Sensitivitt des Lesers erwartet Nietz-sche auch die schriftstellerische Kompetenz im Blick auf die rhetorische Form alssolcher, eine Forderung, die er an seine Leser nach dem Fehlschlag von DieGeburt der Tragdie richtete, um rechte Leser zu nden, sogar, ja insbesonde-re unter Philologen, von denen man doch erwarten sollte, dass sie in der Rheto-rik gebt sind. Doch es schien Nietzsche offensichtlich zu sein, dass in anderenFllen, gleichsam im Allgemeinen, die aphoristische Form Schwierigkeit[macht] eine Einschrnkung, die fr Nietzsche eben von einem Mangel anbung herrhrt, davon, dass man diese Form heute nicht schwer genug nimmt(gm viii).In einem frheren Text hatte Nietzsche schon die therapeutische Wirkung derpsychologische[n] Beobachtung unterstrichen, oder das Nachdenken berMenschliches, Allzumenschliches (ma i: 35). Dieser heilsame Nutzen machtedie Funktion des Aphorismus oder der Maxime aus, mit Bezug auf den haupt-schlichen Gegenstand des Werkes seines Freundes Paul Re Zur Geschichte dermoralischen Empndungen einen Titel, den Nietzsche in Menschliches, Allzu-menschliches heranzieht, und der gut als Alternative fr Zur Genealogie der Moralhtte dienen knnen. In bereinstimmung mit seinen klassischen Ursprngen istder Aphorismus in den psychologischen Forschungen, die fr solch eine Ge-schichte (oder Genealogie) der Moral erforderlich sind, wie Nietzsche in Erinne-rung ruft, eine wirksame therapeutische Form, ein Bezug sowohl auf Hippo-krates als auch die Stoische Tradition in ihren griechischen und rmischen Grn-dungen. Doch, wie Nietzsche warnen mchte und Pierre Hadots La Philosophiecomme manire de vivre [Die Philosophie als Lebenskunst] diese Warnung fr dasgegenwrtige Denken in Erinnerung ruft,14 ist eine wirkliche Kunst (oder Praktik)

    Polemik, Stil und die Kunst des Lesens

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  • des Lesens und ebenso eine Fhigkeit des Schreibens (wie Nietzsche sie betont)erforderlich, um den Aphorismus zu verstehen:

    denn selbst der feinste Kopf ist nicht vermgend, die Kunst der Sentenzen-Schleiferei ge-bhrend zu wrdigen, wenn er nicht selber zu ihr erzogen ist, in ihr gewetteifert hat.(ma i: 35)

    Ohne dass man die aphoristische Kunst im Dienste des Lebens ausgebt hat als die Kunst des Lebens wie Marcus Aurelius diese technisch spirituelle Praxisin seinen Selbstbetrachtungen artikuliert wird man, in Nietzsches Worten ge-sagt, dazu geneigt sein, die Formung von Maximen als eine triviale Kunst zuimaginieren, indem man sie fr leichter nimmt als sie es ist (gm viii.).Damit erfordern Nietzsches Thesen ber das Verstndnis seines Werkes ein kom-plexes Spiel zwischen Annherungen des Lesers und des Autors an seinen Text.Eine breite Anzahl von Problemen ist hier im Spiel, doch um diese Annherun-gen hier zumindest in ihren Grundzgen zu erwgen, kehre ich zu der Fragenach der Rolle des Aphorismus in Nietzsches Schriften zurck und sie sollte alseine genuine Frage angesehen werden.

    Der Aphorismus bei Nietzsche und die Philosophie

    Der Aphorismus scheint die Gre der Philosophie zusammenzukrzen gleich-sam zu zerbeien. Da dieser bis zu den Zhnen bewaffnet ist, wie Nietzsche ge-sagt haben knnte, ist die schneidende Schrfe oder selbst die Gewalt des Apho-rismus offensichtlich, im Fall von Nietzsche und nicht weniger evident im Blickauf Heraklit, seinen antiken Vorgnger, und auch noch, obwohl Nietzsche wohlkaum etwas von dieser Parallele eingestanden htte, im Falle von Wittgenstein. Der Aphorismus beginnt historisch mit den forismo/i des Hippokrates, alsoMaximen anstelle eines Handbuches oder eines Mediziner-Manuales fr einenArzt, der keine Zeit hat, ein solches Werk auf dem Schlachtfeld zu konsultieren.Da er in einer singulren Weise treffend ist, knnen wir den ersten und berhm-testen dieser Aphorismen in Erinnerung rufen:

    Das Leben ist kurz, die Kunst ist weit, der gnstige Augenblick chtig 15

    Um mit einer vorbereitenden Interpretation zu beginnen: Im Feld hngt dasLeben des verwundeten Soldaten an einem seidenen Faden, die Konventionender Heilkunst sind schleppend und eher hinderlich, die Chance, noch handelndeingreifen zu knnen, ist schnell verloren.Auf dem Schlachtfeld, und dieser Ort kam auch bei dem von Nietzsche favori-sierten lakonischen Ritter-Dichter Archilochus zur Sprache, hatte der Heilkundi-

    I: Zu Nietzsches Stil

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  • ge seine Maximen im Kopf. Seine Krze (und dies ist die Rafnesse seiner Struk-tur!) ist der Grund dafr, dass der Aphorismus in Erinnerung behalten werdenkann. Vor allem verdankt er es eben dieser Krze, dass er verstanden werdenkann, zumindest teilweise. Kurz gesagt, man kann ein wenig von dem springen-den Punkt begreifen, auch wenn man im Rckblick nden mag, dass man dieHlfte oder sogar noch mehr verfehlt hat. Dies ist die Schnheit des raschen Aufnehmens. Schnell zu lesen, wie ein kaltesBad, suggerierte Nietzsche als den besten Weg, der angekndigten Heimsuchungvon etwas so offensichtlich Unaufdringlichem wie einem Brief zu entgehen (undunsere heutige Erfahrung des Drngens von E-Mail-offerten gibt eine zeitgens-sische Illustration von Nietzsches Sensorium fr Verletzung): Dieselbe taktischeKnappheit entspricht der Eitelkeit des Autors, etwas zu bieten und im selbenAugenblick sein Ansinnen zu verbergen daher ist es eine Offerte an alle undkeinen. Nietzsche drckt diese ambitionierte Erwartung in Also sprach Zarathustra aus,wenn er vom Schreiben in Blut spricht:

    Wer Blut und Sprche schreibt, der will nicht gelesen sondern auswendig gelernt werden.(Z, Vom Lesen und Schreiben)

    Noch emphatischer besttigt Nietzsche spter seinen Ehrgeiz, in einem Apho-rismus zu sagen und damit unterbricht er sich mit einem Gedanken-Blitz (hier:einem Gedanken-Strich), um seine Pointe zuzuspitzen:

    was jeder Andre in einem Buche nicht sagt (G-D Streifzge, 5)

    Anders als Hume, Kant oder Heidegger (ungeachtet von Heideggers besten Be-mhungen, Nietzsche zu imitieren)16 schreibt Nietzsche, oder wie er sagt: kom-poniert oder giet er seine Aphorismen. Wenngleich auch Wittgenstein in Apho-rismen schrieb, so ist Nietzsche doch ungleich leichter zu lesen, was nicht be-deutet, dass er verstanden wird.Um die Komplexitt des Aphorismus als eine sich selbst entwickelnde Form derSelbst-Destruktion und zugleich des Selbst-Schutzes prfen zu knnen, erwgenwir Nietzsches eigenen, in der Vorrede gegebenen Kommentar an der Weise,wie ein Aphorismus wirkt, denn er reektiert zugleich seine Vorschrift, wie Apho-rismen und damit seine Schriften berhaupt gelesen werden sollten. Wie derEssay, die Abhandlung oder sogar das Epitaph (fr das es geradezu notwendigeigen ist, missverstanden zu werden, wie wir sehen werden) ist der Aphorismuseine spezisch literarische Form. Doch jenseits der rhetorischen und poetologi-schen hat der Aphorismus auch eine singulre philosophische Dimension odereine herausragende Disposition zur Reexion.17 Unter Nietzsches Hnden verwi-ckelt der Aphorismus den Leser in das Lesen, und gleichzeitig scheint er Nietz-

    Der Aphorismus bei Nietzsche und die Philosophie

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  • sche als Autor freizusprechen, noch whrend er Form gewinnt und beinahe allzuleicht (wir werden auf diesen Punkt spter noch zurckkommen). Zugleich ist zubemerken, dass zumindest fr manche zeitgenssischen Gelehrten ein Teil derSchwierigkeit, Nietzsches Aphorismen berhaupt zu lesen, im Problem der Iden-tizierung ihrer Aussage (d. h. ihres Sinngehaltes) besteht. Offensichtlich war nicht alles, was Nietzsche schrieb, aphoristisch genug, auchwenn die aphoristische Form eine Form war, die er whrend seines Schreibensentwickelte und vervollkommnete. Daher hat das grundlegende Problem derIdentizierung und Unterscheidung von Nietzsches Aphorismen ein instruktivesnicht-hermeneutisches Engagement seitens in der Tradition der analytischen Phi-losophie gebter Philosophen ausgelst.18 Diese Gelehrten unternahmen die Auf-gabe, den Aphorismus zu identizieren, den Nietzsche dem Beginn des drittenEssays von Zur Genealogie der Moral vorangestellt hatte (den er, um eine engli-sche Redeweise zu verwenden, befestigte, anbrachte). Es ist jener Aphoris-mus, fr den in Nietzsches Worten sie selbst die Gesamtheit der dritten Abhandlung dessen Kommentar ist (gm viii). Fr John Wilcox und Maude-marie Clark war ein wahrscheinlicher Kandidat fr den in Rede stehendenAphorismus das Motto des dritten Essays. So wie ich ihn lese, ist der Aphoris-mus, auf den sich Nietzsche bezieht, der erste Abschnitt der dritten Abhandlungmit dem Titel Was bedeuten asketische Ideale? Es ist von herausragender Be-deutung fr diese Identizierung, dass der zweite Abschnitt (gm III: 2) in hnli-cher Weise mit derselben Titelfrage beginnt, also dem Titel des dritten Essays imGanzen.Der erste Abschnitt beginnt mit einer Prfung der Bedeutung asketischer Idealeim Falle von Knstlern, Philosophen und Gelehrten, Frauen, den philologischverunglckten und verstimmten, die (wie Nietzsche uns in Parenthese mitteilt)die Mehrzahl der Sterblichen ausmachen ebenso wie der asketischen Idealeim Falle von Priestern und Heiligen. Dies ruft die Emphase in Erinnerung, die inder ersten und zweiten Abhandlung vorgebracht worden war, doch der sprin-gende Punkt ist hier, dass man, um die berbestimmtheit der asketischen Idea-le zu erfassen namentlich, dass man lieber das Nichts wollen, als nicht [zu]wollen (gm iii: 1; vgl. den abschlieenden Abschnitt des dritten Essays gm iii:28) die Kunst der Auslegung fordern wird, wie sie zuerst in Nietzsches Vor-rede aufgerufen wurde. Daher schliet der erste Abschnitt des dritten Essays miteinem Resume des Endes der Vorrede insgesamt (und es knnte gar nicht kla-rer gezeigt werden, dass der gesamte dritte Essay daher als ein Kommentar odereine Explikation dienen soll):

    Versteht man mich? Hat man mich verstanden? ,Schlechterdings nicht! Mein Herr! Fangen wir also von vorne an.19

    I: Zu Nietzsches Stil

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  • Als Leser oder Gelehrte bleiben wir uns unbekannt wir selbst uns selbst (gmi), eine unvermeidliche Ignoranz, an die uns Nietzsche am Beginn seiner Vorredeerinnert, denn [w]ir haben nie nach uns gesucht (ibid.) Daher erinnern wir uns,dass am Ende der Vorrede dem Leser in denselben Begriffen Vorhaltungen ge-macht werden. In einem aggressiven Seitenhieb gegen Aristoteles und das ge-radlinige Ideal der Klarheit eines Autors provoziert Nietzsche, wie wir uns erin-nern, den Leser, der sein Schreiben unverstndlich20 ndet, indem er seineTexte fr deutlich genug erklrt,

    vorausgesetzt, was ich voraussetze, dass man zuerst meine frheren Schriften gelesen undeinige Mhe dabei nicht gespart hat. (gm viii)

    Nietzsche zufolge wird der Aphorismus, woran wir schon an frher Stelle erin-nerten, nicht ernst (und schwer) genug genommen. Man bedenke die kompo-nierte Komplexitt von Nietzsches Klage, wie wir sie auf ihre Funktion hin wei-ter oben analysiert haben. Wenn die Anziehungskraft des Aphorismus in seinerKrze liegt und wenn die Schnheit kurzer Dinge darin besteht, dass man sieschnell und leicht nehmen kann, wie eine geistreich witzige Bemerkung odereinen cleveren Ausspruch und an dieser Stelle erkennen wir, weshalb das Mot-to fr den in Rede stehenden Aphorismus im Ganzen genommen werden kann ,dann bedeutet die Vorschrift, die uns Nietzsche macht, dass wir seine Aphoris-men langsamer nehmen sollen, ernster, als gute Medizin; und dies bedeutet zu-gleich als Philosophie und damit wiederum als Lebenskunst.Diese dissonante Dimension ist ein Echo in Nietzsches abschlieendem Wort inder Reexion seiner Vorrede auf die Art, wie seine Genealogie zu lesen ist, wo erim Blick auf die Kunst, seine Texte zu lesen, hinzufgt, eine Metapher, diegemeinhin fr religise Schriften reserviert wird s wie Honig sollten dieseTexte verzehrt werden.21 Daher wird uns gesagt, wie wir Nietzsches Worte ver-stehen sollen dass wir sie immer wieder wieder kauen, sie in uns umzuwendenhaben, in unserem Sinne: das Wiederkuen (gm vii). Doch dieses Wiederkuen geht uns ab, und wir eilen hastig ber die Seiten hin-weg, oftmals angespornt von wohlmeinenden Einfhrungswerken bekannter Ge-lehrter. Es wird einem geraten, Nietzsche zu lesen, bis man eine Passage ndet,die man mag, dann nach einer anderen solchen Passage Ausschau zu halten undso weiter, sodass man ebenso gut im Internet surfen knnte, indem man sichvon einem Link zum nchsten bewegt, bis man etwas ndet, das es einigerma-en wert ist, mit einem Bookmark als Favorit gekennzeichnet zu werden,oder wie man eine Einkaufstour durch einen Ausverkauf oder eine ShoppingMeile machen wrde. Im Gegensatz zu solch einem Suchen und Finden, umdie Metaphern zu benutzen, die von dem Desaster, das ein elektronischer, mitSuchfunktionen versehener Text bedeutet, fr die Forschung erborgt sind, instru-iert Nietzsche uns, dass

    Der Aphorismus bei Nietzsche und die Philosophie

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  • [ein] Aphorismus, rechtschaffen geprgt und ausgegossen [] damit, dass er abgelesen ist,noch nicht entziffert[sei]: vielmehr hat nun erst dessen Auslegung zu beginnen. (gm viii)

    Und es ist nicht genug, einfach mit der Interpretation zu beginnen. Die herme-neutische Arbeit des Lesens wird hier gefordert: Wir bedrfen einer Kunst derAuslegung (ibid.). Die Aufgabe, Nietzsches Aphorismen so zu interpretieren, erfordert daher einenKommentar, der tatschlich ebenbrtig sein msste dem, was ansonsten anderein einem Buche sagen (oder zu sagen versumen). Uns fehlt nun keineswegsdie Illustration davon, wie ein solcher Kommentar beschaffen sein msste.Nietzsche bietet uns ein Beispiel fr solch eine Lesart, das er mit dem musikali-schen Modell einer Coda illuminiert. Man muss hier wiederum bemerken, dassdies von Nietzsches Seite nicht einfach vorgeschrieben oder empfohlen wird alseine Aufgabe fr den Leser, die er oder sie so erfllen kann, wie er/sie will. Viel-mehr, und dies ist der springende Punkt, wird ein Beispiel in einer elaboriertenForm gegeben, das bis zu dem Resmee am Beginn der dritten Abhandlung desBuches reicht, wo der Autor uns exakt mitteilt, dass wir sie in der Zusammen-fassung seiner Vorrede nden:

    Ich habe in der dritten Abhandlung dieses Buches ein Muster von dem dargeboten, was ichin einem solchen Falle Auslegung nenne. (ibid.)

    Der Nietzschesche Aphorismus kann so kurz sein wie ein alleinstehender Satz.Alternativ kann er auch ein Fragment eines lngeren Satzes in einem lngerenParagraphen sein: Vorausgesetzt dass die Wahrheit ein Weib ist (jgb, Vorre-de), worauf hier eine berhmte, ausgefeilte Reexion ber Philosophen, dasDogma und Dogmatiker folgt.22 Und der Nietzschesche Aphorismus kann auchsehr lang sein, wie wir dies insbesondere im Fall von Menschliches, Allzumensch-liches sehen knnen, aber auch anderswo, insbesondere in Also Sprach Zarathus-tra, wenn wir dieses Buch nicht als einen wirklichen Roman von Aphorismenlesen, sondern als einen einzigen Aphorismus, der variiert und melodisch modu-liert ist: Zarathustra als Musik. Wenn Krze das erste Charakteristikum desAphorismus ist, so ist sie doch nicht allein in Nietzsches Fall derart charakteris-tisch. Der magebliche Differenzpunkt suggeriert, dass der Aphorismus, der in gm iii:1 ausgearbeitet wurde, sich selbst in seiner eigenen Rekapitulation resmiert,eine Elaborierung, die sich bis zu dem Selbstkommentar des Autors im drittenTeil des Buches als einem Ganzen erstreckt. Wir haben es also mit einem Apho-rismus innerhalb eines Aphorismus zu tun: tatschlich und selbstverstndlich ineinem Buch von solchen Aphorismen. Diese Rekapitulation ist der springendePunkt am Ende des Aphorismus, der die wirkende Macht von Nietzsches apho-ristischem Stil dort besttigt, wo er die Frage aufwirft: Was bedeuten asketischeIdeale? Diese Frage erscheint drei Mal in Folge, zwei Drittel auf der Wegstrecke

    I: Zu Nietzsches Stil

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  • in einem Buch ber die Hervorbringung genau dieser Ideale: Begreift man esnicht? Ist es noch immer unklar? (Die Frage wiederholt natrlich eine frhereFrage: gm i, insbesondere gm i: 8 und 9). Die Antwort, die an dieser Stelle ge-geben wird, wird nicht zufllig von dem Tanzlehrer oder Conducteur angewandt:Sollen wir es auf die Spitze treiben! Da capo! (gm iii: 1; bge Nr. 56). Beginnend mit der Frage: Was bedeuten asketische Ideale?, beantwortet derAphorismus seine eigene Frage, indem er das Problem des Verstehens und dieNotwendigkeit, eine Reexion zu beginnen, hervorhebt. Die Aufgabe des Lesensebenso wie des Schreibens, doch auch des Denkens oder Liebens ist von jenerArt, die zuerst, wie Nietzsche immer wiederholt, gelernt werden muss. In die-sem Sinne bezeichnet sich die aphoristische Struktur des ersten Abschnitts vonTeil III von Zur Genealogie der Moral selbst als problematisch, sodass er die Not-wendigkeit des Kommentars mit sich bringt und, obwohl wir dieser Frage hiernicht weiter nachgehen knnen, erffnet sich damit eine Problematik, die nacheiner angemessenen Hermeneutik ruft. Denn die Kunst des Lesens, die herme-neutische Kunst, ist, laut Nietzsche, das, was heutzutage gerade am Besten ver-lernt worden ist. (gm viii)

    Den Aphorismus lesen

    Der Aphorismus als in sich selbst enthalten, als selbst-bezglich, als etwas, daswiedergekaut werden sollte, aber auch als etwas, das jenseits des Textes selbstgetragen werden kann, muss gleichermaen immanent und gegen sich selbst,kontrafaktisch, gelesen werden. Als Wort hat Aphorismus die Wurzeln, wieLiddell und Scott uns erinnern, f-, p-: von, von her, weg; r/izw: teilen, beisei-te setzen, vereinzeln in einer Grenze. Daher ist in der Substanz die Essenz desAphorismus fast schon unnatrlich phnomenologisch. Natrlich ist dies nichtunbemerkt geblieben. Ein Autor beobachtet, das Wort selbst bedeute Formal,Abgrenzung und zugleich inhaltlich etwas aus dem gewohnten Horizont Ge-nommenes.23

    In diesem Sinne erfordert der Aphorismus oder besser gesagt vollendet undbewirkt er eine Epoch oder Einklammerung des Phnomens, weshalb Nietzscheihn als stilistische Form so favorisierte.Nietzsches Aphorismen lesen sich daher selbst in den Leser ein und das, was anseiner Stilisierung dieser Form so fasziniert, ist, dass sie in dieser Weise wirken,huger trotz der Vorurteile des Lesers als wegen dieser Prjudizien: indem siemit solchen berzeugungen des Lesers spielen und sie von innen nach auenkehren. Ein Beispiel fr diese mit dem Leser involvierte Wirksamkeit ist Nietz-sches Diskussion der jdischen Moral im ersten Teil von Zur Genealogie derMoral (gm i: 7).

    Den Aphorismus lesen

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  • Indem man die Wirkungsdynamik des Aphorismus auf diese Weise liest, kannman bemerken, dass sein Takttempo exakt in seiner Intensitt zunimmt eineinfach verfhrerischer Appell, der mit den Vorurteilen des Antisemiten spielt.Dieses Spiel wirkt von Anfang an in Zur Genealogie der Moral, so wie Nietzscheseine Reexionen auf die genealogische Herkunft der Moral auf die wissen-schaftlichen Ohren und die utilitaristische Sensibilitt dessen hin orientiert, waswir die Englischen Psychologen genannt haben (gm i: 1), whrend die sehrdarwinistische Vergessenheit des mechanischen Habitus und der soziokulturellenUntermauerung angeprangert wird. Hier, in gm i: 7, ist der Text so ausgerichtet,dass er mit seinem Anfang an die besonders typischen Vorurteile eines allzuchristlichen Antisemitismus appelliert. Der christliche Antisemit wird in den Text hineingezogen und zu ihm verfhrt,wenn der erste Abschnitt von Zur Genealogie der Moral aufgrund seiner wieder-holten Emphase auf die Wortbedeutung im Sinne einer Verteidigung einer herr-lichen oder vornehmen griechisch-rmischen Vergangenheit die jdische An-tike anklagt. Mithin liest man, dass alles, was immer gegen das historische Phan-tasma oder Ideal der Vornehmen unternommen wurde, als inkonsequentverblassen muss, verglichen mit dem, was die Juden gegen sie gethan haben(gm i: 7). Die Verdoppelung der aphoristischen Stilisierung dieses Textes (ichhabe sie an anderer Stelle den Widerhaken von Nietzsches Stil genannt, wobeiich mich nicht auf Derridas Sporen sondern auf Nietzsches Menschenscher-Sprache bezog, der gem er seine Texte als Angelhaken betrachtet) wendetdie berzeugtheit des Lesers gegen den Leser oder die Leserin selbst. Der Rck-sto ist umso wirksamer, je tiefer der Antisemitismus des Lesers ausgeprgt ist,eine Wirkung, die im Verlauf des Lesens intensiviert wird. Tatschlich wird derAntisemit (die Antisemitin), wenn er oder sie mit der Lektre fortfhrt, gar keineWahl haben, als in der Mitte des Textes gefangen genommen zu werden. Indem er den Juden als denjenigen identiziert, der zuerst die aristokratischeWertschtzung umkehrt, indem er die vornehme Selbstgengsamkeit von Stren-ge, Vertrauen und Freude (gut = vornehm = mchtig = schn = glcklich = gott-geliebt) [gm i: 7] und dabei die Alchemie nicht der Liebe, sondern des uers-ten abgrndlichsten Hasses nutzt, umschreibt Nietzsche die neue, die Sklaven-moral, wie sie nun in der (mittlerweile dissonanten) christlichen Litanei derEntschdigung der Entrechteten erscheint, denen Genugtuung geschieht, so wiewir dies aus der wohlbekannten Botschaft der Bergpredigt kennen (Matt. 5, 1:13). Nietzsche wird spter diese neue Gleichheit in Begriffen des Ressentimentsentfalten. Doch zunchst legt er nur diese rein christlichen Werte in den Mundjener jdischen Um- und Neuwertung aller Werte:

    die Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmchtigen, Niedrigen sind allein dieGuten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Hlichen sind auch die einzig Frommen, dieeinzig Gottseligen, fr sie allein giebt es Seligkeit, (ibid.)

    I: Zu Nietzsches Stil

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  • Die neue, umgewertete Gleichheit wird daher als eine Umgewichtung der origi-nren Werte der Strke (der Herrenmoral oder der vornehmen Werte der Anti-ke) formuliert, nicht um einer nostalgischen Wiederkehr solch ursprnglicherWerte willen, sondern um deren Genese zu identizieren und daraus die Konse-quenzen zu ziehen:

    Man wei, wer die Erbschaft dieser jdischen Umwerthung gemacht hat (ibid.)

    Der Leser ndet sich selbst in seinen eigenen Annahmen gefangen, als quiva-lent des Juden. Die Umkehrung des Aphorismus begegnet in der doppelten Ellipse, die in Nietz-sches eigenen Text eingeschlossen ist. Nietzsche verfhrt den antisemitischenLeser in den Text, nur um seine bzw. ihre Reexionen gegen die uersten Kon-sequenzen seiner oder ihrer berzeugungen zu wenden. Es sickert nun hindurch,dass der Antisemit selbst ein Jude ist, und daher stellt sich heraus, dass allesdabei ist, verjdelt oder verchristlicht zu werden und mit einem gut sozialis-tischen und atheistischen Angang (also: um es noch schlimmer zu machen)nimmt Nietzsche eine Anspielung auf den Pbel mit auf [verpbelt] (gm i:9). In Hinblick auf den Titel des Christen oder Juden fragt er: Was liegt an Wor-ten? (ibid.), und wie er uns spter in seinem Anti-Christ erinnern wird, ist derChrist nichts anderes als ein Jude eines katholischeren, also freieren Bekennt-nisses (ac 44).24

    Um des Lesers willen, der

    keine Augen [hat] fr Etwas, das zwei Jahrtausende gebraucht hat, um zum Siege zu kom-men (gm i: 8),

    wiederholt Nietzsche die verdoppelnde Emphase in seinem nchsten Abschnittmit einer berreizten und gequlten Errterung zur Wirkung von Rache und Res-sentiment in Religion und moralischen Werten. Indem er solch eine wahrhaftgroe Politik der Rache beschreibt und, wie wir noch nher sehen werden, diespirituelle Gefahr groer Politik ins Gedchtnis ruft, wie er sie in Menschliches,Allzumenschliches analysiert, argumentiert Nietzsche,

    dass Israel selber das eigentliche Werkzeug seiner Rache vor aller Welt wie etwasTodfeindliches verleugnen und ans Kreuz schlagen mute. (gm i: 8)

    Diese Leugnung besttigt, dass alle Gegner Israels den Kder schlucken, ebendann, wenn sie in reaktiven Begriffen im Gegensatz zu Israel deniert werden.Nietzsches Text spielt also mit dem Antisemitismus des Lesers (sei dieser nun be-wusst oder nicht), so wie er den Leser in eben denselben Begriffen berzeugt.25

    Den Aphorismus lesen

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  • Der Nietzschesche Aphorismus weitet die stilistische Rhetorik auf einen Autoraus, der gegen die Vorurteile der antisemitischen berzeugung anschreiben kann,indem er den inneren Semiten zur Kenntlichkeit bringt, also die Selbst-Abscheudes Vorurteils gegen den anderen, wie es uns in uns selbst betrgt und verrt.Nietzsches Aphorismen auf diese Weise zu lesen, verlangt eine gedoppelte Lek-tre, eine akroamatische oder diskursive Errterung. Nietzsche zu lesen, fordert,wie er es selbst ausdrckt, dass der Leser Ohren fr seine Worte hat.26 Nietz-sche legt daher eine dialogische Dimension in dem Text nahe, mit Mitteln desAphorismus als Sprechweise, und wenn er den Text kritisch angehen mchte,muss der Leser auf die Resonanzen dieser akustischen Dimension aufmerksamwerden. Um ein weiteres Beispiel und eine noch offenkundigere begrifiche Resonanz zuillustrieren, sollten wir einen Text erwgen, der auf den ersten Blick wie ein bei-luger Aphorismus anmutet, der von dem Streit zwischen Gedchtnis und Stolzberichtet.

    ,Das habe ich gethan sagt mein Gedchtnis. Das kann ich nicht gethan haben sagt meinStolz und bleibt unerbittlich. Endlich giebt das Gedchtniss nach. (jgb 68)

    Der Reex spielt hier mit dem Gleichgewicht von Stolz und Gedchtnis und ins-besondere mit der berzeugung, dass der eine Reex einer ersten (und objekti-veren), der andere einer sekundren (und eher subjektiven) Ordnung des Geistesangehrt. Nietzsches Reexion auf die Vorordnung dessen, was sich als die se-kundre Fhigkeit des Stolzes, diese korrigierbare, nur subjektive Fhigkeit er-wiesen hat, verdrngt und korrigiert nun das vermeintlich objektive Vermgendes Gedchtnisses. Zwischen Gedchtnis und Wunsch oder Stolz dies ist derqulende und springende Punkt wider die Objektivitt fgt sich das blasserwerdende Gedchtnis in der Erinnerung selbst dem Wunsch. Die Lebenswahr-heit dieser Reexion nimmt das Vertrauen objektiver Selbsterkenntnis gefangen,und sowohl Gedchtnis als auch Stolz lsen sich in den Empndungen der Seeleauf, jeder zu gleichen Begriffen im Kampf des Selbst darum, zu sich selbst das-selbe sagen zu knnen. Dabei ist zu bemerken, dass Nietzsches Gebrauch des Aphorismus in seinen fr-heren und spteren Schriften nicht identisch ist. Selbst wenn wir Nietzsches Re-exionen ber die Kunst des Aphorismus (im Lesen und Schreiben) in Menschli-ches, Allzumenschliches (mm i, 35; 163 usw.) lesen, lesen wir Nietzsche nochauf dem Wege zu dem spezischen Nietzscheschen Aphorismus, auf dem er sichdamals befand. Als ein solches frhes Beispiel knnen wir die oben zitierteGroe Politik und ihre Einbuen (mm i, 481) bedenken. Indem er verschiede-ne Fden in seine Rechenschaft von groer Politik verwebt (also hier des Krie-ges), ndet Nietzsche, dass die grten Kosten des Krieges nicht materieller Artsind, sondern vielmehr das Opfer der Kopf- und Herz-Kapitale. Die Ausdrucks-

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  • weise in dieser frhen Arbeit besteht in qulender Wiederholung, um die unbe-sungenen Gefahren des Krieges fr die Krper-Politik selbst und auf individuel-lem Niveau ausdrcken zu knnen. Fr Nietzsche ist dies der Preis, dass

    Jahr aus Jahr ein die tchtigsten, krftigsten, arbeitsamsten Mnner in auerordentlicherAnzahl ihren eigentlichen Beschftigungen und Berufen entzogen werden, um Soldaten zusein. (ibid.)

    Er hebt den springenden Punkt der vergeudeten Talente hervor, indem er wei-terhin sagt, dass von diesem Zeitpuncte ab, also von dem Augenblick, indemdie Menschen damit beginnen, sich mit dem Krieg zu befassen (sei es zu Zwe-cken der Verteidigung oder der Eroberung),

    eine Menge der hervorragendsten Talente auf dem Altar des Vaterlandes oder der nationa-len Ehrsucht opfert, whrend frher diesen Talenten, welche jetzt die Politik verschlingt,andere Wirkungskreise offen standen. (ibid.)

    Daher bestehen die wahren Kosten des Krieges in der buchstblich zunehmen-den Zerstreuung des Genius. Nietzsche sagt dies in einem anderen komplexenZusammenhang, in dem er die entscheidenden Konsequenzen, die an frhererStelle aufgerufen wurden, evoziert, die in der tglichen Zeitungslektre bestehen(einer allzu ausschlielichen Ernhrung mit Zeitungen gm iii: 26).27 Derhchste Preis des Krieges ist, was Nietzsche Decadence nannte:

    die Summe all dieser Opfer und Einbuen an individueller Energie und Arbeit ist so unge-heuer, dass das politische Aufblhen eines Volkes eine geistige Verarmung und Ermattung,eine geringere Leistungsfhigkeit zu Werken, welche groe Concentration und Einseitigkeitverlangen, fast mit Nothwendigkeit nach sich zieht. (ibid.)

    Die geistige Verarmung, die Nietzsche hier beklagt, ist eins mit der Verwstungdes Nihilismus. In vollstndiger bereinstimmung mit Platon (der Sozialphilo-soph Jacques Rancire hat dies in einer anderen Richtung erforscht),28 verbindetNietzsche unausbar Politik und Gier, und er geht in einer Nachla-Notiz nochweiter, wo er ber den weit gestreuten Charakter und die Tendenzen seinesZeitalters reektiert:

    Hier die Gespensternger des Spiritisten und der mathematisch-magische Taschenspieler,dort ein gehirnausbrennender Cultus der Musik, dort die wiedererweckten Gemeinheiteneiner Judenverfolgung seht die allgemeine bung im Hassen. (ksa 9, S. 213).

    Daher erinnern wir in einer Rckwrts-Lektre von diesem Abschnitt in Mensch-liches, Allzumenschliches her so wie man Nietzsches Aphorismen immer in re-

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    sonanten, widerklingenden Kontrapunkten lesen muss: nach rckwrts und vor-wrts, indem man jene Texte, die einem bestimmten Aphorismus vorausgehen,und jene, die ihm folgen, liest, dass Nietzsche einige Abschnitte davor, indemer gegen Nationalismus und zugunsten des guten Europers schrieb (ma i, 475, vgl. gm iii: 27), die Juden als jene Freidenker, Gelehrte und Aerzte iden-tizierte,

    welche das Banner der Aufklrung und der geistigen Unabhngigkeit unter dem hrtestenpersnlichen Zwange festhielten und Europa gegen Asien vertheidigten. (ma i, 475)

    Auf diese Weise versichert Nietzsche, dass das Judentum der ausgezeichneteEinuss sei, der

    Europas Aufgabe und Geschichte zu einer Fortsetzung der griechischen (ibid.)

    werden lsst. Der springende Punkt von Nietzsches Emphase an dieser Stellesollte im Blick auf seine frhere Annherung an das Christentum verstandenwerden, in dem Aphorismus, der Das Ungriechische im Christenthum betitelt ist,und der damit schliet, das Christentum als barbarisch, asiatisch, unvornehm,ungriechisch zu beschreiben (ma i, 114, vgl. gt 12; und gm iii: 22). Wenn Nietzsche in Zur Genealogie der Moral damit begann, jdische Wertegegen vornehme Werte zu setzen, schliet er mit nichts weniger als einer Blick-konzentration auf christliche Werte, indem er so weit geht, sein bevorzugtesThema zu wiederholen, seine Antipathie gegen das Neue Testament selbst (gmiii: 22) und die ungeduldigen Empndungen ausdrckte, die er an anderer Stel-le als Zeichen der jdischen Familiaritt mit Gott in deutlich christlichen Be-griffen darstellte (ibid.).Nietzsches entstellter Ausdruck in Menschliches, Allzumenschliches macht einerzunehmenden Eleganz oder Meisterschaft des Stils Platz, doch ohne einenWechsel hinsichtlich der Emphase. Daher wiederholt er diesselbe schwerwiegen-de Einsicht in Gtzen-Dmmerung:

    Es zahlt sich theuer, zur Macht zu kommen: die Macht verdummt die Politik verschlingtallen Ernst fr wirklich geistige Dinge Deutschland, Deutschland ber Alles, ich frchte,das war das Ende der deutschen Philosophie.

    Von Menschliches, Allzumenschliches her scheint Nietzsche die berzeugung auf-rechterhalten zu haben, dass man nicht einer Neigung fr Politik frnen kann,insbesondere fr globale Politik, ohne ein entsprechendes intellektuelles Opferzu bringen, mit anderen Worten, ohne seine Seele zu verlieren. Die provokative Verlegenheit verdammt ist man, wenn man es tut, verdammt,wenn nicht ist der philosophische Motor von Nietzsches Aphorismen. Die

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    Schlussfolgerung, so wie die ihr zugeordneten Prmissen durch Assoziation siehervorrufen, ist angespielt, aber nicht fest gegeben und sogar nur in potentia an-gespielt: Die Lsung eines Aphorismus ist nicht xiert und kann sich immerndern. Die schwebende Referenz spricht fr Nietzsches offensichtliche Beweg-lichkeit, was die Bedeutung seines Schreibens betrifft, von Lektre zu Lektre.Und genau diese Unbestndigkeit scheint sich so zu wenden, dass sie mannig-faltige und selbst rassistische, faschistische, gefhrlich kriminelle Lesarten recht-fertigt. Wenn wir so, wie wir es zu Anfang taten, auf Nietzsches Vorhaltungenachten, so muss das Problem, wie Nietzsches politische Empndungen zu verste-hen sind, wie sie in klarer Manifestation bestehen, auf Seiten der berzeugun-gen von uns Lesern lokalisiert werden adventavit asinus/pulcher et fortissimus(jgb 88 vgl. die groe Dummheit, die wir sind; jgb 231), nicht in der Dis-sonanz in Nietzsches Texten. Doch eine Reexion ber die Dummheit, wie im-mer esoterisch ausgedrckt in Bezug auf Ovids Mysterien (wie in jgb 8), lstnicht unser Problem und bringt uns zurck zur Frage von Nietzsches Stil alseinem wirksamen oder wirkenden Stil. Nietzsche besttigt bekanntermaen selbst, was eine allgemein akzeptierte Fest-stellung ber seinen Schreibstil ist:

    Man wei vor mir nicht, was man mit der deutschen Sprache kann, was man berhauptmit der Sprache kann. (eh, Warum ich so gute Bcher schreibe, 4)

    Doch uns bleibt zu fragen: Wenn Nietzsche so viel mit Worten tun konnte, seinerhetorische Meisterschaft vorausgesetzt, warum sicherte er dann nicht seineWrter gegen bsartige Aneignung ab?29 Diese ethische Frage an Nietzsche hateine Parallele in Nietzsches eigener Anklage gegenber dem Stil des Christen-tums, gegen den Pastiche-Stil und die Aura des Neuen Testamentes:

    Es ist eine Feinheit, dass Gott Griechisch lernte, als er Schriftsteller werden wollte und dasser es nicht besser lernte. (jgb 121)

    Doch eben weil derselbe Nietzsche noch immer mit den Exemplikationen deut-scher Aggression im Ersten und wiederum im Zweiten Weltkrieg assoziiert wird(wie Hlderlins Schriften, so wurde auch Nietzsches Also sprach Zarathustra inFeldpostausgaben fr das Feld verffentlicht), tun wir vielleicht gut darananzunehmen, dass Nietzsche selbst seinen eigenen rhetorischen Schliff besserhtte gelernt haben sollen, als er es am Ende tat. Hier knnen wir nur zugestehen, dass es trotz allem, was Nietzsche mit Wortenzu tun vermochte, stimmt, dass seine Leistungen in diesem Bereich so sozial undpolitisch begrenzt sind, wie viele Gelehrte zurecht ihrerseits beobachteten. Diesist insbesondere dort der Fall, wo die Kunst des Lesens, die Nietzsche wieder-

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    holt uns als seinen Lesern auferlegt, in der Zwischenzeit keinerlei Fortschritt ge-macht hat. Schlielich ist es, wenn man einen Ansatzpunkt fr eine rettende Umformungsucht, vielleicht sinnvoll, nicht Nietzsches berragendes rhetorisches Knnenhervorzuheben, sondern stattdessen seine verhltnismige Unfhigkeit. Nietz-sches Worte scheiterten daran, die Weltgeschichte (im Vorhinein) festzulegen, sowie all seine Sehnsucht es nicht vermochte, die Griechen der Vergangenheitzurckzubringen (selbst in der Gestalt einer Wiedergeburt der tragischen Kunstin der Musik seines Zeitalters, sei es bei Wagner oder Bizet). So sehr sich Nietz-sche bemhte, die Welt durch sein Schreiben zu verndern (und darin mehrKlassizist als Philologe, tat er dies von Anfang an), ist es vielleicht von grererBedeutung und gewiss humaner, auch in einem transzendenten Sinne, sich insGedchtnis zurckzurufen, dass er sich dahingehend entwickelte, die Begrenzun-gen seiner Anstrengungen zu erkennen und dass er sich selbst mit zunehmendungeduldiger Frustriertheit (in Briefen und Postkarten an Freunde) fr den Restseines Lebens in diesem Sinne ausdrckte. Meine Vermutung, dass Nietzsche, wie vor ihm Hlderlin, seinen Wahnsinn vor-tuschte,30 geht Hand in Hand mit seiner Einsicht in die Machtlosigkeit desSchriftstellers. Angesichts der Welt und der realen, nur allzu banalen Politik die-ser Welt kann weiter nichts getan werden. Jedenfalls nicht durch einen Denker,nicht fr einen Dichter. Mit anderen Worten: Wenn es nur die Wahl zwischen der Feder oder demSchwert gibt, kam Nietzsche zunehmend fr sich selbst zu der Einsicht, wenn esschon nicht das Schwert sein konnte, es auch nicht die Feder sein wrde woer gleichzeitig behauptete, dass er so wenige Leser anzog, und dass, worauf erimmer bestand, von diesen wenigen Lesern keiner von dem Kaliber wre, das ersuchte. Und im Geist genau dieser kraftlosen Frustration machtlos, ohne Poin-te und Spitze, aber tatschlich, allzu menschlich wre dann, wie ich selbst zu-nehmend geneigt bin, die anti-schriftstellerische, zugleich gegen den Leser ge-richtete Rhetorik einer seiner letzten Bemerkungen zu lesen, in der er erklrt,ich htte alle Anti-Semiten erschossen. (An Franz Overbeck in Basel, Turin, 4.Januar 1889)

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    Anmerkungen:1 Gadamer, Selbstdarstellung, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 481.2 Gadamer, Das Drama Zarathustras, Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 448.3 Benn, Gesammelte Werke in vier Bnden, Bd. 1, S. 482483. Siehe auch Hillebrand, Hg., Nietzsche

    und die deutsche Literatur und Fritz Martini, Das Wagnis der Sprache. Prosainterpretation vonNietzsche bis Benn.

    4 Fr den Romantiker Adam Mller (17791829) ist Hren ein Tun, eine praktische Ttigkeit, die denMenschen auszeichnet. Nach Mller geht die Kunst des Hrens zugleich in das Politische undRhetorische ber sowie in die Hermeneutik und Medien-Wissenschaft. Darber hinaus ist solch eineKunst einer der alten rhetorisch-hermeneutischen Werte, der besonders in der Theologie hervorge-hoben wird (um von der Religion: Der Glaube kommt von Hren zu schweigen sowie von profa-nen Bereichen, z. B. berlegungen zu den Phnomenen Radio-Sendungen und Musik von Arnheim,Adorno und anderen), besonders in ihrer evangelischen berlieferung. Deshalb kann dieser Punktauch als das Vermchtnis des krzlich verstorbenen Tbinger Theologen Friedrich Lang (2004)betrachtet werden. Mit Nietzsche verwende ich den Ausdruck eher wortwrtlich. Siehe auch HolgerSchmid, Kunst des Hrens: Orte und Grenzen philosophischer Spracherfahrung und das hnlich beti-telte Werk von Jutta Wermke, Die Kunst des Hrens ein Desiderat der Deutsch-Didaktik.

    5 Siehe zur Einfhrung Babich, Nietzsches Self-Deconstruction: Philosophy as Style, ebenso On Niet-zsches Concinnity: An Analysis of Style.

    6 Vgl. Babich, The Genealogy of Morals and Right Reading: On the Nietzschean Aphorism and the Artof the Polemic, mit Schaffer, Das entfesselte Wort.

    7 In diesem Sinne berichtet Gadamer, dass er immer die Philosophie als eine Frage des Gesprchsempnde, auch wenn dies gegen Heidegger gerichtet zu sein scheint. Siehe hier sein Interview zuHeidegger und der Rhetorik: Heidegger als Rhetor: Hans-Georg Gadamer Interviewed by AnsgarKemmann, S. 200 f.

    8 In den Zusammenhang dieses Gadamerschen Gesprchsideals ist Nietzsche schwer einzubeziehen,gerade weil er seine Texte eher als eine Reihe von sehr absichtsvoll ausgearbeiteten Fllen fr seineLeser auffasst (wir werden dies weiter unten noch nher besprechen).

    9 Friedrich Hlderlin, Hyperion. In seiner Antwort auf die Frage, die sich auf die Griechen der Antikebezog, wie di dichterische religise Volk nun auch ein philosophische Volk seyn soll, das seh ichnicht, bemerkt Hyperion: Sie wren sogar, sagt ich, ohne Dichtung nie ein philosophisch Volkgewesen! Hlderlin, StA, Band 3, S. 81.

    10 Publiziert bei Schmeitzner in Chemnitz im Jahre 1878, enthielt die Titelseite von Menschliches,Allzumenschliches. Ein Buch fr freie Geister eine Widmung zum Andenken an Voltaire anlsslich des100. Jahrestages seines Todes am 30. Mai 1787. Dieser Jahrestag fhrte weltweit zu anspruchsvol-len Gruworten von Paris bis St. Petersburg, nach New York, London und auch Turin.

    11 Bezeichnend genug und wie die Titelseite von Menschliches, Allzumenschliches, so zeitigt auch dieTitelseite von Zur Genealogie der Moral eine hnliche sich ihrer Publikation bewusste Sensibilitt, wiesie damit beginnt, Friedrich Nietzsches Schriften nach den Jahren ihrer Entstehung aufzulisten.

    12 Vgl. Schacht, Hg., Nietzsche, Genealogy Morality; Leiter, Nietzsche on Morality; Ridley, NietzschesConscience, usw. Nuanciertere Lesarten scheinen zu sein: May, Nietzsches Ethics and his War onMorality worin < tatschlich auf Nietzsches eigenen Untertitel hinweist, und Stegmaier, Nietzsches,Genealogie der Moral.

    13 Vgl. auch Nietzsches eigene Kommentare, die die Art von Aphorismenbcher[n], die er schreibt,von Abhandlungen unterscheiden (die, wie Nietzsche hier bemerkt, fr Esel und Zeitschriftenleserbestimmt sind. ksa 11, S. 579.

    14 Daher der Untertitel von Pierre Hadots Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien derWeisheit.

    15 Hippokrates, Band III. Es ist Senecas Ausarbeitung und Gegenforderung jener Momente, die in ers-ter Linie hervorgehoben wurden (bei Seneca von dem sehr bekannten Mediziner zitiert: vitambrevem esse, longam arte), die sein berleben gesichert hat. Vgl. Seneca, De brevitate vitae.

    16 Ich argumentiere in Kapitel VII, dass man Evidenzen fr diese Anstrengung, Nietzsche nachzuahmen,in der Struktur und tatschlich auch in der Genese von Heideggers Beitrgen nden kann.

    Anmerkungen

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    17 Vgl. als ein Beispiel unter vielen anderen Krger, Studien ber den Aphorismus als philosophischeForm. Krgers Buch artikuliert sich im Gegensatz zu Kurt Bessers in strkerem Mae genuin philolo-gischer: Die Problematik der aphoristischen Form bei Lichtenberg, Schlegel, Novalis und Nietzsche. Vgl.fr eine jngere und sehr umfassende allgemeine Errterung: Otto, Wendungen der Metapher. Zurbertragung in poetologischer rhetorischer und erkenntnistheoretischer Hinsicht bei Aristoteles undNietzsche. Deutsche Gelehrte tendieren dazu, Nietzsche als Aphoristiker in Verbindung mit einerTradition von deutschen (manchmal auch nichtdeutschen) Meistern der aphoristischen Kunst zulesen, so wie, um ein jngstes Beispiel zu nennen, Egert, Vom Wesen und Werden des deutschenAphorismus. Essays zur Gattungsproblematik bei Lichtenberg und Nietzsche. Eher in noch jngerer Zeithaben Forscher in der englischen Sprache damit begonnen, die Frage nach dem Aphorismus inNietzsches Denken aufzuwerfen.

    18 Vgl. fr eine Diskussion dieser Probleme, die sowohl in der analytischen als auch der literarischenTradition der philosophischen Gelehrsamkeit herumspuken und die besondere Gefahr, ein Motto miteinem Aphorismus zu verwechseln meines Erachtens (und trotz der Klagen von deutschenLiteraturexperten, dass die Form als solche und in sich labil oder unklar verworren ist) ist dies eineVerwirrung, die stets bei einem Gelehrten der Rhetorik in der Art, wie Nietzsche einer war, vermie-den werden kann Wilcox, What Aphorism Does Nietzsche Explicate in Genealogy of Morals EssayIII? und Clark, From the Nietzsche Archive: Concerning the Aphorism Explicated in Genealogy III.Vgl. auch Wilcox, The Exegesis of an Aphorism in ,Genealogy III: Reections on the Scholarship.Hier fgt Wilcox eine Funote an, in der er Entsprechungen mit meinem Ausschluss dieses Mottoszugesteht. Vgl. auch Paul Miklowitz Antwort auf Wilcox 1999.

    19 Noch immer und trotz der Reise durch so viele Formen des asketischen Ideals und der dreimal wie-derholte Titel der dritten Abhandlung Was bedeuten asketische Ideale? sagt uns, dass diese Variationwesentlich ist haben an der Stelle gm iii: 1 viele Leser offensichtlich das Motto des drittenAbschnitts als den Aphorismus identiziert, den Nietzsche im Sinn hatte: Unbekmmert, spttisch,gewaltthtig so will u n s die Wahrheit: sie ist ein Weib; sie liebt immer nur einen Kriegsmann. A l s o S p r a c h Z a r a t h u s t r a (gm iii, Motto). Siehe z. B., Kelly Oliver, Womanizing Nietzschesowie Christoph Cox, Nietzsche: Naturalism and Interpretation, p. 15, und Jill Marsden, Nietzscheand the Art of the Aphorism, insb. S. 3237. Wilcox und Clark haben unstrittig groe Mhe auf dieseFrage verwendet, da Wilcox das Problem konstatierte und Clark es lste, indem er es fr ratsamhielt, eine Reise zu den Nietzschearchiven zu unternehmen, um einen Blick in dasOriginalmanuskript zu werfen. Es ist wichtig zu bemerken, dass weder Wilcox noch Clark der obengetroffenen Identikation des Aphorismus widersprechen, der hier infrage steht. Die einzigeDifferenz in meiner Lesart ist, dass ich die Identikation in einer klassisch kontinentalen Versionbiete, also auf dem Weg des Ratschlages der traditionellen Hermeneutik nach einer Exegese desLesers (und ich setze dabei voraus, dass eine Hermeneutik oder Kunst des Lesens eben das ist, wasNietzsche erwartete).

    20 Aristoteles verortete die Verantwortung dafr, verstanden zu werden, auf der Seite des Autors undder Luziditt (d. h. Klarheit) seiner Prosa.

    21 Es gibt andere, besonders bemerkenswert augustinische Loci fr dieses Bild. Doch ein besonderssubtiles Beispiel fr diese textliche Sensibilitt, eben aufgrund der Einbeziehung der vollen Reich-weite der verkrperten Sinnlichkeit des Briefes und des Buches ist Illich, Im Weinberg des Textes,Kapitel 3.

    22 Dies ist der Ausgangspunkt der Errterungen des Stils beim spten Jacques Derrida, in dem er die(gallische) stilistische Vorstellung von Frau heranzieht, in perons: Les Style des Nietzsche. Ich werfediese Frage aus einer anderen Perspektive auf, in Begriffen von Nietzsches Frage nach dem Problemdes Knstlers in: Babich, The Logic of Woman in Nietzsche: The Dogmatists Story.

    23 Krger, Studien ber den Aphorismus als philosophische Form, S. 26.24 Es ist wert zu bemerken, dass jeder christliche Prediger oder Priester dasselbe zu seinen Glubigen

    sagen knnte. 25 Neben dem Antisemitismus des Lesers folge ich an anderer Stelle der Dynamik dieser Schreibweise,

    so wie sie berzeugtheiten aus Vorurteilen aufnimmt und sich ihrer bedient, indem ich einen Blickauf die Funktion von Nietzsches Kritik asketischer Ideale in Begriffen nicht nur der religisen Vor-

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    gnger, sondern der Wissenschaft werfe. Babich, Nietzsches Philosophy of Science, vgl. Kapitel 4 undinsbesondere Kapitel 5.

    26 Ich errtere diesen Punkt im Sinne von Nietzsches originr philologischem Impetus des Schreiben inseiner Geburt der Tragdie aus dem Geiste der Musik, und ich verbinde damit einen weit gezogenenRahmen weiterer Referenzen auf zustzliche Literatur in Babich, Words in Blood, Like Flowers.

    27 Aber abseits von diesen ffentlichen Hekatomben, und im Grunde viel grauenhafter als diese,begiebt sich ein Schauspiel, welches fortwhrend in hunderttausend Acten gleichzeitig sich abspielt:jeder tchtige, arbeitsame, geistvolle, strebende Mensch eines solchen nach politischen Ruh-meskrnzen lsternen Volkes wird von dieser Lsternheit beherrscht und gehrt seiner eigenenSache nicht mehr, wie frher, vllig an (mm i, 481).

    28 Jacques Rancire, Le philosophe et ses pauvres. Vgl. ferner Nietzsche, ksa 9, S. 213. 29 Berel Lang wirft genau diese Frage in seinem Beitrag zu Golomb und Wistrich, auf: Nietzsche,

    Godfather of Fascism. On the Uses and Abuses of Philosophy. Siehe aber auch die Beitrge zu Babich,Hg., Nietzsche, Habermas, and Critical Theory.

    30 Ich argumentiere in Kapitel V in dem Sinne, dass sich Nietzsche mit dem Dichter Friedrich Hlderlinidentizierte (so wie es in jngerer Zeit Martin Heidegger tat). Man sollte nicht unbedingt sagen,dass in seinem Zeitalter, in einer Zeit des Aufstiegs medizinischer Psychologie (und pharmazeutischerTherapie) Nietzsches Schicksal sich merklich von jenem Hlderlins unterschieden haben msste, derin einem buchstblichen Sinne in der Lage war, sich von der Welt in das Kloster des Wahnsinnszurckzuziehen. Pierre Bertaux erinnert uns daran, dass Hlderlin mehr als nur romantische Grn-de hatte, solch ein Kloster aufzusuchen, aufgrund der Gefahr seiner Ansichten auf die FranzsischenRevolution zu jener Zeit; und tatschlich wurden viele von Hlderlins Freunden und Genossen insGefngnis geworfen oder gettet. Vgl. Bertaux, Hlderlin und die Franzsische Revolution. Hlderlinwurde in die Autenriethsche Klinik am 11. September 1806 eingewiesen, ein Jahr spter wurde derDichter fr unheilbar krank erklrt und in die Frsorge des Schreiners Ernst Zimmer entlassen. Erlebte in dessen Haushalt in dem berhmten Turm am Neckar, wo er fr die nchsten vierzehn Jahrein der Lage war, Besucher und Bewunderer zu empfangen und auch zu schreiben. Wenn Nietzschedagegen 1889 anstrebte (ob es nun wahr ist oder nicht), Hlderlin zu imitieren, indem auch er vor-gab, dem Wahnsinn zu verfallen, so kann nicht bestritten werden, dass die neuen Psychopharmaka,mit denen er behandelt wurde (und von denen viele nur zu experimentellem Zweck eingesetzt wur-den), wobei doch alle in Serie verabreicht worden sind, als ihn seine Mutter und seine Schwester aufder rasenden Suche nach einer Kur, oftmals innerhalb weniger Tage von einer Klinik zur nchstenbrachten, am Ende seine Krankheit mit Gewissheit herbeifhrten: d. h. eben durch Eingriff verur-sachten (oder iatrogenetische) Krankheit.

    Anmerkungen

    Fordham UniversityDigitalResearch@Fordham4-1-2009

    Zu Nietzsches StilBabette BabichRecommended Citation