bar magazine

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D 8EUR A 8EUR CH 12SFR ISSUE 01 – AUGUST 2010 PEDAL HARDER PEDAL MONOTHEMATISCHES MAGAZIN FÜR FAHRRADINDUZIERTE EMOTION Issue 01, Fokus: PUT ME BACK ON THE BLOODY BIKE! Eine bewegte Geschichte der Tour de France VOM MINIMALISMUS Was das Fixie mit Malewitsch zu tun hat VOM FACH Von denen, die Mechanik am Laufen halten WIE LANGE DER HYPE SCHON GEHT! Wie das Freeriden seinen Lauf nahm Bewegung

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MONOTHEMATISCHES MAGAZIN FÜR FAHRRADINDUZIERTE EMOTION

Issue 01, Fokus:

PUT ME BACK ON THE BLOODY BIKE!Eine bewegte Geschichte der Tour de France

VOM MINIMALISMUSWas das Fixie mit Malewitsch zu tun hat

VOM FACH Von denen, die Mechanik am Laufen halten

WIE LANGE DER HYPE SCHON GEHT!Wie das Freeriden seinen Lauf nahm

Bewegung

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bewegung

Alan und Elizabeth West, Hovel in the hills, 1977

DAS FAHRRAD BEDEUTET MECHANISCHE VOLLKOMMENHEIT.— ALS DER MENSCH DAS FAHRRAD ERFAND, ERLANGTE ER DEN GIPFEL SEINER ERRUNGENSCHAFTEN.“

achtung

Diese Seite dient zum Säubern der Hände von Dreck, Öl und allem anderen, was uns da draußen auf unseren Fahrrädern anhaftet.

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danke an:

Monika Blank, Claudia Sussmann-Hanf und Michael Hanf, Manfred und Rosemarie Sussmann, Michael Herbig, Waldemar Salesski, Philipp Hartung, Rolf Eggers, Benjamin Asher, Moritz Horn,

Felix Volkheimer, Ben Gordon, Taulan Dernbach, Alex Dalke, Stefan Gandl von NeubauBerlin, Prof. Carl Frech, Prof. Christoph Barth, Elmar Schenkel, Ümit Yurdagul, Brenton Salo, Thomas Selsam,

Baster.nl, Uwe Ulrich, Sven Hartmann, Martin Endres, Laura Etherington von Rapha, Sascha Köglmeier von Freitag, Genheimer Druck Lohr, u.v.a

80 Die minimalistischste Form des Radfahrens Foto: Benjamin Asher

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bewegung

AUS EIGENER KRAFTKommentar

PUT ME BACK ON THE BLOODY BIKEEine bewegte Geschichte der Tour de France

VOM FACHVon denen, die Mechanik am Laufen halten

MUTTERGEFÜHLEÜber die innere Bewegtheit einer Mutter

NARBEN IN ALUMINIUMBewegung hinterlässt Spuren —

nicht nur am Menschen

MORGENS, MITTAGS, ABENDSDas Fahrrad in modernen Gesellschaftsformen

WIESO EIGENTLICH SCHAUFELN?Über den Wahn der Erdbewegung und dessen

ästhetische sowie ökologische Folgen

MEDIA: FAHRRADDIEBE

ABONNEMENT

I [HEART] MY VELO

ICH HAB‘ GEDACHT, ES IST VORBEIEine aufstrebende Bewegung gefährdet

den gemeinen Fussgänger

VOM MINIMALISMUSWas das Fixie mit Malewitsch zu tun hat

PERFEKTIONIERTEPROTHESEInterview

ANDERE LÄNDER —GLEICHE SITTENBewegungen hier und dort

WIE LANGE DER HYPE SCHON GEHT! Wie das Freeriden seinen Lauf nahm

regulär

EQUIPE — IMPRESSUM

WERTE

KENNEN SIE DEN?

issue 01

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66 Erst bauen, dann spielen – Lego im Wald Foto: Thomas Selsam

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Marius Hanf, Herausgeber

Mountainbiker und Urban RiderBen Gordon, Redaktion

Mountainbiker

Vladimir Salesski, Bild

Urban Rider Benjamin Asher, Bild

Urban Rider

Philipp Hartung, Redaktion

Road Racer und Urban RiderClaudia Sussmann, Redaktion

Mountainbikerin

bar magazine

SPERANGLEWIDEOPEN PUBLISHING

Lessingstr. 1, D–97072 Würzburg

HERAUSGEBER, CHEFREDAKTION & ARTDIRECTION:

Marius Hanf <[email protected]>

REDAKTIONELLE MITARBEIT (DIESE AUSGABE):

Ben Gordon, Philipp Hartung, Claudia Sussmann-Hanf,

Elmar Schenkel

BILDREDAKTION (DIESE AUSGABE):

Vladimir Salesski, Benjamin Asher, Felix Volkheimer,

Thomas Selsam, Brenton Salo

1. Auflage 2010

Alle Rechte vorbehalten

DRUCK UND BINDUNG

Genheimer Druck GmbH, D–97816 Lohr

gedruckt auf Recystar 100g Papier –

hergestellt aus 100% Altpapier

FONT

Neubau Grotesk, Stefan Gandl

zu beziehen via www.neubauladen.com

Electra LH Cursive

Einzelheftpreis: 8 EUR (12SFR)

entstanden im Sommersemester 2010

Diplomarbeit bei Prof. C. Frech und Prof. C. Barth

www.facebook.com/BARMAGAZINE

impressum

equipe

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zu Fuß

mit dem Fahrrad

Wie stark interessieren Sie sich für Sport?

keine bzw. wenig Zeit

schlechtes Wetter

hohe Gefahr

40,4

37,8

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26,0

13,8

30,0stark interessiert

WERTEGründe, die gegen regelmäßiges Fahrradfahren sprechen:

Wahrscheinlichkeit, im Straßenverkehr in einen tödlichen Unfall verwickelt zu werden:

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Welcher Aktivität gehen Sie am häufigsten in ihrer Freizeit nach?

Wie stark interessieren Sie sich für Outdoorbekleidung?

Wie häufig fahren Sie Fahrrad?

59,0

58,0

2,0

83,0

Angaben in Prozent, via Statista.

Fernsehen und Multimedia

stark interessiert

sehr höufig

nie

WERTE

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Foto: BAR

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Menschen auf Fahrrädern, mit denen Sie sicher schon zu tun hatten

Ein schwieriges Thema ist das mit der Post. Es ist ein Reizthema bei den

Menschen, ähnlich der Deutschen Bahn oder der Telekom. Es gilt jedoch zu

differenzieren. Zwischen den Verantwortlichen im Großen und denen, die Tag

für Tag, bei Wind und Wetter dafür sorgen, dass uns Postkarten von Freun-

den, Liebesbriefe und Rechnungen erreichen.

Die Arbeit als Briefträger ist hart und nichts für jeden. Der durchschnittli-

che Verdienst eines „Briefzustellers zu Fahrrad“ beträgt zwischen 1800 und

2300 Euro brutto, Gefahrenzulage ausgeschlossen. Und ungefährlich ist ein

Tag auf dem Fahrrad wirklich nicht, das wissen wir. Eine 6-Tage-Woche ist

keine Ausnahme, Arbeitsbeginn ist nicht selten nach 7 Uhr morgens. Jeder,

der schon einmal Morgens mit trägen und steifen Oberschenkeln im Halb-

schlaf aufs Rad gestiegen ist, weiß, wie mühselig ein Ausritt in aller Hergotts-

frühe sein kann.

Berücksichtigt man die Flut an Werbung, die jeden Tag in deutschen Brief-

kästen deponiert wird, und addiert man die eigentlichen Zustellungen, kommt

ein Briefträger an manchen Tagen auf bis zu 700 Kilogramm Material, das er

von Haus zu Haus, von Briefkasten zu Briefkasten fahren muss. Natürlich

nicht alles auf einmal, er sattelt mehrmals täglich neu auf, belädt sein Rad,

um seine Tour dann fortzusetzen.

19.000 Briefträger waren laut Statistik im Jahr 2009 mit dem Zweirad

unterwegs – damit zählt das Postrad zum meist verbreiteten Transportrad

auf deutschen Straßen. Neben der Deutschen Post nutzen auch andere

Zustellunternehmen wie PIN und TNT das Fahrrad, ist es doch im Vergleich

zum Zusteller zu Fuß eine schnellere und verglichen mit dem Kraftfahrzeug,

die ökologischere und in der Stadt auch flexiblere Variante. Da Fortschritt

und Entwicklung auch an der Post nicht spurlos vorübergehen, sind seit

kurzer Zeit auch Fahrräder mit elektrischer Tretunterstützung im Einsatz.

Gegen schlechtes Wetter hilft dies aber nicht. Vielleicht sollten wir uns diese

Umstände beim nächsten Mal vor Augen halten wenn wir unseren Brief-

träger treffen, auch wenn er uns wieder eine Rechnung einwirft und der

sehnsüchtig erwartete Liebesbrief wieder nicht dabei ist.

KENNEN SIE DEN?

KENNEN SIE DEN?

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FAHRRADDIEBELadri di biciclette (1948)Regisseur: Vittorio de SicaHauptdarsteller: Lamberto Maggiorani, Enzo Staiola, Lianella Carell

Rom in der Nachkriegszeit: Der Tagelöhner Antonio Ricci erhält eine Arbeit

als Plakatkleber. Um seiner Tätigkeit nachzugehen, benötigt er ein Fahr-

rad, das er bei einem Pfandleiher auslöst. Während der Arbeit wird es ihm

gestohlen und Ricci begibt sich mit seinem Sohn auf die Suche nach dem

Dieb, den er schließlich in ähnlichen sozialen Verhältnissen vorfindet, aus

denen er auch selbst kommt. Aus dieser moralischen Zwickmühle heraus

entschließt sich Ricci, den Fahrraddieb nicht zu stellen und stattdessen

wiederum selbst ein Rad zu stehlen.

Das ist der grobe Zusammenschnitt von Vittorio de Sicas Klassiker

der Filmgeschichte, der an Aktualität nichts eingebüßt, sondern eher

hinzugewonnen hat. Denn nach einer Degression des Zweirades Anfang

der 60er Jahre im Zuge des Wirtschaftswunders und der damit verbun-

denen Motorisierung der Gesellschaft, folgte zu Beginn der 70er Jahre

die Renaissance des Rades. Grund dafür war die Erkenntnis, dass mit

der zunehmenden Urbanisierung das Auto den Mythos vom freien, immer

schnelleren und privilegierten Fahren nicht mehr aufrechterhalten konnte.

Wie in Zeiten Antonio Riccis ist das Rad heute wieder ein unverzichtbares

Glied in der Logistikkette des täglichen Lebens. War es damals noch als

einziger Zugang zur Mobilität die Existenzgrundlage in einem Milieu aus

Armut und Kleinkriminalität, so ist es heute ein unverzichtbares Medium

unserer Zeit: Der Fahrradkurier bringt sein eigenes Rad als Arbeitgerät

mit, ohne wäre seine Tätigkeit nicht möglich.

De Sicas Film jedoch „menschelt“ mehr, verzichtet doch der Haupt-

darsteller auf das Recht an seinem Fahrrad. Gegenwärtig sind solche

Konflikte stark von Gewalt geprägt – stellt ein New Yorker Radkurier einen

Fahrraddieb, endet das Zusammentreffen meist gewaltsam. So gesehen

könnte man der damaligen Zeit ein höheres Maß an Verständnis und Mit-

gefühl zuschreiben. Doch der Wert eines Rades lag mehr in seinem Nut-

zen. Fahrräder heute haben Persönlichkeit, sind stärker auf ihren Nutzer

zugeschnitten. Der Diebstahl ist ein Angriff auf die Person selbst, sei er

nun existenziell oder nicht.

Das Fahrrad und die Medien

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Foto: Baster.nl

FAHRRADDIEBE

MEDIA: FAHRRADDIEBE

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ISSUE 01

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FOKUS: BEWEGUNG

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Der größte Teil der kulturellenProduktion wäre durch einfaches Turnen und zweck-mäßiger Bewegung im Freien mit großer Leichtigkeit zu verhindern gewesen. Bertold Brecht

FOKUS: BEWEGUNG

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Text und Grafik: BAR

An sich ist es schon ganz praktikabel – keine Flecken unter den Achseln bei

der Ankunft. Keine klamme, leicht angeschwitzte Jeans. Keine leicht feuch-

ten Haare, die im Laufe des Tages einen glänzenden Schimmer annehmen

und für ein latentes Unwohlsein sorgen. Ja, diese Entwicklung, die momentan

vonstatten geht, hat durchaus ihre positiven Aspekte. Pedelecs, oder ein-

fach Elektrofahrräder, boomen wie nie zuvor. In den Niederlanden ist bereits

jedes zehnte verkaufte Fahrrad eines mit Elektroantrieb, deutsche Hersteller

rechnen auch in Deutschland mit steigenden Umsatzzahlen, ja gar mit ei-

ner Verfünffachung des Absatzes in den nächsten drei bis vier Jahren. Gab

es 1992 nur knapp drei Fahrradmodelle mit integriertem Elektroantrieb, hat

heute jeder mehr oder weniger große Hersteller ein Fahrrad mit „integriertem

Rückenwind“ im Portfolio.

Der Rückenwind aus der Steckdose funktioniert folgendermaßen: Der

Großteil an Elektrofahrrädern, die auf deutschen Straßen surren, sind soge-

nannte „Fahrräder mit limitierter Tretunterstützung“, was bedeutet, dass ein

Elektromotor die Pedalkraft unterstützt. Er arbeitet also nur, wenn getreten

wird. Ausnahmen sind solche Räder mit einer sogenannten „Anfahrhilfe“, die

durch Drehen des Gasgriffs aus dem Stand beschleunigen, um so besser

vom Fleck zu kommen. Nun, die eigentliche Frage, die sich dem ambitionierten

Radfahrer stellt, ist: Kann man noch von Fahrradfahren sprechen, wenn der

Vortrieb nicht aus meinen eigenen Beinen kommt?

Wir leben in einem Zeitalter der Konvergenz von Transportmitteln. Der Einsatz

von Elektromotoren spielt ebenso wie in der Fahrradindustrie auch in der

Automobilbranche eine große Rolle. Mit der Endlichkeit der Ressource Öl hat

auch der klassische Verbrennungsmotor nur noch eine absehbare Lebens-

dauer. Die Entwicklung alternativer Antriebe und deren Transformation in den

Alltag sind beim Auto also mehr als nur ein notwendiges Übel – sie sind un-

umgänglich. Gleiches gilt für motorisierte Zweiräder, auch sie werden sich über

kurz oder lang an ein neues Zeitalter des Antriebs anpassen müssen.

Das Fahrrad jedoch befindet sich nicht in dieser Zwickmühle. Geht das Öl

irgendwann zu Ende, quietschen allenfalls unsere Ketten. Den Vortrieb haben

wir bisher immer selbst erzeugt. Ehrlicherweise muss man sagen, hat es die

technische Entwicklung hierbei gut mit uns gemeint. Ein modernes Fahrrad

lässt sich mit einer Prothese vergleichen. Die Geschwindigkeit eines Renn-

radfahrers kann kein Sprinter der Welt erzielen, kein Alpinist könnte schweres

Gelände in einem solchen Fluss bewältigen, wie es ein Mountainbiker tut.

Das Fahrrad ist unsere optimierte Prothese. Gangschaltungen mit bis zu

27 Gängen, Federung vorne und hinten, bei professionellen Freeridern und

Downhillbikes mit bis zu 22 cm. Leichtbau der bis zum Exzess betrieben wird,

renntaugliche Mountainbikes wiegen heute keine 8 Kilogramm mehr. Das er-

möglicht es uns, auch die steilsten Berge zu bezwingen, das gröbste Gelände

zu durchqueren – kurz: Wege zu beschreiten, die uns ohne unsere zweirädri-

ge Prothese verschlossen blieben. Trotzdem: Die Bewegung kommt einzig und

allein aus unseren Beinen. Die Optimierung der Prothese bewirkt allenfalls

einen höheren Wirkungsgrad.

Velo steht für vélocipède, was wiederum

für „Schnellfuß“ steht.

Fahrrad fahren ist und bleibt ein Statement. Der Kollege im Büro, der jeden

Tag, egal bei welchem Wetter, mit dem Fahrrad zur Arbeit kommt, genießt eine

besondere Art des Respekts, vielleicht sogar der Bewunderung. Eine letzte

Bastion des starken Ur-Mannes, der bei Unwetter und unter Feindbeschuss

(Autofahrer) mit eigener Muskelkraft seinen Weg geht/fährt. Drahtig sind sie

oft, gerne auch mit Vollbart und Jack Wolfskin Jacke, Junggesellen, die Urlaub

in den Bergen machen. Diese Spezies der letzten echten Abenteurer im

Die elektrische Gefahr für die Bewegung der Radfahrer. Ein Kommentar.

AUS EIGENER KRAFT

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Pedelec Produktion in China: China ist Hauptproduzent von elektrisch angetriebenen Fahrrädern und somit auch der Hauptnachfrager nach Blei. Die Gewinnung dieser endlichen Resource dient zu 91% der Produktion von Akkus. Blei selbst gilt als ökologischer Risikofaktor – für die Entsorgung der Akkus ist bis heute noch kein befriedigender Lösungsansatz gefunden worden. Es drängt jedoch: Eine ähnlich explosive Marktentwicklung wie bei Pedelecs konnte zuletzt in der Mobilfunkbranche verzeichnet werden.

1997 2007

150TSD. 23,7MIO.

BEWEGUNG: AUS EIGENER KRAFT

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Leistungszugewinn: erzielbare Höchstgeschwindigkeiten in km/h ohne und mit einer elektrischen Unterstüzung von 1000 Watt.

untrainierter Radfahrer

trainierter Radfahrer

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Großstadtdschungel wird nun durch einen 250-Watt-Akku gefährdet. Bisher

drohte keine Gefahr, denn Elektrobikes waren lange Zeit nur eine akzeptable

Option für Rentner und Menschen mit Handicap. Ungelenkes Omarad, so sah

das Zweirad mit Gasgriff lange aus. Die ästhetische Revolution und Evolution

eröffnet nun aber auch Menschen mit visuellem Bewusstsein diesen Markt.

Als ökologische Alternative zum Auto, oder einfach nur als „nice to have“ für

trendgestresste Yuppies, denen echtes Radfahren eigentlich immer zu an-

strengend war.

Womit wir beim ökologischen Aspekt wären. Bisher war es ein Alleinstellungs-

merkmal der strampelnden Bevölkerung, für nachhaltigen Transport solche

Unwägbarkeiten wie Wetter und persönliche Konstitution bei Ankunft am Ziel-

ort, in Kauf zu nehmen. Alles für die lupenreine Ökobilanz, denn, lässt man die

Produktion eines herkömmlichen Fahrrads selbst außer Acht, fällt für unser

Ökosystem keine weitere Belastung an. Der Trendforscher Matthias Horx be-

zeichnet das Fahrrad als „ersten evolutionären Gewinner des Klimawandels“.

Nur der Strom für den Antrieb muss auch erst produziert und in Lithiumakkus

gespeichert werden. Der erste Teil des Prozesses entfacht die Diskussion

über nachhaltige Energiewirtschaft im Allgemeinen. Wie ökologisch ist mein

Fahrrad, wenn der Strom für den Antrieb aus Kernenergie oder Kohlekraft-

werken bezogen wird? Wenn ohne diese Energiebeschaffung die eigentliche

Intention des Elektrobikes hinfällig ist? Diese Frage ist von großer Bedeu-

tung, hält man sich die Absatzexplosion der Pedelecs innerhalb des letzten

Jahrzehnts vor Augen. Seit dem Aufkommen der ersten Modelle im China der

90er Jahre, ist der Produktionszweig der elektrischen Antriebe bei Fahrrädern

weltweit zu einer 11-Milliarden-Dollar Industrie angewachsen. Eine Industrie,

die flächendeckender agiert als es die klassische Fahrradproduktion benö-

tigt. Zum einfachen OEM, also Original Equipment Manufacturer, mit seinen

Zulieferern aus der Komponentenindustrie, kommt bei der Produktion des

Elektroantriebs noch die Speichertechnik in Form der Lithium-Ionen-Akkus

hinzu. Ein durchschnittliches in China produziertes Elektrobike benötigt im

Lauf seiner Nutzungsdauer durchschnittlich fünf Speichermedien, also Ak-

kus, von denen jeder aus ca.. 20-30 Pfund Blei besteht. Die Entsorgung der

ausgedienten Akkus stellt uns bei steigendem Bedarf vor große Probleme.

Aus dem Lateinischen übersetzt lautet es:

„Antrieb durch Muskelkraft“.

Aber zurück zum Kern der Fragestellung, was ein solches Pedelec mit dem

klassischen Fahrrad und damit der klassischen Fahrradkultur zu tun hat.

„Für das Herz des echten Radfahrers ist es Betrug“, so Loren Mooney, Chef-

redakteur des amerikanischen „Bicycling Magazine“. Die Qualität und damit

gerade der Nutzeffekt des Rades lag bisher in der Konvergenz von Fortbe-

wegung und sportlicher Aktivität, im Ausdruck der Bereitschaft, sich aktiv zu

bewegen. Das Fahrrad erhob sich über die reine Trivialität des Ankommens,

der Weg war das Ziel und erfüllte uns mit der tiefen Befriedigung, etwas für

sich und seinen Körper getan zu haben, gepaart mit der leichten Bewunde-

rung derer, die sich der körperlichen Betätigung verweigern.

Ökologisch und verkehrstechnisch gesehen ist das Pedelec sicher dem

Automobil vorzuziehen. Aber ist es deswegen auf eine Stufe zu stellen mit

seinem Urtyp, dem muskelbetriebenen Fahrrad?

BEWEGUNG: AUS EIGENER KRAFT

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Text: Elmar Schenkel Grafik: BAR

Seit 1903 nimmt das Fahrrad einmal im Jahr eine geographische Gestalt an.

Das Rad wird Frankreich. Es ist nicht jedes Jahr dasselbe, denn mal geht die

Tour, auch die große Quälerei oder Tortour genannt, durch Holland, mal streift

sie Deutschland, Spanien oder die Schweiz. Seit jeher kämpfen Kommunen

darum, wenigstens einmal auf dieser gigantischen Radstrecke durchfahren

zu werden.

Von Anfang an war die Tour de France ein literarisches Ereignis. Wie so

vieles in dieser Welt entstand sie aus dem Wettstreit zweier Rivalen. Es klingt

zunächst wie eine Geschichte von Jules Verne, in denen oft eine Wette am An-

fang einer Handlung steht, die letztlich von Medien gesteuert wird. Man muss

sich fragen, ob nicht überhaupt Literatur aus einer Wette hervorgeht, der Wet-

warum nicht ein bisschen experimentieren mit Fingerhut und Strychnin? Oder

die Luftwege verbessern mit Nitroglycerin? Vom legendären Tour-Sieger 1949

Fausto Coppi war zu hören, wie er sich mit dem chemischen Mephisto verstand.

Als man ihn fragte, ob er denn leistungsteigernde Mittel nähme, antwortete

er: Wenn es sein muss. Und wann muss es sein? Fast immer. Sein Gegenspie-

ler Bartali, auch der Fromme genannt, wenn gar nicht „Gott“, soll der letzte

unberührte Held gewesen sein. Bartalis einziges leistungssteigerndes Mittel

war sein Glaube an die Heilige Jungfrau. Immerhin verschrieb ihm sein Arzt

drei Zigaretten am Tag, um seinen niedrigen Puls zu korrigieren. Die Tour ist

eine der Fronten des Weltbewusstseins, und dort herrscht hohe Anspannung

– wie in der Welt der Promis und Stars, der Hochleistungsgesellschaft und

te nämlich, die ein Erzähler mit seinen Lesern eingehen

muss. Wer zu erzählen beginnt, tut es mit der uneinge-

standenen Behauptung: Ich wette, das ist so spannend,

dass ihr mir bis zum Ende zuhören werdet. Es sei auch

daran erinnert, dass die erste Frau, die die Welt umradel-

te, Annie Londonderry, dies aufgrund einer Wette tat.

In Paris entwickelte sich folgende Rivalität: Auf der ei-

nen Seite stand der bereits erwähnte Pierre Giffard, der

sich mit dem Ende des Pferdes beschäftigt hatte, und

seine sehr erfolgreiche Sportzeitung „Le Vélo“. Unter an-

derem hatte er auch das Radrennen Bordeaux-Paris initi-

iert. Giffard nutzte seine Popularität für politische Zwecke

ihrer Manager, wie im Krieg. Auch Betrug herrschte von

Anfang an. Der Sieger in den ersten Jahren, Garin, wurde

überführt: Er habe sich an Autos gehängt, Abkürzungen

gesucht, sei lange Strecken schlicht mit der Eisenbahn

gefahren. Ein Sieg wurde ihm nachher aberkannt. Garin

war im späteren Leben als Tankstellenbesitzer tätig und

erklärte noch in hohen Jahren stolz seine kleinen faulen

Tricks. Die frühe Radliteratur beschäftigte sich gern mit

den Hindernissen beim Radfahren. Bestens fündig könn-

te man in diesen ersten Jahren der Tour werden, denn

es geschah so manche Merkwürdigkeit. Der ungekrönte

Held der Tour ist wohl Eugène Christophe, der „alte Gal-

und setzte sich für den von antisemitischen Beschuldigungen attackierten

Kapitän Dreyfus ein. Auf der anderen Seite taten sich Giffards Gegner zusam-

men und gründeten eine Gegenzeitung, „L’Auto–Velo“. Der Herausgeber Henri

Desgranges gewann schließlich den Wettlauf, weil er mit seinem Assisten-

ten Lefèvre eine jährliche Tour durch ganz Frankreich organisierte. Dadurch

konnte er, wenn auch mit Unterbrechungen, die Auflage seines Blattes enorm

steigern.

Von Anfang an waren also die Medien im Spiel bei diesem Wettkampf, und

es gelang ihnen, diesen zu einem Mythos hochzustilisieren. Noch das Gelbe

Trikot soll eine Erfindung der Zeitung sein, die auf gelbem Papier gedruckt

war, aber dies ist wohl eher eine Legende. Kommerz und Doping waren eben-

falls von Anfang an im Spiel. Vor dem Pulk der Sportler fuhr und fährt immer

eine riesige Werbekolonne, meist im Abstand von zwei Stunden voraus. Auch

sie gehört zum Ritual. An Grenzen werden Drogen angeboten, und wenn der

Radfahrer eine solche Grenze seiner Fähigkeiten erreicht, wird er nicht selten

Gebrauch davon machen. Von Anfang an versuchten alle Radler, sich mit wel-

chen Mitteln auch immer in die beste Form zu bringen. Man ließ Kokainflocken

oder äthergesättigte Zuckerwürfel auf der Zunge zergehen oder rieb sich mit

Kokain in Kakaobutter ein. Heroin- und Kokainkügelchen, warum nicht? Und

lier“. Eine Zeichnung zeigt ihn in einer geradezu mythischen Szene, wie er

in einer Schmiede mit seinem Hammer auf sein Rad klopft, beobachtet von

drei Kommissaren. Auf der Tour 1913 hatte Christophe einen Gabelbruch und

musste mit seinem Rad zu Fuß 14 Kilometer gehen, bis er eine Schmiede fand.

Nach den Reglements musste er das Fahrrad selbst reparieren. Er wurde

unterstützt von einem Schmiedejungen, der den Blasebalg betätigte. Das gab

nochmal eine Strafminute für fremde Hilfe. Christophe belegte in der Gesamt-

wertung dennoch den 7. Platz. 1919 schlägt noch einmal die Stunde des alten

Galliers, als die Tour, die vom Krieg mehrere Jahre unterbrochen wurde, wieder

ausgetragen wird. Und wie zuvor hat er wieder einen Gabelbruch.

Die Tour hatte viele Feinde, aber auch eine empörte Volksseele gegen sich,

wenn gemogelt wurde. Dann wurden Steine geworfen, bösartige Nägel aus-

gelegt und Straßenblockaden errichtet. Die Fahrer ließen ebenfalls nichts

anbrennen: Man streute Juckpulver ins Hemd des Rivalen, mischte etwas ins

Getränk, verdrehte Straßenschilder oder machte sich nachts an den Rädern

des anderen zu schaffen. 1911 wurde der führende Duboc von einem Un-

bekannten vergiftet. Aus Angst vor solchen Manipulationen und Diebstahl

nahmen die früheren Tourteilnehmer ihre Räder meist mit ins Schlafzim-

Eine bewegte Geschichte der Tour de France

Bartalis einziges

leistungssteigerndes

Mittel war sein

Glaube an die

Heilige Jungfrau.

PUT ME BACKON THE BLOODY BIKE!

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BEWEGUNG: PUT ME BACK ON THE BLOODY BIKE

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mer. Vielleicht hat dies den Schweizer Autor Charles-Albert Cingria inspiriert.

Nachdem ihm einmal das Fahrrad gestohlen worden war, so berichtet der

Verleger Peter Schifferli, soll er nur noch Einladungen unter der Bedingung

angenommen haben, dass sein Rad die ganze Zeit in Sichtweite vom Tisch

stehen durfte. In Paris soll man in der Rue Bonaparte noch lange nach Cin-

grias Tod die beiden Eisenhaken gesehen haben, an denen er sein Fahrrad

nachts über dem Bett aufzuhängen pflegte. Spätestens hier muss das Wort

vom Fahrrad als Junggesellenmaschine fallen. Auch in Flann O’Brians radge-

steuertem Roman ist es nichts anderes: Ersatz für die Frau, den Partner, der

einzige Freund, die einzige Freundin, Symbol der Einsamkeit und Verlorenheit

in diesem Universum.

Gaul der Rimbaud der Tour, Lauredi der Verräter, Molineris der Mann des letz-

ten Kilometers und Rolland das Opfertier.

Das besondere an der Tour de France, und das macht ihren literarisch-my-

thischen Charakter aus, ist zum einen die alljährliche Wiederholung. Dadurch

wird sie Teil eines Rituals. Zum anderen spielt sich hier in aller Öffentlichkeit,

und zwar weltweit zu verfolgen, ein gigantischer Kampf ab zwischen den Hel-

den sowie zwischen Held und Landschaft. Dabei wird das ganze Frankreich

zu einem mythischen Land, zu einer geradezu mittelalterlichen Topographie,

in denen die modernen Ritter der Tafelrunde ausreiten, um ihre Prüfungen zu

bestehen. König Artus ist das allmächtige und omnipräsente Auge der Medien,

die gnadenlos alle Taten und Untaten der Ritter verfolgen und in Hofgespräch

Die Tour gewann schnell mythische Dimensionen. Ro-

land Barthes hat sie nicht ohne Grund in seine Samm-

lung moderner Mythen aufgenommen. Darunter versteht

er Zeichensysteme, die Dingen oder Menschen überge-

stülpt werden, um sie zu mystifizieren, ihre Macht zu stei-

gern und die es letztlich dem Kleinbürger ermöglichen,

seinen Stand, sein Weltbild und seine Gesellschaftsform

als von der Natur gegeben zu erfahren. So erlebt der

sportbegeisterte Bürger die Tour als großes Epos, als

würdige Nachfahrin (im doppelten Sinne) der mythischen

Ereignisse am Olymp. Schon die Namen der Rennfahrer

scheinen ihm aus einer archaischen Welt zu stammen, ei-

verwandeln. Immer ist auch Tragödie im Spiel: seien es die

zahlreichen Unfälle oder auch Böswilligkeiten, die dazu

führen, sei es der unweigerliche Niedergang des Helden,

der, nachdem er fünfmal gewonnen hat, das Handtuch

werfen muss oder des Dopings überführt wird.

Tim Moore, ein englischer Reiseschriftsteller, ist die

Tour mit seinem Fahrrad einige Wochen vor Beginn des

Rennens abgefahren und hat darüber ein kurzweiliges,

gelegentlich in die historische Tiefe zielendes Buch ge-

schrieben. Interessanterweise verwechselt er auf seiner

Fahrt immer den Artikel für Tour, wie er später scham-

haft-ironisch feststellt. Le Tour de France, aber la Tour

ner Welt der Stämme aus dunklen Zeiten: Brankart der Franke, Robic der Kelte,

Darigade der Gascogner oder Ruiz der Iberer. Auf der anderen Seite verklei-

nert der Bürger als Voyeur auch gerne seine Götter: Aus Raphael wir Raph und

aus Gemiami Gem, derweil sie Poulidor zu Poupou machen. Die Landschaft

wird episch, indem man sie personifiziert, denn mit ihr müssen sich die Helden

wie mit Ungeheuern und Feinden messen.

Jede Etappe entspricht einem Romankapitel, in dem ein neuer Gegner auf-

taucht und besiegt werden muss. Das größte Ungeheuer wartet mit der Etap-

pe am Mont Ventoux, der spätestens seit Petrarcas Besteigung ein Berg mit

mythischen Dimensionen ist. Dort, so Barthes, residiert ein Gott des Bösen,

der Geist der Trockenheit. Man kann die Tour auch mit der Odyssee verglei-

chen; sie folgt einer homerischen Geographie. Noch das Doping ist Teil der

epischen Schlachten, denn mit unlauteren Mitteln versuchen die Radler, den

Göttern gleich zu werden, ihnen sozusagen den Nektar rauben, den göttli-

chen Funken oder das Feuer. Mythische Gestalten wie Prometheus oder Si-

syphos drängen sich auf. 1955 fügte Roland Barthes seinem Essay über die

Tour noch ein kleines Lexikon bei, in dem er einzelne Radfahrer den Mythen

zuordnet: Darrigade ist ein undankbarer Zerberus, Coppi der perfekte Held,

Eiffel, zweimal der Inbegriff Frankreichs. Tour und Turm haben ja auch etwas

gemeinsam, nämlich Steig- und Fallhöhe. Der Titel seines Buches French

Revolutions spielt mit der Möglichkeit, dass die französische Revolution im

Untergrund weiterwirkt, auch wenn es sich bei der Tour zunächst nur um

Umdrehungen handelt. Das deutsche Wort Umdrehung zeigt, je nach Akzent-

setzung, eine ähnliche Doppeldeutigkeit, ganz zu schweigen von den Umdre-

hungen auf einem Flaschenetikett.

Auf seiner Radtour versucht Moore, diesem Ausritt aus der Zeit, den die

Tour de France für das Land bedeutet, nach zu spüren. Er geht in die An-

fänge zurück, stößt irgendwo in den Alpen auf eine Statue des Gründers

Desgranges und erzählt Lebensgeschichten von berühmten Radlern. Als

Engländer geht im das Schicksal des Briten Tom Simpson besonders nah. Der

wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf und trug schon früh den Spitzna-

men Four-Stone Coppi, weil er solch hohle Wangen hatte wie der Superstar

Fausto. 1956 gewinnt er eine Bronzemedaille auf der Olympiade, er ist der

erste britische Weltmeister 1965. Dann kommt die Tour 1967, und er ist sieb-

ter auf der 13. Etappe, am Ventoux. Da beginnt er zu taumeln und stürzt, er

will weitermachen, nein, mach es nicht, Tom, das reicht, sagt sein Mechaniker,

doch Tom ruft einen Satz, der wie ein Nachruf klingt: „Put me back on the

Denn mit

unlauteren Mitteln

versuchen die

Radler, den Göttern

gleich zu werden.

BEWEGUNG: PUT ME BACK ON THE BLOODY BIKE

Page 26: bar magazine

bloody bike“, setzt mich wieder auf das verdammte Fahrrad! Er rast weiter,

gegen alle Vernunft, ist eigentlich am Ende, er fährt wie ein Gespenst, völlig

automatisch. Man muss ihn halten und legt ihn auf den Felsen. Belebungs-

versuche, Hubschrauber, Erste Hilfe, die Ärzte kommen. Doch zu spät, er ist

schon tot, ein Dopingopfer, man kann ihn kaum von der Lenkstange lösen.

Moore widmet sich allen körperlichen Malaisen, die die Fahrer begleiten: der

Hitze, den steilen Auffahrten und der Schwierigkeit, unterwegs Wasser zu las-

sen. Bis 1957 herrscht ein Gentleman-Reglement: wenn einer austritt, fahren

die anderen etwas langsamer. Das gilt nicht mehr, nachdem Charlie Gaule das

mobile Pinkeln erfunden hat. Seither ist auch dies erlaubt, allerdings nur in

unbewohnten Gebieten. Moore nickt zu den großen historischen und kul-

er gefälschte Pässe in den Gestängen des Rades versteckte, vielen Juden bei

ihrer Flucht vor den Faschisten. Curzio Malaparte hat den epischen Gegen-

satz von Bartali und Coppi einmal so in Worte gefasst:

Bartali ist ein Mann der Tradition. Er ist ein metaphysischer, von den Heiligen geschützter Mensch. Coppi hat im Himmel keinen, der sich um in kümmert. Weder sein Manager noch sein Masseur haben Flügel. Er sitzt allein auf seinem Rad, hat keinen Engel auf der Schulter, der mittritt. Er denkt rational, nüchtern und glaubt nur an den Motor, der ihm gegeben wurde, das heißt, an seinen Körper. (In: Blickensdörfer, 108)

turellen Sehenswürdigkeiten hinüber, die Teil der Tour

sind: die Höhen von Lascaux, der Wallfahrtsort Lourdes,

ja, noch zu Jan Ullrich winkt er hinüber, als er durch den

Schwarzwald und Freiburg fährt. Aber in erster Linie ist

sein Unternehmen, in bester britischer Tradition, eine

Übung in Selbstironie.

Der französische Romancier Louis Nucera, der im Jah-

re 2000 von einem Autofahrer beim Radeln in den Alpes

Maritimes getötet wurde, holt literarisch weiter aus. Für

Nucera (geb. 1928) waren Radfahren und Schreiben zwei

Seiten der selben Medaille. Wenn der Sommer zu Ende

ging, pflegt man ihn zu fragen: Wieviele Seiten und wie-

Und so erfüllt sich Nucera in den 80er Jahren einen al-

ten Jugendtraum: Er möchte die legendäre Tour von 1949

nachfahren, aus der Coppi als der große Sieger hervor-

ging. Diese Tour beschreibt er mit Poesie, Geschichtsge-

fühl und stilistischem Schwung in Mes rayons de soleil

(1987). Rayons? Das sind die Strahlen der Sonne, aber es

sind auch die Speichen des Rades, das insofern die Son-

ne auf Erden ist. Dem Herz des Radlers sind Sonne und

Rad eins, und wo kann man dies intensiver erfahren als

im Hochsommer der Tour de France? Das Buch erfüllt ei-

nen alten Traum, aber es zeigt auch, woher dieser Traum

vom Fahren eigentlich stammt, nämlich von den Vorfahren.

viele Kilometer waren es diesmal? Er war ein Stilist von höchsten Gnaden. In

seiner Autobiographie erinnert er sich an Freunde wie Picasso, Brassens oder

Cioran; ebenso daran, wie Vladimir Nabokov und Henry Miller mit dem Fahrrad

umherfuhren. Henry Miller verdanken wir ja auch eine große Liebeserklärung

an das Fahrrad. Dem Rennkönig René Vietto widmete Nucera seinen vielleicht

wichtigsten Roman: Le Roi René. Sein großer Held aber war der Campionissimo

Fausto Coppi. Er wusste alles über ihn, er hatte seit frühester Jugend jedes

Detail seines Lebens studiert. Der linke Coppi gegen den katholisch-frommen

Bartali, das war im Rennwesen der Nachkriegszeit die Parallele zum Zwei-

kampf zwischen Don Camillo und Peppone. Auch dort sind bekanntlich Fahr-

räder im Spiel. Italiens Renngemeinde teilte sich von nun an auf in Coppisten

und Bartalisten. Coppi, der Meister der größten Rennen seiner Zeit, mehrerer

Giro d‘Italia und mehrerer Tours de France, Inhaber aller wichtiger Trophäen

– und doch von moralisierenden Heuchlern sowie der katholischen Kirche

geschmäht wegen seiner Liebesaffären. Am Ende findet ihn der Tod in Afrika,

und zwar in Gestalt von Malaria. Bartali, der im Jahre 2000 starb, ließ es sich

auf keiner Tour nehmen, einen Abstecher zu Wallfahrtsort Lourdes zu machen,

auch wenn die anderen weiter rasten. Kein Sportler wurde häufiger vom Papst

empfangen als er. Im Krieg verhalf er durch geheime Kurierfahrten, bei denen

Als er zur Welt kam, erblickte Nucera als erstes den Schatten eines Fahrrads,

das zwischen Himmel und Erde hing. Im Zeichen des Fahrrads entfaltete sich

sein Leben, vom Großvater sanft gesteuert. So legte ihm dieser zu Weihnach-

ten statt Hirten und Bauern kleine Radfahrer in die Krippe; nicht minder zu

Rad kamen die Heiligen Drei Könige, und sie trugen die Namen der großen

Radrennfahrer. Dem Großvater folgte er in seiner fieberhaften bis religiösen

Verehrung des Fahrrads. In der Schule wurden seine Zensuren schlechter,

weil er sich zumeist mit dem Alten auf Radrennen herumtrieb. Als der Lehrer

ihn einmal nach Karl dem Großen und Torquemada ausfragte, glaubte er, dass

es sich bei dem einen um einen Verwandten des Weltmeister von 1936, bei

dem anderen vielleicht um einen spanischen oder italienischen Radrennfahrer

handelte. Geographie interessierte ihn nur soweit, als sie die Grundlage der

Tour de France bildete. Auf dem Sterbebett verkündete der Großvater, er wolle

die Heiligen Drei Könige zu Rad mit hinüber nehmen. Und er gab dem Jungen

zum letzen Mal seine Philosophie auf den Weg: „Allen, die genesen, wünsche

ich große, lange Fahrten. Weiß der Mensch, was ihm gut tut? Man hat den

Fahrradsinn genauso wie man ein musikalisches Gehör hat. Ein Radrennfah-

rer ist ein Künstler.“

Und deren größter war Coppi. Nucera stimmt mit seinem Buch in einen

Man hat den

Fahrradsinn

ein Radrennfahrer

ist ein Künstler.

BAR MAGAZINE 38 39

Page 27: bar magazine

Hymnus ein; er wetteifert mit zwei großen italienischen Schriftstellern, die

Coppi besungen haben: Curzio Malaparte, den wir schon hörten, und Dino

Buzzati. Buzzati, der Meister des Abgründigen, den man zu seinem Unwillen

oft mit Kafka verglichen hat, war auch ein Kenner des Radsports und radelte

selbst. Den Giro d‘Italia hat er als Reporter verfolgt und regelmäßig Bulletins

geschrieben. Es passt zu seinem Werk, seinem Denk- und Traumstil, dass er

eine Figur wie Coppi, der noch dazu Fausto heißt, verehrte, so wie es ihn wohl

auch schauderte angesichts der unmenschlichen Höhen, die dieser erklom-

men hatte, und angesichts der Rolle, die er als Sündenbock der Gesellschaft

schließlich antreten musste. Als Bewunderer von Coppi befindet sich Nucera

also in bester Gesellschaft. Wie kein anderer Fahrer scheint Coppi die Litera-

er endlos um einen Platz herum, auf der Suche nach der besten Methode,

um anzuhalten und abzusteigen. Schließlich trifft Nucera den großen Jaques

Anquetil in Sere-Chevalier-Chantemerle, und der fünffache Sieger der Tour

erzählt ihm diese letzte Geschichte:

1959 war ich mit Coppi in Ober-Volta. Eines Tages, als ich mit ihm alleine war, sagte er einen Satz, der mich überraschte und der mir erst wirklich im Nachhinein auffiel. „Ich habe gerade einen Löwen gesehen; jetzt kann ich sterben.“ Das war am Vorabend des Rennes von Ouagadougou, also der 14. Dezember. Nach der Rück-kehr nach Italien am 2. Januar 1960 starb Fausto bekanntlich im Krankenhaus von Tortona. (Nucera, 272)

tur inspiriert zu haben.

So machte sich Nucera eines Sommermorgens in Paris auf, die Tour nach-

zuradeln, 4.813 km, mit Ausfahrten durch Belgien, Italien und die Schweiz.

Morgens tritt er die Pedale, nachmittags schaut er sich in den Städten und

Dörfern um und erkundet ihre historischen Schwingungen. Er stößt auf

Friedhöfe der Weltkriege, erinnert sich an den Hundertjährigen Krieg des

ausgehenden Mittelalters, fährt auf einer Straße, die sich Napoleon verdankt,

passiert den magischen Wald Broceliande, in dem Merlin begraben liegt, und

schaut in die kosmischen Abgründe des Isenheimer Altars in Colmar. Zwischen

diese Betrachtungen eingeschaltet finden sich Reportagen von 1949. In der

Normandie stößt er auf Flauberts Spuren, Flaubert, der von einem anderen

Autor sprach als „Adler, der nur eine Gans“ sei. Nucera zitiert daraufhin die

Auszug aus:

Elmar Schenkel, CYCLOMANIE – Das Fahrrad und die Literatur

Edition Isele, Eggingen 2008, ISBN 978-3-86142-448-2

Adler der Straße: Kint, der schwarze Adler, Kübler, der Adler von Adliswile, oder

Bahamontes, der Adler von Toledo. Die Rennheroen verdienen einen Platz ne-

ben den Autoren, sie alle sind Künstler vor Gott, so hat es ihn sein Großvater

gelehrt. Ein geheimes Vorbild mag ihm Maurice Leblanc sein, an den er sich

bei Rouen erinnert. Der war nämlich auch Cyclist und fuhr so manches Ren-

nen. Als er die Tour de Bretagne gewann, überreichte man ihm als Preis ein

Tandem. Aber er sollte es nie benutzen, weil er der Meinung war, dass der

Radsport ein einsamer Sport sei. Auch Leblanc ging mit seinem Rad auf die

Suche nach literarischen Orten. Sie waren ihm Zugang zu erträumten Aben-

teuern. Er glaubte auch daran, dass das Fahrrad fliegen könne: Es ist unser

Flugzeug; dies kann man in seinem Roman Voici des ailes! nachlesen.

Nucera lässt sie alle auferstehen, die Literadler: Émile Ciorans Radtouren

durch Frankreich in den frühen Jahren nach seiner Emigration aus Rumänien,

Marcel Pagnol in der Provence, den jungen Arthur Rimbaud, den Léon Bloy

als einen „mörderischen Radfahrer“ bezeichnete, obwohl er vielleicht nie auf

dem Fahrrad saß; den heiteren Faizant und seine Albina ebenso wie Nabo-

kov. Bei Cannes kommt die Erinnerung an den Polen Gombrowicz, der sich

beim Radfahren einmal so mit Wein erfrischte, dass er bei der Ankunft nicht

mehr wusste, wie er von seinem Rad wieder herunterkommen sollte. So kreiste

Le Tour de France Die große Schleife

Jahr der ersten Rundfahrt durchschnittlicher Kalorienverbrauch beim 13,8km langen Anstieg nach L’Alpe d’Huez

Anzahl der Bananen, die diesen Verbrauch decken

1903

10 000 kcal

76

BEWEGUNG: PUT ME BACK ON THE BLOODY BIKE

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Fahrradmechaniker hassen zwei Dinge: dreckige Fahrräder und Fahrer, die ihnen über die Schulter schauen wollen.

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Text: Marius Hanf Bild: BAR

Die meisten Dinge gehen irgendwann kaputt. Fahrräder sind da keine Ausnahme, im Gegenteil: Ein

mehr oder weniger modernes Rad besteht mittlerweile aus so vielen Teilen, dass es nur eine Frage

der Zeit ist, bis das erste seinen Dienst aufgibt. Aufgrund der, mit der Anzahl der Teile proportional

ansteigenden Komplexität des Fahrrads, braucht es solche, die es wieder richten können. Solche

vom Fach, nämlich die Spezies der Zweiradmechaniker, ist eine sehr eigene.

Der erste, mir bewusste Kontakt mit denen vom Fach, liegt in meiner Erinnerung etwa 13 Jahre

zurück. Hierzu sollte man wissen, dass sich die Umstände des ersten Kontakts innerhalb eines

Rahmens bewegen, der vielen Menschen, die in jungen Jahren mit dem ambitionierten Fahrradfah-

ren begonnen haben, bekannt ist. Mit starker Überzeugungskraft, untermauert durch körperliche

Versehrtheit in fahrradspezifischer Form (aufgeschürfte Knie, Ellbogen, von Pedalen malträtierte

Schienbeine), hatte ich meine Eltern von der Wichtigkeit des Strampelns überzeugt. Nach Plün-

derung eines, eher auf die ferne Zukunft ausgerichteten Sparkontos, war es da: ein gebrauchtes,

aber dennoch gut dastehendes Cannondale SuperV. Ein für damalige Verhältnisse hochgezüchte-

tes Rennpferd, ein Ferrari in den Händen eines 18jährigen, der die Führerscheinprüfung zwei Wo-

chen zuvor bestanden hatte, ein Steinway unter den Fingern eines Klavierschülers in der ersten

Unterrichtsstunde. Kurz gesagt: zuviel Maschine für damals zu wenig Ahnung, aber unermesslich

viel Ambition und Tatendrang.

An einer Tatsache hat sich in der Geschichte des modernen Rades nichts geändert: Beim Kauf

funktioniert alles tadellos. Die Kette wandert präzise über die unverbraucht glänzenden Ritzel, die

Tauchrohre der Gabe gleiten bei kleinsten Erschütterungen in die Standrohre und federn ebenso

geschmeidig wieder aus. Kein Knacken, kein Rattern, nur das monotone Surren des Freilaufs in

Einklang mit dem Rauschen des Untergrunds, auf dem die tiefschwarzen, noch weichen Stol-

len des Reifens ihre Zeichnung hinterlasssen. Es läuft einfach, nichts erinnert an die komplexe

und anfällige Mechanik der Maschine – zunächst. Veränderungen kommen meist unvorbereitet,

besonders wenn man im jugendlichen Leichtsinn keinen Gedanken an Kundendienst oder gar

Verschleiß verschwendet. Bis, ja bis es passiert.

Bei mir war es das Schaltwerk. Jenes insektenhaft anmutende Gebilde, das am hintersten un-

teren Ende des Rahmens hängt, und von dessen Funktion das Schalten und Walten maßgeblich

abhängt. Aufgrund ihrer exponierten Lage brechen Schaltwerke bei Stürzen gerne ab oder treten

in Streik und wickeln sich um die Ritzel, um dann sogartig in den Drehpunkt des hinteren Lauf-

rades gezogen zu werden. Egal wie – es ist immer schlecht, wenn ein Schaltwerk seinen Dienst

aufgibt..

So geschehen, trat ich meinen ersten eigenverantwortlichen Gang in eine Fahrradwerkstatt an.

Und da traf ich sie, die Spezies Mechaniker. Grundskeptisch, verständlicherweise. Nie hat der

Fahrer irgendwas gemacht, das Rad stellt seine Funktion grundsätzlich eigenmächtig ein, ge-

stürzt wird nicht, falsch behandelt auch nicht und selbst Hand angelegt schon gar nicht („an der

Schraube war doch jemand dran, so sieht das normalerweise nicht aus“ – „nein, ich hab‘ da nicht

rumgeschraubt, ein solches Werkzeug besitze ich gar nicht!“). Keine Überraschung dass sich auf

der Stirn des Mechanikers tiefe Falten der Skepsis abzeichneten, als der 12-jährige Halbstarke

Von denen, die Mechanik am Laufen halten

mit der Venus der Fahrräder die Werkstatt betrat. Ebensogut hätte ihm ein 12-jähriger Kate

VOM FACH

BEWEGUNG: VOM FACH

Page 30: bar magazine

Moss als seine neue Freundin vorstellen können. Dieses Rad war zu jenem Zeitpunkt überdimen-

sioniert für mich. Und das ließ er mich spüren. Ein Gefühl der ahnungslosen Beklommenheit, das

ich heute noch in Autowerkstätten empfinde, da sich hier meine Kompetenz, im Gegensatz zu der

gegenüber Zweirädern, in den letzten Jahren meines Daseins als Autofahrer nicht weiterentwickelt

hat. Weil es bei den meisten Menschen Verunsicherung hervorruft, wenn Ahnungslosigkeit und

Kosten aufeinandertreffen.

Er entsprach dem Typ Harley-Davidson-Fahrer. Mit großen, rissigen und ölverschmierten Hän-

den, die von vielen Jahren der Schrauberei zeugten, packte er die Patientin und hob sie in seinen

Arbeitsständer, umringt von Werkzeugen die mit chirurgischer Präzision nach Größe, Funktion

und Bedarf an der Wand angebracht waren. Nachdem er das nicht mehr zu rettende Schaltwerk

vom Träger, dem Schaltauge, entfernt hatte und mich aus seinem Aktionsradius ausgeschlos-

sen hatte (Fahrradmechaniker hassen zwei Dinge: dreckige Fahrräder und Fahrer die „über die

Schulter schauen wollen“, dabei aber nichts anderes Sinnvolles tun, als im Weg zu stehen), griff

er zu einem seltsam anmutenden Werkzeug – der renommierte Werkzeughersteller Park Tool führt

es unter „Derailleur Hanger Alignment Gauge“ auf – und schraubte es in das Gewinde, in dem

vorher das Schaltwerk verschraubt war. Das Derailleur Hanger Alignment Gauge, oder einfacher:

Schaltaugerichtwerkzeug, oder noch einfacher: das lange Ding um das Schaltauge wieder gerade

zu biegen. Das lange Ding besitzt am Ende ein Gewinde, mit dem es in das Schaltauge geschraubt

wird, um das es sich dann in einer Kreisbahn frei drehen lässt - Am anderen Ende sitzt eine ver-

schiebbare Messlehre. Erst wenn diese an jedem Punkt auf der Kreisbahn den gleichen Abstand

zur Felge hat, ist das Schaltauge wieder gerade. Der lange Hebel vereinfacht zudem das Biegen

des Metalls.

Diese Kombination aus feiner Messung und groben Richten scheint auf den Mechaniker eine

ungeheuerliche Faszination auszuüben, denn er führt diesen kurzen Handgriff in einer Art Kon-

templation aus, die ich zu diesem Zeitpunkt nicht nachvollziehen konnte. Nach getaner Arbeit

wanderte das Werkzeug zurück an seinen dafür vorgesehenen Platz an der Wand, umgeben von

einem mehr als würdigen Weissraum zu den umliegenden Operationsinstrumenten. Für das Rich-

ten von gebrochenen Schaltwerken gibt es bis heute leider keine Werkzeug und hier tritt nun die

berufsbedingte Gelassenheit des Mechanikers zutage. Meiner damaligen Unsicherheit und vor

allem Unwissenheit auflaufend, hatte ich keine konkrete Vorstellung davon, in welchem Preisseg-

ment sich ein Schaltwerk so grob bewegt. „Wenn‘s kaputt ist, muss man es austauschen“, damit

hatte er natürlich völlig Recht, und wenn man schon Ferrari fährt, sollte man bei der Wahl eines

Ersatzteils auch nicht allzu knickrig sein, man fährt ihn (oder in diesem Falle sie – Fahrräder sind

weiblich, das ist eine Tatsache und von daher auch nicht Ausgangsbasis einer Diskussion) wegen

der Performance. Und diese wiederum ist eine Summe der Einzelkomponenten.

Meine Entscheidung fiel damals auf ein Sram Schaltwerk, nicht auf ein Shimano, was auf-

grund von Übersetzungsverhältnissen sowie Kompatibilität vorhandener Teile und gewissen,

ungeschriebenen ethischen Grundsätzen in der Wahl von Komponenten (Fahrradfahren ist die

fundamentalistische Ausprägung einer Religion), geschuldet war. Der Mechaniker bedenkt, nein,

weiß das einfach und ebenso wusste ich es von diesem Zeitpunkt an.

BAR MAGAZINE 42 43

Page 31: bar magazine

Nach getaner Arbeit wanderte das Wekzeug zurück an seinen dafür vorgesehenen Platz an der Wand, umgeben von einem mehr als würdigen Weissraum zu den umliegenden Operationsinstrumenten.

Page 32: bar magazine

Uwe Ulrich, 43 – Bike World Brand –

ParkTool Bottom Bracket Tapping & Facing Set BTS–1

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BEWEGUNG: VOM FACH

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Page 35: bar magazine

Martin Endres, 34 – Bikestore –

ParkTool Rotor Truing Fork DT–2C

BEWEGUNG: VOM FACH

Page 36: bar magazine

Sven Hartmann, 29 – Bike World Brand –

ParkTool Bottom Bracket Tool BBT–4

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Page 37: bar magazine

BEWEGUNG: VOM FACH

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Page 39: bar magazine

Michael Herbig, 26 – FX Sports –

ParkTool 3 Way Hex Wrench AWS–3

BEWEGUNG: VOM FACH

Page 40: bar magazine

Text: Claudia Sussmann Illustration: BAR

ton übergeht, um sich – auf dem Hintergrund von Blau (Bluterguss) oder

Schwarz (Fäden, in der Regel 4 bis 5 Stiche) in ein warmes Karmesinrot zu

verwandeln - wie ein Gemälde aus dem 17. Jahrhundert (vgl. dazu J. M. W.

Turner : Schneesturm – ein Dampfer vor einer Hafeneinfahrt gibt Signale

in der Untiefe und bewegt sich nach Lot. Tate Gallery, London). Merfen

Orange – Desinfektionsmittel (Hausapotheke). Ein befriedigendes Wasch-

ergebnis für Kopfkissenbezüge konnte nie erzielt werden.

Es herrscht eine erdrückende Stille im Raum, ehe das Telefon klingelt.

Das leichte Zittern in den Händen, wenn ich die Gesprächstaste drücke.

Das tiefe Atmen am Ende der Leitung. „Mama, ich bin’s, wir sind in der

Notaufnahme.“ Der Moment, in dem das Herz einen Takt lang aussetzt – er

kann sprechen, weiß noch, dass ich seine Mutter bin – keine temporäre

Amnesie, ist doch was! Aber wenn nicht er, wer dann?

Die Zeitverschiebung Kanada-Europa beträgt 9 Stunden. Es klingelt

nachts um Zwei......Andere Eltern verschenken zum Abitur einen Bauspar-

vertrag.

Was für ein Drama bis zum Abschrauben der Stützräder. Und jetzt bin ich

stolz auf ihn.

Es gibt Menschen, die den Regen nicht mögen. Ich mochte den Regen

schon damals – mag ihn immer noch – obwohl ich, seitdem er ausgezogen

ist, nicht immer weiß, was mein Sohn bei diesem Wetter macht. Regen ver-

ursacht ein ausgeglichenes Muttergefühl. Starker Regen. Mehr noch als

ein selbst gebasteltes Herz zum Muttertag.

An den besten Wochenenden, an denen gerade kein Muttertag war, bin

ich morgens von einem beruhigenden Plätschern geweckt worden. Nicht

dieses leise, sanfte Prasseln, das Regentropfen verursachen, wenn sie

auf Blätter fallen – das konnte ihn niemals abhalten. Es musste dieses

gewisse Rauschen sein, ein kraftvoll anschwellendes Geräusch wie es

kleine Gebirgsbäche in den Bergen machen, so blau vor Kälte. Denn dann

wurde nicht gefahren, dann wurde nur gegraben.

Nur Graben bedeutete nicht mehr tragbare Turnschuhe, bis zur Un-

kenntlichkeit entstellte Klamotten und eine weitläufige Schlammspur (Kü-

che – Kühlschrank – Fernsehzeitung - Badezimmer). Keine große Prüfung

für echte Muttergefühle. Auch dann nicht, wenn man gerade gewischt

hatte. Was willst du, er lebt!

Es gibt ganz intensive Nuancen der Farbe Orange. Ein changierendes

Farbspiel, das von einem leuchtenden Gelb sanft in einen leichten Violett-

Über die innere Bewegtheit einer Mutter

MUTTERGEFÜHLE

BAR MAGAZINE 52 53

Page 41: bar magazine

MUTTERGEFÜHLE

Page 42: bar magazine

Bild: Benjamin Asher & Felix Volkheimer & BAR

Bewegung hinterlässt Spuren – nicht nur am Menschen

NARBEN INALUMINIUM

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BEWEGUNG: NARBEN IN ALUMINIUM

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56 57BAR MAGAZINE

Page 45: bar magazine

FU N F M ET R D RO P, VO LL E I N G SCH LAG EN , F D RU N G D U CH G SCH LAG E .U B ER D N LEN KR ABG ESTI EN .BAM M – H RTERI M PACT.

BEWEGUNG: NARBEN IN ALUMINIUM

Page 46: bar magazine

Z SCH N LL RAUS A S D ER K RVE U N D D N N V LL A F D ENBAU M ZU ESTEU E T U N DAN NPAM M — VO N 4 0 KM/ AU F N LL .

58 59BAR MAGAZINE

Page 47: bar magazine

BEWEGUNG: NARBEN IN ALUMINIUM

Page 48: bar magazine

ZU K RZ G EFL G EN U N D:

PENGH I NTEN V LL

HAEN G N G B LI EB N .

60 61BAR MAGAZINE

Page 49: bar magazine

BEWEGUNG: NARBEN IN ALUMINIUM

Page 50: bar magazine

Text: Philipp Hartung Illustration: BAR

Das Fahrrad in modernen Gesellschaftsformen

MORGENS, MITTAGS, ABENDS

Der Wind ist noch kühl, die Sonnenstrahlen tauchen die Baumkronen und

Palmspitzen in ein warmes Gelb, leichter Nebel zieht über den feuchten Teer.

Erst wenn die Sonne lange Schatten zwischen die Häuser und Straßen

zeichnet und die ruhigen Wellen ein funkelndes Band entlang der Küste ziehen

beginnt der Tag. Es verbreitet sich milder Teegeruch, es wird Kaffee gemahlen

und spätestens die Einbildung lässt selbst das Zerschlagen frischer Eier in

der Ferne erklingen. Es wird für einen Moment in Ruhe gefrühstückt. Vor

dem Haus an der nächsten Straßenecke, für gewöhnlich immer gleich, ein

Nicken zur Bestellung genügt. Licht und Luft werden langsam klarer. Es

muss ein angeborener Instinkt sein, den Vereinzelte auf natürliche Weise mit

sich tragen. Sie nehmen die Veränderung als erste wahr, reagieren gelassen

und steuern so ohne für Aufruhr zu sorgen. Sie werfen einen Blick zum Meer

und verschwinden dann in die Gasse, aus der sie gekommen waren und

geben so das Signal. Es wird ihnen unaufgeregt gefolgt, es wimmelt gehörig

in alle Richtungen. Die Region ist hügelig, sanfte Berge schmiegen sich um

die große Stadt. Zur einen Seite liegt ein endloser Strand unterbrochen von

vereinzelten Buchten und felsigen Landzungen. Das Herz der Stadt ist eine

immer geschäftige Hafenanlage.

Nun beginnt ein Surren. Wachsende Ströme ziehen sich durch die

Straßenzüge. Der Moment scheint der richtige gewesen zu sein. Kaum

treffen immer größere Gruppen an den Mündungen der Küstenstraße ein,

frischt der Wind auf. An der Spitze vertraute Gesichter. Sie kennen ihre Insel,

wissen um die Kraft des Meeres, welches sie umgibt und den Einfluss der

großen Gemeinschaft, die nun mit ihnen fährt. Es sind Hunderte, die sich bei

gleichbleibender Geschwindigkeit formieren und den Rückenwind bis in die

Spitze passieren lassen.

Sie sind sich des einzigartigen Phänomens bewusst. Aus der Legende von

den Winden, die über Jahrhunderte nicht zu verstehen und nicht zu nutzen

schienen und nun durch eine einfache Technik zum Lebensmittelpunkt der

Menschen wurden. Die Bewohner beginnen mit Fahrrädern ihre Insel zu

umrunden, getrieben von einem Wind, der ihnen folgt, sie beflügelt und alle

Regeln der Gezeiten und Gestirne auszusetzen scheint. Der Schwarm löst

einen Impuls aus und beeinflusst während der Rundfahrt den gesamten

Kreislauf. Nahezu geräuschlos treten die Inselbewohner unangestrengt in

die Pedale, fahren die gleiche Übersetzung, die Umwerfer ruhen, es wird

nicht geschaltet, nicht gebremst und nicht im Leerlauf gerollt. Der dumpfe

Rhythmus einer Massenbewegung, die nicht stampft, sondern tritt und nur

über rollende Räder in einer Verbindung zur Erde steht, zieht den Wind an

und die Strömung des Meeres mit sich. Sie genießen die positive Energie

ihrer morgendlichen Ausfahrt, lächeln sich zu, werfen einen Blick in die

vorbeiziehenden Täler oder lassen die Gedanken übers Meer schweifen. Es

geht in die immer gleiche Richtung um die Insel herum, das bestimmt der

morgendliche Wind, den es im richtigen Moment zu erwischen gilt. Doch die

Gesichter um sie herum wechseln stetig neben bekannten Konstanten. Die

erfahrenen Fahrer haben das Gespür im exakten Moment aufzubrechen,

sich aufs Rad zu schwingen und die Bewegung zu kanalisieren.

Die Insel ist umrundet bevor der Wind wieder nachlässt und die Sonne

ihre ganze Wärme entfaltet. Der Hafen ist erreicht und die Rundfahrt klingt

langsam aus. Ein weiterer Tag im Gleichgewicht des Energiehaushalts

beginnt für die Insel und ihre Stadt. Die Menschen klinken sich langsam aus

der großen Gruppe, verschwinden in ihre Straßen und Gassen, ändern das

Tempo im Anstieg oder bergab. Für die Meisten bleibt noch Zeit für eine kurze

Ruhepause vor dem Start in den weiteren Tag.

Der neue Alltag entspricht einer

Mischung aus den Dingen, die wir

aus unserem Privatleben gewohnt

sind und aus all jenen, die uns an

den verschiedenen Arbeitsplätzen

prägen. Wir sind stetig gewachsen,

aus dem damaligen Familienbetrieb

wurde eine Firma aus Dorfbewohnern,

dann ein angesehenes Unternehmen

mit immer größerem Kundenstamm

und einer zunehmenden Zahl an

Zeitarbeitern aus der Region. Doch

es gab immer mehr zu tun, die

Nachfrage war damals enorm, die

Arbeiter kamen von weit her, blieben

über Nacht oder zogen schon bald

mit ihren Familien zu uns. Unser

Gelände verlegten wir nicht weit

BAR MAGAZINE 62 63

Page 51: bar magazine

BEWEGUNG: MORGENS, MITTAGS, ABENDS

Page 52: bar magazine

vom Stadtkern in ein ruhiges Tal. Die Arbeiter folgten uns und erbauten rings

um unsere Produktionshallen ihre Häuser, Hütten und auch Gärten. Alles

nah beieinander. Es entstand ein Kindergarten, dann eine Schule. Bauern

verkauften ihre Waren direkt aus ihren herangekarrten Kisten. Jeder kam und

ging pünktlich. Doch mit der neuen Lebensweise, der Enge zwischen privatem,

und öffentlichem Lebensraum unter dem Dach der Arbeitsgemeinschaften,

musste eine neue Ordnung entstehen, ein neuer Alltag. Wir erinnerten uns an

einfache Beispiele der Gruppe, der Demut und des Gleichgewichts.

Während der Regenzeit teilen sich die Menschen die Regenschirme.

Verlässt man sein Haus, greift man zum Schirm. Betritt man die Firma, einen

Laden oder ein Cafe, steckt man den Schirm in einen der Ständer vor den

Türen und Toren. Ein Schirm ist kein persönlicher Gegenstand, sondern

“draußen” abstellen muss. Es macht viel Freude zu beobachten wie geschickt

alle Generationen mit den Rädern umgehen. Spielerisch und unangestrengt,

manchmal in engem Körperkontakt, Schulter an Schulter in ganzen Gruppen.

Die Älteren legen den Jungen ihre Besorgungen auf die Gepäckträger, wenn

sie sie aus der Nachbarschaft kennen. Der temporäre Besitz eines Rades

wird durch Gepäck markiert.

Um diesen Alltag des Öffentlichen und Privaten der Menschen in unser

Unternehmen weiterzuleiten, begannen wir einfach nur das was uns

vorgelebt wurde in eine wirtschaftliche Sprache zu übersetzen. In alter

Tradition durchwandern wir in unserem Arbeitsleben alle Stationen, die es

im jeweiligen Betrieb gibt. Der gelernte Buchhalter arbeitet für eine gewisse

Zeit an den Maschinen in der Produktion, dann an der Packstation im

Teil der Gemeinschaft, und für den

nächsten bestimmt, der hinaus auf

die Straße geht. So taucht man sich

mal in den trockenen Schatten eines

Pink, mal in ein Gelb oder Blau. Ein

kleines Beispiel, welches uns dabei

half, Ideen für die Ordnung neuer

Strukturen zu entwickeln. Es galt

unser Tal in Umsicht und Einklang

zu halten, das Unternehmen tiefer

in unseren Organismus einzubinden

und den Gemeinsinn beizubehalten.

Fahrräder begleiten die Men-

schen auf nahezu all ihren Wegen.

Sie gehen nicht neutral damit um,

sondern behutsam, denn wie sie das

eine Rad hier abstellen, wollen sie

das andere auch dort vorfinden. Das

Fahrrad als unkomplizierter Freund

Versand. Der Manager fährt eine Zeit

lang Waren aus oder teilt sich die

Lasten mit anderen am Band in der

Mengenanfertigung. Selbst der Koch

wird zum Gärtner und umgekehrt. Wir

lernen dabei viel und bleiben unserem

Arbeitgeber gerne lange verbunden.

Bei einem großen Unternehmen hat

man ein Leben lang eine spannende

Reise vor sich. Zum Großteil üben

wir unsere spezialisierten Berufe

aus. Die Mischung aus unserem

Privatleben und der Arbeit, die

eine neue Alltagswelt in unser Tal

brachte, führte uns ganz von selbst

zu der Idee, dieses Mischen als

stetige Bewegung wahrzunehmen.

Das wechselnde Arbeiten in der

Gemeinschaft und die pünktlichen

hat uns gelehrt, dass es die Menschen um uns herum und an ihren und

unseren Arbeitsplätzen in Fortbewegung und Fortschweifen, Erreichen und

Entspannen vereint. So haben wir begonnen, die Tore zu öffnen, luftigere

Gebäude zu bauen und Straßen und Gassen alternativ erlebbar zu formen.

Es gibt eigentlich keinen konstanten Autoverkehr. Ein paar Transport-

fahrzeuge, keine Motorräder oder Roller. Es wäre uns zu laut und würde

unser Unternehmen unnötig Energie kosten und wir müssten uns Gedanken

zur Verbesserung der Luft machen. Wir haben den Regenschirm weit

aufgespannt und große Segel über den Straßenzügen angebracht. Es gibt

viele offene Gebäude, sodass man nicht immer gleich eines seiner Räder

Wechsel von Arbeit und Freizeit, legen wir mit Fahrrädern zurück. Schnell

und flexibel bevorzugen wir den persönlichen Kontakt, treffen mit dem Rad

aufeinander oder drehen unsere Runden. Ein paar Schrauben und Muttern,

etwas Schmiere und Luft in den Reifen. Wir sind ein Kollektiv und vereinen

Freizeit und Arbeit, Privates und Beruf. Wir sind eine Zweiradgesellschaft!

Nehmen Sie nach dem Mittagessen noch einen Kaffee oder Tee? Wir

haben noch etwas Zeit, ich glaube in unserer Gasse sind gerade alle Räder

ausgeflogen.

Es gibt eine Straßenverkehrsordnung, die erlaubt, ein kleines weißes und ein

kleines rotes LED-Lämpchen für Fahrräder unter 11 Kilo zu benutzen. Es

BAR MAGAZINE 64 65

Page 53: bar magazine

geht nicht darum, die Stadt des Nachts mit fetten Strahlern um ein Weiteres

zu erhellen, sondern nur, um auf sich selbst aufmerksam zu machen. Es geht

darum, zu blinken, zu flimmern, aufzufallen, und nicht zu Fall gebracht zu

werden. Es geht darum, am Fluss teil zu nehmen und nicht zerteilt zu werden.

Es geht um viel Strecke in kurzer Zeit. Nachts. Es geht los.

Ein paar Meter Gehweg, Klamotten und Rucksack zurecht rütteln und

zuppeln, keine Brille, kein Helm, freie Sicht, uneingeschränkte Sinne. Rechts

ab, schmale Dreißigerzone, eine Bar zur Linken und jede Menge glitzernder

Glasscherben. Kurz ausgewichen, den Schwung aus dem Schlenker

mitnehmen, Geschwindigkeit weiter aufnehmen. Kleine Kreuzung, links. Weiter

eine ruhige Dreißiger. Am Ende rechts, Verkehr und Straßenbahnschienen.

Ein Traum. Rechts der Schienen zu fahren wäre zu gefährlich aufgrund

War da eine Seitenstraße mit Ampel...? Kreisel. Rein, erst dritte wieder raus,

Radweg außen am Rand, schnell nach innen ziehn, in die Kurve legen, aber

Tempo erhöhen, zwischen einfädelnden Autos ausfädeln, raus, Dreißigerzone,

zwei harmlose Ampeln, dann enge hochbelebte uneinsichtige Kreuzung, plus

viele Fußgänger. Rot. Aber rechts abbiegen, also in Autos von links kommend

einreihen, Fußgänger warten. Zebrastreifen, links an allen wartenden Autos

vorbei, vorne Schlenker nach rechts, größte Lücke zwischen zwei Gruppen.

Nächster Kreisel, mit Ampeln, U-Bahn-Trasse obendrüber, laut, also schneller

Rundumblick, einfädeln, dann: Rot. Auf die Kreiselinsel springen, Schwung

halten, jetzt: Rot für alle, weiter. Gerade, Radweg rechts, aber zweispurige

Straße in beide Richtungen. Zweimal angehupt auf 300 Metern. Schon

gut. Ampel. Grün! Weiter. Brücke, Ampel, Grün! Wahnsinn. Lange Gerade.

aufschnellender Türen parkender

Autos. Also zwischen den Schienen,

Autos im Nacken, Fünfzigerzone,

also bis zur nächsten Ampel Tempo

mitgehen. Noch Grün und rechts

vorbei mit den Linksabbiegern

die Linkskurve nehmen. Über die

entgegenkommenden Schienen.

Trocken, also nicht rutschig. Nur

ein paar Meter später springt

ein Fußgänger über die Straße,

Autos bremsen, Schlenker, Tempo

halten. Kleine Kreuzung, Rot, aber

kein kreuzender Verkehr, kurz

rollen, weiter. Große Kreuzung,

vierspurig, in der Mitte Busspuren,

drei Fußgängerampeln, wenn

die ersten beiden grün werden,

reicht ein schneller Antritt um

Unzählige Zweitereiheparker. Tempo.

Ausscheren, Einfädeln, Auss., Einf.,

A., E. Letzte Richtungsänderung.

Eigentlich. Großer Platz, Kreuzung

davor, eben rot geworden. Linke

Spur, Lücke für U-Turn, durch,

kein Gegenverkehr, schmale

Gasse zur Linken, knallhartes

Kopfsteinpflaster, Tempo lässt nach,

Motivation auch, Konzentration –

fast. Sehr knapp. Hund hat sich

mehr erschrocken. Rechts ab, kleine

Kopfsteine, Kreuzung umfahren,

jetzt nach links, von links kommt

nichts, schonmal in die Mitte und von

links nach rechts in den fließenden

Verkehr. Letzte Gerade. Eigentlich

zweispurig in beide Richtungen, aber

keine Fahrbahnmarkierungen. Immer.

die dritte rot zu nehmen, bevor dort die Autos Grün bekommen. Vorbei am

Taxistand, Zigarettenrauch und Langeweile. Baustelle mit Gehwegsanierung,

umgestürzte Absperrgitter, drüberspringen, schöner neuer Teer. Riesen

Kreuzung, extra Fahrradwege und Ampeln, irgendwie immer rot, übersichtlicher

sich kreuzender Autoverkehr, diagonal durch, lange Gerade, zwei Ampeln

in Wohnviertel, grün? Rot? Nächste Kreuzung, sollte nicht ausbremsen,

kurzer Anstieg direkt danach. Schmale Hauptverkehrsroute, Transporter

parkt entgegen links, Autos überholen, face to face, Fußgänger will von

rechts über die Straße, macht den ersten Schritt, Auto noch frontal beim

überholen. Knapp. Dazwischen durch. Unübersichtliche Kreuzung, Sirene,

Krankenwagen, alle bleiben stehen, demnach alles frei. Ewig lange Gerade.

Das macht’s interessant. Bäume vor Straßenlaternen, dunkler. Parkplätze in

der Straßenmitte, Ausparken rückwärts. Zweite Reihe rechts. Ausscherender

Bus rechts, Antritt zum Duell, Autos bremsen, Bus nimmt das Duell an,

die Lücke links vom Bus hat noch 60 Zentimeter. Im Stehen Gas geben,

Schwanken, still halten, vorbei gedrückt, Bus gibt Lichthupe, dazu süßlicher

Geruch der Wasserpfeifen vom Gehweg. Knapp. Schweiß. Grinsen. Jede Ampel:

hinrollen, im Stehen umschauen, neuer Antritt, weiter. Linksabbiegerspur,

Gegenverkehr, bremsen, auf dem Rad stehen bleiben, weiter, auf den Gehweg,

schwarze Hundeleine vor schwarzem Grund, Vollbremsung. Entschuldigender

Blick. Noch drei Meter rollen. 18 Minuten.

BEWEGUNG: MORGENS, MITTAGS, ABENDS

Page 54: bar magazine

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Text: Ben Gordon Bild: BAR

WIESOEIGENTLICHSCHAUFELN?Über den Wahn der Erdbewegung und dessen ästhetische sowie ökologische Folgen

BEWEGUNG: WIESO EIGENTLICH SCHAUFELN?

Page 56: bar magazine

Das Bewusstsein

Ich denke das Schaufeln zumindest bei abfahrtsorientiertem Mountainbiking

eine logische Konsequenz der Entwicklung des Sports ist. Der technische

Fortschritt der Fahrräder in den letzten 10-15 Jahren führt immer mehr dazu,

dass das Terrain der limitierende Faktor ist. Wenn man sich also fahrerisch

weiterentwickelt, kommt man irgendwann an den Punkt zu sagen: “Also hier

müsste doch ein Sprung hin und am besten auch gleich `ne Landung.“

Und schon steckt man drin im Kreislauf. Denn nach der Landung braucht

man natürlich auch eine vernünftige Kurve. Und bei der Gelegenheit baut man

gleich noch eine trickreiche Anfahrt für den Originalsprung, der ja mittlerweile

an Spannung verloren hat. So bedingen sich Fahrerlebnis und Schaufelak-

tivität gegenseitig. Man fährt plötzlich sämtliche Strecken mit einem anderen

Bewusstsein für die Details, geht mögliche Veränderungen im Kopf durch und

setzt sie (teilweise) dann auch um. Das Schaufeln wird zum Bestandteil des

Sports und die beiden Elemente verschmelzen.

1 2Die Stille

Genau wie Rad fahren kann auch Schaufeln meditativ wirken. Man geht einer

simplen, körperlich anstrengenden Tätigkeit nach und hat dabei einen engen

geistigen Fokus, der nichts mit irgendwelchen weltlichen Problemen zu tun

hat. Es gibt nur eine Richtung: Das nächste Projekt strebt der Vollendung

entgegen und jeder Spatenstich trägt dazu bei. Dazu noch Vogelzwitschern/

Regentropfen/blühende Bäume/manchmal auch nervige Moskitos. Eine vor-

treffliche Mischung.

Man kommt entspannt nach Hause, freut sich auf’s nächste Mal und kann

in der Zwischenzeit ein bisschen rumfantasieren über die zukünftigen Pro-

jekte, die noch anstehen.

Ein Erklärungsversuch

„Hätten nicht ab und zu halbwilde Mountainbiker [...] mit ihren supermodernen Geräten nichtsahnende Spaziergänger auf den Waldwegen fast über den Haufen gefahren, wäre der Parcours für Extremradfahrer [...] bis heute nicht entdeckt.“ eine fränkische Tageszeitung vom September 2009

Fahhradstrecken zu bauen ist sicher nicht die erste Aktivität, an die Außenstehende denken, wenn sie etwas über Mountainbiking hören. Die meisten denken eher

an Naturerlebnis, Lycraoutfits und ausgemergelte Fitness-Freaks. Wieso also verbringe ich mittlerweile einen Großteil meiner Freizeit alleine im Wald mit verschiedenen

Gartenbaugeräten und schaufle tonnenweise Erde hin und her?

Obwohl der Streckenbau natürlich eine ganzheitliche Aktivität ist, werde ich versuchen, die einzelnen Aspekte etwas auseinander zu halten:

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BEWEGUNG: WIESO EIGENTLICH SCHAUFELN?

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Page 59: bar magazine

MANCHMAL UEBERLEGE ICH, OB ICH NICHT CARDIO-LANDSCAPING KURSE FUER GESTRESSTE BUEROMENSCHEN ANBIETEN SOLLTE, DIE DANN UNTER MEINER LEITUNG IN ERGONOMISCH KORREKTER HALTUNG AN STRECKEN SCHAUFELN KOENNTEN.

BEWEGUNG: WIESO EIGENTLICH SCHAUFELN?

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~ Rat Für Formgebung ~

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3

5

4

6

Die Leibesertüchtigung

Konsequentes Schaufeln ist schwere Arbeit. Der Puls ist über 120, die Mus-

keln schmerzen. Richtiger Sport also. Vielleicht von der Belastung etwas ein-

seitiger als ein Fitnessstudio, dafür aber auch ohne Augenbrauen-gezupfte

Debil-Hedonisten, die zu Techno-Musik abhampeln oder ihre Steroid-Akne-

übersähten Oberarme im Spiegel betrachten. Die Motivation ergibt sich aus

dem sichtbaren Ergebnis der Arbeit, die Zeit vergeht wie im Flug. Manchmal

überlege ich, ob ich nicht „Cardio-landscaping“ Kurse für gestresste Büro-

menschen anbieten sollte, die dann unter meiner Leitung in ergonomisch

korrekter Haltung an der Strecke schaufeln könnten. Die erste Lektion wäre

sinnvollerweise das Erlernen des sogenannten „Switch-Schaufelns“, also der

Handwechsel auf die schwache Seite. Der Rücken dankt es einem am Abend.

Ich würde natürlich attraktive Einsteigertarife anbieten.

Die eigene Entwicklung

Leider bringt nicht jede Region der Erde die geographischen und demographi-

schen Gegebenheiten der kanadischen Westküste mit sich. Falls es einen in

eine, sagen wir mal, strukturschwache Mountainbike-Region verschlägt hat

man verschiedene Möglichkeiten, damit umzugehen. Man kann sich endlos

darüber beschweren, wie mittelmäßig/unfahrbar/langweilig die örtlichen Trails

sind. Dann bleibt nur noch, die Sportart zu wechseln oder schnellstmöglich

umzuziehen (glaubt mir, ich habe alles versucht). Oder man wird aktiv, denn

Erde ist überall gleich beweglich. Wer hierzu bereit ist, kann überall seine

Fahrkünste und seine Umgebung verbessern. Ganz ohne Westalpen / Coast

Mountains / Hochschwarzwald, die müssen sich halt ein wenig gedulden.

Geheimhaltung vs. Service für die Szene

Beim Schaufeln merkt man schnell, wer es wie ernst meint. Oft kommen inte-

ressierte Mitschaufler ein bis zwei Mal mit und merken dann, was für Kno-

chenarbeit dahinter steckt und werden nie wieder gesehen. Daran kann man

natürlich nichts ändern, aber ich finde es immer ein bisschen schade, wenn

die Leute den offensichtlichen Benefiz dieser Tätigkeit nicht erkennen. Oder

begeisterte Kids wollen sich beteiligen und bauen irgendeinen Murks zu-

sammen, reißen ihrer Meinung nach zu schwere Hindernisse wieder ein und

lassen ihre Supernintendo-Hüllen (oder was auch immer die Jugend heute

so treibt) im Wald liegen. Das ist natürlich nervig, aber jeder war mal 15 und

vielleicht entwickeln sich ja einige später zu richtigen Streckenbauexperten,

also immer schön nett und geduldig sein.

Das Karma

Natürlich führt das eigenmächtige Bebauen zu Konflikten. Man zerstört un-

weigerlich einen 1,5m breiten Abschnitt Natur, um den Rest umso mehr zu

genießen. Ich denke, das ist ein akzeptables Verhältnis. Die Wälder werden

auch für andere Zwecke extensiv genutzt, warum nicht für die meiner An-

sicht nach wichtigste Aktivität überhaupt auf diesem Planeten (außer Was-

sersport vielleicht, aber das ist ein anderes Thema). Andere Waldnutzer oder

die zuständigen Behörden sehen das selbstverständlich nicht so locker, man

sollte sich also nicht erwischen lassen. Der Umgang mit der Problematik ist

übrigens äußerst uneinheitlich. Es gibt Gemeinden, die konsequent krimi-

nalisieren, während andere Kommunen Lösungen finden, die Nutzung des

Waldes für Mountainbiker in legale Bahnen zu lenken. Man sieht also: Es gibt

verschiedene Wege, das Phänomen Streckenbau anzugehen. Denn ob illegal

oder genehmigt: Aus dem Mountainbikesport sind künstlich gebaute Strecken

nicht mehr wegzudenken. Leider enden solche Streckenprojekte zu oft mit der

Zerstörung durch das jeweilige Gartenamt. Das ist natürlich traurig und aus

meiner Sicht auch komplett unverständlich (was machen diese Leute nur in

ihrer Freizeit, dass sie den Wert solcher Trails so sträflich verkennen), aber

gehört natürlich zum Geschäft. Denn woanders wartet schon die nächste

Strecke auf ihre Erschließung.

BEWEGUNG: WIESO EIGENTLICH SCHAUFELN?

Page 62: bar magazine

Text: Claudia Stiefel Infografik: BAR

Werner K. sitzt mir gegenüber, der Witwer ist 68, pensionierter Beamter. Seine

Hände zittern leicht, als er über das glänzende Fell seines Dackels Sissi strei-

chelt. „Wissen Sie, die Sissi ist jetzt schon mein vierter Langhaardackel, aber

nach dem Tod meiner Frau vor sieben Jahren, da hab’ ich ja jetzt nur noch den

Hund - und die Sissi, die ist mein Ein und Alles, der beste Hund, den ich je ge-

habt habe.“ Die beiden gehen jeden Tag im benachbarten Wäldchen spazieren,

bei jedem Wetter. Ein vertrautes Ritual, immer die gleiche Zeit, der gleiche Weg, der

Hund weiß, wo er laufen muss.

„Es war im August, wir waren schon fast wieder daheim, mussten bloß noch

in den kleinen Waldweg nach links abbiegen, ich hab’ mich schon auf meinen

Nachmittagskaffee gefreut und die Sissi, die bekommt nach dem Gassi gehen

mit allen möglichen und doch nicht eingetretenen Folgen sein Vertrauen in die

Gerechtigkeit der Welt erschüttert hat. Der Witwer wird in Zukunft nur noch mit

seinem Spazierstock, den ihm seine Frau vor Jahren nach einer Hüftoperation

geschenkt hat, in den Wald gehen.

Laut Verkehrsstatistik des Jahres 2009 ist die Zahl der Todesopfer im Straßen-

verkehr auf dem niedrigsten Stand seit 1950. Die Zahl der tödlich verletzten

Radfahrer ist auf 456 gestiegen. Experten sehen bei steigender Konjunktur,

mehr Beschäftigung und einer damit verbundenen erhöhten Lebensqualität

eine grundlegende Veränderung im Freizeitverhalten. Das Umwelt- und Gesund-

heitsbewusstsein der Bevölkerung trägt zum steigenden Fahrradverkehr bei.

immer ein Kalbsknöchelchen.“ Der Hundebesitzer ist auf-

gebracht, er schenkt sich eine zweite Tasse ein, bietet

mir eine weitere an, doch ich lehne dankend ab. „Die Sis-

si ist ein Stückerl voraus gelaufen, wissen Sie, Sie ist ja

jetzt schon ein älteres Mädchen und mag gar nicht mehr

so lange laufen, da freut sie sich dann auch immer auf’s

Heimkommen. Und auf einmal ist es dann passiert! Raus-

geprescht kam der Kerl mit seinem Fahrrad, mitten aus dem

Dickicht, nicht mal ein Weg war da! Und um ein Haar hätt’

er meine Sissi erwischt, ganz laut aufgejault hat die vor

lauter Schreck! Ich hab’ geschrien. Ich hab’ gedacht, es ist

vorbei, jetzt hat er sie tot gefahren.“ Wie zur Bestätigung

Nicht zuletzt wegen der enorm gestiegenen Kraftstoffprei-

se wechseln Berufspendler vom Auto zum Fahrrad.

Mehr Fahrradfahrer, mehr Fahrradunfälle. Bis 2010

wird eine Steigerung von etwa 6 % der Fahrradunfälle pro-

gnostiziert. Und das, obwohl die Gesamtunfallzahlen eher

eine sinkende Tendenz aufweisen. Insbesondere die Ver-

letzungsfolgen verringern sich deutlich. Laut BASt-Unter-

suchung wird die Anzahl der Unfälle mit Personenschaden

insgesamt um 16 % abnehmen. Die Zahl der Unfälle mit Ge-

töteten vermindert sich dabei voraussichtlich um 42 %, die

mit Schwerverletzten um 34 %. wDie Zahl der Unfälle mit

Leichtverletzten wird um circa 10 % zurückgehen.

schaut Sissi ihr fassungsloses Herrchen mit traurigem Dackelblick an, stupst

mit der Nase seine Hand, die er vor Empörung zur Faust geballt hat. „Da hätt’

ja auch ein Kind stehen können! ‚Ich soll meinen Hund doch an die Leine neh-

men’, hat er mir noch zugerufen, bevor er sich davon gemacht hat. Ich geh’ seit

über zwanzig Jahren in dem Wald spazieren und hab’ meinen Hund noch nie an

die Leine nehmen müssen, wie käm’ ich denn dazu! In welchen Zeiten leben wir

denn, wo man als harmloser Spaziergänger ständig Gefahr läuft, von wild gewor-

denen Fahrradrowdies über den Haufen gefahren zu werden?“ Werner K. sieht

mich an, wartet auf Zustimmung. „Ich kann Ihnen die Stelle zeigen, wo es war,

da können Sie sich selbst überzeugen, dass ein Radler dort nichts verloren hat!

Ich sehe ihm an, dass ihn „die Geschichte“, wie er den Beinahe-Unfall zwischen

Biker und Hund mittlerweile nennt, nicht mehr loslässt, dass die Geschichte

Die attraktive Alternative zum Wandern und zum Rad fahren in der Stadt

ist Mountainbiken. Immer mehr Menschen begeistern sich für eine Sportart, die

neben Kondition vor allem Geschicklichkeit und Körperbeherrschung erfordert.

Doch ganz so ungefährlich ist das beliebte Freizeitvergnügen nicht und selbst

erfahrene Sportler verunglücken. „Rund 3.100 Menschen verletzten sich letztes

Jahr beim Mountainbiken so schwer, dass sie im Spital behandelt werden muss-

ten“, berichtet Dr. Rupert Kisser, Leiter des Instituts Sicher Leben in Österreich.

„Mountainbiken ist eine Sportart, bei der - wenn etwas passiert - die Verlet-

zungen oft sehr schwer sind.“ Männliche Mountainbiker sehen die Notaufnah-

men der Krankenhäuser besonders oft von innen: 76 Prozent der Verletzten im

vergangenen Jahr waren Männer. Das Durchschnittsalter betrug 40 Jahre. Mehr

In welchen Zeiten

leben wir denn?

Werner K.,

Spaziergänger

als die Hälfte aller Verunglückten trug nach dem Unfall einen Gips (51%).

Eine aufstrebende Bewegung gefährdet den gemeinen Fussgänger

ICH HAB’ GEDACHT,ES IST VORBEI.

BAR MAGAZINE 74 75

Page 63: bar magazine

43.924km²

110.704km²

169.271km²

Urban

Wald

Landwirtschaft

Page 64: bar magazine

Übermut

Hektik

Bodenbeschaffenheit

10,0%

25,0%

49,0%

Page 65: bar magazine

Flächennutzung in der Bundesrepublik Deutschland

Deutschland – Agrarland: Schwer vorstellbar, aber gerade mal knapp 12% der Fläche des Landes sind urbanisierter Raum. Größtenteils wird die Fläche landwirtschaftlich genutzt. Rund 31% der 357.111,91 km² Fläche unseres Landes bestehen aus Wald. Eigentlich genung Platz für alle.

Hauptursache für Unfälle auf dem Mountainbike

Wo gehobelt wird, da fallen Spähne: Wechselnde Bodenbeläge im Gelände sind für fast die Hälfte aller Verletzungen auf dem Mountainbike verantwortlich. Laub, Erde, Gras und Kies wech-seln sich ab und verändern von einem Moment auf den anderen die Fahreigenschaften des Rads. Gerade mal 10% der Unfälle sind auf Selbstüberschätzung zurückzuführen. Beim Skifahren hingegen ist dies die Hauptursache für Unfälle.

Gebrochen waren beispielsweise Rippen, Schlüsselbeine, Schultern - und in den

schlimmsten Fällen die Wirbelsäule oder der Schädel. Fast jeder zweite Verletzte

gab an, beim Zeitpunkt des Unfalls keinen Helm getragen zu haben. 30 Prozent

der „Helmlosen“ mussten sich Kopfverletzungen behandeln lassen, die sie mit

einem Helm weitgehend hätten verhindern können. Weitere häufige Verletzun-

gen: Prellungen (18%) und Abschürfungen (8%). Unfallursache Nummer eins

war die Bodenbeschaffenheit (49 %). Die Radler rutschten oft auf nassem Gras,

Schnee oder Schlamm aus. Manchmal führten auch Steine, Wurzeln oder Schot-

ter zum unglücklichen Fall. „Ein Sturz bei der Abfahrt ins Tal ist die häufigste

Unfallart“, erläutert Kisser. „Der Bremsweg ist im Gelände deutlich länger als bei-

spielsweise auf der Straße, das kann auch für echte Könner zur Herausforde-

konzentriere mich auf das Wesentliche.“ Herr K. und Sissi fallen mir ein. „Es gibt

in jeder Sportart Dilettanten, die ihr Können maßlos überschätzen und die Sache

nicht mehr im Griff haben, schauen Sie sich doch nur auf den Skipisten um! Und

überhaupt – wir verpesten nicht die Luft und unterstützen dabei auch noch die

Freizeitindustrie.“

Hier geht Sabine E. mit einem Bericht von Focus-Money von April 2010 konform:

„Wenn es im Beruf schon angespannt zugeht, dann gönnt man sich im privaten

Bereich, in seinem Hobby, eher etwas mehr“, heißt es beim Bekleidungsherstel-

ler Assos. Radsport diene daher als Kompensation für Stress im Berufsleben.

Das stellt auch Siegfried Neuberger fest. „Die Fahrrad-Industrie konnte sich

rung werden. Außerdem ist von abrupten Bremsmanövern

abzuraten, will man nicht vom Rad geschleudert werden.“

Neben der Schwierigkeit des Geländes führten auch Über-

mut und Hektik (25%) sowie Selbstüberschätzung (10%)

einige zu ehrgeizige Radler ins Krankenhaus. Im Vergleich

zu Straßenradfahrern ist die Anzahl der verletzen Moun-

tainbiker zwar geringer, die Folgen des Unfalls sind aber

meist schwerwiegender.

Sabine E. sieht das anders. Die durchtrainierte 35-jährige

Stuttgarterin ist leitende Angestellte einer großen Versi-

cherungsfirma in München. Viel Stress, Personalverantwor-

auch 2009 trotz wirtschaftlich schwieriger Rahmenbedin-

gungen gut behaupten“, sagt der Geschäftsführer des

Zweirad-Industrie-Verbands (ZIV). Das Rad biete nicht nur

eine „unschlagbar umweltfreundliche und flexible Form“ der

Mobilität, das Fahrradfahren sei auch noch gesund und

mache Spaß. Der Optimismus ist begründet: Die weltgröß-

te Fahrrad-Messe Eurobike platzt wegen des „außeror-

dentlich guten Buchungsstands“ aus allen Nähten. Nun

müssen weitere Hallen angemietet werden, um die 39000

Händler Anfang September in Friedrichshafen überhaupt

unterzubringen. Rolf Schmid wundert das nicht. „Unsere

Branche profitiert vom Wertewandel. Die Konsumenten in-

tung, harte Kämpfe um Absatzzahlen, wenig Freiraum für Entspannungsmög-

lichkeiten. „Ich brauche in meiner knappen Freizeit etwas, das mich abschalten

lässt, mich auspowert. Ich bin kein Typ, der sich beim Yoga auf der Matte ent-

spannt.“ Sie nippt an ihrem Latte Macchiato, ein kurzes Lächeln huscht über

ihr Gesicht, „außerdem - passieren kann immer etwas, Sie können sich beim

Nordic Walking den Fuß vertreten oder beim Golfen jemanden mit einem falschen

Abschlag treffen, Hauptsache Sie sind gut versichert.“ Zu unserem Interview ist

sie mit einem knallweißen Fully von Specialized erschienen, hat es im Blick, als

sie auf meine Fragen antwortet. Zeig’ mir dein Fahrrad und ich sag’ dir, wer du

bist! Die jungdynamisch aufstrebende Elite Deutschlands macht Karriere und

fährt im Sommer Mountainbike am Gardasee. „Biken ist für mich der Weg, alles

hinter mir zu lassen. Ich muss nicht reden, nicht denken, nichts verkaufen. Ich

vestieren ihr Geld in Lebensfreude, Gesundheit und Freizeit“, sagt der Präsident

der European Outdoor Group.

Das alles macht sich in den Zahlen der Fahrrad-Bauer Accell Group, Cube,

Corratec und Giant sowie des Komponentenherstellers Shimano bemerkbar.

„2009 hatten wir wegen der guten Absatzzahlen in Deutschland und Frankreich

erneut ein gutes Jahr“, sagt René Takens, Chef des niederländischen Fahrrad-

Konzerns Accell, der auch für 2010 Rekordzahlen anpeilt. Genauer wird Stephan

Geiger. „Wir planen 2010 für unser Bike-Geschäft ein Umsatzplus von 20 %“,

sagt der Chef der Radsparte bei Kettler. Den Umsatz der E-Bikes will er sogar

verdoppeln. Die Folge: Die Accell-Aktie erreicht den höchsten Stand seit dem

Börsengang 1998, das Papier des weltgrößten Fahrradherstellers Giant Manu-

Die jungdynamische

Elite macht Karriere

und fährt im Sommer

Mountainbike am

Gardasee.

facturing aus Taiwan notiert auf einem 17-Jahres-Hoch. Auf dem besten Weg

BEWEGUNG: ICH HAB’ GEDACHT, ES IST VORBEI

Page 66: bar magazine

Jahreshöchststände Shimano Aktie SHM ISIN JP3358000002

Die japanische Shimano AG erwirtschaftet etwa vier Fünftel ih-res Umsatzes im Bereich der Fahrradkomponenten. Bereits 1921 begann das Unternehmen mit der Entwicklung eigener Freilauf-naaben. 1961 stellte Shimano die erste Dreigang-Nabenschal-tung der Welt vor und ist seit dieser Zeit mit einem Marktanteil von geschätzten 80% die maßgebliche Triebfeder für die Weiter-entwicklung des Fahrrads.

zu neuen Höchstständen sind auch die Aktien der Bike-Produzenten Merida

Industry (Taiwan) und Tsunoda (Japan) sowie des Tokioter Zubehörherstellers

Shimano. Ganz oben auf den Einkaufslisten der Banken stehen vor allem drei

Aktien: die Papiere der Accell Group sowie von Giant und Shimano. Ähnlich hohe

Erwartungen hat Bodo Lambertz. „Wir rechnen damit, dass das Fahrradgeschäft

auch 2010 wächst und deutlich höhere Umsätze verbuchen wird als 2009“, sagt

der Gründer des Textilherstellers X-Bionic („Wir machen aus Schweiß Energie“).

Deshalb habe „der Boom erst begonnen“. Lambertz ist davon überzeugt, dass

die Konsumenten keine Hemdchen und Hosen mit „Bullshit-Funktionen“ kaufen

wollen, sondern in qualitativ hochwertige Produkte investieren. „Innovationen

und moderne Designs machen die Produkte zu Must-Haves und werden die

Natur durch das Fahrrad trifft bei den Verteidigern der Waldeslust verständli-

cherweise auf wenig Gegenliebe. Neues erfordert nicht nur begeisterte Unter-

stützer, sondern ein hohes Maß an Akzeptanz seitens derer, die Veränderungen

nicht lieben. Doch das Rad rollt, ist nicht mehr aufzuhalten.

Bewegung ist der (aktuelle) Wechsel der Lage eines Körpers in Beziehung zu anderen Körpern oder zu einem gedachten Koordinatensystem. Alle Bewegung ist relativer Art, auch die sogenannte »absolute« Bewegung. Die scheinbare Bewegung ist die dem Au-genschein oder dem statischen Sinne unmittelbar sich darstellende Bewegung, sofern sie nicht mit der wahren, mathematisch-physikalisch bestimmten, konstanten, objektiven, notwendig zu denkenden Bewegung übereinstimmt. Die Bewegung gilt als ursprüngli-

Branche weiter voran treiben“, so Lambertz. Nur wenn der Kunde Premiumware

bekomme, sei er auch bereit, entsprechendes Geld auszugeben. In die gleiche

Kerbe schlägt der fränkische Helmproduzent Uvex – mit großem Erfolg. „In den

vergangenen Jahren haben wir den Umsatz jeweils zweistellig gesteigert“, sagt

Markus Winning, Marketingleiter bei Uvex Sport. „Dieses Ziel haben wir auch für

das laufende Geschäftsjahr.“

Zahlen interessieren Fabian L. weniger. Er ist Biker aus Leidenschaft. Über sei-

nem linken Auge prangt eine breite Schramme, die ihm wohl erhalten bleiben wird.

„Die Natur fordert manchmal eben ihren Preis“, witzelt er grinsend, nachdem er

mir von seinem Zusammenstoß mit einem Baum berichtet hat. „Macht mich bei

den Mädels interessanter.“ Seine freie Zeit verbringt der aufgeweckte 24-jährige

Lehramtsstudent für Hauptschule auf dem Rad oder beim Graben im Wäldchen,

che Eigenschaft der Materie. Man spricht auch von einer geistigen Bewegung, von einer Gemüts- und einer Denkbewegung).

Bewegung ist jetzt von beiden Seiten gefordert, aufeinander zu. Zu bedenken

gilt, wie man in den Wald hinein schreit, so schallt es wieder heraus, im wahrsten

Sinne des Wortes.

Bleibt zu wünschen, dass Herr K. und Sissi bei ihrem Spaziergang einmal auf

Fabian L. treffen. Fabian beherrscht sein Metier, er würde niemals einen Dackel

überfahren. Eine gute Basis für einen Gedankenaustausch.

an den Wochenenden verdient er sich als „Werkstattschrauber“ in einem Fahr-

radladen ein paar Euros dazu, die er dann gleich wieder in sein Bike investiert.

„Da schraub’ ich halt auch mal drei Stunden Pukys zusammen, ist auch o,k!“

Außer mit dem zuständigen Förster scheint er mit niemandem auf der Welt Prob-

leme zu haben. „Ich denke, wenn einige der Jungs und Mädels, auf die ich in der

Schule treffe, mehr Zeit auf dem Bike und im Wald verbringen würden, hätten sie

wesentlich weniger Stress mit ihrer Umwelt, aber das hat unsere Gesellschaft

leider noch nicht so ganz realisiert“ Wieder muss ich an Herrn K. und Sissi den-

ken. „In welchen Zeiten leben wir denn?“, hat er gefragt.

Wir leben im Umbruch: Sportbegeisterung trifft auf Tradition, Bewegung auf

Stillstand, die Wege der beiden Lager kreuzen sich im Grünen. Die Eroberung der

BAR MAGAZINE 78 79

Page 67: bar magazine

2002

2006

2010

1.714¥

3.201¥

4.115¥

Page 68: bar magazine

BAR MAGAZINE 80 81

Page 69: bar magazine

Text: Marius Hanf Bild: BAR

Mit Trends verhält es sich ähnlich wie mit Stilen – sie

kommen und gehen – oder dominieren, doch kaum je-

mand weiß, worin sie wurzeln. Das macht eigentlich

nichts, denn Trends sind meist temporär, oder zumin-

dest erscheint es uns so. Hinterfragt man jedoch den

Ursprung solcher Erscheinungen, so tritt ein Kern zuta-

ge, der es möglich macht, Verknüpfungen herzustellen

und den Trend in einem neuen Kontext zu betrachten.

Ein Trend, der momentan zu beobachten ist, sind

Fahrräder mit nur einem Gang, keinem Freilauf und

fehlenden Bremsen. Das klingt zunächst töricht und

erscheint wenig sinnvoll, hat aber seine Berechtigung.

Wenn beim Fahrrad die Form der Funktion folgt, er-

übrigen sich einzelne technische Aspekte, das Zwei-

rad folgt dann den Prinzipien des Minimalismus: Diese

streben nach Objektivität, schematischer Klarheit und

Logik. Ein Fahrrad, das auf seine nötigsten Funkti-

onen heruntergebrochen wird, erscheint uns visu-

ell als klare Form, eine Kette, die über ein Ritzel ein

Rad antreibt, zudem auch logisch. Die zu verfolgende

Funktion ergibt sich aus dem Weglassen überflüs-

Was das Fixie mit Malewitsch zu tun hat

VOM MINIMALISMUS

BEWEGUNG: VOM MINIMALISMUS

Page 70: bar magazine

Minimalismus strebt nach Objektivität, schematischer Klarheit und Logik.

BAR MAGAZINE 82 83

Page 71: bar magazine

siger Teile: Wo keine Bremse ist, kann keine Bremse

kaputtgehen, müssen keine Bremsbeläge gewechselt

werden. Eine nicht vorhandene Schaltung kann nicht

kaputtgehen – weniger ist mehr Funktion, denn diese

(die Funktion) – und hier trifft der Trend den Ursprung

– liegt im harten und täglichen Einsatz auf der Stra-

ße. New Yorker Fahrradkuriere der 70er Jahre brachten

die Fixed Gear Bikes aus dem Velodrom auf den As-

phalt. Der Minimalismus am Rad war im urbanen Raum

angekommen. Tatlins Manifest des Konstruktivismus,

mit der Kinematik als Gestaltungsprinzip, ähnelt der

ständige Bewegung auf einem Fahrrad ohne Freilauf.

Die heruntergebrochene Formsprache des minimalisti-

schen Fahrrads wird zum Manifest für Purismus und

zur Konzentration auf das Wesentliche – das Fahren –

und ist gleichzeitig die physisch gewordene Ablehnung

des kubistischen Experiments, der Gangschaltung, der

Bremsanlage und der Federung und allem, das über

die reine Funktion der Fortbewegung hinausgeht.

Somit wird das Fixie zur Ikone unserer Zeit. Seine Wur-

zeln jedoch, liegen weiter zurück.

BEWEGUNG: VOM MINIMALISMUS

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kermit würde abonnieren.

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Interview: BAR

Prof. Hans Werner L. ist Experte für Transportwesen und Logistik. Er hält das Fahrrad für die größte Errungenschaft der letzten hundert Jahre.

CyClIng IS anOTher favOurITe MeDIuM, an urban fOrM Of SurfIng, IT geTS InTO yOur blOOD, anD beCauSe ITS way Of uSIng The CITy IT affeCTS hOw yOu ThInk abOuT CITIeS generally, whICh MeanS ThaT whIle we happIly Take Our plaCe In The luMInOuS ChaIn Of reD, yellOw anD blue leD’S pulSIng ThrOugh The CheMICal MISTS Of [...] TraffIC, we’D STIll prefer TO CyCle aCrOSS a Safer anD Cleaner CITy”

perfekTIOnIerTe prOTheSe

Paul Elliman, Gestalter, Künstler und Autor

BAR MAGAZINE 86 87

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BAR: Herr Professor Lang, Sie vertreten weitläufig die Meinung, das Fahrrad sei die wohl größte technische Errungenschaft des Transportwesens, die die Menschheit je her-vorgebracht hat.

Prof. Lang: Das ist meine These, ja.

Nun, für den Großteil der Menschen klingt das gelinde gesagt nicht wirklich plausibel. Denkt man beispielsweise an das Automobil, das Flugzeug, die Eisenbahn oder die Rolltreppe. Wahrscheinlich würden die meisten sagen, dass diese Dinge fortschrittlicher und innovativer sind als das Fahrrad.

Sicherlich ist das Automobil ein Meilenstein in der Geschichte der Menschheit.

Vordergründig zumindest. Denn überlegt man sich einmal, welche Entwicklung

das Auto in den letzten hundert Jahren durchgemacht hat, spricht das nicht

gerade für die Fortschrittlichkeit menschlicher Entwicklung.

Aber Autos vor hundert Jahren fuhren nur 50km/h, hatten keine Scheiben und waren meilenweit entfernt vom Komfort heutiger Mittelklasselimousinen.

Und sie fahren immer noch mit einem Verbrennungsmotor, der einen geradezu

lächerlichen Wirkungsgrad vorzeigen kann. Etwa 36% der in einem Otto-Mo-

tor erzeugten Energie verpuffen durch den Auspuff, weitere 33% gehen ein-

fach im Motor durch Hitze verloren. Nicht sehr fortschrittlich, würde ich sagen,

dafür, dass die Menschheit die letzten hundert Jahre sehr viel Energie darauf

verwendet hat, dieses Fortbewegungsmittel weiterzuentwickeln.

Das Fahrrad funktioniert aber auch noch mit derselben Technik wie damals, zwei Rä-der, eine Kette und der Fahrer erzeugen Vortrieb. Außer ein paar schaltbaren Gängen hat sich da auch nicht wirklich viel getan!

Musste es ja auch nicht. Sehen Sie: Bei keiner anderen Fortbewegungsart

wird ein ähnlich hoher Wirkungsgrad erzeugt wie bei einem Fahrrad. Die Ent-

wicklungen in der Vergangenheit haben dazu geführt, dass ein modernes

Fahrrad mit einer hochwertigen Kettenschaltung einen Wirkungsgrad von bis

zu 99% erreichen kann. Gezielte Entwicklung an ausschlaggebenden Bau-

teilen hat bewirkt, dass sich das Fahrrad der energietechnischen Perfektion

immer mehr annähert.

Den meisten Menschen dürfte diese Tatsache aber schlichtweg nicht bewusst sein.

Natürlich nicht, sie nehmen es als eine Selbstverständlichkeit hin. Das liegt

daran, dass wir es, also das Fahrradfahren, seit frühester Kindheit prakti-

zieren. Es geht uns dermaßen in Fleisch und Blut über, dass wir uns über die

Tatsache wie wir uns auf einem Rad bewegen keine Gedanken mehr machen.

Das ist auch gut so, denn würden wir auf einem Fahrrad sitzend ständig über

die Physik an sich nachdenken, würden wir wahrscheinlich so perplex sein

über diese Vorgänge, dass wir einfach vom Rad fallen.

Also ist das Fahrrad nun doch eine eher simple Erfindung, die es nicht einmal abver-langt, uns Gedanken über sie zu machen?

So simpel wie das Rad an sich – trotzdem hat es die Menschheit eine Weile

gekostet daran herumzufeilen, bis aus dem Eckigen das Runde wurde. Und

heute zerbricht sich kein Mensch mehr den Kopf darüber. Es ist da und funk-

tioniert einfach.

Kein Grund also, das Fahrrad überzubewerten, es ist einfach da!

Natürlich, im besten Falle machen wir uns keine Gedanken darüber. Mit dem

Fahrrad verhält es sich ähnlich wie mit einer guten Exoprothese: Sie ist ein

Ersatz für etwas Fehlendes oder nicht Vorhandenes, ersetzt also im bes-

ten Falle unauffällig eine Funktion. Das Rad ist eine Prothese für die Unzu-

länglichkeiten des menschlichen Daseins: Im Vergleich zur Tierwelt sind wir

langsam, wenig ausdauernd und verbrauchen für unsere eher mittelmäßige

körperliche Leistungsfähigkeit auch noch ein unverschämtes Pensum an

Energie. Auf einem Fahrrad sind wir jedoch mit geringerem Aufwand um ein

Vielfaches schneller und effektiver. Zudem ist ein Fahrrad jedem zugänglich,

oder zumindest einfacher zugänglich als das Auto oder das Flugzeug. Vom

ökologischen Faktor fangen wir gar nicht erst an, das wurde an anderer Stelle

schon ausgiebigst diskutiert.

O.K., aber Sie müssen zugeben, dass es bequemere Möglichkeiten gibt um von A nach B zu kommen.

Möglich, aber für die meisten Strecken, die regelmäßig von eben A nach B

gemacht werden, die schnellste! Seien Sie mal ganz ehrlich mit sich selbst, wie

oft sitzen Sie mal eben für 10 Minuten im Auto. Das ist reine Bequemlichkeit.

Komfortabel finde ich mein Fahrrad hingegen schon. Aber ich betrachte das

vielleicht auch etwas wissenschaftlicher, die Effizienz tröstet mich über den

minderen Komfort hinweg. Und selbst diese These vom minderen Komfort ist

ambivalent. Ist nicht der Fahrtwind um die Nase, der eine gewisse Leichtigkeit

des Lebens vermuten lässt, einer der letzten wahren Komforts in einer Welt

von Coffee-to-go, Multitask und flexiblen Lebensläufen?

FOKUS:PERFEKTIONIERTE PROTHESE

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Bewegungen hier und dort – Fotografien von Vladimir Salesski

ANDERE LÄNDER—

GLE I CH E S ITTEN

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Stuttgart, D

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Stuttgart, D

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Moskau, RU

BEWEGUNG: ANDERE LÄNDER – GLEICHE SITTEN

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St. Petersburg, RU

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Stuttgart, D

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VLADIMIR SALESSKI grainlight.net

1984 in Kasachstan geboren, studierte Kommunikationsdesign in Würzburg

und ist Gründer von GRAINLIGHT. Zudem ist Vladimir Weltmeister der Herzen im

Freihändigfahren. Die Bilder entstanden 2009/2010 in Stuttgart, St. Petersburg

und Moskau.

BAR MAGAZINE

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Moskau, RU

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Wie das Freeriden seinen Lauf nahm

wIe lange Der hype SChOn gehT!

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Text: Marius Hanf Bild: BAR

BEWEGUNG: WIE LANGE DER HYPE SCHON GEHT!

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Die Geschichte, die nun erzäht wird, handelt von Fahrrädern und Menschen.

Von Menschen, die durch Fahrräder zusammengefunden haben und noch

immer zusammenfinden. Menschen, die über die Jahre unterschiedlichste Le-

benswege gegangen sind und gehen werden, die aber, egal wo und in welcher

Situation ihres Lebens sie sich gerade befinden, immer wieder zueinander

kommen. Wie ein gemeinsames Kind verbindet sie eine gemeinsame Leiden-

schaft, eine Lebenseinstellung: eine besondere Art Rad zu fahren, oder viel-

mehr, das „Auf-dem-Fahrrad-sitzen“ zu zelibrieren, auch wenn sie es gar

nicht mehr tun. Am Anfang dieser Geschichte hatten Räder noch Starrgabeln

und gerade Lenker, später mutierten sie zu schwergewichtigen Aluminium-

monstern mit 22 Zentimetern Federweg, um heute dem universalen Rad zu

weichen. Heute ist es egal, auf welchen Rädern man sitzt, wichtig ist, dass

man sitzt.

Wie die meisten erzählenswerten Geschichten vom Mountainbiken beginnt

diese in einem Wald. Zwei Jungs, die genug hatten von Lycrashorts, von Leis-

tung durch Strecke, vom Bergauffahren. Einer der beiden kann sein prögen-

des Erlebniss an einem Film festmachen, mit dem alles begann: Kranked 1

– Live to Ride. Ein Film, der die gesamte Welt des Mountainbikens revolu-

„Überlegt euch mal: Vor inzwischen 10 Jahren haben wir damit angefangen, und jetzt schaut euch mal die vielen Halbstarken an— wie lange derHype schon geht...“

tionieren sollte. Richie Schley und Wade Simmons, heute Ikonen einer zu

BAR MAGAZINE 98 99

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BEWEGUNG: WIE LANGE DER HYPE SCHON GEHT!

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vanCOuver

b.C.

Kanada

Fläche 9.984.670 km²

Bevölkerungsdichte3,4 EW pro km²

Eigenständigkeit herangewachsenen Disziplin, fuhren für damalige Verhält-

nisse unfahrbar steile Hänge hinunter, in Kamlops, British Columbia, der Ge-

burtsstätte des Freeridens.

Richie Schley (*1969) und Wade Simmons (*1974) sind die Gründungsmitglieder der legendären Rocky Mountain Froriders und Begründer des Freeridens, einer Ausprägung des Mountainbikens, die Ende der 90er Jahre aufkam. Ähnlich dem Big Mountain Skifahren geht es beim Freeriden um das Bezwingen steiler Hän-ge, um das Droppen, und überhaupt um Air Time. Die Schwierigkeit liegt im Verbinden unterschiedlichster Geländeformen innerhalb einer Abfahrt. Da die to-pologischen Voraussetzungen hierfür im Westen Kanadas, also British Columbia, optimal sind, gilt dieses Gebiet bis heute als das Mekka der Freerider. Die Region hat sich dies zunutze gemacht und die Infrastruktur für Mountainbiker in Form von liftunterstützten Bikeparks, Guided Tours und einem umfangreichen Wegnetz ausgebaut.

Es war wie Big Mountain Skifahren, nur eben auf dem Bike. Der Junge sah das

und wollte auch. Wollte auch so unfassbar schnell sein, uneingeschränkt von

den Hindernissen eines jeglichen Geländes. Es war die Vision des Unmögli-

chen. Nie mehr absteigen, alles fahren und das auch noch mit unglaublichem

Style. Die Problematik jedoch bestand im geopgraphischen Standpunkt: Die

deutschen Voralpenlandschaften sind nicht die staubigen Hänge von West-

kanada. Doch das war erstmal egal, ein Steinbruch im Umland tat es fürs

erste auch. So traf man sich, der eine den anderen, der auch diesen Film ge-

sehen hatte, und fing an. Der erste Absprung war, auch für damalige Verhält-

nisse, unterdimensioniert. Man schaute, wie weit man kam und baute dann die

Landung. Eine unkonventionelle Methode, sie tat es aber und jeder Externe,

der hinzukam, staunte über die Selbstsicherheit, mit der dieses erste Gap in

der Region überwunden wurde.

Im Lauf der Entwicklung des Freeridens kam bald die „go big or go home“ –Men-talität auf. Konnten anfangs noch geringere Höhen in flache Landungen gesprun-gen werden, wurden schnell Dimensionen erreicht, die schräge Landungen und eine hohe Geschwindigkeit zur Kompensation des Aufpralls erforderten. Die Ära der Gaps hatte begonnen. Ihren Höhepunkt der Superlative erlangte sie mit Josh Bender, der 2002 den 18m hohen Jaw Drop sprang, aber nicht stand. Ein Jahr später verewigte sich Wade Simmons in Kalifornien am Moreno Gap, einer 12m hohen und ebenso weiten Abrisskante, landete sauber und gilt seitdem als der „Godfather of Freeride“.

Eine jede Bewegung besteht aus einer Community, die stetig wächst. Und

so geschah es, dass zwei Typen aufeinandertrafen, in einem Bikeladen, in

BAR MAGAZINE 100 101

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dem beide ständig rumhingen. Damals waren Fahrradläden für Freerider das,

was heute Facebook für Internetuser ist. Man sieht sich, registriert dasselbe

Ticken und geht in den Wald. Im Wald beginnt die Rekrutierung. Andere Jungs,

die ebenfalls genung haben von Lycrashorts und Bergauffahren, registrieren

das ungewöhnliche Treiben im Wald und schließen sich an. Die Bewegung

wächst und innerhalb kurzer Zeit entsteht eine eingeschworene Gruppierung

von Gleichgesinnten, vom Schüler bis zum Geschäftsmann, alles dabei. Bei

Facebook gibt es virtuelle Gruppen für dieselben Interessen. Unter Freeri-

dern sind diese Interessensgruppen gegliedert nach denen, die denselben

Film gesehen haben oder sehnlichst die Veröffentlichung des nächsten Films

herbeisehen, nach denen die dasselbe Material fahren oder fahren wollen.

Oder – und das sind die Gruppierungen die ein gemeinsamer Gedanke verbin-

det: Welche Herausforderung wartet im Wald auf mich? Der soziale Stand spielt

keine Rolle, nur wieviel Eier du hast. Die anfängliche Taktik, zuerst zu sehen

wie weit man springt, um dann die Landung zu bauen, war schnell hinfällig –

die Sprünge wurden zu groß, um sie ohne Landung zu testen. Also gab es

immer jemanden, der all seinen Mut zusammennehmen musste – Hände weg

von der Bremse, ein- zwei Testanfahrten. Und dann los! Es ging immer gut,

zumindest nie wirklich daneben. Die Kompetenzverhältnisse im Eierzusam-

menkneifen verschoben sich, irgendwer war zu irgendeinem Zeitpunkt immer

der Mann fürs erste Mal. Die Ansprüche wuchsen und mit ihnen die Qualität

des Materials. Es begann die Zeit der langen Federwege, Doppelbrückenga-

beln und Full-Face Helme. Freerider waren Gladiatoren, von Wanderern ge-

ächtet, von „normalen“ Bikern bewundert und für verrückt erklärt. Man hatte

sein eigenes Revier abgesteckt, ein Waldgebiet von beachtlicher Größe. Das

Problem ist, Waldgebiete muss man sich teilen mit den eigentlichen Eigentü-

mern, die selten die gleiche Euphorie für das Freeriden aufbringen. Der Ärger

begann: Der in Kanada beheimatete North-Shore-Wahn schwappte langsam

nach Europa.

Die North Shore Mountains sind eine Region nördlich der kanadischen Haupt-stadt Vancouver. Der Wald am North Shore ist, bedingt durch den häufigen Nie-derschlag, äußerst feucht und zudem topographisch schwer zugänglich. Um dieses Gebiet trotzdem zum Mountainbiken nutzen zu können, baute man Hühnerleitern, sogenannte North Shore-Trails. Diese waagerechten Leitern auf Stelzen können bis zu 5 Meter hoch, kurvig und gelegentlich nur eine Hand breit sein.

Meterhohe Holzgerüste, manche davon nur eine Handbreit schlängeln sich

durch dichte Nadelwälder und enden in 4 Meter hohen Absprungkanten. Es

war die Vision des Gleichgewichts in schwindelerregender Höhe, die Kom-

bination: technisch, schnell, halsbrecherisch. Überall in deutschen Wäldern

wuchsen Gerüste aus dem Boden und das Kräftemessen zwischen Behörden

und Wahnsinnigen begann, ausgetragen im Wald mit Absperrband, Schau-

fel, Hammer, Nägeln und Forstgesetzbuch. Was abgerissen wurde, stand am

nächsten Tag wieder da, um dann wieder abgerissen zu werden. Eine Sisy-

phosarbeit für diesen kurzen Moment des freien Falls am Ende und dem Ge-

räusch kurz vorher, wenn Stollenreifen über in kurzen Abständen genagelte

Holzleisten rattern. Dann stoppt das Rattern, nur das Rauschen der Luft,

dann der Bodenkontakt: Ein kurzer Einschlag, das Pumpgeräusch von Gabel

und Dämpfer, die abrupt einfedern und das Öl-Luft-Gemisch verdrängen, das

Schaltwerk, das durch die Wucht des Aufpralls gegen den Rahmen schlägt,

die Reifen, die wieder Waldboden unter sich haben. Das Pochen am Hals, das

sich unter dem wuchtigen Full-Face Helm ausbreitet und das Schreien der

Anderen kaum durchdringen lassen.

Anfänglich waren Freeridebikes gewöhnliche Mountainbikes von der Stange, die im Wesentlichen nur leicht modifiziert waren. So fuhr man bereits am Anfang gekröpfte Lenker und das Maximale an Federweg, was der Markt hergab. Die Industrie erkann-te jedoch recht schnell das Potenzial dieser neuen Facette des Fahrradfahrens.

„Du warst immer so ein ängstlicher Bub — aber als du dann das Fahrradfahrenbegonnen hast...“

BEWEGUNG: WIE LANGE DER HYPE SCHON GEHT!

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Zunächst ging die Entwicklung stark in Richtung der sog. „Big Bikes“, also schwere, stabile Räder mit unendlich viel Federweg. Faktisch ließen diese sich nicht den Berg hochbewegen, um zu einem Spot zu kommen. Auch war das hohe Gewicht in der Luft und beim Ausführen von Tricks eher hinderlich. Da dieser Faktor im Verlauf aber immer wichtiger und zeitgleich das Material leichter und trotzdem stabiler wurde, änderte sich auch der Fokus der Industrie drastisch: Massive Doppelbrückengabeln wichen Einfachbrückengabeln, die den Bewegungsradius der Räder erweiterten. Der Federweg wurde weniger aber effektiver nutzbar. Reduce to the max am gesamten Rad. Heute sind Freeridebikes kompakte, bewegliche und leichte Allzweckwaffen für unterschiedlichstes Terrain und im Programm nahezu aller Hersteller zu finden.

Es ist das Verlangen nach eben diesem Gefühl des Sich-selbst-Überwindens.

Angst und Respekt, die sich in einem kurzen Moment zu totaler Konzentration

verdichten, um dann in ein Gemisch aus Erleichterung, Hochgefühl und Erha-

benheit zu münden. Das Fußballspiel gewinnen 11 Männer gemeinsam – auf

dem Fahrrad bist nur du allein verantwortlich. Und trotzdem entstehen daraus

innige Freundschaften. Vielleicht gerade deswegen. Denn alle, die bei großen

Dingen dabei sind, wissen selbst wie es ist, dazustehen und zu fokussieren,

die Entscheidung zu treffen, den Finger von der Bremse zu lösen und los-

zurollen – Tunnelblick. Das verschafft Respekt. Nicht blindes Handeln, son-

dern die absolute Konzentration auf einen kurzen Augenblick, der entweder

erfolgreich oder im Krankenhaus endet. Manche konnten das besser, andere

weniger.

Arbeite hart, dann wirst du Erfolg haben. Das klingt borniert, trifft aber auf

das Radfahren zu. Probiert man etwas Neues, einen Trick, eine schnellere

Linie, die höhere Kante, wird man früher oder später Dreck fressen. Anders

geht es nicht. Entweder du isst auf und bestellst das Gleiche nochmal, oder

du kannst daheim bei Mutti essen. Der Reiter muss nach dem Sturz auch

wieder zurück auf das Pferd. Der Großteil macht dieses Spiel nicht mit, lang-

sam trennt sich die Spreu vom Weizen, und irgendwo ist immer einer dabei,

der wegen der Art und Weise, wie er Rad fährt, hervorsticht. In dem mittlerweile

eingeschworenen und exklusiven Kreis der Lokalpioniere war es der Jüngs-

te, der mit so beleidigender Leichtigkeit alles sprang und fuhr, dass selbst

jahrelange harte Arbeit und viele leergegessene Teller für alle anderen nie zu

ähnlichen Leistungen geführt hätten. Das machte aber nichts. Denn auf die

Leistungen des Einzelnen wurde am Abend immer zusammen getrunken.

Mit der wachsenden Zahl an Anhängern der Freeridebewegung wuchs ein neuer Markt, nicht nur für die Produzenten von Mountainbikes selbst. Spezielle, stabile, aber „stylische“ Bekleidung, löste das geliehene Equipment des Motocross ab. Die „Mountainbike Downhill“ als einziges Magazin für abfahrtsorientiertes Mountain-biken auf dem deutschen Magazinmarkt, benannte sich 2001 in „Mountainbike Rider“ um und wurde von da an das Magazin der Bewegung. Die Contest-Ära nahm ihren Lauf. Das Crankworx–Festival in Whistler B.C., Die „Rampage“ in der Wüste Utahs oder die ersten Wettkämpfe auf künstlich angelegten Strecken in euro-päischen Großstädten. Dutzende Videoproduktionen wurden veröffentlicht. Immer anspruchsvolleres Material, gedreht in 16mm auf dem gesamten Globus mit gespon-sorten Teamfahrern. Und die Topproduktionen (New World Disorder, Kranked oder The Collective) legen bis heute fest, was für die kommende Saison die Messlatte in Sachen höher, schneller und weiter ist. Neben den Wettkämpfen bieten diese Videos die besten Chancen, um auf sich aufmerksam zu machen.

Talente schossen plötzlich wie Pilze aus dem Boden. Und es waren, bis auf

wenige Ausnahmen, immer die jungen Wilden. Die „Young Guns“ sprengten

Contests auf geliehenen Rädern, bekamen einen Top-Part im nächsten Video,

wo sie mit noch verrückteren Sachen auffuhren und so zu den „Big Names“

im Freeridesport wurden. Wie im kleineren Rahmen in der deutschen Voralpen-

„Hast du gesehen:Die Downhill heißt jetzt Rider!“landschaft, wo sich einige Beständige behaupten konnten, während andere

früher oder später die Flinte ins Korn warfen, mit dem BMXen anfingen oder

sich verletzten: Fahrer kamen und gingen und gruppierten sich meistens um

die „Evergreens“ der Szene. Auch ein paar deutsche Namen tauchten in den

Starterlisten der großen Events auf, unter ihnen auch der Name des Jun-

gen mit der beleidigenden Leichtigkeit. Auf einmal war er da drüben, auf der

anderen Seite — gesponsortes Material, Helme mit dem eigenen Namen als

Aufdruck, Bahn- und Flugtickets zu den Orten des Geschehens, auf die die

ganze Freeridewelt zu diesem Zeitpunkt blickte. Aber auch Leistungsdruck

und die Erkenntnis: Ohne Verletzungen geht es nicht. Um im auserwählten

Kreis der Topathleten bestehen zu können muss man gewisse Standards er-

füllen. Einer haut eine verrückte Trickkombination raus, alle sehen es, bei der

nächsten großen Veranstaltung machen bereits fünf andere Fahrer densel-

ben Trick – und als wäre es schon immer Gang und Gäbe gewesen, müssen

irgendwann alle das Risiko eingehen und diese Kombination springen. Das

Fahren ist dann nicht mehr nur Leidenschaft, die im engen Kreis von Freun-

den geteilt wird, sondern harte Arbeit, ein Beruf.

Was auf einem Fahrrad möglich ist und gezeigt wurde, entfernte sich nun

mit immer größeren Schritten von dem, was der durchschnittlich ambitionierte

Fahrer aus dem Kreis der Lokalhelden bereit war zu tun. Setzte man anfangs

der Bewegung noch an jedem Video die eigene Messlatte, kippte später die

Stimmung in eine Art Unmut des „Wer will den so etwas noch sehen“, oder „das

hat doch nichts mehr mit Radfahren zu tun“. Kurz: Brot und Spiele waren ins

Utopische ausgeartet. Bemerken konnten diese Entwicklung aber nur die, die

von Beginn an dabei waren, ganz am Anfang des Hypes.

Für die, die nie einen Helm mit ihrem aufgedruckten Namen ihr Eigen nennen

konnten, dreht sich die Welt nicht nur um die Nabe. Der Geschäftsmann hatte

immer mehr Geschäfte zu erledigen, der Schüler wurde Student oder ging

in Ausbildung. Die Regelmäßigkeit des Waldes wich der Gesetzmäßigkeit des

eigenen Lebens, der Verantwortung für den eigenen Werdegang, der Familie

oder „weltlichen“ Dingen, die sich über das Radfahren erhoben. Dennoch ist

für alle Beteiligten dieses kleinen Kreises das Fahrrad fahren immer noch ein

großer Bestandteil des Lebens. Für den einen mehr, den anderen weniger.

Wenn auch seltener, so kommen doch alle auch heute noch immer wieder

zusammen. Nicht mehr, um sich von 5 Meter hohen Klippen zu stürzen, oder

während eines Sprungs in 4 Metern Höhe sämtliche noch heilen Gliedmaßen

vom Rad wegzunehmen, selbst wenn einige dazu noch in der Lage wären.

Wichtig ist, dass sie gemeinsam auf ihren Rädern sitzen, an die alten Zeiten

denken und erstaunt feststellen, wie lange dieser Hype nun schon geht.

Freeriden gilt heute als fester Bestandteil des Radsports, genauso wie das olympi-sche Cross-Country oder der Rennradsport. Aus einer anfänglich rebellischen Art des Radfahrens als Widerstand gegen Leistungsdruck und Lactatwerte, wurde ein Überbegriff für radikales Mountainbiken mit Unterdisziplinen wie Big Moun-tain, Slopestyle, Street, Enduro oder Dirtjumping. Sowohl die Industrie als auch MTB-spezifische Medien kommen am Freeriden nicht vorbei und tragen so seit nunmehr fast 10 Jahren ihren Teil zum Hype bei.

BEWEGUNG: WIE LANGE DER HYPE SCHON GEHT!

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Est.2010since2010

440x300Qualität

since2010

MtM

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bar.Monothematisches Magazin

für fahrradinduzierte Emotion.

ISSUE 01

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Interview: BAR

I [HEART] MY VELO: Ümit Yurdagul, 29

Jet Star Excellent Bonanza Rad —Baujahr 1976

VERKAUF’ MIRDAS FAHRRAD.bITTe!

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Wenn man mit so einer Liebe zum Detail an die Sache rangeht, jede Schraube oder Speiche einzeln in die Hand nimmt, baut man ja wahrscheinlich eine innige Beziehung zu den einzelnen Teilen auf. Was ist dein Lieblingsstück oder Teil an dem Fahrrad?

Da mag ich mich gar nicht so festlegen. Der Sattel ist natürlich schon sehr

speziell, bezogen mit Alcantara Leder aus einem Porsche und orangenen

Nähten, passend zur Lackfarbe des Bikes. Das hat mich eine Flasche feins-

ten 12jährigen Scotch gekostet. Der Scheinwerfer ist aber auch etwas be-

sonderes. Das Gehäuse ist original von einem 125cc Chopper, zusammenge-

bastelt mit dem Innenleben einer LED Taschenlampe. Ich möchte behaupten,

sowas hat keiner an seinem Rad. Der analoge Tacho freut mich aber auch

jedesmal wenn ich draufsitze, und an den Weisswandreiffen kann ich mich

auch nicht sattsehen. Als ich das Rad gekauft habe, waren normale schwarze

Reifen drauf. Aber ein Bonanzarad ohne Weisswandreifen ist kein echtes Bo-

nanzarad. Ich kann mich also nicht wirklich auf ein Lieblingsteil festlegen, ich

denke, der durch die Summe der Originalteile entstandene Charme, kombiniert

mit Spezialteilen wie Sattel und Lampe ist es, der das Rad ausmacht.

Und wohin fährst du am liebsten damit?

Sobald die Sonne rauskommt überall hin, alle kleinen Wege. Eigentlich brauchst

du auch jemanden der auch so ein Fahrrad hat, denn es dauert ewig um von A

nach B zu kommen. Aber darum geht es ja auch nicht. Man ist schließlich auf

einem Stuhl auf Rädern unterwegs. Trotzdem ist es mein Krafttraining. Wenn

man z.B. Berge hochfährt, ist das die „Stepper“ Technik, weil man auf dem Rad

steht wie Frauen im Fitnesscenter auf dem Stepper. Es hat also auch noch

einen gesundheitlichen Zusatznutzen. Und ausserdem sind alle Leute be-

geistert von dem Rad. Die Älteren weil es für sie einen gewissen Nostalgiewert

hat, und die Jüngeren weil es aussieht wie ein Moped. Mein Tabakhändler

hat mir letztens ein altes schwarz-weiß Bild von sich auf einem Bonanzarad

gezeigt, auf dem Foto war er zwölf Jahre alt. Und mein kleiner Neffe will immer

gar nicht mehr absteigen.

BAR: Woher hast du dieses Schmuckstück Ümit?

Ümit Yurdagul: Von einem ehemaligen Arbeitskollegen, ein Ex-Hippie mit einem

Faible für alte und schöne Fahrräder. Er kam eines Tages mit einem Trans-

porter voll mit Rädern an, und da war das Bonanza dabei. Ich wusste, dass er

bereits acht Stück besitzt, und so bin ich ihm 3 Stunden hinterhergelaufen,

und habe ihn beackert: Verkauf mir das Fahrrad, verkauf mir das Fahrrad,

bitte! Da er aber schlechte Erfahrungen im Verkauf mit Bonanza Rädern ge-

macht hat – das letzte das er verkauft hatte, nachdem er es mit viel Arbeit

und Schweiß restauriert hatte, wurde vom Käufer mit der dreifachen Summe

weiterverkauft – wollte er es mir nicht geben. „Nur an einen Liebhaber“ hat

er immer wieder gesagt. Irgendwann war er glaube ich so genervt, dass er

meinte: „Gib mir hundert Euro – das Rad war zu dem Zeitpunkt in einem nicht

allzu guten Zustand – und dann lass mich in Frieden.“ Das war vor gut 2 1/2

Jahren.

Das klingt nach einem fairen Preis!

Absolut! Die hundert Euro hatte ich glücklicherweise einstecken, und hab sie

ihm gleich in die Hand gedrückt, bevor er es sich anders überlegen konnte.

Ich musste ihm aber versprechen, das Rad „auf edelste Art und Weise“ zu

behandeln.

Und dann hat die eigentliche Arbeit wahrscheinlich erst richtig begonnen, oder?

Oh ja. Das erste dreiviertel Jahr stand die Kiste nur in der Garage, ich wollte

zuerst die ganzen Originalteile auftreiben. Das war aber nicht so einfach,

schließlich sprechen wir von einem Jet Star Bonanza Rad in der „Excellent“

Ausstattung, also die Sonderausstattung. Aber man lässt sich ja auch Zeit mit

so etwas, und befasst sich gerne mit jeder Speiche einzeln.

Wie lange hat es gedauert das Rad in den Zustand zu bringen, wie es jetzt dasteht?

Schwer zu sagen, vielleicht 50 bis 60 Arbeitsstunden. Oder lass es 80 bis 100

Stunden sein, das wäre auch nicht übertrieben. Aber wie gesagt, man hockt ja

gerne daran! Das Zusammenbauen gehört zur Aura des Rades. Nur wer sich

die Hände schmutzig macht, kann das Fahren später genießen!

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„Das hat mich eine Flasche feinsten 12jährigen Scotch gekostet.“

I [HEART] MY VELO

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