Bahrdt 1961 Menschenbild Der Soziologie

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    Zur Frage des Menschenbildes in derSoziologie

    Hans Paul Bahrdt

    European Journal of Sociology / Volume 2 / Issue 01 / June 1961, pp 1 - 17

    DOI: 10.1017/S0003975600000254, Published online: 28 July 2009

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    How to cite this article:Hans Paul Bahrdt (1961). Zur Frage des Menschenbildes in derSoziologie. European Journal of Sociology, 2, pp 1-17 doi:10.1017/S0003975600000254

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    sondern nur iiber Ausschnitte aus dem Leben bestimmter Men-

    schen. Aber kann sie das, wenn sie nicht von einem Menschen-

    bild ausgeht, wenn nicht gewisse Vorstellungen iiber die Eigen-

    schaften vorliegen, die alien Menschen zukommen, mogen diese

    nun aus der eigenen Werkstatt, etwa der soziologischen Grundla-

    genforschung, oder aus anderen Disziplinen stam m en : etwa der

    Philosophic, der Theologie oder auch aus der Biologie? Konnten

    sich, wenn es diese gemeinsame und fur alle Soziologen geltende

    Grundlage aller soziologischen Detailaussagen nicht gabe, die

    Soziologen iibe rhau pt miteinander un terh alte n? MiiBte es nicht

    ein babylonisches Sprachwirrwarr geben, das keine Verstandigung

    mehr erlaubt?

    Nun ist die Sprachverwirrung innerhalb der Soziologie in der

    Tat recht groB. Ferner dies lehrt die Erfahrung gibt es

    in der Soziologie sehr viele Mehschenbilder, vielfach in mehr oder

    weniger wissenschaftlicher Ausformung, die sich aber gleichwohl

    widersprechen. Wir wollen jetzt nicht die Frage erortern, ob ein

    Menschenbild, d. h. eine Vorstellung von dem Gesamtmenschen

    durch rein wissenschaftliche Bemiihungen allein iiberhaupt ge-

    wonnen werden kann. Immerhin gibt es eine Reihe von Men-

    schenbildern, die eine wissenschaftliche Systematisierung erfah-

    ren haben, die Anspruch auf Richtigkeit im wissenschaftlichen

    Sinn erheben und somit nicht nur verschiedenen Inhalt haben,

    sondern auch einander widersprechen konnen. Sie alle finden

    wir in der Soziologie vertreten; Grundvorstellungen dariiber, was

    der Mensch ist, was er sein konnte, was er eigentlich ist, wohin er

    tendiert, wovon er entfremdet ist; Vorstellungen aus dem Geiste

    des Christentums, des Biologismus, des Marxismus und den ver-

    schiedenen sonstigen Humanismen, aus der Existenzphilosophie,

    der Psychoanalyse, der philosophischen Anthropologie, die natiir-

    lich alle mehr oder weniger die Weichen fur das weitere Denken

    des Soziologen stellen. Dennoch glaube ich n icht, daB das in

    der Tat schlimme Aneinander-Vorbeireden in der Soziologie seine

    Hauptursache in den unterschiedlichen Menschenbildern der

    Soziologen hat, obwohl dies laBt sich gar nicht vermeiden

    bei fast jedem Soziologen erkennbar ist, welche anthropologischen

    Voraussetzungen er macht, und obwohl nicht zu leugnen ist, daB

    sich hieraus Konsequenzen fur die Beurteilung von speziellen

    Fachfragen und demnach auch Memungsverschiedenheiten ergeben,

    die schwer auszuraumen sind. Die wichtigsten, auch die giftig-

    sten Kontroversen haben meines Erachtens aber andere, weniger

    tiefliegende Ursachen. Zum Teil sind sie auBerwissenschaftlicher

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    ZUR FRAGE DES MENSCHENBILDES IN DER SOZIOLOGIE

    Natur,z. B. politischer Herkunft; z.T.wurzelnsie in derBevor-

    zugung bestimmter Themen und Methoden und der damit ver-

    bundenen Neigung, Einzelergebnisse

    zu

    verallgemeinern, wobei

    jeder

    auf

    eine andere Weise verallgemeinert.

    Die

    Kontroversen

    schleppen sich dann ungelost durch die Jahrzehnte hindurch,

    weiles in der Soziologie ahnlich wie in den anderen Geistes-

    wissenschaften

    oft

    sehr schwer

    ist,

    endiiltig

    die

    Richtigkeit

    oder Falschheit einer Hypothese oder Theorie zu beweisen.

    Gelange es in der taglichen Forschungsarbeit, die verwendeten

    Methoden undTerminologien besser aufeinander abzu stimmen

    was allerdings angesichts

    der

    Unvermeidbarkeit

    des

    Methoden-

    pluralismus

    in der

    Soziologie nicht einfach

    ist

    ,

    so

    wiirde meines

    Erachtens derStreit und dieVerwirrungauf einBruchteil zusam -

    menschrumpfen, trotz unterschiedlicher Menschenbilder.

    Ich glaube, daB Schelsky recht hat, wenn er Gesprachezwi-

    schen Soziologen verschiedener weltanschaulicher Observanz auf

    der Ebene

    der

    mittleren Allgemeinheit

    d.h.

    doch wohl auch

    unter Ausklammerung der Menschenbilder) fur moglich und

    fruchtbar halt 2). Vielleicht iiberschatzt er ein wenig diese

    Moglichkeiten. (Eine solche Uberschatzung wiirde jedenfalls

    gut

    zu seiner These passen,

    daB wir im

    Nachkriegsdeutschland

    und

    auch in einer Reihe anderer Lander in einer nachideologischen

    Phase leben.) Jed och : er kann sich auf Erfahrungen berufen.

    Und auch andere Soziologen haben

    ja

    erlebt,

    daB man z.B.

    sehr

    gut mit jugoslawischen und polnischen Soziologen, m anc hm al

    auch mit Russen F achgesprache fiihren k an n, auch wenn diese

    stramme Marxisten, vielleicht sogar nicht-stalinistische Kom-

    munisten sind.

    Bei

    Sta linisten gelangt freilich

    das

    Fachgesprach

    meist nicht iiber eine gegenseitige Klarung der Standpunkte hinaus

    ;

    aberbeiihnen ist Gesellschaftswissenschaft ja etwas grundsatzlich

    anderes

    als das, was wir

    heute

    im

    allgemeinen unter Soziologie

    verstehen, namlich eine

    bis in die

    Einzelheiten dogmatisch

    ge-

    steuerte Exegese kanonischer Schriften.) Es bleibt jedoch das

    Faktum bestehen : Soziologen, die ein christliches oder positi-

    vistisches oder marxistisches Menschenbild haben, konnen sich

    unterhalten, undzwar nicht nu r iiber Detail-Ergebnisse derSozial-

    forschung, sondern auch iiber Probleme recht allgemeinen Cha-

    rakters.

    Ich

    konnte

    mir

    vorstellen, daB sie sogar vergleichend iiber

    die soziale Schichtung ostlicher

    und

    westlicher Industrie-Gesell-

    (2) Vgl. H. SCHELSKY, Ortsbestimmung

    er

    deutschen Soziologie (Diisseldorf, Die-

    derichs, 1959).

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    schaften diskutieren konnten. Zweifellos wiirden sich termino-

    logische Eigenarten nicht ganz koordinieren lassen. Der Marxist

    wird auf den Begriff der Klasse nicht verzichten wollen, wo ein

    westlicher Soziologe lieber vorsichtig von sozialen Schichten

    spricht, weil er den Klassenbegriff zwar nicht ganz ablehnt, aber

    sparsamer verwenden mochte. Aber nachdem jeder sich in die

    Sprechweise des andern hineingehort hat, ist ein Gesprach eben

    auf der Ebene mittlerer Allgemeinheit moglich. Gewichtige, den

    ganzen Korper der Gesellschaft betreffende Strukturtende nzen

    konnen erortert werden.

    I I

    Wenn es wahr ist,daBsolche Gesprache gefiihrt werden konn ten,

    trotz verschiedener Menschenbilder, d.h. konkret gesprochen :

    wenn sie von Partnern gefiihrt werden konnen, von denen der eine

    den Menschen als ein sich selbst entfremdetes Wesen ansieht,

    das auf dem Wege ist, in dieser Welt die Entfremdung zu iiber-

    winden, der andere im Menschen den Sunder sieht, der sein Heil

    in dieser Welt auf keinen Fall finden kann, der dritte die Frage

    nach Entfremdung oder Siinde als sinnlose, als falsch gestellte

    Frage erklart, weil sie mit wissenschaftlichen Mitteln nicht zu

    beantworten ist , wenn diese Menschen sich also sinnvoll iiber

    gesellschaftliche Strukturprobleme unterhalten konnen, so nnissen

    sie doch so mochte man denken von irgendetwas abstrahiert

    haben. Es muB moglich sein, die jeweiligen Menschenbilder

    bis zu einem gewissen Grade auszuklammern, ohne daB das

    wissenschaftliche Gesprach den Boden unter den FiiBen verliert.

    Oder aber dies ware ebenfalls moglich -es funktioniert gerade

    deshalb, weil es in einem gewissen Sinn bodenlos ist.

    Der Verdacht liegt natiirlich nahe, daB bei solchen gelungenen

    Gesprachen nur ein oberflachlicher Tagungskonformismus vorliegt,

    auf den sich viele Wissenschaftler |ja recht gu t verstehen.

    Dennoch lohnt es sich zu fragen, ob die angedeutete Abstraktion

    (Ausklammerung) nicht vielleicht konstitutiv fiir das soziologische

    Denken iiberhaupt ist. Das wiirde b edeuten : Die V erstandi-

    gung, die fiir diejenigen, die sie erlebt haben, ein verbliiffendes

    Erlebnis war, kommt deshalb zustande, weil der Soziologe gerade

    das ausklammern muB, was ihn von seinem Fachkollegen, der ein

    anderes Menschenbild hat, trennt, und zwar nicht, um gut Freund

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    mit ihmzusein, sondern weil es die Denkw eise der D isziplin sowieso

    erfordert. Mit anderen Worten : DerSoziologe muBvonGesamt-

    aspekten des Menschen abstrahieren, d.h. aber auch, er muB

    den Menschen umstilisieren, weil sonst

    das

    soziologische Denken

    nicht schliissig, prazis und systematisch ablauft, unddies wie

    gesagt nicht desha lb, weil die inhaltliche Pluralitat derausge-

    klammerten Aspekte sonst Verwirrung stiften wiirde, sondern

    weil

    der

    Denkansatz

    und die

    M ethodik

    der

    Disziplin

    es

    erfordern,

    auch dann, wenn alle Soziologendasgleiche M enschenbild ha tte n.

    D.h. : der Soziologe muB mit einem Modellmenschen arbeiten,

    von

    dem er

    weiB, daBdieser nicht

    der

    ganze Mensch

    ist, mit dem

    er sich aber bescheidet,

    um im

    Rahmen

    der

    Moglichkeiten seines

    Fachs exakt arbeiten zu konnen, wobei ihm freisteht, nebenbei

    philosophisch iiber die Begrenzthe it soziologischer Aussagen zu

    reflektieren.

    Dies beh aup tet Ralf Dahrendorf

    in

    seinem Aufsatz Homo

    sociologicus

    3). Sowohl zu Beginn als auch gegen Ende des

    Aufsatzesist erimmer wieder bem uht, denM odellcharakter dieses

    homo sociologicus,d.h.des Menschen, wieersich als F orschun gs-

    gegenstand

    der

    Soziologie darstellt, aufzuzeigen. Gleichzeitig

    weist

    er

    auch immer wieder

    auf die

    Problem atik solchen Denkens

    hin: auf dieParadoxie, diedarin liegt, daB man esnunmehrmit

    einem gedoppelten Menschen

    zu tun hat,

    weil

    der

    Forscher,

    der

    selbst

    ein

    Mensch

    ist, auf

    eine Vorstellung

    vom

    Menschen uber-

    haupt nicht verzichten kann, ja daB wir mit fortschreitender

    EntwicklungderWissenschaften esnichtnur miteinem gedoppel-

    ten, sondern

    mit

    einer Vielzahl

    von

    homines

    zu tun

    haben.

    Vor

    dem homo sociologicusgab es ja schon lange denhomo oecono-

    micus, jenen okonomisch rationalen t)bermenschen, von dem kein

    Wirtschaftswissenschaftler je behauptet hat, es habe ihn jemals

    gegeben,

    der

    aber

    als

    Modellmensch

    im

    Rahmen eines Modell-

    systems un entbehrlich ist. Ferner gibtesden homo psychologicus,

    der homo politicus taucht schon am Horizont auf : oder hatte

    ihn nicht vielleicht schon Macchiavelli konzipiert? (Sein principe

    war doch nicht alsProgramm derBosheit gem eint, sondern doch

    wohl als so etwas wie einModellfurst). Dahrendorf gibt auch

    deutlich zuerkennen, daB sein homo sociologicus* niemals, selbst

    wenn

    er

    sich

    mit den

    homines

    der

    ande ren Disziplinen vereinigt,

    den ganzen Menschen abgibt.

    Wir sind jetzt

    in

    unserem Gedankengang

    an

    einem ganz

    (3) Ralf DAHRENDORF, Homo sociologicus 3.Aufl. (Ko ln, Wes tdeu tsche r V erlag, 1961).

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    anderen Ort angelangt, als an dem, den wir zu Anfang anzusteuern

    glaubten. Zuerst meinten wir, die Soziologie miisse ein Menschen-

    bild voraussetzen, wenn sie in ihren einzelnen Teilaussagen nicht

    auseinanderflattern will. Dan n stellten wir fest, daB dies nicht

    der Fall ist, daB es vielmehr eine Vielzahl von Menschenbildern

    gibt, aber gleichwohl eine wissenschaftliche Verstandigung auf

    einer Stufe mittlerer Allgemeinheit moglich ist. SchlieBlich eror-

    terten wir die Moglichkeit, daB es vielleicht sogar notig sei, nicht

    nur von der tatsachlichen Vielzahl der Menschenbilder, sondern

    auch wenn es dieses gabe von einem gemeinsamen Men-

    schenbild zu abstrahieren, weil sonst die Geschlossenheit, Stringenz

    und Systematik soziologischen Denkens nicht gelingt. D.h. die

    Soziologie darf gar kein Menschenbild voraussetzen, wenn sie als

    W issenschaft funktion ieren soil. W ir konnen freilich un d dies

    geht aus den allerletzten Betrachtungen hervor diesen Sach-

    verhalt auch folgendermaBen formulieren : Die Soziologie besitzt

    doch so etwas wie ein Menschenbild, das sie voraussetzt. Dieses

    ist aber etwas ganz anderes, als wir sonst unter einem Menschen-

    bild verstehen : nicht ein religios oder philosophisch geformtes

    Bild vom Menschen iiberhaupt, sondern ein Kunstprodukt, ein

    homunculus, ein Modell, das durch einen ReduktionsprozeB

    zus tan de kom m t und das sich wie alle methodischen Kunstgriffe

    allein durch den Erfolg bei spateren Einzelaussagen rechtfertigt,

    das aber niemals hypostasiert werden

    darf,

    d.h. das niemals als

    Aussage iiber den Menschen iiberhaupt, sondern nur als Regulativ

    fur Erfahrungsurteile iiber empirisch erforschte Teilaspekte des

    menschlichen Lebens verwendet werden

    darf.

    I l l

    Bleiben wir zunachst noch einmal bei Dahrendorfs homo

    sociologicus, der mir in der Tat ein wichtiger Vorschlag der ange-

    deuteten Richtung zu sein scheint. Was leistet diese Theorie?

    Zunachst darauf weist Dahrendorf mit Recht hin schafft sie

    einen Elementarbegriff, der auch dem Indiv idu um gerecht wird

    bzw. der Ta tsache, daB es Indiv iduen gib t. Die Soziologie

    setzt nicht gleich an mit Primargruppen oder mit Beziehungen,

    wodurch die Tatsache des Individuums gleichsam bereits von

    Anfang an iibersprungen wird. Vielmehr beginnt sie am Schnitt-

    punkt des Einzelnen und der Gesellschaft, da, wo der Mensch der

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    argerlichen Tatsache der Gesellschaft begegnet. Hier darf man,

    ohne Dahrendorf Unrecht zu tun, ruhig die mehrschichtige Be-

    deutung des W ortes axgerlich heraushoren : die vordergriind ige,

    daB man sich iiber sie argert, aber auch die an den theologischen

    Gebrauch des Wortes Argernis gemahnende.

    W eiterhin versp richt sich Dahrendorf von der Theorie des homo

    sociologicus eine klare und ehrliche Abgrenzung der Soziologie

    als Einzelwissenschaft von der Philosophie wie auch von anderen

    Einzelwissenschaften. Somit ergibt sich anscheinend endlich eine

    sauberliche Grenzziehung und Arbeitsteilung zwischen Soziologie

    und Psychologic Man mochte aufatmen, weil nunmehr die Demar-

    kationslinie gefunden ist, die den ewigen Heckenschiitzenkrieg

    zwischen den Disziplinen beendet.

    Noch ein weiteres scheint gewonnen zu sein : Der Mensch als

    homo sociologicus, d.h. als einer, der die ihm angetragenen Rollen

    verinnerlicht u nd spielt er ist ja so definiert, daB er dies auch tu t

    wird zu einer rationa lisierbaren un d kalku lierbaren GroBe. Es

    wird zwar nicht von ihm behauptet, daB er wie sein alterer Bruder

    aus der Nachbar-Retorte, der homo ceconomicus, stets selbst auf

    hochstem rationalen Niveau handelt, wohl aber, daB er sich stets

    nach den Regeln, die der Wissenschaftler erforschen kann, verhalt.

    Man kann also Verhaltensschemata entwerfen, sie zu groBeren

    Gebilden zusammenfiigen, die durch das Gesetz von Ursache und

    W irkung zusamm engehalten w erden. Mit anderen W orten : Der

    homo sociologicus eignet sich als Aufbau-Element groBer Sozial-

    mechanismen, die eine uniibersehbare Zahl von Individuen um-

    fassen. Das klingt im ersten Augenblick viel schrecklicher, als

    es ist. Diese Mechanismen sind zunachst namlich genau so nur

    Modelle wie ihre Aufbauelemente, die homunculi sociologies.

    Jeder verniinftige Soziologe, ob er an die Freiheit des Menschen

    glaubt oder einem Determinismus huldigt, weiB, daB diese um-

    fassenden mechanistischen Gebilde, die er erdenkt, nicht die

    soziale Wirklichkeit in ihrem ganzen Reichtum abbilden konnen.

    Andererseits beno tigt er solche mechanistischen GroBmodelle,

    wenn es iiberhaupt Theoriebildung, ja, wenn es nu r Hy pothesen-

    bildung fur die empirische Forschung geben soil. Freilich gibt

    es nicht wenige Soziologen, die sich an dieser Frage nach der Rolle

    des kausalen Denkens in der Soziologie vorbeizudrucken versuchen.

    Den kausalen Charakter, die mechanistische Struktur, die auftritt,

    wenn das soziologische Denken iiber die bloBe Deskription hinaus

    zu den Zusammenhangen der Phanomene vorstoBt dieses

    Kausaldenken, das gar nicht vermeidbar ist, wenn gesellschaftliche

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    Massenerscheinungen erklart werden sollen, bei denen Hundert-

    tausende von Individualitaten aufsummiert und eingeebnet werden,

    mochten manche Soziologen nicht wahrhaben. Sie sprechen

    dann etwa von Motivationszusammenhangen, die angeblich etwas

    ganz anderes als Kausalzusammenhange sein sollen (was mir

    zweifelhaft erscheint), wahrend sie diese Motivationszusammen-

    hange in Wahrheit angesichts der Vielzahl der eingeebneten Ein-

    zelfalle gar nicht vergegenwartigen konnen. Oder sie stellen neben

    in Wahrheit kausal verknupfte Gedankenketten immer wieder die

    bloBe Behauptung, es handele sich hier natiirlich nicht um Kau-

    salitat, oder nicht um wirkliche Kausalitat, und beteuern die Frei-

    heit des Menschen, der alles auch anders tun konnte, als er es

    gottseidank fur die Forschung mit hoher statistischer Wahr-

    scheinlichkeit tut. Mir scheint, daC hier die Theorie vom kausal

    verwendbaren homo sociologicus Klarheit verbreiten hilft. Bei

    dem Herum reden u nd Vorbeidriicken an der F rage, ob der Soziologe,

    wenn er umfassende Sozialerscheinungen und Prozesse erklart

    bzw. hypothetisch vorklart, kausal denkt, macht man sich in der

    Regel eines nicht klar, namlich daB man die menschliche Freiheit

    (die Fahigkeit, eine neue Kausalreihe zu beginnen) gar nicht in den

    wissenschaftlichen Ansatz hineinnehmen kann. Es liegt hier das

    vor, was ich manchm al eine nega tive Koffertheorie nenne. Nicolai

    Hartmann nannte manche Theorien in der Philsophie polemisch

    Koffertheorien. Man pac kt zunachs t in einen Koffer a lle mo-

    glichen Gedanken ein, begibt sich mit ihm auf eine Gedankenreise

    und ist stolz, wenn m an, am Ergebnisort angelangt, alles, was m an

    in den Koffer eingepackt hat, auch wieder auspacken kann. In

    unserem Fall liegt der umgekehrte Fall vor : Was ich in meinen

    Koffer nicht eingepackt habe und die menschliche Freiheit,

    verstanden als die Fahigkeit jedes einzelnen, so oder so zu handeln,

    paBt nicht in den Ansa tzde r Er klaru ng sozialerMassenphanomene

    kann ich nicht wieder auspacken. Auch ein statistischer Kausali-

    tatsbegriff wiirde da s Problem verschm ieren. D ie Theorie vom

    homo sociologicus schafft hier kla re Ve rhaltn isse. Wir sind

    uns von Anfang an dariiber im klaren, daB wir es mit einem

    Menschen zu tun haben, der den verhiillten oder unverhiillten

    Anspriichen kausaler Erklarung von Sozialphanomenen entspricht :

    dieser Modellmensch ist kalkulierbar : er entsp richt den empirisch

    erforschbaren Rollenerwartungen, die die Gesellschaft an ihn

    herantragt. Wie er das macht, ist Sache der Psychologie. Und

    den Zweifel daran, ob der wirkliche Mensch es auch so halt wie

    unser Modellmensch, delegieren wir an die Philosophic, nicht

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    unbedingt an die Fachvertreter fur Philosophie im Institut

    nebenan : moglicherweise philosophiert der Soziologe ja auch

    selbst und bewahrt sich damit die Chance, die Bedingungen seiner

    eigenen Disziplin zu relativieren.

    Nun sind die Gedanken Dahrendorfs und die Konsequenzen,

    die ich daraus zog, keineswegs Gemeingut aller Soziologen. Im-

    merhin, der Begriff der sozialen Rolle und die Betrachtung des

    Menschen als Trager von sozialen Rollen scheint sich zu verbreiten.

    Es scheint auch so, als ob das Bediirfnis, eine Abgrenzung zur

    Philosophie und zur Psychologie zu suchen und die Meinung, da6

    diese zu finden sei, recht haufig anzutreflen ist. U nd ich k onnte

    mir gut vorstellen, daB die Rollentheorie, die meines Erachtens

    von Dahrendorf recht konsequent weitergedacht ist, dazu bei-

    tragt, daB ein Teil der jiingeren Soziologengeneration bald zu der

    Ansicht gelangt, endlich habe die Soziologie die Mutterbindung

    an die Philosophie gelost und sei nun eine erwachsene autonome

    Wissenschaft geworden.

    IV

    Ich hege aber Zweifel, ob dieses Ziel wirklich auf diesem Wege

    erreicht wird, ja, daB es iiberhaupt erreicht werden kann. Ich

    mochte diesen Zweifel durch die Darlegung einer Frage erlautern,

    auf die Dahrendorf in seinem A ufsatz n icht eingegangen ist. Diese

    Frage zeigt meines Erachtens, daB die Theorie vom homo socio-

    logicus nicht geschlossen ist, ja wohl auch nicht zu schlieBen ist.

    Die Frage, wie das Individuum es macht, daB es eine Rolle sich

    zu eigen macht (durch Verinnerlichung internalization) wird

    als innerpsychischer Vorgang, wenn ich Dahrendorf recht ver-

    stehe, dem Psychologen iiberlassen. Ich glaube, daB es ein Fehler

    ware, dem Psychologen die Klarung dieser Frage ganz allein zu

    iiberlassen. In diesem Zusammenhang taucht namlich noch eine

    zweite Frage auf, namlich in welcher Weise Rollenerwartungen dem

    Individuum gegeben sind. Wir wollen jetzt einmal eine Situation

    annehm en, in der kein AnlaB bes teh t, daB das betroffene Ind ivi-

    duum den vorher vorsorglich ausgeklammerten zehnten Charakter

    Musils oder den intelligiblen Charakter* Kants ins Spiel bringt.

    Es soil kein Rollenkonflikt vorliegen, in dem vielleicht plotzlich

    doch das Individuum auf sich selbst zuriickgeworfen wird und

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    HANS PAUL BAHRDT

    im Vollzug einer Entscheidung das Vorhandensein eines freien

    Willens erlebt. Wir wollen eine ganz banale Situation annehmen,

    in der ein Individuum nichts anderes vorhat, als einer recht alltag-

    lichen Verhaltenserwartung gema.6 der ihm vorgegebenen Rolle

    ganz bieder un d konformistisch zu entsprechen. N ehmen wir

    an, ein Priva tdozent h at die Absicht, ein Fak ultatsfe st zu besuchen,

    bei dem es tunlich ist, einen dunklen, jedoch nicht einen schwarzen

    Anzug zu tragen. Er besitzt den entsprechenden Anzug, jedoch

    benotigt er eine neue Krawatte. Er geht in ein Herrenmodenge-

    schaft und muB nun unter vielleicht hundert Schlipsen den rich-

    tigen auswahlen. Asthetische Momente spielen eine nur geringe

    Rolle : Es ist rasch gek lart, daB alle K raw atte n m it Blau- oder

    Griinelementen zu seinem Anzug nicht passen. Alle andern kom-

    men rein farblich betrachtet in Frage. Schwieriger ist eine andere

    Frag e : W as fur eine K raw at te erw arte t m an (d.h. [die Bezugs-

    gruppe der Fakultat) bei einem Privatdozenten, der bei einer

    feierlichen Gelegenheit wie andere auch einen dunklen,

    jedoch nicht schwarzen Anzug tragt. Was hier erwartet wird,

    weiB der Privatdozent recht gut : Die Krawatte soil dezent sein.

    Der Dozent hat nicht die geringste Absicht, eine nichtdezente

    Krawatte zu warden. Weder ein geheimes Oppositionsbediirfnis,

    noch der Wunsch, durch einen snobistischen Umweg iiber eine

    auffallende K raw atte um die Gun st der Fa ku lta t bzw. der Fa ku l-

    tatsdamen zu buhlen, regt sich in seinem Herzen. Aber welche

    Krawatte unter den 40 Krawatten, die nach Ausschalten der

    farblich unpassenden iibriggeblieben sind, ist dezent? Das ist

    gar nicht so leicht zu entscheiden. Der Kraw atteneinkauf wird

    zur Qual. Aber was soil das heiBen : Findet hier denn eine

    Entsche idung sta tt? Es geht doch nu r um die Erfullung einer

    Ro llenerw artung. Unser Priv atdo zen t ist in diesem Augenblick

    anscheinend mit dem homunculus sociologicus vollig identisch.

    Er reagiert wie eine Marionette, bzw. er mochte wie eine Mario-

    nette reagieren, aber leider sind die Faden, an denen er hangt,

    unvollstandig. Die Rollenerwartung, die Norm, dezente Kra-

    watten zu tragen, ist ihm nur abstrakt gegeben. Wohl kann er

    sich Dezenz auch konkretisiert vorstellen : Er hat es langst gelernt,

    wie man als Nachwuchskollege auf einem KongreB mit Ordinarien

    verkehrt. Aber leider weiB er nicht, wie dezente Krawatten aus-

    sehen. Er hat noch nie darauf geachtet. Er kann sich nur auf

    die Krawatten seines sonst ebenfalls recht dezent auftretenden

    jiingeren Institutskollegen besinnen. Dieser ist aber ein ganz

    weltfremder G elehrter, der unbesehen die grellbunten K raw atten

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    ZUR FRAGE DES MENSCHENBILDES IN DER SOZIOLOGIE

    tra gt, die ihm seine B rau t schenkt. E r ha t also keine anschaulichen

    Vorbilder.

    Es liegt also eine Rollenerwartung vor. Das Individuum will

    ihr entsprechen. Um ihr zu entsprechen, muB es aber erst die

    Erwartung, die nur abstrakt gegeben ist, konkretisieren. Diese Rol-

    lenkonkretisierung ist seine eigene Leistung; sie ist nahezu ein

    Stuck Arbeit, die ihm von niemand abgenommen wird. Er wird

    diese Leistung der Rollenkonkretisierung vollbringen und das ist

    je tz t wichtig dam it selbst ein Stuck gesellschaftliche W irklichkeit

    schaffen. Die Rollenerwartung, dezente Schlipse bei Fakultats-

    festen zum dunklen Anzug zu tragen, wurde in der abstrakten

    Form namlich nicht nur an ihn herangetragen, sondern auch an

    andere Kollegen. Indem er nun fur seine Person die konkrete

    dezente Krawatte findet und umbindet, schafft er moglicherweise

    fur einen anderen, der der gleichen abstrakten Forderung entspre-

    chen muB, eine neue Situation : Fiirderhin gibt es fur diesen nicht

    nur allein die abstrakte Forderung : Man tragt bei der Gelegenheit

    x eine dezente Krawatte, sondern dazu noch ein anschauliches

    Vorbild : ... etwa eine solche, wie der Privatdozent y beim letzten

    Fakultatsfest getragen hat.

    Damit wird die Krawattenwahl des Kollegen ohne Zweifel

    erleichtert, moglicherweise aber auch inhaltlich beeinfluBt. Es

    konnte namlich sein, daB er bei dem Akt der Rollenkonkreti-

    sierung, bei dem er ja doch die recht dtirftige Rollenanweisung

    vervollstandigen, auffullen muBte, ganz unbewuBt ein neues

    Moment ins Spiel gebracht hat, vielleicht ein neues Piinktchen-

    Muster, das zwar keineswegs auffallend ist sonst hatte er es

    nicht gewahlt , aber das doch gerade erst in diesem Jahr auf

    den Markt gekommen ist. Indem er es wahlt, fiihrt er es ein

    und tragt dazu bei, daB sein Kollege, der ebenfalls angstlich um

    Dezenz bemiiht ist, das nachste Mai nicht eines der bisher vorherr-

    schenden Streifenmuster wahlt. Das wurde aber bedeuten :

    auch das konformistischste Verhalten, das nur die Intention hat,

    den angetragenen Rollenerwartungen zu entsprechen, kann

    weil es gelegentlich fur den Bedarf der aktuellen Situation die Rolle

    erst vervollstandigen muB nicht umhin, durch konkrete Veran-

    schaulichung neue Elemente in das soziale Verhalten anderer

    Menschen hineinzubringen. Ein Verhaltensmuster wird gewis-

    sermaBen durch ein neues Pun ktch eno rnam ent bereichert.

    Was wir jetzt an dem scheinbar abseitigen Beispiel des Kra-

    wattenkaufs durchgespielt haben, hat aber eine ganz allgemeine

    Bedeutung. Vorgeformte Rollenerwartungen sind fast niemals so

    II

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    HANS PAUL BAHRDT

    ausgeformt, daB sich aus ihnen das vollstandige Verhalten in einer

    aktuellen Situation abziehen laBt. Im Gegenteil : Ein Teil der

    Erwartungen, der in Gestalt von Normen tradiert wird, muB, um

    iiberhaupt tradierbar zu sein, auf einer gewissen Abstraktionsstufe

    in einfache kurze Formeln gefaBt sein.

    Andere Erwartungen sind anschaulicher gegeben, z.B. als

    lebende Vorbilder. Aber diese kann man nicht genau kopieren.

    Es ist jedesmal ein UmsetzungsprozeB notig. Meist gibt es keine

    Antwort auf die Frage W as h a t dieser Mensch in der gleichen Situa-

    tion getan? Man muB vielmehr die Ph antas ie bem uhen un d fra-

    gen : W as wiirde er in dieser S ituation t un ? Andere Erw artung en

    formulieren sich iiberhaupt nicht positiv. Sie sind nur miihsam

    zu erschlieBen aus abfalligen Urteilen und unfreundlichem Verhal-

    ten, die auftreten, wenn den Erwartungen nicht entsprochen wird.

    Wir wollen hier noch an einen weiteren Fall denken, der in

    unserer stark industriell und biirokratisch gepragten Welt recht

    haufig vorkommt. Manche Rollenerwartungen sind nicht nur

    allgemein und abstrakt, sondern gleichzeitig auch auBerordentlich

    ausfiihrlich formuliert, so daB anscheinend jede einzelne zur Rolle

    gehorige Handlung des Individuums ausdriicklich geregelt ist.

    Wir kennen viele industrielle und biirokratische Arbeitsvollziige,

    bei denen jeder Handgriff und die Sekundenzahl, die fur ihn ge-

    braucht wird, vorgeschrieben ist. In Dienstvorschriften, Arbeits-

    ordnungen und Akkordplanen wird dies festgelegt, gleichzeitig

    auch ein Verbot ausgesprochen, die Arbeit in anderer Weise durch-

    zufuhren. Nun konnte man allerdings fragen, ob detaillierte

    Vorschriften dieser Art noch als Verhaltenserwartungen im Sinne

    der soziologischen Rollentheorie anzusprechen sind, ob sich nicht

    der Soziologe mit der allgemeinen Verhaltenserwartung, die an

    die Rolle eines fleifiigen Arbeiters oder Buroangestellten gekniipft

    wird, begniigen soil. Ich glaube, daB man diese Frage hier nicht

    zu bean two rten bra uch t. Es laBt sich namlich nicht leugnen,

    daB die soziale Grundsituation, nach Dahrendorf die Begegnung

    des Individuums mit der argerlichen Tatsache der Gesellschaft,

    ganz verschieden aussieht, je nachdem, ob die Rollenerwartung

    in Gestalt einer einfachen abstrakten Norm, oder, wie in dem oben-

    genannten Fall, zwar auch aus allgemeinen abstrakten Forderun-

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    ZUR FRAGE DES MENSCHENBILDES IN DER SOZIOLOGIE

    gen besteht, die aber mit beinhalten, dafi die Nichtbeachtung

    zahlloser Detailvorschnften ein VerstoB gegen die Norm uberhaupt

    ist. Der Eigenbeitrag, den das Individuum in der Absicht, den

    Erwartungen zu entsprechen, zu leisten hat, besitzt jeweils ver-

    schiedenen Umfang und verschiedene Qualitat. Einmal muB

    es Phantasie haben, um die Erwartungen zu vervollstandigen;

    das andere Mai muB es die Gabe der Transposition von einer

    anschaulich vorgegebenen Situation auf eine andere besitzen,

    wozu eine Abstraktionsgabe gehort. Das dritte Mai muB es

    spezielle Einiibungen vornehmen, eine Fiille von Einzelanwei-

    sungen in Fleisch und Blut iibergehen lassen, sie habitualisieren

    und dann vergessen, da es sonst der Gesamterwartung gar nicht

    in der routinierten und fliissigen Weise entsprechen kann, wie von

    ihm erwartet wird. Es gibt, wenn wir an industrielle Arbeits-

    vollziige denken, aber noch eine weitere Moglichkeit, die gar

    nicht so selten auf tritt. Es gibt Akkordplane, ja ganze Akkord-

    systeme, die so detailliert und gleichzeitig so voller Unkenntnis

    der betrieblichen Wirklichkeit sind, daB kein Arbeiter sich genau

    nach alien Vorschriften richten kann, wenn er in der erwarteten

    Zeit mit der Arbeit fertig werden will (4). Die Plane setzen einen

    Grad von Storungsfreiheit sowohl im organisatorischen als auch

    im technischen Bereich des Betriebes voraus, der fast nie gegeben

    ist. Aber selbst wenn ausnahmsweise alles so reibungslos zugeht,

    wie im Akkordplan, der mit Hundertsteln von Minuten rechnet,

    vorgesehen ist, konnte kein Mensch, ohne nervlich oder physisch

    oder seelisch zusammenzubrechen, so gleichmaBig und kontinuier-

    lich arbeiten, wie es bei diesen hypermodernen Methoden der

    Arbeitsvorbereitung vorgesehen ist. Die Folge ist : Die Arbeiter

    arbeiten anders. Sie haben zwar keine reale Chance, durch Be-

    schwerde oder Widerstand das System zu andern. Jedoch ge-

    wohnen sie sich an zahllose Tricks, Heimlichkeiten, gegenseitige

    Hilfen, Verschleierungen, t)bertretungen von Unfallvorschriften

    und verdienen schlieBlich freilich auf ganz andere Weise

    das Geld, das ihnen der Akkordplan verspricht. Da sie in der

    vorgesehenen Zeit stets das Arbeitsergebnis vorlegen, das verlangt

    wird, glauben die Vorgesesetzten, daB auch nach Plan gearbeitet

    wurde und daB das System sich bewahrt ha t. In W ahrh eit zieht

    sich mitten durch den Betrieb eine unsichtbare Wand, durch die

    (4) Der Verfasser verd ank t He rrn Kon rad M anuskript ausarb eitet, viele Hinweise

    Thom as aus Mannheim, der seine Indu- und M itteilungen fiber die Situation des

    strieerfahrungen als Arbeiter z.Zt. in einem Ak kordarbe iters in der Metallindustrie.

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    HANS PAUL BAHRDT

    keine Informationen dringen. Manchmal steht der Meister oder

    Abteilungsleiter diesseits der Wand und halt dicht nach oben.

    Manchmal steht er jenseits der Wand und ahnt nur ein wenig

    von den Tatsachen. Jedenfalls gibt es zwei betriebliche Wirk-

    lichkeiten : die eine, auf die das gesam te Betriebssystem aufgebaut

    ist, die von den Trag ern des System s u nd auch von der Offentlich-

    keit und den meisten Betriebssoziologen fur wirklich gehalten

    wird, und die deshalb ja auch einen gewissen Wirklichkeitsgehalt

    hat, denn ihr entspricht Stellenwert und Funktion des Industrie-

    betriebes im Gesamtsystem der Gesellschaft. Und dann gibt es

    eine zweite Wirklichkeit : namlich die tatsachlichen Geschehnisse

    am Arbeitsplatz.

    Um jetzt auf unser Thema zuriickzulenken : Die soziale Grund-

    situation des Arbeiters, der un ter solchen Bedingungen arbeitet,

    ist von der Ar t, da8 er den vorgeformten Verhaltenserwartungen

    nur dann entsprechen kann, wenn er sich standig gegen die mit den

    Erwartungen verbundenen Vorschriften vergeht. Fur diese Uber-

    tretungen gibt es langst vorgeformte Verhaltensmuster, die im

    Kollegenkreis gelten und fleiBig tradiert werden. Gleichwohl

    benndet er sich in einem Zwiespalt. Er kann sich zwar bis zu

    einem gewissen Grade an den Zwiespalt gewohnen. Er kann das

    BewuBtsein von der Absurditat seines alltaglichen Lebens ver-

    dran gen . E r muB es vielleicht sogar, d enn kein Mensch kann auf

    die Dauer in der Absurditat leben. Der eine oder andere Arbeiter

    ist moglicherweise so vital, daB er aus dem innerbetrieblichen

    Waldgangertum einen Sport macht. Andere werden durch den

    Zwiespalt bzw. den Zwang zur Verdrangung und zur Gewohnung

    an Absurdes allmahlich aufgerieben. Auf jeden Fall tragt eine

    solche Existenz nicht gerade dazu bei, sich als voll integriertes

    Mitglied des Be triebes und der Gesellschaft zu fiihlen. Und mir

    scheint, daB hier eine Ursache dafur zu suchen ist, daB so viele

    Arbeiter ein nach wie vor dichotomisches Bild der Gesamtgesell-

    schaft haben, daB sie trotz vieler sozialer Fortschritte, trotz der

    Uberwindung der okonomischen Proletaritat, trotz der Ubernahme

    burgerlicher Konsumgewohnheiten zum mindesten in ihrer Menta-

    lita t bisher nich t Kleinbiirger der nivellierten Mittelstandsgesell-

    schaft sind.

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    ZUR FRAGE DES MENSCHENBILDES IN DER SOZIOLOGIE

    VI

    Um jetz t zusamm enzufassen : Die Unterschiedlichkeit der

    Gegebenheitsweise, vor allem die verschiedene Ausfuhrlichkeit der

    Formulierung von Rollenvorschriften bringt das Individuum in

    untersch iedliche Ausgangspositionen bei der jeweiligen Obernahme

    einer Rolle. Je nach Lage muB es einen groBeren oder geringeren

    Eigenbeitrag leisten, um die vorgeformte Rolle iiberhaupt iiber-

    nehmen zu konnen. In welcher Weise diese Ubernahme geschieht,

    ist ohne Zweifel auch ein Thema der Psychologic Ich wiirde

    sogar beh aup ten, daB dieser Vorgang ohne psychologische K ate-

    gorien gar nicht ausreichend im konkreten Fall beschrieben werden

    kann. Verdrangung, Habitualisierung, Einubung, Phantasie

    zur Veranschaulichung, Abstraktionsleistung, all diese Begriffe

    rufen nach dem Psychologen. Ohne seine Hilfe laBt sich wohl

    auch nur schwer die emotionale Befindlichkeit des jeweih'gen

    Rollentragers beschreiben, die ihm eigen ist, wenn er die Rolle

    schlieBlich ha t, wenn er sie verinnerlicht hat und nun sozialisiert

    ist. Andererseits ist aber der Vorgang der Rolleniibernahme

    ebensosehr ein Zentralthema der Soziologie. Denn nach unseren

    bisherigen Betrachtungen ergibt sich, daB das weitere Verhalten

    des sozialisierten Rollentragers in starkem MaBe davon mit-

    best immt is t :

    erstens dadurch , wie groB seine Eigenleistung bei der Konkre-

    tisierung der Rollenerwartung war,

    zweitens durch die Art der Eigenleistung, ob sie z.B. mehr

    den Charakter der Entfaltung oder Spezialisierung der eigenen

    Krafte hatte,

    drittens durch die Frage, inwieweit die Rollenerwartungen

    iiberhaupt von der Art sind, daB ihnen ein Mensch vollstandig

    entsprechen kann, oder ob sie den Menschen zur Verschleierung,

    Umdeutung oder Verdrangung zwingen, damit entweder nur

    nach auBen hin oder auch fiir ihn selbst halbwegs eine Erfiillung

    der Rollenerwartungen zustande kommt.

    Je nachdem, was der nicht voll anpassungsfahige Mensch, der

    nur begrenzt spezialisierbar ist, der Mensch als das Wesen, das

    die speziellen Fragen des Lebens niemals genau und speziell

    beantworten kann, sondern immer mehr antworten muB, als er

    gefragt wird je nachdem, was dieser unbequeme Mensch, wie er

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    sich uns im Licht de r philosophischen Anthropologie dar stellt,

    erlebt, wenn er die ihm angetragenen Rollen iibernimmt, je

    nachdem, was er mit einbringt und auf was er verzichtet, wird

    er eine Quelle sozialer Dynamik sein. Schon die vollig kon-

    formistische Konkretisierung und Transposition von Rollenerwar-

    tungen in konkretes Verhalten formt und modifiziert selbst die

    Erwartungen in ihrer Gegebenheitsweise fur die Allgemeinheit

    und beeinfluBt damit indirekt das Verhalten anderer Menschen.

    Am starksten ist die Modifikation selbstverstandlich dort, wo die

    totale Erfiillung der Rollenerwartungen nicht moglich ist. Dies

    tr it t wie gesagt nicht nu r im Fall des Rollenkonflikts ein,

    der als Quelle sozialer Dynamik unbestritten ist, sondern mitunter

    schon im Fall der Sozialisierung im Hinblick auf eine einzige Rolle.

    D.h., ein zwingender AnlaB zur Veranderung sozialer Verhaltens-

    weisen liegt nich t nu r da vor, wo widersprechende soziale K raft e

    in Gestalt entgegengesetzter Rollenvorschriften aufeinandertreffen,

    sondern m itun ter bereits dort, wo iiberhaupt das Individuum

    eine Rolle iibernehmen muB. Es ist richtig, die Soziologie dort

    beginnen zu lassen, wo das Individuum der argerlichen Tatsache

    der Gesellschaft begegnet. Diese Begegnung istaber ein Vorgang.

    Dieser Vorgang muB auch den Soziologen interessieren, denn in dem

    Vorgang liegt sehr oft die Quelle fur neuartig e soziale V erhaltens-

    weisen, und zwar nicht nur der Einzelnen, sondern auch ganzer

    Gruppen, da der ProzeB der Rollenubernahme sehr oft gruppen-

    typisches Geprage hat.

    Daraus ergibt sich, daB die sauberliche Trennung von Soziologie,

    Psychologie und Philosophie, wie sie scheinbar durch die Theorie

    des homo sociologicus angeboten wird , nicht durchgehal ten

    werden kann. Die Grenzkampfe zwischen den Disziplinen werden

    also wohl weitergehen.

    Das Ergebnis unserer Betrachtung ist fur unsere Disziplin

    nicht eigentlich erfreulich : Es scheint so, als ob der schon lange

    andauernde Zustand der halben Autonomie bei verbleibender

    starker Mutterbindung an die Philosophie nicht so rasch beendet

    werden kann. Auch der Methodenpluralismus, der die innere

    Konsolidierung der Soziologie verhindert, wird sich nicht beseitigen

    lassen. Ein eindeutiges Menschenbild besitzt die Soziologie eben-

    falls nicht. Sicher werden auch weiterhin hochst unterschiedliche

    Menschenbilder durch die Soziologie geistern : Dafiir sorgt die

    oben erw ahnte Verkniipfung m it de r Philosophie wie auch die unver-

    meidliche politische Relevanz vieler soziologischer Fragestellungen.

    Ein wenig Ordnung in die Diskussion vieler Fragen konnte das

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    geschilderte instrumentale Menschenbild, der zu Forschungs-

    zwecken entwickelte homo sociologicus, bringen. Er erweist sich

    als niitzlich, wenn es darum geht, soziale GroBphanomene in ein

    kausales Erklarungsschema zu bringen. Und ich deutete an,

    daB wir ohne solche Schemata nicht auskommen und uns deshalb

    auch zu ihnen bekennen sollten. Aber dieses Modell laBt uns

    wieder im Stich, wenn wir einzelne soziale Verhaltensweisen genau

    analysieren wollen. Dazu sind wir jedoch gezwungen, wenn wir

    der eigentiimlichen Explosivitat und Unberechenbarkeit gesell-

    schaftlicher Bewegungsvorgange auf die Spur kommen wollen.

    Dann gleitet die soziologische Betrachtungsweise hiniiber in die

    anthropologische : Ein anderes Menschenbild wird bemuht, das

    uns wiederum nichts niitzt, wo wir kausal denken miissen.