Baden-Württemberg und seine „Wutbürger“...Postkarten (Landesarchiv StAS Wü 2 T 1). Von...

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Archivnachrichten 45 / 2012 48 innere Gestaltung wird es von ausschlag- gebender Wichtigkeit sein, dass man die Bürger so an die Mitwirkung im öffent- lichen Leben heranlässt, dass alle anderen Länder darin wieder ein Musterbeispiel sehen. (…) Tatsächlich kann der Bürger nur über die Gemeinde zum Staat kom- men. Nur in der Gemeinde kann er am praktischen Beispiel unmittelbar erfahren, was politische Verantwortung und was politisches Entscheidungsrecht bedeutet. Nur dann wird das in diesem Staat vor- läufig fehlende Staatsgefühl allmählich durch das Gefühl des Bürgers ersetzt werden: das ist meine Verwaltung, die mir gehört, nicht ein von oben her geschaffe- ner künstlicher Apparat. Alfred Gerigks Kommentar eröffnet eine didaktische Perspektive, die die Entstehung Baden-Württembergs weit über das Faktum des Gründungsakts hinaus für den Geschichtsunterricht in- teressant und fruchtbar macht: • Stil und Inhalte der politischen Aus- einandersetzung sowie der politische Entscheidungsprozess mussten, trotz des hohen Grades an Politisierung, eher desintegrierend auf das neue Bundesland wirken. Die schwierige Ge- burt Baden-Württembergs steht in starkem Kontrast zur Erfolgsgeschichte des Südweststaats. Daraus folgt die Frage nach identitätsstiftenden Fakto- ren für ein, wie Gerigk es nennt, künst- lich geschaffenes Land ohne tragende historische Wurzeln. Die Argumen- tationen in der politischen Debatte für und gegen die Staatenfusion bieten hierfür bereits reizvolle Ansatzpunkte. • Sieht man wie Alfred Gerigk die Grün- dung des Südweststaats als Testfall für die deutsche Demokratie, so lohnt es sich, die Staatenfusion mit anderen schwierigen Prozessen politischer Ent- scheidungsfindung zu vergleichen. Daraus ergibt sich die Frage nach effektiven Formen politischer Partizi- pation und, wiederum, ihrer identitäts- stiftenden Funktion für ein Gemein- wesen: Wie gestaltet man erfolgreich politische Entscheidungsprozesse, wie beteiligt und repräsentiert man Bürger sinnvoll an diesen Prozessen? Hier lohnt sich auch ein Vergleich des Stils der politischen Auseinandersetzung mit heute praktizierter politischer Kul- tur. Obige Überlegungen sind Grundlage eines Unterrichtsmoduls, das im Rah- men der archivpädagogischen Arbeit am Staatsarchiv Sigmaringen für den Lan- desbildungsserver erstellt wurde (siehe unten). Das Staatsarchiv Sigmaringen verwahrt die Überlieferung des Staatssekretariats des Landes Württemberg-Hohenzollern, darunter eine Fülle von anschaulichem Wahlkampfmaterial in Form von Plakaten, Flugschriften, Postwurfsendungen und Postkarten (Landesarchiv StAS Wü 2 T 1). Von besonderem didaktischem Wert ist eine Zeitschriften-, Zeitungs- und Ausschnittssammlung der „Staatlichen Nachrichtenstelle des Staatssekretariats“ (Landesarchiv StAS Wü 5 T 1, 1946 bis 1952). Diese Nachrichtenstelle war Presse- und Informationsorgan des Staatssekretariats und hatte die Ministe- rien mit Informationen zu versorgen – z.B. über die von den beiden politischen Lagern publizierten Kampfzeitschriften (Badnerland und Vom See zum Main), die mit zugespitzten Artikeln und Karika- turen die Wortführerschaft zu erringen versuchten. Das Unterrichtsmodul bietet ein didaktisches Konzept, wie Schüler mit einer Auswahl dieser Materialien so- wohl im Staatsarchiv Sigmaringen als auch in Form von Reproduktionen im Klassenzimmer arbeiten können. Baden-Württemberg und seine „Wutbürger“ Zur Aktualität der politischen Debatte um die Gründung des Südweststaats vor 60 Jahren Quellen für den Unterricht 44 Markus Fiederer Die Auseinandersetzung um die Grün- dung des Südweststaats war Ende 1951 endgültig auf der Zielgeraden angekom- men. Ein beispielloser Wahlkampf, ge- würzt mit politischen Intrigen und Ränkespielen, persönlichen Anfeindun- gen und Diffamierungen mündete in die Volksabstimmung des 9. Dezember. Ein Jahr zuvor war per Bundesgesetz der umstrittene Abstimmungsmodus festge- legt worden, jetzt sollte die Mehrheit in drei der vier Abstimmungsbezirke den Weg zur Gründung des neuen Staates endgültig freimachen. Wenige Tage vor der entscheidenden Abstimmung hatten die Südweststaatsbefürworter in Karls- ruhe zu ihrer Abschlusskundgebung ein- geladen. Wer bei dieser Veranstaltung auch nur den geringsten kritischen Zwi- schenruf wagte, wurde von den stäm- migen Burschen des Saalschutzes aus dem Saal hinausgeworfen, verprügelt und in einzelnen Fällen sogar jämmerlich zu- gerichtet. Mit Bestürzung berichtete der badische Südkurier am 11. Dezember 1951 von diesem Vorfall. Die Attacken hätten auch bei der Schweizer Presse Re- sonanz gefunden – welche Peinlichkeit! Grund genug für den Kommentator des Südkuriers, Alfred Gerigk, das neu- geborene Bundesland zum Testfall für die deutsche Demokratie zu erklären: Haben die Deutschen den Willen und die Fähigkeit, sich in demokratischen For- men selbst zu regieren, was die Achtung vor den Rechten einer Minderheit in sich schließt? Es handelt sich ja um das erste neue deutsche Land, das nicht durch den Willen einer Besatzungsmacht geschaffen wird, sondern durch den Willen der Mehrheit der abstimmenden Bürger. (…) Das südwestlichste deutsche Land, Baden, nannte man einst das deutsche Muster- ländle. Das neue südwestlichste deutsche Land sollte den Ehrgeiz haben, das deut- sche Musterland zu werden. (...) Für seine

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innere Gestaltung wird es von ausschlag-gebender Wichtigkeit sein, dass man dieBürger so an die Mitwirkung im öffent-lichen Leben heranlässt, dass alle anderenLänder darin wieder ein Musterbeispielsehen. (…) Tatsächlich kann der Bürgernur über die Gemeinde zum Staat kom-men. Nur in der Gemeinde kann er ampraktischen Beispiel unmittelbar erfahren,was politische Verantwortung und waspolitisches Entscheidungsrecht bedeutet.Nur dann wird das in diesem Staat vor-läufig fehlende Staatsgefühl allmählichdurch das Gefühl des Bürgers ersetzt werden: das ist meine Verwaltung, die mirgehört, nicht ein von oben her geschaffe-ner künstlicher Apparat.Alfred Gerigks Kommentar eröffneteine didaktische Perspektive, die dieEntstehung Baden-Württembergs weitüber das Faktum des Gründungsaktshinaus für den Geschichtsunterricht in-teressant und fruchtbar macht:

• Stil und Inhalte der politischen Aus-einandersetzung sowie der politischeEntscheidungsprozess mussten, trotzdes hohen Grades an Politisierung,eher desintegrierend auf das neueBundesland wirken. Die schwierige Ge-burt Baden-Württembergs steht instarkem Kontrast zur Erfolgsgeschichtedes Südweststaats. Daraus folgt dieFrage nach identitätsstiftenden Fakto-ren für ein, wie Gerigk es nennt, künst-lich geschaffenes Land ohne tragendehistorische Wurzeln. Die Argumen-tationen in der politischen Debatte fürund gegen die Staatenfusion bietenhierfür bereits reizvolle Ansatzpunkte.• Sieht man wie Alfred Gerigk die Grün-dung des Südweststaats als Testfall fürdie deutsche Demokratie, so lohnt essich, die Staatenfusion mit anderenschwierigen Prozessen politischer Ent-scheidungsfindung zu vergleichen.

Daraus ergibt sich die Frage nacheffektiven Formen politischer Partizi-pation und, wiederum, ihrer identitäts-stiftenden Funktion für ein Gemein-wesen: Wie gestaltet man erfolgreichpolitische Entscheidungsprozesse, wiebeteiligt und repräsentiert man Bürgersinnvoll an diesen Prozessen? Hierlohnt sich auch ein Vergleich des Stilsder politischen Auseinandersetzungmit heute praktizierter politischer Kul-tur.

Obige Überlegungen sind Grundlageeines Unterrichtsmoduls, das im Rah-men der archivpädagogischen Arbeit amStaatsarchiv Sigmaringen für den Lan-desbildungsserver erstellt wurde (sieheunten).Das Staatsarchiv Sigmaringen verwahrtdie Überlieferung des Staatssekretariatsdes Landes Württemberg-Hohenzollern,darunter eine Fülle von anschaulichemWahlkampfmaterial in Form von Plakaten,Flugschriften, Postwurfsendungen undPostkarten (Landesarchiv StAS Wü 2 T1). Von besonderem didaktischem Wertist eine Zeitschriften-, Zeitungs- undAusschnittssammlung der „StaatlichenNachrichtenstelle des Staatssekretariats“(Landesarchiv StAS Wü 5 T 1, 1946 bis1952). Diese Nachrichtenstelle warPresse- und Informationsorgan desStaatssekretariats und hatte die Ministe-rien mit Informationen zu versorgen –z.B. über die von den beiden politischenLagern publizierten Kampfzeitschriften(Badnerland und Vom See zum Main),die mit zugespitzten Artikeln und Karika-turen die Wortführerschaft zu erringenversuchten. Das Unterrichtsmodul bietetein didaktisches Konzept, wie Schülermit einer Auswahl dieser Materialien so-wohl im Staatsarchiv Sigmaringen alsauch in Form von Reproduktionen imKlassenzimmer arbeiten können.

Baden-Württemberg und seine „Wutbürger“ Zur Aktualität der politischen Debatte um die Gründung des Südweststaats vor 60 Jahren

Quellen für den Unterricht 44 Markus Fiederer

Die Auseinandersetzung um die Grün-dung des Südweststaats war Ende 1951endgültig auf der Zielgeraden angekom-men. Ein beispielloser Wahlkampf, ge-würzt mit politischen Intrigen und Ränkespielen, persönlichen Anfeindun-gen und Diffamierungen mündete in die Volksabstimmung des 9. Dezember.Ein Jahr zuvor war per Bundesgesetz derumstrittene Abstimmungsmodus festge-legt worden, jetzt sollte die Mehrheit indrei der vier Abstimmungsbezirke denWeg zur Gründung des neuen Staatesendgültig freimachen. Wenige Tage vorder entscheidenden Abstimmung hattendie Südweststaatsbefürworter in Karls-ruhe zu ihrer Abschlusskundgebung ein-geladen. Wer bei dieser Veranstaltungauch nur den geringsten kritischen Zwi-schenruf wagte, wurde von den stäm-migen Burschen des Saalschutzes aus demSaal hinausgeworfen, verprügelt und ineinzelnen Fällen sogar jämmerlich zu-gerichtet. Mit Bestürzung berichtete derbadische Südkurier am 11. Dezember1951 von diesem Vorfall. Die Attackenhätten auch bei der Schweizer Presse Re-sonanz gefunden – welche Peinlichkeit!Grund genug für den Kommentator des Südkuriers, Alfred Gerigk, das neu-geborene Bundesland zum Testfall fürdie deutsche Demokratie zu erklären: Haben die Deutschen den Willen unddie Fähigkeit, sich in demokratischen For-men selbst zu regieren, was die Achtungvor den Rechten einer Minderheit in sichschließt? Es handelt sich ja um das ersteneue deutsche Land, das nicht durch denWillen einer Besatzungsmacht geschaffenwird, sondern durch den Willen derMehrheit der abstimmenden Bürger. (…)Das südwestlichste deutsche Land, Baden,nannte man einst das deutsche Muster-ländle. Das neue südwestlichste deutscheLand sollte den Ehrgeiz haben, das deut-sche Musterland zu werden. (...) Für seine

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Stil und Strategie der politischen Auseinander-setzung

Betrachtet man die politische Debatteum die Staatenfusion genauer, so fallenmehrere charakteristische Merkmale auf,die einen Vergleich mit aktuellen poli-tischen Auseinandersetzungen erlauben:Der Begriff der Heimat war in beidenpolitischen Lagern von zentraler Bedeu-tung. Als Oberbegriff des Beziehungs-geflechts von individueller Verwurzelung,kollektiver Traditionsbildung und poli-tisch-staatlicher Zugehörigkeit wurde eroft unreflektiert bzw. bewusst vereinfa-chend für die eigene Argumentation be-

Als er da in einem badischen Dorfe unweitder württembergischen Grenze die Hei-matliebe der Bauern anpacken wollte undvon den saftigen Wiesen, den schönen Fel-dern, den dunklen Tannen und den ewi-gen Bergen sprach, musste er sich nämlichvom Bürgermeister leise belehren lassen,dass die Berge hier württembergisch seien.Es dürfte eben den Altbadenern schwerfallen, einen Unterschied der Landschaftund der Menschen zu konstruieren. Daseinzige, an das sie sich halten können, isthöchstens ein Staatsbewusstsein, allerdingsein sehr junges, das sich erst in den letzten150 Jahren zusammen mit einem dynas-tischen Bewusstsein gebildet hat. Mit diesemStaatsbewusstsein ist ein Heimatgefühlverbunden, das aber gar nicht bedroht ist.Verschiedenartige Elemente wurden vor150 Jahren nach dem Willen Napoleonszusammengebracht. (...) In beiden Ländernsind verschiedene Teile gut zusammen-gewachsen, und in einem Südweststaat(...) wird es kaum anders sein.Eine intensive Auseinandersetzung mitdem Begriff der Heimat brachten auchdie Verhandlungen der politischen Lagermit den Organisationen der Heimat-vertriebenen. Viele Heimatvertriebenekonnten der südbadischen Propagandavom Verlust der alten Heimat angesichtsihres eigenen Schicksals wenig Verständ-nis entgegenbringen – ebenso wenig wie der von Südweststaatsgegnern er-hobenen Forderung, die Landfremdenvon der Volksabstimmung auszuschließen,sie zumindest aber zum freiwilligenStimmverzicht zu bewegen.Ein weiteres wichtiges Merkmal derDebatte um den Südweststaat war diestereotype Verwendung der Bezeichnun-gen Badener und Schwaben. Sie dientenicht selten dazu, Sachverhalte zu verall-gemeinern, zu vereinfachen und aufeinen Grundkonflikt zu reduzieren. Sozum Beispiel auf der Grafik einer Post-wurfsendung, die Leo Wohleb in lässigerund weltmännischer Manier den Angriff

nutzt und instrumentalisiert. Besondersbemerkenswert: die wichtige Rolle, die inder Auseinandersetzung noch immerden alten Fürstenstaaten direkt oder in-direkt – zukam. So erstaunt z.B. dieWirkkraft der vom (süd-)badischenStaatspräsidenten Leo Wohleb (1947 bis1952) propagierten Treue zur badischenHeimat in Südbaden – einem Gebiet, daserst durch die napoleonische Mediatisie-rung badisch geworden war (Material 1). Ein eindrückliches Beispiel der Instru-mentalisierung des Begriffs Heimat fin-det sich in der Schwäbischen Zeitungvom 7.12.1951. Dort wird von einerWahlkampfveranstaltung Leo Wohlebsberichtet und das Geschehene kom-mentiert:

1 | Instrumentalisierung des Begriffs „Heimat“,Emotionalisierung der Auseinandersetzung: Ano-nyme Postkarte. Vorlage: Landesarchiv StAS Wü 2 T 1, Nr. 237

Das Postkartenmotiv macht die Südweststaatsfrageanhand des Begriffs der „Treue“ zu einer Frage der Moral. Die historisierende Schriftart suggeriert Traditionsbewusstsein. Der anonyme Verfasserschreibt seine Postkarte, als die Regierung Wohlebdie Volksabstimmung des Jahres 1951 noch durcheine Verfassungsklage abzuwenden versuchte. Errückt Gebhard Müller und Reinhold Maier in dieNähe des Nationalsozialismus.

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chend, als kleines Häschen. Die würt-tembergischen Politiker werden so selbstzu Angsthasen, Leo Wohlebs politischeBedeutung wird bis in Lächerliche zu-rückgestutzt. In einem Manuskript, das im Staats-archiv Sigmaringen verwahrt wird(Material 4), kommentiert der Staats-präsident von Württemberg-Hohen-zollern (1948 bis 1952) und spätere Ministerpräsident von Baden-Württem-berg (1953 bis 1958), Dr. Gebhard Müller, beide Zeichnungen und demas-kiert die Stereotypisierung der Schwa-ben in der badischen Version. GebhardMüller nimmt das Märchen der Ge-brüder Grimm beim Wort und ordnetdie sieben Schwaben gemäß ihrer Her-kunft den verschiedenen Landesteilenzu. Zwei der sieben Schwaben seien, so seine Schlussfolgerung, nachweislichBadener gewesen! Im Übrigen: im 16.Jahrhundert, in der Entstehungszeit derLegende von den Sieben Schwaben,habe Kaiser Maximilian I. das Reich inKreise eingeteilt. Der Schwäbische Kreishabe damals ganz Württemberg undBaden umfasst und damit den Südwest-staat geradezu antizipiert. GebhardMüllers wohl nicht ganz ernst gemein-ter Beitrag endet mit einem bitterenKommentar zu seiner persönlichenDiffamierung in der Südweststaats-debatte.Damit ist ein drittes Merkmal bereitsangesprochen: Die gezielte Diffamie-rung des politischen Gegners, die ihrer-seits wiederum dazu diente, Ängste zu schüren, die Auseinandersetzung zuemotionalisieren und in Sachfragen zu polarisieren (siehe Material 5 und 6).Polarisierungseffekte zeigte auch dieauf beiden Seiten betriebene und zuge-spitzte Stilisierung der inhaltlichenStreitpunkte, z.B. als Frage der Bewah-rung von Identität oder der Sicherungder Zukunft. Bemerkenswerterweisewurden dabei die von der Gegenseiteverwendeten Stilisierungen bewusstaufgegriffen, in veränderter Form in dieeigene Argumentation integriert unddamit als Waffe des politischen Gegnersentschärft (Material 7 und 8). Als Bei-spiel für eine besonders dreiste Zu-spitzung der Kampagne gegen die Süd-weststaatler sei der ebenso einprägsamewie absurde Kampfbegriff StuttgarterWirtschaftsimperialismus genannt, dersich im Badnerland, der Kampfzeit-schrift der Südweststaatsgegner, fand.

der mit einem Füllfederhalter bewaffne-ten Sieben Schwaben abwehren lässt(Material 2). Die württembergische Ant-wort ließ nicht lange auf sich warten:Eine Karikatur von Fritz Meinhard(Stuttgarter Zeitung vom 9. 9. 1950, Ma-terial 3) zeigt Leo Wohleb nicht alsmächtigen Politiker, sondern, dem Mär-chen der Gebrüder Grimm entspre-

2 | Stereotype „Badener“ und „Schwaben“: Postwurfsendung. Vorlage: Landesarchiv StAS Wü 2 T 1, Nr. 252 Qu. 82

3 | Sterotype „Badener“ und „Schwaben“: Karikatur „Die Jagd geht auf!“ von Fritz Meinhard.(Stuttgarter Zeitung, 9.9.1950)

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5 | Erzeugung von Angst: Postkarte.Vorlage: Landesarchiv StAS Wü 2, Nr. 252 Qu. 83

6 | Politische Diffamierung des Gegners: Karikatur in„Vom See zum Main“, 4.12.1951.Vorlage: Landesarchiv StAS Wü 5 T 1, Nr. 744.

4 | Stereotpye „Badener“ und „Schwaben“: Auszug aus einem Manuskript von Dr. Gebhard Müller. Vorlage: Landesarchiv StAS Wü 2 T 1, Nr. 260 Qu. 327

Schwabenstreichevon Staatspräsident Dr. Gebhard Müller

Ein vortrefflicher Zeichner, der uns schon viel Vergnügen bereitet hat, hat vor wenigenTagen in dieser Zeitung eine Karrikatur (sic) der sieben Schwaben gebracht. HerrWohleb tritt in Gestalt jenes Männchen machenden Hasen auf, den die sieben Schwa-ben anstelle des gefürchteten Ungeheuers, dem ihr Feldzug gilt, plötzlich vor sichsehen. Die Arbeitsgemeinschaft der Altbadener hat gleichzeitig eine Postkarte heraus-gegeben, auf der der Staatspräsident Wohleb den ganzen Umfang der badischen Land-karte mit seiner Figur ausfüllt, mit energischer Handbewegung, fast eine cäsarischeFigur im modernen, eleganten Zivil, die sieben Schwaben, die statt eines Speeres einenFederhalter tragen, zum Rückzug zwingt. Ist es nicht eine Verkennung der Person und der Politik des Herrn Wohleb, wenn manihm die Figur dieses harmlosen Hasen gibt? Zieht nicht tagtäglich Wohleb mit scharferFeder und noch spitzerer Zunge gegen die Schwaben, womit er nur die Württembergermeint, zu Felde? Haben nicht die Württemberger sehr viel mehr Ähnlichkeit mit jenemvermeintlichen Seeungeheuer, das sich als ein Hase entpuppt? Könnte man sich nichtviel eher unter diesen sieben Gestalten den streitbaren Herrn Wohleb (...) vorstellen?Was nun die altbadische Postkarte angeht, so scheint man es in Freiburg vergessen zu haben, dass von den sieben Schwaben nur drei Württemberger sind. Zwei stammenzweifellos aus dem Badischen (...). Die beiden anderen sind aus dem bayerischenSchwaben (...). Diese Legende taucht im 16. Jahrhundert auf. Damals hatte Kaiser Ma-ximilian I. das Reich in Kreise eingeteilt. Der schwäbische Kreis umfasste fast ganzWürttemberg und Baden. Diese schöne Geschichte, die uns so oft belustigt und niemalsverärgert hat, antizipiert gleichsam vor 6 Jahrhunderten den Südweststaat (...).Dies alles sollte man eigentlich wissen, wenn man diese Legende zur politischen Agita-tion missbraucht. Sie ist ein belustigendes Symptom dafür, wie leicht die altbadischenArgumente widerlegt werden können. Wir Württemberger lassen uns nur allzusehr von der badischen Agitation beeindrucken. (...)Ich würde am liebsten ein Preisausschreiben in allen badischen Zeitungen veranstaltenund denjenigen prämieren, der mir aus Reden württembergischer Politiker Verun-glimpfungen gegen die Badener nachweist. Es gibt keine. Wir Württemberger wollenmit den Badenern zusammenleben, nicht sie unterdrücken oder beherrschen. (...)Anm.: Wenn einer wirklich das Recht hat, verbittert zu sein, dann bin ich es selber.Zwei Jahre lang habe ich mich unentwegt um eine Vermittlung der Gegensätze im Interesse der Sache bemüht (...). Ich werde heute in der Öffentlichkeit in einer Weise verleumdet und beschimpft, die ich nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichesnicht wieder für möglich gehalten habe. Weil ich weiß, was mit dieser Kampagne bezweckt ist, lasse ich mich nicht verbittern und beirren.

© Landesarchiv StAS Wü 2 T1, Nr. 260, Qu. 327. Zitiert nach: Xaver Pfaff, Christof Rieber, Gebhard Müller, Christ – Jurist - Politiker, Reader 03 „Schule und Archiv“ am Staatsarchiv Sigmaringen, Sigmaringen 2000.

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9 | Stil der politischen Auseinandersetzung: Foto einer Plakattafel von 1951.Vorlage: Landesarchiv StAS, Wü 2 T 1, Nr. 293

Die Botschaft der Südweststaatsgegner wird durchdas links ergänzte Plakat ins Gegenteil verkehrt.

Von der Südweststaats-frage zu Stuttgart 21

Auch inhaltlich bietet die Debatte um dieSüdweststaatsfrage eine ganze Reihe vonParallelen zu heutigen politischen Streit-fragen. Lohnenswert ist ein Vergleich mitder (noch immer) aktuellen politischenAuseinandersetzung um den Bau desVerkehrsprojekts Stuttgart 21, das eineganze Reihe von ähnlichen Fragen auf-geworfen hat:

• Wie können Bürger sachgemäß undrepräsentativ an weitreichenden Ent-scheidungen beteiligt werden? Wiekönnen Partizipationsmöglichkeitenso gestaltet werden, dass sie in ihremErgebnis zu mehr Identifikation der

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Bürger mit ihren politischen Ent-scheidungsträgern führen?• Welche Rolle sollen bei Projekten, diein ihren Auswirkungen verschiedenestaatliche Verwaltungsebenen betreffen,die Länder, der Bund und die Kommu-nen spielen? Wie sind in einer föder-alen Struktur das Verhältnis und dieBefugnisse von Bund und Ländern zudefinieren?• Welche Rolle kann dem Bundesverfas-sungsgericht bei schwierigen oderscheinbar unlösbaren politischen Ent-scheidungsprozessen zukommen? • Welche Bedeutung hat Transparenz fürdie Akzeptanz politischer Entschei-dungsprozesse?• Welche Formen des politischen Protes-tes sind im Sinne bürgerlicher Parti-zipation einer Demokratie förderlich,

wo sind die Grenzen, und wo mussder Staat Akzeptanz für politische Ent-scheidungen einfordern?• Welche Grundregeln einer politischenKultur müssen gelten, damit im Mittel-punkt politischer Auseinandersetzun-gen die eigentlichen Sachfragen undpolitischen Argumente stehen?

Verwendung im Unterricht

Eine besonders fruchtbare didaktischeHerangehensweise an das Thema ist dieVorbereitung und Durchführung einesRollenspiels. Dabei gehen die Schülervon einer Wahlkampfveranstaltung aus,bei der ein Befürworter und ein Gegnerdes Südweststaats (aus Württembergbzw. aus Baden), sowie ein Vertreter

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7 | Stilisierung von Sachfragen: Plakat von 1951.Vorlage: Landesarchiv StAS Wü 2 T 1, Nr. 1976

Das von den Südweststaatsgegnern gepflegte Motivder Bewahrung von Tradition und Heimat wird vonden Südweststaatsbefürwortern aufgegriffen: Diedurch ihre Tracht erkennbar traditionsorientiertendrei Landesteile vereinen sich zur Familie. DasMotiv der „Familie“ ermöglicht es, Traditionalismusund Staatenfusion thematisch miteinander zu ver-binden. Ähnlich geschieht dies im Wahlkampfslogan„Der Südweststaat – eine Forderung der Vernunftund Heimatliebe“. Auch hier wird das Argument derSüdweststaatsgegner „umgedreht“: Die Bewahrungder Heimat erfordere eine zukunftsfähige, „vernünf-tige“ Lösung, und damit das Votum für den Süd-weststaat.

8 | Stilisierung der Auseinandersetzung: Plakat von 1951.Vorlage: Landesarchiv StAS Wü 2 T 1, Nr. 1976

Die Gründung des Südweststaats als erster Schrittzur europäischen Einigung.

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Modell zurückgreifen, die auf dem Lan-desbildungsserver verfügbar sind.Eine zweite, projektartige Möglichkeit,aktuelle Bezüge der Südweststaatsdebatteherauszuarbeiten, bietet der oben an-gesprochene Vergleich mit der Stuttgart21-Debatte. Im Rahmen einer Ausstel-lungseröffnung anlässlich des 60. Jahres-tages der Gründung des Südweststaatesgestalteten Schüler des Martin-Heideg-ger-Gymnasiums in Meßkirch zwei parallele Demonstrationen, bei denen in Form fiktiver Reden der Protest derAltbadener dem der Stuttgart 21-Gegnergegenübergestellt und so die Parallelitätder Argumentationen vor Augen geführtwurde.

Literatur

Franz-Josef Ziwes: Karikaturen undPlakate zur Entstehung des Südwest-staats. Begleitveröffentlichung zur Aus-stellung des Staatsarchivs Sigmaringen„Politische Plakate und Karikaturen ausder französischen Besatzungszeit undden Anfängen des Südweststaates“. Sig-maringen 2002.

Reinhold Weber und Ines Mayer(Hrsg.): Politische Köpfe aus Südwest-deutschland. Herausgegeben von derLandeszentrale für politische BildungBaden-Württemberg. (Schriften zur po-litischen Landeskunde 33). Stuttgart2005.

Klaus-Jürgen Matz: Kleine Geschichtedes Landes Baden-Württemberg. Her-ausgegeben von der Landeszentrale fürpolitische Bildung Baden-Württemberg.Leinfelden-Echterdingen 2010.

Hohenzollerns als Redner auftreten.Nach einer Auswertung des Wahlkampf-materials (im Original im StaatsarchivSigmaringen bzw. als Reproduktion imKlassenzimmer) formulieren die Schülerin Gruppen arbeitsteilig drei fiktiveWahlkampfreden. Während der Redenfungieren die Mitschüler als Besucherder Wahlkampfveranstaltung und bringenihre Sympathie bzw. ihr Missfallen fürdie einzelnen Redebeiträge zum Aus-druck. Die Reden ermöglichen es denSchülern, die im Quellenstudium analy-sierten Inhalte und Argumente sowie Stil und Strategien der politischen Aus-einandersetzung in ihren fiktiven Redeneinzuarbeiten.Zur Bearbeitung dieser Aufgabe sollteder Lehrer/die Lehrerin auf die Quellen,die Arbeitsblätter und das didaktische

10 | Das Thema im Unterricht: Annika Bitzer vomNeigungsfach Geschichte am Gymnasium Ebingenhält eine fiktive Wahlkampfrede für den Südwest-staat.Foto: privat

11 | Das Thema im Unterricht: „Wutbürger“ einstund heute – Schüler des Martin-Heidegger-Gym-nasiums Meßkirch präsentieren anlässlich einerAusstellungseröffnung zur Gründung Baden-Würt-tembergs am 25. April 2012 im Meßkircher Schlosszwei Demonstrationen der Jahre 1951 und 2010.Die Parallelen zwischen der Auseinandersetzung umden Südweststaat und um das Projekt „Stuttgart21“ werden greifbar.Foto: privat

Das Unterrichtsmodul auf dem Landesbildungsserver:

www.landeskunde-bw.deUnterrichtsmodul Geschichte: Markus Fiederer: „Stuttgarter Wirt-schaftsimperialismus“? Der politischeKampf um die Gründung des Südwest-staats (1948 bis 1952).

Quellenreader:Christoph Rieber, Xaver Pfaff: Besatzungszeit und Werden des Südwest-staats. Gebhard Müllers Wirken als Regierungschef von Württemberg-Hohenzollern 1948–1952 – Akten aus Beständen des Staatsarchivs Sigmaringen. Reader 03 „Schule und Archiv“ am Staats-archiv Sigmaringen. Sigmaringen 2000.

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