Barbara Hug - Hundert Tage Mit Chirstiane

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B A R B A R A H U G

HUNDERT TAGE MIT CHRISTIANE

BUCHGEMEINSCHAFT JUNG-DONAULAND / WIEN

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Lizenzausgabe für die Mitglieder der Buchgemeinschaft Donauland

Alle Rechte beim Kreuz-Verlag, Stuttgart

© Copyright 1957 by Kreuz-Verlag GmbH., Stuttgart

Umschlagbild: Elly Miltner

Druck: Wiener Verlag, Wien

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Heute ist der 1. Juni und der scheußlichste Tag mei­nes Lebens.

Niemals käme ich auf den Gedanken, alles aufzuschrei­ben, was heute geschehen ist, wenn ich nicht so über­mäßig wütend wäre und wenn ich jemanden hätte, bei dem ich meinen Zorn abladen könnte. Irgendwie muß ich ihn loswerden; und wenn’s mündlich nicht geht, will ich es einmal schriftlich versuchen. Es wäre besser, wenn ich mich jetzt auf mein Rad setzen und einen Teil der Wut aus mir herausfahren könnte. Der Heimweg ginge dann in beruhigterem Zustand und langsamerer Fahrt vor sich, ich könnte mir alles Gewesene noch einmal über­denken und hinterher mit Mutter über ein paar Dinge sprechen — wenn auch nicht über alles.

Nun ist sie aber gestern weggefahren. Es war wie jedes­mal, ehe sie fährt: großes Kofferpacken, riesengroßes Durcheinander, viele Ermahnungen an mich und so weiter. Diesmal alles in vergrößertem Maßstab, weil sie nicht, wie sonst meistens, nur zwei bis drei Wochen, sondern ein Vierteljahr lang verreisen will. Eigentlich mehr soll als will, aber für mich bleibt es gleich: Ich werde ein Vierteljahr allein sein, und ich bin es gern. Nur heute nicht.

Mit der tröstlichen Radfahrt ist es auch nichts: mein verstauchter Knöchel tut sogar jetzt weh, obwohl er völ­lig ruhig daliegt und von einem sauer duftenden, aber heilungfördernden Umschlag umhüllt ist.

Ein dickes Heft zum Hineinschreiben habe ich. Es ist

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weder in Leder gebunden noch überhaupt für diesen Zweck hergestellt worden. Mutter gab es mir zum Ab­schied mit vielen Ermahnungen. Es ist ein Haushaltsbuch mit den Rubriken für Einnahmen und Ausgaben.

Einnahmen habe ich nicht, und nur Ausgaben hinein­zuschreiben ist eine zu traurige Angelegenheit; außerdem bleibt Geld, das weg ist, weg, ob ich diese Tatsache auf­schreibe oder nicht. Ist also unnötige Arbeit.

Überraschte Äußerungen von Mutter werde ich mit ge­wandten Reden über Einnahmen und Ausgaben seeli­scher und geistiger Art und deren Wert zu entkräften verstehen. So will ich das viele Papier zu anderer Bilanz benutzen.

Der Tag fing schon unangenehm an. Zunächst hatte ich verschlafen. Das heißt, ich kam mit dem Klingeln und einem halben Meter vor dem Mathematik-Weber in die Klasse und hatte nun keine Zeit mehr, die ver­flixte Aufgabe bei Walter abzuschreiben. Prompt kam ich dran, wußte weniger als gar nichts und flog total ’rein. An solche Schicksalsschläge gewöhnt, wenn auch nicht gerade in diesem Ausmaß, erholte ich mich in der zweiten Hälfte der Stunde, in der mich Weber nicht mehr beachtete. Nächste Stunde Latein: langweilig und schläfrig.

Danach kamen die beiden Deutschstunden, auf die sich die Klasse seit Tagen freute.

Frau Dr. Wagner, klein, grauhaarig, spitzzüngig, be­brillt und klug, hat für unsere Klasse ein Theaterstück ausgewählt, das wir bei der Hundertjahrfeier unserer Schule spielen sollen. Sie wollte es heute mitbringen.

Es heißt »Die schöne Friederike«, und sie meinte, es sei für »diese Siebente« wie geschaffen und von einem Anonymus aus dem 19. Jahrhundert geschrieben.

Nachdem sie es vorgelesen hatte, waren wir uns ziem­lich einig darüber, daß es wohl eher von einer Anonyma

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aus dem 20. Jahrhundert stamme oder zum mindesten von ihr stark überarbeitet worden sei. Na, lassen wir ihr den Spaß und tun weiter so, als ahnten wir nichts. Er­wachsene halten Siebzehnjährige oft für dümmer, als sie sind.

Inhalt des Stückes: eine Verwechslungsgeschichte mit verschiedenen Intrigen, komischen Zwischenfällen und dem üblichen Happy-End. Soweit war alles gut und schön.

An meinen mathematischen Reinfall dachte ich nicht mehr, und beim Zuhören überlegte ich mir, wie gut ich die schöne Friederike spielen wolle. Schön bin ich zwar nicht unbedingt, aber schauspielern kann ich. — Ich war überzeugt, daß die Wahl der Klasse bei der demokrati­schen Rollenbesetzung auf mich fallen würde, aber sie nahmen Ingrid.

Das ärgerte mich, doch dachte ich, schnell getröstet, daß die Rolle der Gustel auch nicht zu verachten sei. Doch Irene bekam die Gustel, und ich konnte mich nur schwer und im Hinblick auf meine Faulheit mit einer der kleinen Marktfrauenrollen abfinden. Was nun kam, war aber viel schlimmer: Sie gaben mir die komische alte Tante! Einstimmig war meine Klasse der Meinung, daß das die einzige Rolle sei, die zu mir, besser gesagt: zu der ich passe.

Ich lachte dazu. Was sollte ich tun? Sie erwarten von mir, daß ich immer lache, immer gute Laune habe, nie etwas krummnehme, immer einen Ausweg weiß, helfe, Witze mache, daß ich nie beleidigt bin. Nun gut, das bin ich seit Jahren gewöhnt. Daß ich für sie aber eine Art Clown bin, ein für allemal, das hat mich so wütend ge­macht. Andere nehmen sie doch auch ernst, nur mich nicht.

In der letzten Stunde hatten wir Mädchen Turnen.

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Schon beim Umziehen schnitt Ingrid gewaltig auf. Dann sagte sie herablassend einige Worte zu mir, der komi­schen Alten, fragte, weil ich nicht antwortete, ob ich an Liebeskummer litte (an andere Dinge denkt sie sowieso nicht), und das ärgerte mich so sehr, daß ich beim Weit­sprung von Herzen wünschte, sie möge sich ein Bein bre­chen. Sie sprang uninteressiert ihre üblichen drei Meter, zog ihren durch diese Tätigkeit etwas verrutschten Sport­pulli zurecht und stellte sich wohlbehalten wieder in der Reihe auf. Statt dessen sprang ich falsch ab und ver­stauchte mir recht übel den Knöchel. »Wer andern etwas Böses wünscht, bricht selbst ein Bein!« sagte ich, als ich kläglich im Sand der Sprunggrube saß, und brachte mit dieser neuen Variante der deutschen Sinnsprüche die er­schrockenen anderen zum Lachen, obwohl mir gar nicht danach zumute war. Und dann wundere ich mich, wenn sie in mir den ewigen Witzbold sehen! Ich bin selbst schuld !

Da ich nicht gehen konnte, erbot sich Jürgen, der ein­zige in unserer Klasse, der einen Motorroller besitzt, mich nach Hause zu fahren. Ich riet ab, weil ich unseren Kirsch­berg und seine Wegverhältnisse für Motorroller ungeeig­net finde, und wir blieben dann auch prompt im oberen Drittel stecken. Ich sagte: »Danke schön« und: »Die kleine Strecke kann ich gut gehen.« Er fuhr erfreut da­von, und ich hinkte und hüpfte sehr mühsam den Berg hinan.

Unterwegs fiel mir ein, daß er Ingrid bestimmt nicht so ihrem ziemlich schmerzhaften Schicksal überlassen, son­dern sie gestützt und nach Hause geführt hätte. Ich mache das immer falsch, weil ich jeden Schmerz bagatellisiere, damit andere nicht soviel Mühe mit mir haben. Um so mehr Mühe habe ich dann selbst.

Als ich unseren Garten erreicht hatte, warf ich die Gar­

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tentür kräftig zu und setzte mich erst einmal ins Gras. Sie knallte gewaltig, alle Vögel flogen erschrocken aus der Hecke auf, und Frau Mozert rief zum Fenster hinaus: »Ruhe! Mein Gatte schläft!«

Daß Frau Mozert einen »Gatten« und nicht schlicht einen Mann hat, erheitert mich sonst immer sehr. Heute ärgerte mich das Getue. Außerdem hatte ich die Tür nicht mit Absicht so zugeknallt, ich hatte nur den Schwung nicht richtig berechnet, und mein Knöchel tat irrsinnig weh.

Endlich war ich bis zur Haustür vorgedrungen, und aller Appetit war mir vergangen. Wie gerne hätte ich mich jetzt ohne Mittagessen in mein Bett gelegt! Aber Frau Mozert ist eine Frau mit Grundsätzen, bei der man »warm« gegessen haben muß, um überhaupt leben und arbeiten zu können. Außerdem hat sie Mutter ver­sprochen, mich allmittäglich bei sich zu verköstigen und sich um mich zu kümmern. Wenn Mutter ahnte, was sie unter »sich kümmern« versteht!

Als sie den verstauchten Fuß bemerkte, holte sie zu­nächst essigsaure Tonerde (kann ich nicht riechen, soll aber helfen!) und als nächstes eine Zeitschrift, aus der sie mir mein Horoskop für den heutigen Tag vorlas, wäh­rend sie das Sauerkraut aufwärmte, dessen Duft sich eigentümlich mit dem meines Umschlages vermischte.

Aus meinem Horoskop konnte Frau Mozert klar er­sehen, daß irgendwelche ungünstigen Sternenkonstellatio- nen an meinem Unfall schuld seien und daß es in den nächsten Tagen noch weitere Schwierigkeiten geben würde, auch in der Ehe. Ich wollte sie nicht darauf aufmerksam machen, daß das für mich unzutreffend sei, sagte mög­lichst wenig (war auch nicht nötig, denn sie sprach unun­terbrochen), aß schnell etwas von dem Sauerkraut und ging so bald wie möglich hinauf zu uns.

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Leider mußte ich die Wohnungstür offenlassen, damit Frau Mozert allstündlich mit frischriechendem Umschlag eintreten konnte. Vor einer halben Stunde war sie zum letztenmal für heute da — nun habe ich endlich Zeit zum Schreiben.

Als ich am Nachmittag einen Brief von Martina be­kam, freute ich mich sehr und hoffte, doch noch etwas Angenehmes am heutigen Tag verzeichnen zu können, aber er paßte völlig in den Rahmen der bisherigen Er­lebnisse. Er war an Mutter gerichtet, und ich öffnete ihn mit gutem Gewissen, weil sie gesagt hatte, ich solle alle Briefe öffnen und ihr nur das nachschicken, was wirklich wichtig und dringend sei.

Martina dachte, Mutter sei noch hier, und schrieb ihr wegen Florian. Sie würde sich nun anderweitig umsehen, denn Mutters Vorschlag, Florian hierher und in meine Pflege zu bringen, sei doch wohl nicht ganz ernst ge­meint gewesen. Ich sei zwar ihre netteste und lustigste (wie ich das allmählich hasse!) Schwester, aber doch nicht verantwortungsbewußt genug, um so ein kleines Kind allein betreuen zu können.

Und das schreibt Martina! Ich bin furchtbar enttäuscht! Sie war bis jetzt immer meine liebste Schwester, aber nun nicht mehr. Daß sie in mir immer noch die »Kleine« sieht und kein Vertrauen zu mir hat, betrübt mich sehr.

Für meine drei Schwestern bin ich die lustige Jüngste, über deren drollige Einfälle man lacht; für die Klassen­kameraden bin ich der Clown; Mutter streicht mir übers Haar und sagt »Mein Kleines«. — Was soll ich nur tun, damit sie endlich einmal sehen, wer das eigentlich ist: Christiane Andresen?

Ich möchte nicht weiterschreiben.Meine Wut ist vergangen. — Jetzt bin ich traurig.

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2. Juni

Mein Knöchel ist noch dicker als gestern, und das, ob­wohl Frau Mozert stündlich nachprüft, ob ich einen fri­schen Umschlag gemacht habe, und behauptet: »Wir sind auf dem Wege der Besserung.« Vielleicht sie. Mein Fuß nicht und ich auch nicht.

3. Juni

Gestern habe ich nichts getan als Illustrierte angesehen. Mein innerer Mensch begann langsam ebenso essigsauer zu werden wie das linke Bein.

Da kamen glücklicherweise Gabi und Moni, um mich zu besuchen. Sie erzählten hübsche Sachen von der Schule, beneideten mich um meinen Knöchel, weil ich seinetwegen um die Mathematikarbeit morgen komme, brachten Scho­kolade mit und gute Laune. Wir haben sehr gelacht.

Als sie weg waren, habe ich meinen Fuß betrachtet und festgestellt, daß »wir« anscheinend tatsächlich »auf dem Wege der Besserung« sind.

Gabi und Moni sind nett. Zwillinge, die einander gar nicht ähnlich sehen und auch nicht ähnlich sind — nur in ihrer Munterkeit. Beiden würde ich die »Friederike« gön­nen — nun werden sie als Marktfrauen auftreten, ob­wohl ich sie netter und hübscher und klüger finde als den Affen Ingrid, von der Mutter sagt, sie habe das »gewisse Etwas«: ein Ding, das nicht zu definieren, dessen Wirkung aber zu bemerken ist.

So werden beispielsweise ganz normale Jungen aus der Klasse zu Kavalieren und tragen Ingrids Schulmappe, obwohl sie nicht schwer ist, oder sie helfen ihr in den Mantel nach Schulschluß, während sich unsereins selb­ständig in den Anorak quält. Sie bringen sie auch gern nach Hause, obwohl Ingrid fad und langweilig ist. Sogar der Mathematik-Weber behandelt sie wie eine Dame und

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mit Zuvorkommenheit. Niemals würde er sie so anbrüllen wie mich, und sie ist auch nicht viel besser in seinen Stunden.

Ich muß mir heute überlegen, woher das kommt. An den gelackten Nägeln und geschminkten Lippen allein kann es nicht liegen — das könnte ich auch tun, und nie­mand käme auf den Gedanken, meine Mappe auf seinem Rad nach Hause zu fahren. Ich könnte mir die Haare lila färben lassen — aber kein Funken von dem »gewissen Etwas« wäre zu spüren. Ob es an meinem Gesicht liegt? Morgen werde ich einmal zum Spiegel humpeln und mich kritisch betrachten.

4. Juni

Eben bin ich lange vor dem Spiegel gestanden und habe mich angesehen, so unbeteiligt und sachlich, wie man es bei einer Unbekannten tut. Das Resultat ist nicht sehr ermutigend — auch nicht deprimierend —, es ist eben mittelmäßig wie alles an und bei mir. Das Beste ist wohl die Gesichtsform. Schmal und länglich, wirkt von ferne ganz intelligent, man sieht nichts von den Sommerspros­sen. Die Stirne ist auch erträglich, vielleicht ein bißchen zu hoch. Die Nase voller Sommersprossen, der Mund zu groß, das Kinn — ich weiß nicht, das ist mir überhaupt nicht auf gefallen. Die Augen sind groß und ganz hübsch im Schnitt, in der Farbe aber unmöglich. Mutter behaup­tet zwar noch immer, sie seien blau (das war im ersten Jahr meines Lebens und vielleicht etwas später noch der Fall), ich selbst konnte, auch bei wohlwollendster Betrach­tung, nur ein undefinierbares Grün-Grau sehen, umgeben von mittelblonden Wimpern. Wenn sie doch schwarz wä­ren und die Brauen ebenso, dann bekäme mein Gesicht etwas Apartes! So ist es einfach langweilig, ebenso wie die mittelblonden glatten Haare, die kurz und strubbelig

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geschnitten sind — »verschnitten«, wie Mutter sagt, die mich mit Zöpfen viel hübscher fand.

In manchen Dingen ist sie doch ziemlich altmodisch.Von meiner Gestalt ist zu sagen, daß sie mittelgroß,

mitteldick und somit mittelhübsch ist, soweit ich das fest­stellen kann. Gerne wäre ich fünf Zentimeter länger (aber bitte an den Beinen!) und gerne in der Taille fünf Zentimeter schlanker. Sehr gern hätte ich dünnere Waden und keine Warze auf dem linken Daumen. Kurz gesagt: gerne wäre ich manchmal jemand anderer als Christiane Andresen. Aber nur manchmal, im allgemeinen fühle ich mich ganz wohl in dieser mittelmäßigen Rolle eines Lebens.

Nachschrift: Eben fällt mir ein, daß ich das Mittel­mäßige in manchem selbst ins Gute wandeln kann. Zum mindesten ins Interessante! Muß überlegen.

Noch eine Nachschrift: Der Knöchel schwillt ab.

7. Juni

Vorgestern und gestern hatte ich keine Lust zum Schreiben.

Heute war die Klassenabordnung dreifach besetzt: Irene, Helmut und Günter unterzogen sich diesem Akt der Barmherzigkeit. Irene spendete eine Flasche Apfelsaft (ihr Vater ist Vertreter in dieser Branche. Diese Neben­bemerkung soll den Wert der Gabe nicht schmälern, nur erklären, wieso sie zu solch einem üppigen Geschenk kommt), Helmut einen Kaugummi mit Himbeergeschmack und Günter einen Zettel, auf dem er die drei Themen des heutigen Klassenaufsatzes für mich notiert hatte. Ich muß schon sagen, daß die Dr. Lange etwas anderes hätte aus­suchen können! Manchmal ist sie von jeder Menschen­freundlichkeit verlassen. Es war beinahe so, daß ich die

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armen Gesunden trösten mußte und sie mich um meinen Hinkefuß beneideten.

Dr. Kümmerle, unser alter Hausarzt, war heute auch da und besah sich den Schaden. Er lobte Frau Mozerts essigsaure Umschläge und gab damit deren Selbstgefällig­keit neuen Auftrieb. Irgendwoher hatte er gehört, daß ich diesen Fehltritt getan hatte, und da er gleichzeitig hörte, daß Mutter verreist sei, wollte er nach mir sehen.

In Ebenheim hört jeder von jedem über jeden etwas »irgendwoher«.

Eben kam dieser Brief von Martina. Diese alte schein­heilige Schlange!

»Mein lieber kleiner Krischan!Nun muß ich Dir leider einen Absagebrief schreiben:

In diesen Sommerferien kannst Du nicht zu uns an den See kommen. Du weißt ja, daß Klaus seit einiger Zeit an der Adria ist, um das Hotel zu bauen. Nun schreibt er sehr drängend, ich solle so schnell wie möglich für etwa zwei Monate nachkommen, denn wenn ich Wert darauf legte, mit der Inneneinrichtung einigermaßen terminge­mäß fertig zu werden, müsse ich schon jetzt mit Hand­werkern und sonstigen Firmen persönliche Verbindung aufnehmen, das sei unerläßlich. Da will ich also, sobald ich eine tüchtige Pflegerin für Florian gefunden habe, fahren und während der Sommermonate in Italien schwit­zen. Eigentlich wollte ich den Jungen mitnehmen, Klaus meinte aber, es sei der Hitze wegen für ein vier Monate altes Kind zu gefährlich. Das sehe ich ein, obwohl es mir schrecklich leid tut, mich jetzt von ihm zu trennen, denn er ist süß!

Als wir damals die Nachricht von unserem ersten Preis

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im Wettbewerb bekamen, waren wir rundum glücklich. Inzwischen ist schon ein bissel vom runden Glück abge­bröckelt, vor allem im Hinblick auf Florian. Es ist nicht immer einfach, ein preisgekröntes Elternpaar zu sein!

Da Mutter ausgerechnet jetzt mit Großvater durch Skandinavien fährt, nehme ich eine Kinderschwester. Du wirst verstehen, daß ich ihr nicht gut noch die Verant­wortung für Dich übertragen kann, wenn Du in den Ferien kämest. Vielleicht findest Du etwas viel Hübscheres als unser altes, spinnenreiches Haus?

Etwas Schöneres als den Bodensee wirst Du wohl nicht finden, aber der ist auch im Oktober schön, und für die paar Tage Herbstferien lade ich Dich herzlich ein. Da bin ich längst zurück, und Dein kleiner Neffe kann vielleicht schon sitzen.

Wie wäre es, wenn Du zu Tante Gerda nach Holstein führest? Laß es Dir gut gehen in Deiner Einsiedlerklause!

Herzlich Deine Tine.«

8. Juni

Noch nie habe ich die Lieblichkeit und Schönheit eines sonnigen Junisonntags so empfunden wie heute. Ich lag vom frühen Morgen an im Liegestuhl unter unserem alten Kirschbaum, der voll grüner Kirschen hängt und mir von Mittag an, gerade als es mir zu warm werden wollte, sei­nen Schatten überwarf. Bienen und Hummeln waren eifrig am Klee, an den Margeriten, an Hahnenfuß, Sal­bei, Wiesenbocksbart, Knöterich — vielleicht auch am Sauerampfer, aber das weiß ich nicht. Doch ist er zur Vollendung einer blühenden Wiese ebenso unentbehrlich wie die schaumigen Dolden von Wiesenkerbel oder Küm­mel oder Schierling oder Möhre. (Nie habe ich gewußt, welches Gewächs unseren Wiesenhang ziert!)

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Da Mutter noch nicht von der Epidemie ergriffen ist, die unter den Ebenheimer Gartenbesitzern ausgebrochen ist, nämlich einen »englischen Rasen« ihr eigen nennen zu wollen, sondern sich noch den Luxus einer blühenden Wiese gestattet, die dann von Friedrichs abgemäht, ge­trocknet und im Laufe des Winters an die Ziegen verfüt­tert wird, steht mein Liegestuhl mitten im hohen Gras.

Die Sonne hängt schräg und läßt alle Farben leuchten­der erscheinen, aber die Häuser unten im Tal liegen schon im Abendschatten, der langsam auch unseren Kirschberg heraufkriecht. Ich warte noch auf das Abendläuten, dann werde ich meine Sachen zusammenpacken und in die Wohnung humpeln.

Wie gut, daß Mozerts heute nicht da sind, sie wür­den mir einfach durch ihr Dasein den Frieden des Abends stören.

Bin wieder auf der Couch gelandet. Habe den eben ge­schriebenen lyrischen Erguß gelesen, geniere mich etwas deswegen (vor mir selbst, sonst kriegt ihn ja niemand zu sehen!) und will drum schnell noch etwas Prosaisches hinterher schreiben.

Zum Beispiel etwas Hübsches über unsere Mieter.Als Mutter noch alle vier Töchter um sich herum hatte,

waren nur oben zwei Zimmer vermietet, alles andere bewohnten wir selbst, hatten unten Musik-, Kinder- und Eßzimmer, Küche und Diele und oben die Schlafräume. Seit Andrea in Frankfurt ihre Orgel schlägt, Martina mit Mann und neuerdings auch Sohn am Gestade des Boden­sees ihr Leben fristet und Petra Münchener Säuglinge wickelt, wohnen Mutter und ich oben.

Unten sind Mozerts eingezogen.Ohne sie war es schöner. Wahrscheinlich ist es ohne

die meisten Menschen schöner. —

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Mozerts leiden an ihrem Namen, das heißt weniger an ihrem Namen als an der fixen Idee, Nachkommen Wolf­gang Amadeus Mozarts zu sein oder einer Seitenlinie der Familie zu entstammen. Aus irgendwelchen unbekannten Gründen wollen sie im Laufe der letzten 150 Jahre das A aus dem Namen verloren und durch ein E ersetzt bekommen haben. Da der Vater der Familie aus Salz­burg stammt, ist er überzeugt von der Abstammungstheo­rie — seine Frau noch mehr — und gibt seinen Kindern mozartische Namen.

Die Tochter — fünfzehn Jahre alt und Lehrling bei der Ebenheimer Sparkasse — heißt Constanze, der jüngere Bruder Wolfgang Amadeus.

Hätten sie ihn Chrysostomus genannt, Habakuk oder sonstwie — jeder Name wäre erträglicher gewesen als dieser! Lustig daran ist, daß das Kind nicht mehr mit dem ersten Namen gerufen wird, sondern Amadeus, und daß Mozerts diesen Namen falsch aussprechen. Sie betonen ihn nämlich auf der ersten Silbe und ziehen das E und das U zum Eu zusammen. Klingt verblüffende

Auf dieses Kind konzentrieren sich alle musikalischen Hoffnungen der Eltern, nachdem Constanze versagt hat. Es muß täglich mindestens vier Stunden Klavier üben. Da kennt Frau Mozert kein Erbarmen. Ihr Gatte ist nicht ganz so konsequent und deshalb, Frau Mozerts Meinung nach, allein schuld am musikalischen Versagen der Tochter. Die Erziehung des Kleinen liegt nun ganz in ihren bewährten Händen.

»Der Amadeusle ist das glücklichste Kind von Eben­heim, und er bringt’s noch zu was!« sagt die stolze Mutter.

Ich sage, daß er ein ganz armes Geschöpf ist, dem ich gern helfen würde, zu dem ich aber keinen Zugang finde, weil er sehr scheu ist und dauernd bewacht wird.

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Er ist jetzt elf Jahre alt, sieht aus wie ein Neunjäh­riger und hinkt seit der Kinderlähmung, die ihn vor zwei Jahren befiel, sehr stark.

Für Frau Mozert war das ein doppelt harter Schlag, da sie es als eine Schande ansieht, krank zu sein — als eine noch größere, von einer Krankheit etwas zurück­behalten zu haben. Statt glücklich und dankbar zu sein, den Buben lebend wieder da zu haben und nun alles, aber auch alles zu versuchen, um das Bein wieder be­weglich zu machen, zwang sie ihn, sobald es ging, wieder an das Klavier. Sie ist eine solch ehrgeizige und robuste Person, daß sie gar nicht empfindet, wie sehr sie dem Kind schadet.

Wer krank ist, hat sich zu beeilen, daß er gesund wird, und wer gesund ist, hat zu arbeiten. Zwischenstufen kennt sie nicht. Sie selbst »schafft« den ganzen Tag und tut, als ob Arbeit der einzige Sinn und Zweck des Le­bens wäre.

Neben der Haustür stehen Filzpantoffeln, die jeder, der Mozerts Wohnung betreten will, über seine Schuhe ziehen muß, damit ja nicht der Hochglanz der Fußböden Schaden nimmt. Täglich werden die Federbetten zum Lüften aus den Fenstern gehängt — ein Anblick, den Mutter ganz und gar nicht vertragen kann. Als sie ein­mal mit Frau Mozert darüber sprach, sagte die spitz: »Ja, wir sind eben sauber.« Daraufhin wagte die Mutter nicht mehr, ihren Vorschlag auszusprechen, wöchentlich nur einmal das Haus mit heraushängenden Betten zu ver­unzieren. Sie hätte Frau Mozert in ihrem Vorurteil be­stärkt, daß alle Frauen anderer Gegenden Schlampen sind. »Alle Franzosen sind schmutzig, alle Italiener steh­len, alle Amerikaner kauen Kaugummi, alle Russen sind brutal, alle Österreicher schlampig, alle...« Na, ich weiß nicht, wie diese vorgefaßten Sammelurteile noch alle

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heißen. Bei Frau Mozert enden sie sicherlich in der beru­higenden Feststellung, daß die vorzüglichsten Hausfrauen der Welt in Ebenheim wohnen und daß sie selbst die allervorzüglichste ist.

Welch gültiger Maßstab! — Eben kommen Mozerts nach Hause. Leider. Es war so schön, allein zu sein!

Ich mache schnell das Licht aus, damit mich niemand mehr besucht. Gute Nacht.

9. Juni

Ich bin wieder in der Schule gewesen, brauchte eine ganze Stunde zum Hinweg und eineinhalb Stunden, ehe ich wieder zu Hause war, habe vieles nachzuholen und saß den ganzen Nachmittag — mit hochgelagertem Bein — bei den Hausaufgaben.

Außerdem habe ich Mutter einen kleinen Antwortbrief auf ihren langen geschrieben, der heute morgen gekom­men ist.

Mitte der Woche fahren sie und Großvater nach Dä­nemark. Wie gern wäre ich dabei! Mutter hat mir ver­sprochen, viel und ausführlich zu schreiben und viel zu photographieren, damit ich auch etwas von der Fahrt habe. Besser als gar nichts. Und ich werde mir Mühe geben, ihr als Gegengabe auch ab und zu einen hübschen Erzählbrief zu schreiben. Hoffentlich erlebe ich, in dem Vierteljahr einige interessante Dinge! Bis jetzt sieht es nicht so aus.

In der Schule war es fad. Übermorgen ist die erste Leseprobe für unser Spiel. Wenn ich an die alte Tante denke, bekomme ich noch immer einen riesengroßen Zorn und bin völlig lustlos, lustig sein zu müssen. Ich komme mir vor wie ein Clown im Zirkus, der immerzu, tagtäg­lich, seine albernen Späße machen muß und davon träumt, auf einer großen Bühne den König Lear spielen zu dür-

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fen und die Menschen zum Weinen zu bringen oder ein­fach als Gasmann von Haus zu Haus zu gehen und ernst genommen zu werden.

Oder ist es ein besserer Lebenszweck, Menschen zum Lachen zu bringen statt zum Weinen? Kommt es auf die Mittel an, durch die das geschieht? Oder überhaupt nur darauf, daß das träge Innenleben einmal bewegt wird?

Ich weiß es nicht. Weiß nur, daß ich meine Bequem­lichkeit etwas abstreifen und etwas unternehmen will. Aber wie das geschehen soll, ist mir noch einigermaßen unklar.

Vielleicht wird es mir klarer, wenn ich meine Gedan­ken darüber aufschreibe, da ich niemanden habe, mit dem ich es besprechen kann.

10. Juni

Heute ist’s nichts mit der Schule. Mein Knöchel ist dick und schmerzhaft wie am ersten Tag, ihm war an­scheinend die gestrige Unternehmung zuviel. Mir tut es nur leid um die vergeblich gemachten Hausarbeiten — sonst finde ich es hier recht gemütlich. Ich habe für diesen Vormittag eine interessante Sache vor: Ich möchte ein­mal feststellen, wer ich eigentlich bin. Das klingt komisch, ist aber eine ganz ernste Angelegenheit, denn wie kann ich anderen den Vorwurf machen, sie kennten mich nicht, wenn ich selbst nicht recht weiß, wer ich bin?

Äußerlich gesehen ist es eine klare Sache: Ich, Chri­stiane Andresen, bin vor siebzehn Jahren, neun Monaten und zwei Tagen in einer holsteinischen Stadt geboren worden als vierte Tochter des Kapitänleutnants Karsten Andresen und seiner Frau Anne. Mein Vater hat mich nie gesehen. Er ist mit seinem Schiff im Eismeer verschol­len, als ich drei Wochen alt war.

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Ein Jahr später zog meine Mutter mit ihren Töchtern nach Ebenheim ins Kirschberghaus, und da wohnen wir seitdem. Den Wunsch meiner bereits mit drei Töchtern versehenen Eltern nach einem Sohn verstehe ich vollkom­men, aber nun war ich doch wieder ein Mädchen, ob­wohl ich, wenn ich zu wählen hätte, sehr viel lieber ein Junge wäre.

Ich hatte eine schöne Kindheit in großer Freiheit, da der erzieherische Ehrgeiz meiner Mutter schon etwas ge­brochen und müde war, als er bei mir hätte einsetzen müssen. Dafür fühlten sich meine drei Schwestern erzie­hungsberechtigt, und ich hatte unter ihnen einiges zu lei­den. So empfand ich es damals.

Allmählich bin ich nun zu dem herangewachsen, was hier auf der Couch liegt und sein Innenleben zu bespie­geln versucht.

Ich habe seit einiger Zeit etwas Seltsames festgestellt, etwas, von dem ich wissen möchte, ob es bei anderen auch so ist. Aber wen soll ich fragen? Es kommt mir vor, als bestünde ich aus zwei Wesen, aus zwei völlig verschiedenen Wesen. Nie kann ich ganz bei einer Sache sein, denn wenn ich etwas tue, beobachte ich mich gleich­zeitig dabei, kritisiere mich, lache mich aus — nehme mich selbst nicht ernst. Bei der Mathematik-Katastrophe neulich, als es der einen Christiane bei Webers' Gebrüll allmählich recht unangenehm zumute wurde, stand die andere interessiert daneben und dachte: >Du siehst reiz­voll aus mit dem roten Kopf. Wollen doch sehen, ob nicht gleich die Tränen fließen!< Daß sie daraufhin nicht fließen konnten, ist verständlich.

So ist das Zweigeteilte manchmal recht erziehlich, ein andermal aber auch störend, weil ich nichts mehr unmit­telbar tun kann.

Es ist, als hätte ich immer einen Spiegel bei mir, der

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mein Denken und Tun reflektiert. Und es ist nicht schön, immer in einen Spiegel sehen zu müssen!

Als ich so weit gekommen war mit meiner aufgeschrie­benen Selbsterkenntnis, wurde unsere Wohnungstür auf­geschlossen. Es konnte nur Frau Mozert sein. Sie hat als einzige unseren Schlüssel, solange Mutter verreist ist, da­mit sie in Notfällen herein kann. Nun hatte ich mich heute morgen absichtlich ruhig verhalten, war ohne Schuhe und nur auf garantiert nicht knackenden Dielen vom Schlaf- ins Wohnzimmer geschlichen, hatte mich ge­waschen, als Frau Mozert zum Milchholen war, damit sie denken sollte, ich sei längst aus dem Hause und in der Schule. Ich wollte allein sein, ohne ihr ermüdendes Re­den. Was wollte sie jetzt hier oben? Ich konnte keinen Notfall entdecken, unterbrach die Erforschung meines In­neren und wartete.

Zuerst ging sie ins Bad, verließ es schnell und öffnete die Schlafzimmertür. (Allerhand! Was geht sie unser Schlafzimmer an?) Dann schlich sie durch das Musik­zimmer und öffnete langsam die Tür zum Wohnzimmer. Ich lag ganz still und sagte erst nach ein paar Minuten, während der Eindringling starr im Türrahmen stand, die Klinke mit der rechten Hand umklammert hielt und mich entsetzt und erschrocken ansah:

»Guten Morgen, Amadeus, hast du heute keine Schule?«

Er schüttelte den Kopf, ließ die Klinke los, setzte sich auf den Fußboden und begann zu weinen. So verscheucht und verlassen saß er da, daß ich nicht anders konnte: Ich stand auf, hinkte zu ihm, setzte mich neben ihn und wartete geduldig, bis er ausgeschluchzt haben würde. Ich sagte nichts. Endlich wurde er ruhiger.

»Haben Sie vielleicht«, er schluckte noch einmal, »ha­ben Sie ein Taschentuch?«

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Ich hatte eins. Ich hatte auch einen Bonbonrest in einer Tüte, und ich hatte Zeit.

Ich erfuhr nach und nach, daß die Schule heute wegen einer Lehrertagung nur zwei Stunden gedauert hatte, daß die Mutter nicht zu Hause war, als der Junge kam, und er plötzlich allein sein wollte, ohne die Mutter, ohne das Klavier. Sie sollte gar nicht wissen, daß er nicht in der Schule war. Voller Angst, die Mutter könne kommen, ehe er verschwunden wäre, suchte er nach einem Versteck, sah den Schlüssel zu unserer Wohnung hängen, nahm ihn — und alles andere hörte ich dann. Da er noch niemals zu uns heraufgehen durfte, kannte er sich nicht aus und irrte durch alle Zimmer.

Wir unterhielten uns lange, flüsternd und nebenein­ander auf dem Fußboden sitzend.

Pünktlichst 12 Uhr 45 pflegte Herr Mozert die Haus­türe zu öffnen, um fünf Minuten später am Mittagstisch zu sitzen.

Kurz vorher standen wir beiden Hinkefüße auf.»Hier stehen Bücher für dich zum Lesen«, sagte ich

leise, als wir am Bücherregal vorbeischlichen. »Du kannst also jederzeit heraufkommen, wenn du Lust und Mög­lichkeit dazu hast. Egal, ob ich da bin oder nicht.«

Er nickte glücklich.»Ade, Christiane«, flüsterte er und benutzte den lauten

Redeschwall, mit dem seine Mutter den heimkehrenden Gatten begrüßte, um ungesehen und ungehört die Treppe hinunterzukommen.

Seit fast zwei Stunden übt das »Amadeusle« wieder. Immer dieselbe Haydn-Sonate mit immer denselben Feh­lern an immer denselben Stellen. Und da soll mein Fuß heilen!

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11. Juni

Er heilt dennoch! Ich kann schon ziemlich schnell und schmerzlos hinken, und wenn ich erfahre, daß morgen keine unangenehme Arbeit droht, werde ich wieder zur Schule gehen.

Ich muß nur noch Horst und Hilde abwarten, die am Nachmittag mit den neuesten Neuigkeiten kommen wollen.

Bis dahin habe ich eine nette Beschäftigung: Ich suche mir aus den Stellenangeboten in den Zeitschriften und Zeitungen, die mir Constanze vorhin brachte, eine pas­sende Stelle für die großen Ferien heraus. Mutter will, daß ich während der Ferien nun zu Tante Gerda fahre — ich habe keine Lust, weil es für beide Teile ziemlich anstrengend würde. Ich wollte lieber hierbleiben, mir je­manden einladen, viel schwimmen und so weiter. Nun liegt mir aber die Familie Mozert auf den Nerven, und ich sehe auch nicht recht ein, weshalb ich nicht einmal etwas ganz anderes, ganz Neues unternehmen soll.

Ich suche etwas in einer hübschen Gegend, mit nicht viel Arbeit und um so mehr Bezahlung. Ferienvertre­tung in einem Haushalt oder so.

Abends: Sie schreiben morgen eine Englisch-Arbeit. Ohne mich. Ich werde meinen Knöchel noch einen Tag länger pflegen. Hilde brachte mir eine neue Aufnahme von Maria Schell mit. Sie weiß, daß ich sie schätze. (Na­türlich nur zu einem Teil. Die andere Christiane mokiert sich über so etwas!) Wir haben über meine Ferienpläne gesprochen. Horst und Hilde wollen zu Hause alle ein­schlägigen Inserate durchsehen. Wir finden bestimmt etwas. Vielleicht so:

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Mallorca!!

Ehrliche Kraft gesucht, die alleinstehende Villa für vier Wochen bewohnt und die Pflege von Zimmer­pflanzen und Kanarienvogel übernimmt. — Besol­dung nach TOA xyz. Reisekosten werden übernom­men.

Mit diesem schönen Traum gehe ich ins Bett!

12. Juni

Sechs schwach-rötliche Erdbeeren gefunden und ge­gessen. Wäsche gewaschen. Wohnung geordnet. Mittags Salat aus dem Garten. Bin bester Stimmung, weil ich die englische Arbeit und die Probe heute spare. Fuß geht es prima.

13. Juni

In der Schule war es prächtig: Schüler nett; und Lehrer nett. Man sollte ab und zu einmal fehlen, dann merken sie erst, was sie an einem haben! Hahaha!

Auf meinem Tisch lag ein Stoß Zeitungspapier. Lauter Anzeigenseiten, von der ganzen Klasse gesammelt und teilweise rot angestrichen. In der Pause las ich alles An­gestrichene vor:

»Warmherzige Persönlichkeit« — »Perfekte Köchin« — »Kindergärtnerin mit überragenden pädagogischen Fähigkeiten« — »Keine Angst vor Schlaflosigkeit« — »Zuverlässige Stütze« — »Saubere, ehrliche Tochter in die Schweiz« — »Gedächtnisschwäche?« — »Alleinstehende Dame« — »Müssen Frauen leiden?« — »Sekretärin mit Matura« — »Rüstige Rentnerin« — »Zu früh verbraucht?« — »Blondes Mädel zur Motorrollerfahrt nach Italien,

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getrennte Kasse« — »500 Bräute für USA« — »Schäl- kur beseitigt Sommersprossen« — »Anmutige junge Dame« — »Gepflegte Säuglingsschwester«.

An Schwestern und Hausgehilfinnen scheint der größte Mangel zu herrschen. Ich werde zu Hause alles durchlesen und finde vielleicht doch etwas. In der Schule haben wir so gelacht, daß wir Frau Dr. Wagners Kommen über­hörten und einen kräftigen Krach kriegten. Viel zu kräftig für unsere Klasse. Als sie hörte, woher unsere despektierliche Heiterkeit kam, hielt sie uns einen Vor­trag über Sinn und Zweck der Sommerferien.

Ihre Meinung: Sie sind für die Muße da.Meine Meinung: Sie sind dafür da, daß man endlich

etwas erlebt.

14. Juni

Eine Schwester Christel ist heute nachmittag hier ge­wesen. Petra hat sie geschickt, damit sie nachsieht, wie es mir in meiner Eremitage geht. Sie ist auch Säuglings­schwester, sehr lustig und war auf der Fahrt nach Stutt­gart. Ihren Urlaub will sie brav bei den Eltern verleben. Ich erzählte ihr von meinen Urlaubsplänen und zeigte ihr die beiden Angebote, die ich gestern abend aus dem Papierhaufen herausgelesen habe. Für eine alte Dame auf Borkum wird eine Hilfe und Gesellschafterin gesucht. Vier Wochen lang an der Nordsee sein, das wäre nicht übel, vor allem für eine nach dem Süden verschlagene Holsteinerin, wie ich es bin.

Das andere ist ein alleingelassener Säugling am Boden­see, der für ein Vierteljahr Betreuung braucht.

Die Nordsee wäre mir lieber, aber ich will an beide schreiben.

Schwester Christel hatte eine gute Idee. Sie meinte,

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wenn die alte Dame und der Säugling unter verschie­denen Bewerbern zu wählen hätten, würden sie kaum das Mädchen aus Ebenheim nehmen, weil Ebenheim so beschränkt klingt und nicht jeder weiß, was es für ein aufstrebender Kulturmittelpunkt im süddeutschen Raum ist.

Sie will mir, da sie eine Schreibmaschine besitzt, die beiden Briefe tippen, mit ihrem Namen unterzeichnen und an ihre Adresse in Stuttgart die Antwort schicken lassen. Sie macht es heute noch und schreibt mir sofort, wenn sie etwas hört. Das mit dem Namen werden wir im Ernstfall sofort korrigieren. Christiane Andresen klingt mindestens ebenso ehrlich und zuverlässig wie Christel Amberg.

Ich habe Schwester Christel eben an die Bahn begleitet, ihr elf Erdbeeren als Reiseproviant mitgegeben (die heutige Ernte) und bin nun recht gespannt, was bei unserer Sache herauskommen wird. Sie hat Vollmacht, gleich zuzusagen, am liebsten bei der Nordsee-Dame.

15. Juni

Sonntag. Es regnet, und ich habe nur sehr mühsam meinen müden Leib aus dem Bett gebracht und in die Kirche ge­zwungen. Und das auch nur, weil ich weiß, daß Mutter traurig ist, wenn ich nicht gehe und den Sonntag einfach zerfließen lasse. Ob es anderen auch so geht, daß sie sich manchmal zum Kirchgang zwingen müssen?

Bin ich erst auf dem Weg, ist alles gut. Den oberen Teil des Kirschbergstolperweges laufe ich meistens, weil ich immer spät dran bin; weiter unten, etwa von Lämmles Haus an, wo die Gegend zivilisierter wird, gehe ich in ein sonntagvormittägliches Tempo über, grüße die Mitkirch­

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gänger, freue mich über das saubergefegte Kopfsteinpfla­ster, über die bunten Häuser, deren Giebelseiten zur Straße stehen, und gehe auf unsere alte, graue, schöne Kirche zu.

Sie ist wirklich schön. Ziemlich reiner romanischer Stil. Draußen, in der Neubaugegend, wollen sie jetzt einen Saal für Gottesdienste bauen. Da hinein würde ich nicht gehen, ein Saal ist keine Kirche.

Na, ist Ansichtssache. Die Predigt heute war nicht so langweilig wie die vor vierzehn Tagen. Es ist schade, daß Pfarrer Erdmann nicht mehr da ist. Erdmanns sind eine voll und ganz erfreuliche Familie, aber wenn ein Pfarrer etwas kann, dann bleibt er nicht allzulange in einer Klein­stadt. Für uns genügt anscheinend ein Anfänger oder einer, der langweilig predigt. Er selbst, Pfarrer Bogner, ist ganz ordentlich, aber seine Frau ist sehr hochnäsig und recht unfreundlich.

Schade, gerade in einer Kleinstadt kommt es so sehr auf die Persönlichkeit der Frau an.

Es ist überhaupt komisch, was für Frauen sich die Männer manchmal aussuchen. Ich kenne mehrere ganz unbegreifliche Fälle, und dabei gibt es so nette unver­heiratete Mädchen! Aber wahrscheinlich fehlt denen das »gewisse Etwas«!

16. Juni

In einer Stunde — 20 Uhr — muß ich zur Probe in der Schule sein. Die anderen haben bereits zwei Proben hinter sich — ich komme zum erstenmal dazu.

So recht begeistert waren sie bisher nicht, aber das kann ja noch kommen. Oder liegt es an Ingrid-Friederike? Da kann ich kein Mitleid haben, sie sind selbst schuld.

Ich habe mir gestern das Stück noch einmal durchge- lesen — meine komische Alte (sie ist mir immer noch ein

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Greuel!) besonders —, habe alles überlegt und mir vor- genommen, meine Rolle so gut zu spielen, wie ich nur kann. Schließlich kommt’s immer mehr aufs Wie an als aufs Was!

Ich muß gehen. Mein Rad ist nämlich platt, und ich muß zu Fuß loshinken. Will sehen, ob ich morgen einen finde, der mir für zwei Seiten Übersetzung (Heftseiten!) den Reifen flickt.

17. Juni

Langer, lieber Brief von Mutter da — ich schreibe gleich einen ebensolchen und drum heute nichts in mein »Haushaltungsbuch«.

18. Juni

Als ich aus der Schule kam, lag ein Päckchen von Tante Gerda auf der Treppe. Schnell hinaufgerannt, die Schnur durchgeschnitten, Papier auf den Teppich fallen lassen, noch einen Bindfaden und dann endlich freie Bahn für meine Neugier! Mutter hatte das Päckchen gepackt und über Tante Gerda an mich geschickt, damit ich keine Zoll­schwierigkeiten habe.

Inhalt: ein Pfund dänische Butter, ein Pfund Käse derselben Nationalität und eine wundervolle, dicke, schneeweiße Wolljacke. Typisch Mutter: Sie nimmt Weiß, weil es so schön aussieht, ohne Rücksicht auf irgend­welche praktischen Gesichtspunkte. Bis jetzt ist sie noch schneeweiß, obwohl ich sie schon ausgeführt habe und mit ihr zum Markt gegangen bin, in der Eisdiele zweimal zu 10 Eis gegessen und Jürgen, Horst und Hilde ge­troffen habe, mit denen ich dann noch einmal um den Markt herumbummelte. Sie bewunderten meine Jacke gehörig, von stummen Bewunderern konnte ich einige

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diesbezügliche Blicke ernten und dann befriedigt meinen Kirschberg wieder hinaufsteigen, um die Paketreste auf­zuräumen und Käsebrote zu essen.

19. Juni

Heute habe ich mein Rad selbst geflickt. Ehe einer der Jünglinge sich erbarmt, wird es Weihnachten — und Gehen ist mir zu langweilig. Vor allem, wenn fast jeden Nachmittag eine Theaterprobe ist. Das Stück ist fad. Viel­leicht sind’s aber auch nur die Schauspieler?

Feststeht, daß noch keiner von einem genialen Funken berührt wurde und daß ich heute der allgemeinen Schlaff­heit mit Käsebroten zu Leibe rücken will.

Mutters Käse stinkt penetrant durchs ganze Haus, aufessen kann ich ihn nicht so schnell, Mozerts will ich ihn nicht schenken, weil sie seit gestern im Treppenhaus laute Selbstgespräche führt über die Notwendigkeit des täglichen Fußwaschens.

Um nicht länger in dem unhygienischen Verdacht zu stehen, werde ich den Käse des Anstoßes entfernen, auf Brote streichen und meinen lieben Mitschauspielern zu essen geben. Vielleicht kommen sie dann in Stimmung. Den großen Rucksack habe ich schon vom Boden geholt.

20. Juni

Ich warte sehr auf Nachricht aus Stuttgart. Nichts rührt sich. In der gestrigen Probe hat sich aber ver­schiedenes gerührt. Der erste Akt verging mit dem üblichen Steckenbleiben an den üblichen Stellen, wurde wiederholt und war genauso freudlos. Mein Ruck­sack hing an einem Kleiderhaken im Zeichensaal — in dem diesmal die Probe stattfand — und stank leise, aber eindringlich vor sich sich hin. Dr. Wagner

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stellte fest, daß heute »auffällig schlecht gelüftet« sei, und ließ alle Fenster aufsperren. Mich erheiterte das so sehr, daß sich mein Auftritt am Schluß des Aktes eben­falls heiter gestaltete.

Dann kam die Pause. Ich verteilte die Brote. Alle nahmen, alle aßen (auch Ingrid — sie wohl aus Ver­zweiflung, denn nur, wenn man selbst mitaß, merkte man den Geruch nicht so, den die anderen verbreiteten). Diese unerwartete Atzung ermunterte uns faule Akteure der­maßen, daß wir plötzlich beschwingt spielten wie noch nie und unsere Regisseurin Wagner endlich anfing zu­frieden zu werden.

Daß die Spielleidenschaft bei unserer Klasse durch dänische Käsebrote hervorzulocken ist, hatte sie nicht geahnt.

21. Juni

Nach der Meinung des Kalenders soll heute der Som­mer beginnen, in der Zeitung ist gestern bereits etwas darüber gestanden, und ich war bis jetzt auch der Mei­nung. Er selbst richtet sich aber nicht danach, und so sitze ich frierend, von Bademantel und Trainingshose notdürftig erwärmt, am Schreibtisch, derweil der kalte Wind den Regen gegen die Fenster treibt.

Das wäre alles halb so schlimm, wenn nicht: 1. meine Wäsche seit vorgestern klitschnaß auf der Leine hinge, 2. unser Dach plötzlich ein Loch hätte, durch das das Regenwasser ins Schlafzimmer dringt und melodisch und unregelmäßig in eine untergestellte Blechschüssel tropft, 3. ich heute abend zu einer Serenade gehen müßte, die Kantor Rose zur Begrüßung des Sommers im verwilder­ten Schloßpark zwischen dem zerfallenen Teehaus und dem etwas abgestoßenen sandsteinernen Pan veranstaltet. Es ist da recht stimmungsvoll und eine gute Akustik. Bei

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schlechtem Wetter findet die Sache im Saal statt. Über die Schlechtigkeit dieses Wetters besteht kein Zweifel. Also: auf in den Saal. Er ist oben im Schloß, das seit Jahren Altersheim und seit einiger Zeit sehr schön rokoko­mäßig wiederhergestellt ist.

Aber der Weg von unserem Berg auf jenen Berg ist bei solchem Wetter eine Strafe.

Da ich eine Ehrenkarte habe, muß ich doch wohl gehen. Die Ehre sowohl wie die Karte gebühren nicht mir, son­dern den musikalischen Gliedern der Familie Andresen. Mutter zum Beispiel oder Andrea, die wirklich außer­gewöhnlich begabt ist. Bei Martina hat sich’s mehr aufs Zeichnen verlagert, aber sie spielt gut Geige — und Petra so gut Flöte, daß es mir recht leid tut, daß sie ihre Perlen so vor die Säue, besser gesagt: ihr Talent wegen der Säuglinge anderer Leute, weggeworfen hat. Ich hätte es nicht getan, komme auch nicht in diese Verlegenheit, denn ich habe kein Talent, das ich wegwerfen könnte.

Bei mir ist alles mittelmäßig.Etwas musikalisch — Resultat jahrelanger Mühen: leid­

lich gespielte Mozart-Sonaten.Etwas intelligent — Resultat vieler Schuljahre: immer

im letzten Drittel der Klasse.Etwas interessiert — an so vielen Dingen ein wenig und

an nichts endgültig.So könnte ich die Liste lange fortsetzen — es ist im­

mer das gleiche.Und was soll aus solch einem Mädchen werden?Mutter ist durch ihre drei anderen Töchter so verwöhnt,

daß es ihr völlig unfaßlich ist, daß ich noch nicht weiß, was ich einmal werden will.

Bei Andrea war alles klar: Musik, Orgelspielen und angrenzende Gebiete — damit wird sie ihr Leben lang glücklich sein.

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Martina war auch recht zielstrebig: irgend etwas mit Zeichnen oder Mode oder schönen Gegenständen sollte es sein. Es wurde dann Innenarchitektur.

Petra hatte schon als Kind einen Hang zu kleinen Kin­dern und zum Praktischen — aufgelockert durch Flöten­spiel —, und als sie sechzehn war, wußte sie, daß sie Säuglingsschwester werden würde. Sie ging von der Schule ab, half ein Jahr zu Hause, war ein Jahr in Schwe­den und lernt nun an Münchener Babys alle Kniffe der Pflege.

Christiane —? Ich glaube, dieses Mädchen, weiß fünf Minuten vor der Matura noch nicht, was es danach an­fangen soll! (Und die Matura macht es auch nur, weil es sonst nicht weiß, was es tun soll. Diese blamable Tat­sache muß einmal ausgesprochen werden!)

22. Juni

Ich sollte die alten Damen im Schloß viel häufiger be­suchen. Sie freuten sich so sehr, als ich sie gestern vorm Konzert kurz begrüßte, daß ich wußte, es sei viel wich­tiger, bei dem alten Fräulein Hagelstange am Bett sitzen zu bleiben und ihr ein paar erfreuliche Geschichten zu erzählen. — Und trotzdem ging ich hinunter in den Saal.

Ich will sehen, daß ich morgen einen Besuch machen kann. Weshalb tut man eigentlich so viele Dinge nicht, von denen man ganz genau weiß, daß sie richtig sind?

23. Juni

Mein kleiner Freund besucht mich fast täglich, sobald die Mutter nicht da ist. Er scheint sich wohl zu fühlen. Noch immer keine Nachricht von Schwester Christel. Jürgen hat mich für morgen abend zum Sommerfest eingeladen.

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24. Juni

Ich gehe nicht sehr gern, aber einen glaubhaften Grund zum Absagen fand ich nicht. Der Tennisklub will ein Sommerfest mit Johannisfeuer, Tanz und so weiter ver­anstalten.

Ich war früher auch einmal bei dem Verein. Seit einem Jahr nicht mehr, hatte keine Lust.

Von den Mädels meiner Klasse gehen nur Ingrid und Hilde. Jürgen sagte mir heute, er wolle mit mir gehen, weil es wahrscheinlich fad würde und ich dafür bürge, daß es zumindest an seinem Tisch dann amüsant wäre.

Nun weiß ich, woran ich bin: Ich habe wieder einmal als approbierter Spaßmacher zu fungieren.

Das einzige, was mich reizt an diesem Abend, ist mein hübsches Tüllkleid, das ich von Martina geerbt habe. Sie hat immer so hübsche Sachen. Schade, daß sie mir ihren kleinen Sohn nicht anvertrauen will und es hintenherum an Mutter schreibt!

25. Juni

Der gestrige Abend ist nichts Besonderes gewesen, son­dern genauso, wie ich ihn mir vorgestellt hatte: Rede des Vorstands und viel Tanzen. Da ich gern tanze, war es erträglich.

Ich würde ihn bestimmt schnell wieder vergessen, wenn nicht zwei Dinge passiert wären, die auf mich einen ziemlichen Eindruck gemacht haben.

Zunächst der Herr Wittike. Ein Zahnarzt aus unserer Kreisstadt, der früher hier wohnte, Tennis spielte und als Ehrengast eingeladen war, hatte ihn mitgebracht, und er war beinahe eine Attraktion, weil er der einzige Fremde an diesem Abend war. Sonst kennt sich hier in Ebenheim alles. Er tanzte ab und zu. Einen Tanz auch

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mit mir. Vielleicht hatte er Ingrid »mit dem gewissen Etwas« holen wollen, aber die ging gerade mit Jürgen davon, so verbeugte er sich vor mir.

»Wittike.«»Andresen.«Statt mich zur Tanzfläche zu führen, blieb er stehen,

besah mich kritisch (machte mir nichts aus: mein Kleid war einwandfrei und hübsch) und fragte dann: »Martina? Petra? Christiane?«

»Christiane«, sagte ich total verdattert. Wieso wußte dieser völlig unbekannte, noch niemals in Ebenheim auf­getauchte Mann von uns?

»Hatte ich mir ganz anders vorgestellt: mit engen Drei- viertelhosen, Pullover und so. — Das nenne ich eine Überraschung!«

»Ich auch!« sagte ich.Wir lachten und gingen tanzen.Es stellte sich heraus, daß er in Frankfurt wohnt und

schon oft mit Andrea musiziert hat. Er ist sehr nett und sieht sehr gut aus. Andrea scheint ihm viel von uns er­zählt zu haben, denn er wußte ziemlich alles, auch daß Mutter verreist ist. Ich trug ihm Grüße auf an meine Schwester. Wenn ich Andrea wäre, würde ich mich in ihn verlieben, aber die verliebt sich niemals — und für mich ist er zu alt. Sicher dreißig oder so.

Kurz nach dem Tanz fuhr der Zahnarzt mit ihm wie­der davon, und wir anderen stiegen durch den Wald hin­auf zum Kirschberg, um dort oben — ein ganzes Stück höher als unser Haus und von Ebenheim und allen um­liegenden Dörfern zu sehen — das Johannisfeuer abzu­brennen.

Wenn ich gewußt hätte, was mich da noch erwartete, hätte ich mich auf einem der mir wohlbekannten Pfade davongeschlichen. So stand ich nichts ahnend neben Jür­

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gen, zwischen den anderen, sah zu, wie die Flammen aus dem Holzstoß loderten und wunderbar vor dem schwar­zen Nachthimmel standen und dann langsam kleiner und schwächer wurden. Ich hatte dabei das bestimmte Gefühl, daß ein Klub, dessen Gemeinsamkeit nur im Tennisspiel oder einem anderen Sport besteht, kein solches Feuer ent­zünden sollte. Dazu braucht es eine tiefere Gemeinschaft. Unserem Tennisklub waren die bunten Lampions viel an­gemessener. Das Feuer paßte jedenfalls nicht zu ihm, es war zu echt.

Als es heruntergebrannt war, begann das Feuersprin­gen. Ich hatte Angst um mein Kleid, aber Jürgen sagte, es sprängen alle jedes Jahr hindurch, und noch nie habe ein Kleid Feuer gefangen, auch der tülligste Tüll nicht.

Also los. Er faßte mich fest, wir liefen, sprangen, ka­men gut auf der anderen Seite an.

Dort gab er mir einen Kuß und ich ihm eine Ohr­feige. —

Damit war das Sommerfest für mich zu Ende.Er blieb beleidigt und wütend dort, ich ging wütend

und beleidigt nach Hause. Das war also mein erster Kuß! Der berühmte, von dem jeder zweite Schlager träumt und schwärmt. Na, ich weiß nicht, ich hatte mir das anders vorgestellt und hatte keinerlei schöne Gefühle dabei. Ich war nur wütend, und mein einziger Trost bei dieser bla­mablen Angelegenheit ist die Ohrfeige, die ich Jürgen ver­paßt habe. Ehe mein Hirn überhaupt registriert hatte, was vorgefallen war, funktionierte meine Hand.

Man hat es nicht leicht, wenn man als Mädchen zur Welt gekommen ist!

In der Schule nichts Besonderes. Jürgen tat, als wäre nichts vorgefallen. Ich auch.

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26. Juni

Endlich ist Nachricht von Schwester Christel da! In Gestalt einer Karte wartete sie auf mich, als ich aus der Schule kam:

»Liebe Christiane! Heute kann ich Dir endlich etwas Schönes schreiben: Du kannst im Juli bei dem Baby an­fangen. Die Nordsee-Dame hat abgeschrieben. Sie hat schon jemanden aus Hamburg (da kommt ihr das Fahr­geld nicht so teuer). Der Säugling wartet sehnlichst auf Dich, und ich frage auf dieser Karte nur schnell, wann Du frühestens dort anfangen kannst. Schreibe mir sofort, ich melde es weiter und schicke Dir inzwischen den Brief, den mir die Mutter des Kindes geschrieben hat. — Vielleicht hast Du noch irgendwo in der Nachbarschaft die Möglich­keit, Dich in der Säuglingspflege zu vervollkommnen, denn eine kleine Ahnung solltest Du haben, damit dem Kind nichts passiert. Bald mehr und herzliche Grüße

Deine Christel Amberg.«

Also das süddeutsche Baby! Schön! Sehr schön! Wun­derschön!

Ich habe sofort in der alten Kommode gewühlt und habe tatsächlich drei weiße Schürzen von Petra gefunden, die sie nicht mit nach München nehmen konnte, weil sie einen falschen Schnitt haben. Für mich gerade richtig. Was mache ich für einen sauberen und redlichen Eindruck!

27. Juni

Habe heute in der Klasse von meiner erfolgreichen Be­werbung berichtet. Großes Hallo. — Habe dann nach einem Probe-Baby gefragt, aber niemand hat so etwas in der Familie.

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»Gib doch einfach eine Anzeige in den >Ebenheimer Nachrichten< auf: Bin bereit, Säugling nachmittags von 14 bis 19 Uhr zu betreuen gegen geringes Entgelt. Ange­bote unter — ich weiß nicht was«, riet Moni. Ich habe sofort in der Mathematikstunde das Inserat verfaßt (nur »geringes« habe ich auf Anraten aller weggelassen) und auf dem Nachhauseweg bei den >Nachrichten< abgegeben.

28. Juni

Mutter schickte schöne Bilder von der dänischen Land­schaft. Ich habe großes Heimweh nach der See. Wie gern würde ich dort schwimmen und den Wind spüren, wie gern den Geruch von Wasser, Teer, Fischen und Algen in der Nase haben! Wie gern auch Mutter wieder einmal sprechen oder sehen!

Wir verstehen uns nämlich sehr gut. Vor allem, seit sie so oft verreist ist und seit ich ohne Schwestern bin. Manchmal hat sie ja auch ihre Mucken — aber die habe ich auch —, und manchmal sind ihre Anschauungen doch ein wenig von gestern, aber im großen und ganzen kann ich recht zufrieden mit ihr sein. Bin ich auch. Ich freue mich auf ihr Wiederkommen. Hauptsächlich, weil ich dann wieder jemanden habe, mit dem ich etwas durch­sprechen kann, was mir unklar ist — in zweiter Linie, weil ich dann nicht mehr das astrologisch gewürzte Mit­tagessen der Frau Mozert einnehmen muß.

Manchmal überlege ich mir, was wohl Vater für ein Mann gewesen ist und wie unser Leben geworden wäre, wenn er noch lebte. Ob Mutter viel an ihn denkt? Oder ob die Erinnerung an ihn immer blasser wird und über­deckt ist von der Gegenwart? Siebzehn Jahre sind eine lange Zeit. Mein ganzes Leben. Und das erscheint mir manchmal sehr lang.

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29. Juni

Es ist heute wundervoll warmes Wetter gewesen. Ich hatte das Badezeug mit zur Schule genommen, Frau Mo­zert einen Zettel hinterlassen mit der Nachricht, daß ich heute nicht bei ihr esse, und fuhr nach der letzten Stunde gleich nach Kleinheim ins Bad. Ehe die anderen sich von ihren bürgerlichen Mittagstischen gelöst hatten und im Bad erschienen, war ich schon verschiedene Runden ge­schwommen und um einige Nuancen brauner geworden.

Hoffentlich ist am Bodensee schönes Wetter — und wehe, wenn der Säugling nicht wirklich ganz nahe am See wohnt! Vielleicht bezeichnet man die Lage eines vier Kilometer entfernten Hauses auch noch mit »am Boden­see«, um mehr Bewerber zu kriegen, und ich darf dann täglich den Kinderwagen hin und her schieben?

Bis zum Dunkelwerden habe ich Friedrichs bei der Heuernte geholfen. Ganz schnell und ohne Regen ist es in diesem Jahr trocken geworden, und mir tut es leid, daß der köstliche Duft nun in Friedrichs’ Scheune gestapelt ist und nicht mehr um unser Haus herumweht.

Ich habe gesehen, daß die Kirschen bald reif sind.Von Mutter kam ein Brief aus Schweden.

30. Juni

Mein Dasein beginnt interessant zu werden.Sonne, Wärme, Badezeug, Zettel an Frau Mozert —

alles wie gestern. Nur fuhr ich nach der Schule bei der Zeitung vorbei, um mich nach eventuellen Angeboten zu erkundigen. Es waren vier Umschläge da.

Meine Neugier war so groß, daß ich sie nur bis zum Marktplatz bändigen konnte. Dort lehnte ich das Rad an eine Linde, setzte mich auf den Brunnenrand, öffnete den ersten Umschlag und las zu meiner Verblüffung,

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daß mein Angebot zersetzend auf die Moral der Eben- heimer Mütter wirken müsse, da sie sich dann für billi­ges Geld ihrer Kinder entledigen und ihrem Vergnügen nachgehen würden. Unterschrift war nicht vorhanden. Anonymus aus dem 20. Jahrhundert! Ich werde den Schrieb morgen in der Pause vorlesen. Die anderen sol­len auch eine Freude haben! Nachdem ich so vorbereitet war, öffnete ich den nächsten Umschlag.

Maschinenschrift. Eine Frau schrieb, sie sei nachmittags immer sehr stark damit beschäftigt, ihrem Mann beim Korrigieren der Hefte zu helfen, und wäre deshalb sehr froh, wenn... und so weiter. Mir ahnte Übles. Die Un­terschrift bestätigte meine Ahnung: Frau Studienrat We­ber. Studienrat ist zwar nicht sie, sondern er — und mir war sofort klar, daß ich meine nicht vorhandenen Kenntnisse in der Säuglingspflege nicht ausgerechnet an Webers Baby ausprobieren werde, damit sie die dadurch erübrigte Zeit verwendet, um möglichst viele Fehler in meiner Mathematikarbeit zu finden. Nein, meine Dame!

Weitere Interessenten: Frau Langbein in der Haupt­straße und Frau Schröder im Ahornweg. Letztere war mir unbekannt, wahrscheinlich erst vor kurzem nach Ebenheim gezogen — diese Wege da draußen sind eine Neubaugegend. Frau Langbein kenne ich. Sie ist die Bäckersfrau von der kleinen Bäckerei an der Marktecke, die so gutes Eis hat.

Um nicht in den Verdacht zu kommen, des Eises we­gen den Bäckersprößling auszufahren, radelte ich zunächst in den Ahornweg. Er war mehr Feld als Weg, aber im­merhin trocken. Bei Regenwetter ist da wohl kein Kinder­wagen durchzubringen.

Frau Schröder kam mir wortreich entgegen. Das Kind sei zwar schon zwei Jahre alt, aber es sei so lebhaft, daß sie es allein nicht bändigen könne. Sie sei mit den

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Nerven völlig am Ende. — Als sie soweit war, begann ein furchtbares Gebrüll in irgendeinem Zimmer. Ich blickte ängstlich, weil ich dachte, das Kind habe sich verbrüht oder sich sonst etwas Furchtbares angetan.

»Sie will nur nicht einschlafen«, sagte die Mutter be­ruhigend zu mir. »Das ist jeden Mittag so, dauert aber höchstens eine halbe Stunde. Danach schläft sie etwas.«

Ich sagte, daß ich speziell für Säuglinge geeignet sei, ihr aber raten möchte, eine Anzeige in den >Nachrichten< aufzugeben.

Dann fuhr ich zu Langbeins. Frau Langbein kennt mich (wir kaufen da immer die Brezeln), ich erklärte ihr, wieso ich auf den Gedanken gekommen sei, und daß ich von Babys gar nichts verstünde.

»Das haben Sie gleich ’raus«, tröstete sie mich, nahm mich mit ins Schlafzimmer und zeigte mir das arme Kind, das für zwei Wochen meiner Pflege anvertraut werden sollte.

Es brüllte, denn es war Zeit zur nächsten Mahlzeit, und ich fand es sehr häßlich. Frau Langbein zeigte mir, wo die Windeln liegen, wie man sie zusammen- und dann um das Kind schlingt (ich mußte es gleich probieren), er­klärte mir alles Notwendige und ließ mich dann mit Flasche und Sohn allein. Die Sonne schien verführerisch, ich saß in Bäcker Langbeins Schlafzimmer, unschlüssig, was ich nun mit der geleerten Flasche und dem gefüllten Baby anfangen sollte. Unschlüssig auch, was ich mit diesem so anders gewordenen Nachmittag anfangen sollte. Ich dachte betrübt an mein Badezeug in der Schulmappe, denn so schnell hatte ich meinen neuen Beruf nicht an- treten wollen.

Als sich die Tür öffnete und die Bäckermeisterin mit dem Geruch von frischgebackenem Brot eintrat, erlöste sie mich von jeglichem Zweifel, nahm Flasche, Kind und

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mich, legte den Knaben in einen ältlichen Kinderwagen, deckte eine Felldecke darüber, auf die sie zwei Brezeln legte für das »Fräulein Christiane«, und entließ uns mit der Bemerkung, daß ich pünktlich um sechs Uhr hier sein müsse. Nach dem Trockenlegen und Füttern könne ich dann gehen.

Leicht erschöpft schlich ich mit dem Wagen dahin, durch die leersten Gassen, denn mit solch einem uralten Kinder­wagen wollte ich von niemandem gesehen werden. Ich hatte Glück: Bei Hitze sind die Ebenheimer Kinder im Bad, und die Erwachsenen, die nicht arbeiten, verstecken sich in den kühlen Häusern. Ich bewegte mich langsam auf den Schloßberg zu und dort auf die Bank im Holun­dergebüsch, die sonst nur von Liebespaaren besucht wird, weil sie so versteckt liegt. Alle anderen meiden sie, denn der Holunder wimmelt im Sommer von Blattläusen.

Heute waren mir die Blattläuse egal. Ich suchte eine menschenleere Stelle und war glücklich, als ich sie gefun­den hatte und in Ruhe meine Brezeln essen konnte.

Der Knabe, von dem ich weder weiß, wie alt er ist, noch wie er heißt, war so freundlich, fast die ganze Zeit über zu schlafen. So konnte ich meine Hausaufgaben ma­chen und mich langsam mit der neuen Situation anfreun­den.

Als Lohn bekam ich zwei Mark und eine Riesenportion Eis.

Morgen bin ich dann schon seelisch vorbereitet auf das, was mich bei Langbeins erwartet, da geht es sicher besser.

Der Sohn heißt Bernd und ist vier Monate alt.

1. Juli

Mein Dasein wird noch viel interessanter! Nach der Schule fuhr ich sofort nach Hause, verbrannte mir an

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Frau Mozerts Kirschauflauf die Zunge und ging in die Wohnung, um mich abzuduschen, umzuziehen, notdürftig Ordnung zu machen und dann gleich »zur Arbeit« zu fah­ren. Außer dem Umziehen (und der Fahrt zur Arbeit natürlich!) unterblieb alles, denn ich fand einen Brief im Kasten, der alle Pläne über den Haufen warf.

Absender war Schwester Christel und Inhalt war 1. der Absagebrief von der Nordsee, 2. der Zusagebrief vom Bodensee und dann noch ein Schreiben dieser Dame, nach­dem Christel endgültig zugesagt und den 15. Juli als An­fangstermin genannt hatte. Die Absenderin dieser beiden Briefe kenne ich, kenne ich sogar sehr gut — sie ist meine Schwester Martina! Martina, die es nicht wagte, mir ihren kleinen Sohn anzuvertrauen! Jetzt wagt sie es, ihn irgend jemandem, der sich auf eine Anzeige hin meldet, zu über­geben! Ich kann das nicht begreifen. Daß nun ausgerech­net ich auf dieses Inserat antworte und sie mich nimmt, das ist so unglaublich, daß ich zunächst gar nicht begreifen konnte, wieso Schwester Christel zu Briefen von Martina kommt.

Als ich heute nachmittag »unterm Holderstrauch« ge­sessen bin, habe ich mir überlegt, daß ich die Korrespon­denz weiter auf Schwester Christels Adresse und Namen laufen lassen werde. Wenn dann die Säuglingsbetreuerin am 15. Juli ihren Dienst an- und vor Frau Martina Mer­tens hintritt, wird sie mich wohl kaum wieder weg­schicken. Vielleicht ist sie sogar ganz froh, daß sich nun doch jemand von der Verwandtschaft um Klein Florian annimmt — auch wenn’s nur die Christiane ist.

Die beiden Briefe lege ich auch in mein »Haushalts­buch«.

»Sehr geehrtes Fräulein Amberg!Ich komme hiermit auf Ihr Angebot vom 15. Juni zu­

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rück. Es würde mich freuen, wenn Sie zu uns kommen könnten, und vor allem, wenn es möglichst bald sein könnte. Ich sollte schon am 1. Juli nach Italien fahren, um dort die Inneneinrichtung für ein Hotel, das mein Mann baut, vorzubereiten. Es handelt sich um etwa acht Wochen, in denen unser kleiner Sohn allein sein würde und eine Pflegerin braucht. Er ist vier Monate alt und ein gesundes, liebes Kind. Sie werden keine Schwierigkeiten mit ihm haben. Unser Haus liegt direkt am See, nicht gerade im neuesten Stil erbaut, aber recht gemütlich. Es wohnt weiter niemand darin. Zum Schutz ist ein Hund da.

Wenn Sie sich vorstellen könnten, wäre es mir lieb. Da alles sehr eilt, würde es auch genügen, wenn wir uns bei Ihrem Dienstantritt kennenlernen.

Schreiben Sie mir bitte umgehend, wann Sie antreten können und wie hoch Ihre Gehaltsansprüche sind.

Mit freundlichem Gruß Martina Mertens.«

»Sehr geehrtes Fräulein Amberg!Daß Sie erst am 15. kommen können, ist recht betrüb­

lich. Ob es sich nicht doch einige Tage vorverlegen läßt? Ich wäre für jeden Tag dankbar. Mit Ihren Gehaltswün­schen bin ich einverstanden. Die Arbeit ist wirklich nicht schwer, und bei schönem Wetter ist es fast ein Erho­lungsaufenthalt. Hoffentlich empfinden Sie es auch so. Auf Ihren endgültigen Ankunftstermin wartend, bin ich

Ihre Martina Mertens.

NS. Die günstigste Verbindung zu uns ist die mit der Bahn. Ich werde Sie dann am Bahnhof abholen, da unser Haus etwas abseits liegt. Falls Sie über Konstanz kom­men sollten, wäre natürlich eine Schiffahrt sehr reizvoll, nur wesentlich langsamer.

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Oder haben Sie einen Wagen? Dann fahren Sie bis zur Landungsbrücke und biegen dort links ab. Nach etwa 700 Metern sind Sie vor unserem Haus.«

2. Juli

Ich sitze in ziemlicher Bedrängnis — besser gesagt in Bedrängnissen, denn meine Nachmittage fehlen mir sehr. Wenn Mutter hier wäre, hätte ich gut Zeit für das Baby; wenn ich alles selbst machen muß, wird es schwierig. Die Hausaufgaben entstehen größtenteils auf der Bank unter dem Holunder — die werden also erledigt —, aber wann soll ich meine Wäsche waschen, wann die Wohnung sauber machen, wann die Kirschen ernten und verwerten? Lei­der haben wir in diesem Jahr eine übermäßig gute Kir­schenernte. Ich weiß wirklich nicht, wann ich sie alle pflücken soll. Na, wird schon irgendwie werden. Bis jetzt ist es in meinem Leben immer »irgendwie« geworden — und immer gut.

Heute war die Küche aufgeräumt und das Geschirr ge­spült. Eine Dankestat von meinem heimlichen Untermie­ter; nett von Amadeus!

3. Juli

4. Juli

Gestern abend war ich so erledigt von den Ereignissen des Tages, daß ich nur das Datum schreiben konnte. Be­richt folgt heute.

Der gestrige Tag begann damit, daß ich in den Kirsch­kuchen trat, den Frau Mozert am Abend zuvor gebacken

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und zum Auskühlen auf die Steinfliesen unseres gemein­samen Hausflurs gestellt hatte. Da es in der Nähe der Haustür immer dämmrig ist, gestern morgen der Fenster­laden noch zu war, ich im Gehen meine Haare noch ein­mal überkämmte und nicht im entferntesten mit einem Hindernis rechnete, war es mir recht unangenehm, plötz­lich in etwas Weiches zu treten. Als ich festgestellt hatte, woraus es bestand, war es mir noch unangenehmer, und am unangenehmsten war, daß gerade in diesem Augen­blick Frau Mozert kam. Verschlafen und strubbelig schaute sie auf mich, auf meinen Fuß, auf den demolierten Ku­chen, begann seltsamerweise nicht zu schimpfen, ließ mich auch keine Entschuldigung stammeln, sondern sagte nur: »Ich hatte mir so etwas gedacht. Unsere Konstellationen sind denkbar schlecht für heute. Ich habe schon gestern abend nachgelesen. Auf Wiedersehen.«

Damit nahm sie den Kuchen und verschwand.Während ich andere Schuhe anzog, bedachte ich, daß

die Astrologie unter Umständen eine recht beruhigende Wirkung auf ihre Gläubigen auszuüben vermag: im Falle Kirschkuchen war weder Frau Mozert noch ich schuld — es waren die Sterne!

In Latein schrieben wir, völlig überraschend, eine Klas­senarbeit. Die ganze Klasse blickte verzweifelt und über­legte lange, bis sie anfing zu schreiben. Nur zwei schrieben gleich. Das waren Rolf, der große und eifrige Lateiner, und Christiane Andresen, die sich für gewöhnlich im Hin­tergrunde tummelt. Diesmal durfte sie die Früchte ihres Fleißes ernten, wenn derselbe auch nur aus Versehen und Langeweile ausgebrochen war.

Als ich vorgestern mit meinem Pflegling unterm Hol­derbusch saß und den Inhalt meiner Mappe betrachtete, weil ich arbeiten wollte, stellte ich fest, daß ich nur das Lateinbuch mitgenommen hatte. Da ich nicht drei Stunden

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lang sinnieren oder Männchen in den Sand malen konnte und zum Spazierenfahren zu faul war, nahm ich nach einiger Zeit das Buch zur Hand und wiederholte die letzte Lektion. Ich schien doch Glück zu haben — trotz der üblen Konstellation!

Um meine erschöpften Klassengenossen zu ermuntern, erzählte ich nach der Stunde von meinem astrologischen Mißgeschick und von den Kümmernissen, die ich der Kir­schen wegen habe.

Gabi und Moni erboten sich sofort, Sonnabend nach­mittag auf den Baum zu steigen und zu ernten, wenn sie dabei so viel essen dürften, wie sie könnten.

Ich war froh! — Es meldeten sich noch Hilde und — wie könnte es anders sein — Horst. Vielleicht kommen auch noch Walter und Roland. Wir werden die Kirschen schon bändigen!

Kompliziert wurde der Tag erst, als Dr. Wagner eine Extraprobe für diesen Nachmittag ansetzte.

»Wir treffen uns pünktlich fünfzehn Uhr in der Turn­halle. Entschuldigungen sind unmöglich, denn am Zwölf­ten wird das Stück aufgeführt, und wie Sie es spielen, ist bisher unter jeder Kritik. Bis auf die eine Probe, die ein kleiner Lichtblick war (das war die mit dem dänischen Käse!), war alles nichts. Heute kommt der Herr Direktor, um sich von Ihren Leistungen zu überzeugen. Ich nehme an, daß Sie weder sich noch mich blamieren wollen.«

Nach dieser Rede war es für mich unmöglich, mich eines fremden Kindes wegen zu entschuldigen. Ich mußte mir bei Langbeins Urlaub holen für die Zeit von drei bis sechs.

Als ich nach der Schule vorbeifuhr, war die Meisterin nicht da. Sie besuchte ihre kranke Mutter in Kleinheim und war vor dem späten Abend nicht zurückzuerwarten.

Daß alle übrigen am Freitagnachmittag anderes zu tun

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haben, als auf den Jungen aufzupassen, ihn rechtzeitig zu füttern und zu wickeln, konnte ich mir selbst denken. Zur Probe mußte ich, das Kind mußte ich ebenfalls betreuen; so blieb mir nichts übrig, als diese beiden Pflichten mit­einander zu verbinden — und das tat ich denn auch.

Pünktlich um zwei Uhr trat ich meinen Dienst beim Bäcker an, säuberte und fütterte das Kind (kann ich schon ausgezeichnet!), und pünktlich um drei Uhr stand ich mit den anderen in der Turnhalle. Ich war sehr früh gekom­men, hatte meinen schlafenden Bernd im Kinderwagen in die Turnhalle geschoben und im Nebenraum abgestellt, zwischen ebenfalls abgestellten Turngeräten, Bällen, Sprungmatten, dem Plattenspieler für die Gymnastik und solchen Dingen. Durch einen blau-weiß gestreiften Vor­hang ist dieser Geräteraum von der Turnhalle abgetrennt.

Nur Walter, der kurz nach mir gekommen war, wußte etwas von Bernds Anwesenheit. Wenn er mich ansah, grinste er anzüglich, verriet aber den anderen nichts. Ich war völlig ruhig: Der Junge schlief jeden Nachmittag bis mindestens sechs Uhr. Es war gar kein Risiko.

Schlag drei betrat Dr. Wagner die Halle, hielt uns noch eine energische Rede, ließ sich ein paar unsichere Stellen vorsagen, und dann erschien der Herr Direktor. Eigent­lich heißt er Rethel. Das ist aber kaum noch geläufig, denn mit dem Maler ist er nicht verwandt, von uns wird er nur »Herr Direktor« angeredet — und unter uns hat er den Namen »Langbein«, weil er sehr groß ist und auffallend lange Beine hat, die er während des Unterrichts auf selt­same Art um die Stuhlbeine schlingt.

Wir spielten also »Die schöne Friederike« und gaben uns große Mühe. Es war die letzte Probe ohne Kostüme und deshalb etwas schwierig, in Stimmung zu kommen. Das Kostüm hilft sehr stark bei der Verwandlung mit, die man zwischen dem Alltagsmenschen und dem, den

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man darstellen will, zu durchlaufen hat. Erst dann be­kommt die Rolle Leben und Farbe. Ich spiele deshalb gern Theater — und in einer Kleinstadt ist manchmal Ge­legenheit dazu —, weil es mir Spaß macht, in eine andere Hülle hineinzuschlüpfen. Ich sprach einmal mit Andrea darüber. Sie war entsetzt und sagte, das sei der Nachteil eines labilen Charakters. Lange habe ich meinem labilen Charakter nachgeforscht. Er ist sicherlich vorhanden, aber ich glaube jetzt, daß schauspielerische Fähigkeiten eher etwas mit dem Vorteil einfühlender Phantasie zu tun haben.

Na, wie es auch sei — der erste Akt war soso lala, bei meinem Auftritt im zweiten merkte ich zum erstenmal, daß ich begann, mich in die Alte zu verwandeln (dagegen hatte ich mich immer gesträubt), und beim dritten Akt kam ich in Fahrt. Und wenn einer in Schwung ist, reißt er gleich ein paar andere mit.

Ich bereitete mich auf meinen letzten, prächtigsten Auf­tritt vor, stand im Hintergrund und wartete auf mein Stich wort: » . . . Es ist der schönste Abend meines Lebens. Horch, die Nachtigall!«

Ich horchte. Ach, ich brauchte nicht zu horchen, ich hatte bereits seit Minuten gehört, daß mein blinder Pas­sagier zu knurren und zu maunzen begann — Geräusche, die außer Walter und mir niemandem aufgefallen waren.

Nach Friederike-Ingrids sanften Worten war eine Mi­nute lyrischer Stille vorgesehen, ehe die alte Tante in das Idyll hineinplatzt. Jetzt kam es: »Horch, die Nachti­gall.« —

Stille — da setzte Bernd mit seinem Hungergebrüll ein.Ich setzte nicht ein. Ich war völlig verstört. Alles stand

starr da. Niemand konnte sich die Ursache dieses in der überakustischen Turnhalle doppelt wirksamen Gebrülls erklären. Friederike war der Umarmung ihres Ferdinand

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entglitten und blickte blöde auf Frau Dr. Wagner, und nicht einmal sie war dieser Situation gewachsen.

Plötzlich konnte sich Walter nicht mehr beherrschen, er fing an zu lachen. Ein paar andere setzten ein, hörten aber sofort auf, als der Direktor schrie: »Was soll der Unsinn! Wer hat die Platte laufen lassen?«

Energiegeladen ging er auf den Vorhang zu, hinter dem es mit gleicher Lautstärke und Ausdauer weiterschrie. Er verschwand in der Absicht, den Plattenspieler abzustel­len. Kaum war er verschwunden, erschien er auch schon wieder. Sein Gesicht, vorher rot vor Zorn, war jetzt blau vor Wut: »Wem gehört das Kind?« schrie er.

Stille — nur das Kind brüllte.Ich konnte nicht sprechen. Der Schreck war mir der­

artig in die Glieder gefahren, daß ich weder sprechen noch mich rühren konnte. Außerdem hoffte ich irgendwie, daß das alles gar nicht wahr sei, daß ich träumte — denn so etwas Gräßliches kann nicht in Wirklichkeit passieren!

»Wem das Kind gehört, will ich wissen!«Stille — nur das Kind brüllte, und endlich hatte ich

mich soweit in der Gewalt, daß ich antworten konnte.»Langbein«, sagte ich.Das Gesicht des Direktors wurde plötzlich ganz bleich.»Kommen Sie mit«, sagte er müde, und das war viel

schlimmer als sein Gebrüll zuvor.Ich folgte ihm in sein Zimmer, und dort erst ging mir

der Ernst der Situation auf, denn nicht das Baby war der Hauptanklagepunkt, sondern daß ich behauptet hatte — in dieser Situation und vor der ganzen Klasse —, es sei sein Kind.

»Ich kenne meinen Spitznamen«, sagte er. »Ich dachte bis heute, auch Sie zu kennen, Christiane. Ich habe mich getäuscht, es wird ein übles Nachspiel geben.«

Es gab keins, nachdem sich alles aufgeklärt hatte. Aber

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bis es soweit war!! Und von ferne hörte ich meinen Bernd schreien, der dringend seine Flasche brauchte und wahr­scheinlich eine nasse Windel hatte. — Es war zum Ver­zweifeln. Heute kann ich schon darüber lachen (daß ganz Ebenheim lacht, ist klar!); und damit ich in einigen Jah­ren noch weiß, wie es gewesen ist, habe ich die ganze Ge­schichte aufgeschrieben. Ich werde sie noch einmal — in gekürzter Fassung — an Mutter schreiben. Die lacht auch gerne.

Aber gestern war mir doch äußerst miserabel zumute!

5. Juli

Als ich gestern spätabends nach Hause kam (ich hatte Langbeins noch ein bissel geholfen beim Saubermachen, sie taten mir so leid), stak an der Haustüre ein Zettel:

»Kirschen sind im Keller,Wir sind satt: Gabi, Moni, Hilde, Horst, Roland, Walter, Jürgen.Kommen Mittwoch wieder zur gleichen Aktion.«

So, Jürgen war also auch mit da. Er scheint die Ohr­feige verschmerzt zu haben. Mich ärgert der Kuß noch immer, wenn ich daran denke. Habe aber wenig Zeit dazu.

Was soll eine alleinstehende Jungfrau mit dreizehn Kirschkörben tun, wenn sie keine Lust zum Einkochen hat? Es gibt nur eines: verschenken. Das habe ich heute getan.

Mutter pflegte alljährlich, wenn die Kirschen reif wa­ren, das »Kirschfest« zu feiern, ein Gartenfest, zu dem

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alle Leute eingeladen wurden, mit denen wir im vergan­genen Jahr Verbindung gehabt hatten: die Lehrer, Ärzte, Pfarrer, die Milchfrau, alle Kaufleute, Briefträger, Stra­ßenkehrer, Apotheker, die Damen vom Stift und so wei­ter, eben alles. In der letzten Zeit, als Mutter und ich nur allein waren und nicht mehr das ganze Haus zur Verfü­gung stand, war der Kreis der Eingeladenen kleiner ge­worden. Schade. Das große Fest war immer prächtig.

In diesem Jahr nun bin ich ganz allein und lade nie­manden ein; aber alle, die früher mitgefeiert haben, sollen Kirschen bekommen.

Ich suchte die alte Einladungsliste, strich, ergänzte, kurz: brachte sie auf den neuesten Stand der Wissenschaft, und dann war ich den ganzen Nachmittag und Abend damit beschäftigt, Kirschen abzuwiegen. (Weniger als fünf Pfund bekam keiner, aber alles individuell, je nach Ver­mögenslage und Personenzahl — und Sympathie, aber das darf niemand wissen!)

Es war eine Riesenarbeit und machte großen Spaß, denn alle freuten sich, als ich kam.

Ins Altersheim habe ich gleich drei Körbe gebracht. Sie können es brauchen. So gute, frische Kirschen bekommen sie nicht alle Tage. Die Freude war groß, und ich habe versprochen, morgen nachmittag mit dem Kinderwagen einen Besuch zu machen.

Sie sähen sich gern einmal ein kleines Kind an, haben die alten Damen gesagt. Die Freude kann ich ihnen leicht machen, und ich finde, daß sich Bernd unter meiner Pflege sehr zu seinen Gunsten verändert hat. Man sieht ihm an, daß er jetzt täglich an die frische Luft kommt. Vielleicht habe ich mich auch an seinen Anblick gewöhnt, aber ich finde ihn tatsächlich jetzt hübscher.

Langbeins habe ich heute keine Kirschen gebracht. Die bringe ich morgen mit. Ich hatte große Angst, daß sie

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mich gleich behielten als Babysitter — und sonntags will ich das nicht. Mozerts bekamen auch einen Korb. Nun kann sie wieder Kirschkuchen backen und in den Haus­flur stellen.

Das Amadeusle kriegt extra — und heimlich — welche. Seine Mutter ist so sehr für die Vorratswirtschaft, kocht jede Kirsche ein und gibt dem Kind bestimmt nur solche zu essen, die weiche Stellen haben und für höhere Zwecke nicht mehr zu gebrauchen sind.

Ich will Mittwochnacht etwas für den Winter tun, da­mit Mutter einen vorzüglichen Eindruck von den haus- wirtschaftlichen Fähigkeiten ihrer jüngsten Tochter hat, wenn diese auch das Abrechnungsbuch als Tagebuch miß­braucht.

Jetzt schreibe ich schon fast fünf Wochen hinein. Zu tiefer dringenden Aufzeichnungen komme ich gar nicht mehr vor Kirschen, Kind, Komödie und kommender Ab­reise.

fAm Bodensee habe ich sicherlich wieder Zeit. Florian

wird nicht soviel Arbeit machen. Ich freue mich auf ihn und auf Martinas Gesicht, wenn ich vor ihr stehe! An Andrea schreibe ich schnell noch eine Karte. Als ich heute morgen im Chor mitsang, fragte mich Kantor Rose nach ihr und trug mir Grüße auf. Leider wußte ich nicht viel zu sagen. Sie ist meine begabteste und hübscheste, aber schreibfaulste Schwester.

6. Juli

Es sei in dieser Woche an jedem Abend Probe, teilte uns Frau Dr. Wagner mit, wir sollten uns darauf einstel­len. — Heute war sie gegen zehn Uhr aus, und ich hatte das Vergnügen, der Dr. Wagner die Mappe nach Hause tragen zu dürfen. Das ist ein Trick von ihr, den sie immer anwendet, wenn sie mit einem Schüler allein sprechen

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will. Heute war also ich dran. Ich dachte, daß die Sache mit dem Baby noch einmal aufgerührt werden sollte. Sie kam aber mit keinem Wort darauf zurück.

Sie fragte mich nach Mutter, wie es sei, so allein, was ich in den Ferien vorhätte — lauter harmlose Dinge. Ich antwortete brav und wartete immer auf den eigentlichen Grund der gemeinsamen Abendwanderung (für mich war es ein großer Umweg).

»Wissen Sie eigentlich schon, was Sie werden wollen, Christiane?«

»Nein.«»Haben Sie nicht daran gedacht, Schauspielerin zu

werden? Ich könnte mir denken, daß Sie es erreichen würden. Sie sind die einzige der Klasse, der ganzen Schule, die eine wirkliche schauspielerische Begabung hat.« (Mein Selbstbewußtsein schwoll an!) »Ich hätte Ihnen, wenn es nach mir gegangen wäre, die Friederike zu spielen gegeben.« (All mein Kummer schmolz dahin!) »Sie hätten sie besser gespielt als Ingrid. Auch wahrer, obwohl es eine ernste Rolle ist und Sie solch ein Spaß­vogel sind.« (Mein Selbstbewußtsein schrumpfte zusam­men wie ein Luftballon, in den man mit einer Nadel ge­stochen hat, und diese ekelhaft spitze Nadel war der »Spaßvogel« von Frau Dr. Wagner.)

Der Kummer war auch wieder da, und so konnte ich völlig nüchtern sagen, daß ich nicht glaube, daß es der richtige Beruf für mich sei. Ich spiele gern Theater, ich spiele auch ganz ordentlich, aber ich kann dafür nicht so viel Begeisterung aufbringen, daß es mir Sinn und Er­füllung meines Lebens werden könnte. »Wofür könnten Sie diese Begeisterung aufbringen?«

»Das weiß ich eben nicht«, sagte ich und kam mir sehr dumm und unreif vor, »ich suche immer danach und konnte es bis heute nicht finden.«

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Das sagte ich aber nur, weil es dunkel war. Eigentlich geht es die Wagner nichts an. —

»Den meisten Menschen geht es so ihr Leben lang — und das sind die wertvollen. Die anderen fangen gar nicht erst an mit dem Suchen, oder geben es bald auf.«

»Aber es gibt doch Menschen, die schon in ihrer Jugend wissen: Nur das will ich werden, dieses Ziel will ich er­reichen, jene Arbeit will ich tun, das ist der Zweck meines Daseins.«

»Die meisten von ihnen meinen nur, das Richtige ge­funden zu haben, und da sie es ihr Leben lang glauben, sind sie verhältnismäßig glücklich dabei.«

»Ja, sie wissen, wofür sie auf der Welt sind . . . «» . . . meinen es zu wissen!«» . . . und ich weiß es nicht. — Ich weiß es wirklich

nicht.«Ein Mann mit einem Hund ging ziemlich dicht hinter

uns her, drum blieben wir eine Zeitlang stumm. Als er uns überholt hatte, sagte ich:

»Andrea zum Beispiel hat bestimmt die Erfüllung ihres Lebens gefunden. Die Orgel war schon immer das, wo­nach sie sich sehnte und worum ihre Gedanken kreisten, solang ich sie kenne.«

»Andrea? Vielleicht ist sie jetzt glücklich damit — aber wer weiß mit fünfundzwanzig Jahren, ob die Erfüllung seines Lebens mit fünfunddreißig, fünfundvierzig, fünf­undfünfzig Jahren noch ebenso aussieht? Es gibt wohl wenig Fünfzigjährige, die ihr Leben noch einmal genauso führen möchten, wie es gewesen ist. Alle möchten vieles, viele alles ändern. Wir werden sehen, wie es mit Andrea sein wird.«

Wir waren vor der Haustür angekommen. Dr. Wagner nahm mir die Mappe ab.

»Wir wollen aber nicht von deiner Schwester, sondern

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von dir sprechen, Christiane. Suche weiter — und ich glaube bestimmt, daß du es finden wirst. Und wenn nicht: Es kommt nicht auf das Was an, sondern auf das Wie. — Vielen Dank für das Tragen. Gute Nacht.«

Als ich langsam zur Schule zurückging (der Mond hing als müde, gelbe Sichel tief am westlichen Himmel), über­legte ich mir, weshalb ich nun eigentlich hatte mitgehen sollen, kam aber zu keinem Resultat. Wegen des Berufs? Oder wollte sie einfach einmal mit mir sprechen? Ich ärgerte mich, daß ich die Viertelstunde nicht ausgenutzt und gefragt hatte, ob ich vielleicht schon am Dreizehnten, gleich nach dem Jubiläum, zu meiner Schwester fahren und die letzten drei Schultage fehlen könne.

Es kam mir unfair vor, die friedliche Stimmung aus­zunützen, aber vielleicht hätte ich’s doch tun sollen. Ich würde Martina wirklich gern eine Freude machen mit meinem früheren Erscheinen. Hier in der Schule ist in den letzten Tagen sowieso nichts mehr los, aber mit Freigeben sind sie knauserig. Die Wagner morgen bestimmt auch, wenn sie wieder vom Pflichtbewußtsein durchdrungen und nicht mehr »privat« sein wird.

7. Juli

Wenn ich jetzt mit Langbeins altmodischem Kinder­wagen durch die Straßen fahre, werde ich von allen Leu­ten freundlich lächelnd gegrüßt, von manchen auch ange­sprochen, die sonst grüß- oder wortlos an mir vorbeizu­gehen pflegten. Und das alles wegen der Turnsaalaffäre. Die Ebenheimer sind glücklich, daß wieder einmal etwas Lustiges bei ihnen passiert ist. Sie haben einen Sinn für Eulenspiegeleien.

Ich war froh, als ich mein Gefährt nebst Inhalt den 'Schloßberg hinaufbefördert hatte. Daß es etwas regnete, empfand ich recht erfrischend. Frau Langbein, die sehr

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wohltätig und resolut veranlagt ist, hatte einen Sand­kuchen auf Bernds Felldecke geschoben (»damit die Alt­chen auch wissen, daß es ein Bäckerssohn ist, den sie be­sichtigen«), und so wurde ich doppelt freudig im Alters­heim empfangen. Dreifach sogar, denn eine Variante von der Freitaggeschichte war auch hier oben bekannt ge­worden. Den Kuchen werden sie inzwischen mit Kaffee vertilgt haben. Ich übergab ihn Tante Hagelstange zur Verteilung. Sie hat schon immer die meiste Autorität da oben gehabt. Seit Tante Grundner gestorben ist, ist sie Alleinregentin.

Als ich kurz vor sieben mein Rad und mich mühsam den Kirschberg hinaufschob, hörte ich schon von ferne Frau Mozert rufen: »Amadeus! Amadeus! Amadeus!«

(Betonung immer auf der ersten Silbe!)Jede Minute nützt der Junge aus, um heimlich zu ver­

schwinden. Was soll ich nur tun, wenn ich verreise? Ihm seinen einzigen gemütlichen Schlupfwinkel nehmen — oder ihm den Schlüssel lassen? Er tut mir leid.

8. Juli

Heute waren sie zu zehnt auf dem Kirschbaum, und dennoch bestand die Ernte aus elf Körben.

Morgen will ich denen noch Kirschen bringen, für die es am Sonntag nicht mehr gereicht hat, und heute nacht koche ich ein. Die Gläser müssen noch etwas abkühlen, ehe ich sie aus dem Wecktopf nehmen kann, und diese Pause wollte ich eigentlich benützen und waschen. Ich bin aber so müde, daß ich, wenn mir die Zeit nicht mehr reichen sollte, lieber schmutzige Sachen mit an den Bodensee nehme. Meine zweite löbliche Absicht war, am Tagebuch weiterzuschreiben. Es reicht aber nur zu diesem Fragment. Es ist zwei Uhr. Das zu meiner Entschuldigung.

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Wenn man von tüchtigen Leuten liest — Lebenserin­nerungen oder so —, dann steht darin immer, daß diese namenlos fleißigen Erdenbürger kaum geschlafen haben. Nach zwei oder drei Stunden waren sie völlig erfrischt. An ihnen gemessen, muß ich eine Art Schlafkrankheit haben. Eine europäische Abart, die vor allem in den Schulstunden auftritt.

9. JuliMorgens: Schule.Mittags: Essen und Konversation bei und mit Frau

Mozert.Nachmittags: Säuglingsbewahrerin.Abends: Probe.Nachts: Kirschen und Haushalt.Das ist in dieser Woche mein Dasein!Das Wichtigste vom heutigen Tag ist, daß ich Frau

Dr. Wagner die drei Schultage abgekämpft habe. Es ge­schah in einem sehr günstigen Moment, nämlich sofort nach der Probe eben. Ich war noch im Kostüm und hatte sehr ordentlich gespielt. Da war sie weich (falls man das bei ihr sagen kann!) und sagte ja.

Hoffentlich widerruft sie es nicht reuevoll!Ich freue mich für Martina und schicke ihr morgen

früh gleich ein Telegramm.Quatsch! Es darf ja nicht aus Ebenheim kommen!Also: Telegramm an Schwester Christel, daß sie ein

Telegramm an Martina schicken soll. Es ist gar nicht so einfach.

Eine Liste fürs Kofferpacken habe ich schon aufgestellt. Nimmt man in solchem Fall das Tüllkleid mit oder nicht? Ich denke, wenn noch Platz ist: ja. Den Koffer will ich übermorgen schon mit Expreß abschicken. Alles, was er nicht faßt, muß der Rucksack schlucken. Ihn schnalle

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ich auf mein Rad, und dann geht’s los! Ich freu mich so! Auch auf die Radfahrt. Abgesehen davon, daß sie we­sentlich billiger ist als eine mit der Bahn, ist sie auch schöner. Mit der Bahn kann ich auch noch fahren, wenn ich achtzig bin, das Radfahren muß ich jetzt genießen. Vielleicht fahre ich schon in der Nacht los, gleich nach unserem Theaterstück und dem anschließenden gemüt­lichen Beisammensein? Der Gedanke kam mir eben.

Ich finde ihn gut und will ihn bis morgen beschlafen. Mutter fände ihn schlecht. Das weiß ich. Leider.

10. Juli

Langbeins waren sehr betrübt, als sie hörten, daß ich morgen zum letztenmal komme. Ich erklärte ihnen alles, sie sahen es auch ein, waren aber nur mit dem Verspre­chen zu trösten, daß ich im September wieder zweimal wöchentlich kommen und den Bernd versorgen werde.

Zwischendurch kommt nun Florian dran. Ich habe ihn nur zur Taufe gesehen, und da war er

winzig und erst drei Wochen alt. Ebenso gespannt wie auf meinen Neffen bin ich auf Martinas Haus. Sie woh­nen seit einem Vierteljahr darin. Es muß ein unbeschreib­liches Gebäude sein. Nach Martinas und Mutters einstim­migem Urteil ist es das häßlichste Haus, das am ganzen See zu finden ist.

Mein Schwager Klaus hatte in der Nähe wegen eines Bauplatzes für einen Kunden zu verhandeln gehabt, hatte sich verlaufen, weil er den Bauern auf dem »Beeren­acker« suchte und nicht ihn, dafür aber das leerstehende Haus fand. Er wollte es aus der Nähe betrachten, weil er schon von ferne sah, daß er es mit »einem gelungenen Exemplar von vollendeter Scheußlichkeit« zu tun hatte — und da entdeckte er am Gartentor das Schild, nach dem

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er und Martina seit zwei Jahren und Florian seit zwei Wochen (älter war er da noch nicht) suchten: »Haus zu Wohnzwecken zu vermieten.« Sie wohnten sehr eng und nicht sehr schön in Untermiete in Ravensburg.

Das Haus war tatsächlich noch zu haben gewesen. Klaus und Martina war es egal, wie es aussah, Haupt­sache, sie konnten darin wohnen. Und das tun sie nun. Das heißt: Klaus ist seit acht Wochen in Italien, Mar­tina fährt Dienstag. So bleibt nur Florian — und die »ordentliche, ehrliche und zuverlässige Betreuerin« von Kind und Haus: Christiane Andresen.

Ich freue mich!Aber vorher habe ich hier noch furchtbar viel zu tun.

Wie gut könnte mir Mutter helfen! Statt dessen schreibt sie lange Briefe aus Schweden, und ich sitze hier allein in der Misere.

Die Dinge, die ich während ihrer Abwesenheit erlebte und erleben werde, sind sicherlich ebenso interessant wie eine Schwedenfahrt. Wir werden ja hören, wer mehr zu erzählen hat, wenn wir wieder beisammen sind! Morgen ist Hauptprobe für »Die schöne Friederike«.

Ich glaube, die Aufführung wird gut.

11. Juli

Wie gut, daß wir heute nur zwei Schulstunden hatten. Anschließend war Hauptprobe für den Festakt heute abend, bei der ich als Chorsängerin beteiligt sein sollte. Ich verdrückte mich aber in der stillen Hoffnung, daß niemandem mein Fehlen auffallen wird und daß ich von einer zu Haus getrunkenen Tasse Kaffee munterer werde als beim Singen des »Wach auf«-Chores aus den Meister­singern. Damit soll sinnigerweise der heutige Abend ge­schlossen werden, nachdem alle Zuhörer die bei Jubiläen

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unerläßlichen Reden über sich haben ergehen lassen. Ich habe rasend zu tun. Die Festbluse muß ich auch noch bügeln. Drum Schluß mit dem Schreiben. Vielleicht habe ich morgen mehr Zeit dazu.

12. JuliIch habe keine.

13. Juli

Ein ungewohnt weiter, blauer Himmel. Wind, der die Hitze der Sommersonne angenehm mildert. Straßen, die nicht nur von Obstbäumen begleitet sind (wie das sonst in Württemberg üblich ist), sondern streckenweise auch von »richtigen« Bäumen, und in langsamer, auch dem Radfahrer angenehmer Art leicht ansteigen oder fallen. Felder, Wiesen — viele Wiesen. Blühendes Wollgras und Schilf. Erlen und Birken. Ab und zu Wälder auf Hü­geln. Das ist Oberschwaben, wie ich es heute zum ersten­mal sehe. Zwar hat uns Schwager Klaus am Tag nach Florians Taufe mit seinem alten Opel nach Weingarten, Ochsenhausen und Rot gefahren, zum klingenden schwä­bischen Barock, aber was sieht man in solch einem alten, klapperigen, benzinduftenden, autoähnlichen Fahrzeug schon von der Landschaft!

Heute sehe ich sie nicht nur, heute erlebe ich sie. Wie gut, daß ich in ihr allein bin und nicht gezwungen, mit irgend jemandem zu sprechen. — Ob es das gibt: einen Freund oder eine Freundin — eben einen Menschen —, mit dem ich hier fahren könnte, und die Weite bliebe weit und klar, der warme Sommerwind beglückte mich wie heute, nichts würde durch seine Anwesenheit ge­trübt, sondern alles vielleicht noch schöner als jetzt? Solch einem Menschen könnte ich dann auch alles sagen, was

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ich jetzt hier aufschreibe und was sonst niemand wissen soll.

Ihm könnte ich auch sagen, daß ich heute nacht ganz abscheuliche Angst gehabt habe.

Wenn sie mich nach den Ferien in der Schule fragen werden: »Nun, wie war die Nachtfahrt?«, dann werde ich sagen: »Ausgezeichnet!« oder »Großartig!«, eben das, was sie und ich von mir hören wollen. Und das ist Lüge.

Warum sage ich eigentlich nicht, daß ich mich gefürch­tet habe? Empfinde ich es als Schande? Will ich nicht, daß die Jungen überlegen lächeln und denken: >Naja, ein Mädchen! Das war nicht anders zu erwarten!<? Oder warum sonst? Vor mir selbst will ich in diesem Buch ehr­lich sein — vielleicht kann ich es dann auch anderen ge­genüber, auch wenn meine Gloriole etwas an Glanz ver­liert.

Pünktlich 18.30 Uhr sollten wir gestern im »Lamm« sein. Ich erschien 18.34 Uhr als letzte und erntete einen diesbezüglichen Wagnerblick, der mich nicht noch mehr erschöpfen konnte, als ich es schon war, denn ich hatte den ganzen Tag über gearbeitet wie noch nie.

Das »Lamm« hat den größten und schönsten Saal Ebenheims und eine ganz ordentliche Bühne. Wir spra­chen ein paar Stellen. Dann kamen die ersten Zuschauer, und wir zogen uns um.

Als ich meine grauen Haare und die Runzeln bekom­men hatte und die Sommersprossen unter blasser Schminke verschwunden waren, verschwand ich auch, legte mich auf eine Bank in der hintersten Ecke der Garderobe, bat Hilde, mich fünf Minuten vor Beginn zu wecken, und schlief ein.

Hilde, vom Lampenfieber stark befallen, vergaß es leider, aber Walter fand mich zwei Minuten vor meinem ersten Auftritt, rüttelte mich wach und rettete somit mich

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und das ganze Stück. Dank Hildes Lampenfieber war ich so spät dran, daß ich keine Zeit hatte, selbst welches zu bekommen.

Nach einem gelungenen Spiel bin ich immer sehr froh und gelöst. Gestern auch, und damit befand ich mich in der richtigen Stimmung für den Rest des Abends, der aus gemütlichem Beieinandersitzen und Tanzen bestand.

Ehemalige Lehrer, jetzige Lehrer, gewesene und seiende Schüler aus Ebenheim und von überallher waren da.

Ich hatte mein schönes Tüllkleid an und saß mit der üblichen Clique aus der Klasse beisammen. Den ersten Tanz tanzte ich mit Walter, weil er der Retter des Abends war.

Kurz nach Mitternacht war Schluß. Ich hatte von meiner beabsichtigten Nachtfahrt erzählt, manche waren dafür, andere dagegen gewesen. Walter am meisten. Drum tanzte ich auch nicht mehr mit ihm. Ich lasse mich doch nicht von einem Jungen aus meiner Klasse erziehen!

Beim Abschied gaben sie mir alle gute Ratschläge:»Zieh Trainingshosen an, gegen Morgen wird’s kalt!«»Nimm Pfeffer mit, den streust du eventuellen dunk­

len Elementen in die Augen. Wirkt bestimmt!«»Vergiß nicht heißen Kaffee!«»Wir sind auch am Bodensee, da besuche ich dich

einmal.«»Laß den Säugling nicht verhungern.«»Wohin stellst du ihn, wenn er schreit? Gibt es dort

auch eine Turnhalle?«

Ich verabschiedete mich dann noch von Dr. Sauermilch, der früher an unserer Schule Mathematiklehrer gewesen war und bei uns jahrelang in Untermiete gewohnt hatte.

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Er ist jetzt viel netter als früher. So kam ich später aus dem »Lamm« als die anderen. Ich war zu Fuß, weil ich mit diesem Kleid nicht radfahren konnte. Außerdem war das Rad schon fertig beladen und wartete zu Hause auf mich.

Als ich so allein über den Markt ging, spürte ich plötz­lich wieder die Müdigkeit, die am Abend nicht mehr da­gewesen war. Ob ich nicht lieber zu Bett gehen, drei Stunden schlafen und gegen vier Uhr, wenn es schon hell ist, fahren sollte?

Es war bestimmt gescheiter.Als ich mit meinen Überlegungen bei diesem Entschluß

angekommen war, sah ich Walter an der Ecke vor Lang­beins Bäckerladen stehen. Er hatte sein Fahrrad neben sich und wartete auf mich. Nun mußte ich gleich fahren. Er hätte sonst gedacht, ich kümmerte mich um seine weisen Ratschläge! Ich beflügelte meinen müden Schritt und sah munter umher.

»Ich will dich nach Hause bringen. Der Kirschberg ist ziemlich dunkel und einsam.«

»Ach, danke, Angst habe ich nicht, und mir hat noch keiner was getan.«

Das war eine Absage. Jeder hätte sie begriffen und mich allein gehen lassen, aber Walter schob sein Rad neben mir her. Ich sprach nicht. Er sprach nicht. Ich ärgerte mich. Was er tat, weiß ich nicht.

»Willst du wirklich fahren?« fragte er, als wir vor unserer Gartentür angekommen waren und ich mühsam nach dem Schlüssel angelte, der immer links hinter der Hecke hängt.

Ich steckte ihn ins Schloß, drehte ihn energisch um und sagte wütend: »Natürlich!«

»Dann warte ich hier und begleite dich ein Stück.«»Völlig unnötig! — Warum?«

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»Weil es mir Spaß macht.«Spaß! — Mir machte es keinen. Weder Walters Be­

gleitung noch die Nachtfahrt. Aber ich mußte fahren, und zwar gleich, nachdem ich mich umgezogen, mein schönes Kleid in den Rucksack gepackt und einen Beu­tel Kirschen an die Lenkstange gehängt hatte. Walter wartete. Wir schoben die Räder den Kirschberg vollends hinauf, und dann ging’s nach Kleinheim hinunter. Die nächtliche Landschaft war zauberhaft >Silbern war die Maiennacht...<, dachte die eine Christiane, die andere aber kritisierte, daß es erstens Juli, zweitens keine Zeit für Sentimentalitäten sei, drittens lieblich, nicht silbern heiße.— Aber schön war diese Nacht.

»In spätestens einer Stunde ist er weg«, sagte Walter und meinte damit den Mond, der schon recht tief stand.

»Heute früh bin ich schon in Ulm«, sagte ich, ohne weiter auf den Mond einzugehen, dessen Verschwinden mir unangenehm war.

»Gehst du ins Münster?«»Ja.«»Da stand vor Jahren irgendwo an der Seite eine sehr

alte Christophorus-Plastik, die mir großen Eindruck machte. Vielleicht ist sie noch da.«

»Ich werde sie grüßen«, versprach ich, und von da an unterhielten wir uns über alle möglichen Dinge.

Nach einer halben Stunde, als wir gemeinsam den nächsten Berg hinaufgeschoben hatten (Walter mein schwerbepacktes, ich sein leichtes Rad), trennten wir uns.

»Recht gute Fahrt, Christiane. Schreibst du mir ein­mal, ob du gut gelandet bist?«

»Vielleicht. Und vielen Dank für die Begleitung!«Als ich das rief, fuhr ich schon den Berg hinunter. Vor

der Kurve sah ich mich noch einmal um. Walter stand oben. Deutlich war seine Silhouette vor dem mondhellen

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Westhimmel zu sehen. Ich pfiff unseren Klassenpfiff, er pfiff wieder, und dann war ich allein.

Ich fuhr schnell, um nicht zu frieren. Der Mond ver­schwand wirklich bald, und es wurde sehr dunkel, nur mein kleines Radlicht war da und die Sterne.

Ein Fernlastwagen überholte mich. Ein Hase sprang über die Straße. Ich fuhr durch ein Dorf. Alles schlief. Ein Hund bellte, ein anderer antwortete. Da war ich schon wieder auf der einsamen Straße.

Wieder ein Dorf. Vorbei. Ein Nachtvogel, der auf­flog. Ein Hahn, der von ferne krähte. Ich sah auf meine Uhr: es war kurz nach zwei und der Hahn etwas zu früh dran, aber es würde bald hell werden. Mitte Juli fängt es schon kurz nach drei Uhr an, Tag zu werden. Ich fand es recht schön, allein durch die Nacht zu fahren, und die eine dunkle Stunde würde nicht mehr schlimm sein.

Eine Brücke. Ziehende Nebelschwaden. Schlafendes Dorf — und wieder die Straße und die Sterne, die am östlichen Himmelsrand schon blasser wurden.

Gleich nach einer stillen Stadt, deren Straßenlampen nur für zwei Katzen zu leuchten schienen, die als ein­zige wach waren, begann die Straße anzusteigen. Ich mußte schieben. Meine Lampe brannte ganz schwach, und unnötigerweise kam nun auch noch Wald.

Ich ging schneller, um so bald wie möglich dieser un­heimlichen Finsternis entronnen zu sein. Rechts und links der Straße war es schwarz. Nie hätte ich gedacht, daß ein Wald so schwarz sein könne. Ich sah nur den armen, kleinen Lichtkreis meiner Radlampe. Ich stellte den Dy­namo ab. So schob sich das Rad leichter, und ich selbst war ebenso schwarz wie meine Umgebung und fühlte

mich ein wenig sicherer.Irgendein Geräusch aus dem Wald hatte ich gehört,

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und damit war plötzlich Angst über mich gekommen. Es war mir sehr heiß. Meine Schritte beschleunigte ich noch mehr und atmete mit offenem Mund, weil ich dann besser horchen konnte, aber ich hörte nur den schnellen Schlag meines Herzens. Alle üblen Geschichten, die ich gehört oder gelesen hatte, bedrängten mich: Räuber, Mör­der, tollwütige Tiere, Diebe, Wildschweine, Mädchen­händler ... Überall in der Finsternis konnten sie sein. Jede Sekunde konnte einer von ihnen über mich herfal­len! Ich versuchte, an Mutter zu denken, an den heutigen Abend im »Lamm«. Es gelang nur kurz. Wie weit weg war das alles, und wie klein! Riesengroß und gegenwär­tig war nur eins: die Furcht.

Da hörte ich Motorengeräusch. Ein Auto fuhr hinter mir den Berg herauf, und es war mir plötzlich tröstlich, zu wissen, daß andere Menschen auch unterwegs waren. Ich ging langsamer und fühlte mich für einige Minuten sicher, bis das Auto mich überholt und wieder der Fin­sternis übergeben haben würde.

Der Fahrer schaltete auf den ersten Gang. Das Auto kam heran, fuhr sehr langsam an mir vorbei und hielt. Da hatte mich die Angst wieder in den Krallen. Meine Gedanken überschlugen sich: >Aufs Rad!< dachte ich, >und den Berg hinunterrasen! Zurück in die Stadt! Weg von dem Wagen!< Langsam aber, langsam und willenlos, ging ich auf das Auto zu.

Ein Mann war ausgestiegen. Er leuchtete mich mit einer Taschenlampe an.

»Ist das der richtige Weg nach Aichen? Nirgends steht es!« sagte er unfreundlich und vorwurfsvoll. Mir klang es lieblich in den Ohren, doch konnte ich ihm leider keine Auskunft geben, da ich wahrscheinlich noch fremder in dieser Gegend war als er. Ich wußte nicht einmal, daß solch ein Ort überhaupt existiert.

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Der Mann stieg wieder ein und sagte etwas zu seinem Begleiter: entweder über die schlechte Bezeichnung der Wege oder über Mädchen, die sich allein in der Nacht herumtreiben.

Der Wagen fuhr weiter. Ich sah ihm nach, bis seine roten Lichter hinter der nächsten Wegbiegung verschwun­den waren.

Da ist die Angst wieder da. Klein, einsam und wehr­los bin ich ihr ausgeliefert. Das Ende der Steigung ist nicht zu sehen, auch der Wald lichtet sich nicht. Meine Gedanken sausen wieder im Kreis, weiter, immer wei­ter, wie ein rasendes Karussell. Ich versuche es zu stop­pen und denke: >Wenn ich zehn Schritt lang nicht zu atmen brauche, dann komme ich gut oben an.< — Schon nach dem sechsten muß ich ganz tief Luft holen. Das Orakel ging schief.

Ich versuche zu beten. Man soll Gott nicht mit Klei­nigkeiten belästigen, die man selbst erledigen kann, finde ich, aber das hier ist keine Kleinigkeit, und eigene Kraft habe ich nicht mehr. Mir fällt nicht einmal ein passendes Gebet ein. Doch plötzlich hakt sich der kleine Spruch fest, der im Ebenheimer Kindergarten hängt: »Herr Gott, ich bitt’, bewahr mein’ Tritt, so fall ich nit.«

Danach laufe ich nun und denke nichts anderes mehr im Rhythmus meiner Schritte. Nur dieses.

Die Angst ist immer noch da, aber ich habe einen Faden gefunden, dem ich nachgehen will, bis ich aus der Finsternis heraus bin. Endlich! Der Weg wird eben. Der Wald hört auf. Im Osten ist der Himmel schon hell. Ein Vogel singt. Sicherlich ist er ebenso froh wie ich, weil die Nacht und ihre Schrecken vorüber sind, und ebenso dankbar. (Es wäre interessant, zu wissen, wieviel mehr Bittgebete die Menschen sprechen als Dankgebete!)

Unbeschreiblich erleichtert setze ich mich auf mein Rad

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und fahre davon. Links der immer heller werdende Mor­genhimmel, rechts noch dunkle Nacht mit hellen Sternen und dazwischen ein Mädchen, das laut singt und pfeift und glücklich ist.

Ulm: Münster, Donau, alte Häuser mit modernen un­glücklich verquickt. Zwei Würstchen gegessen. Weiter in Richtung Biberach. Alte freie Reichsstadt, Wieland, Tore, alte Giebel, große Kirche. Weiter. Kurz vor Waldsee eine weiche Wiese, Blickschutz durch ein Gebüsch: das Richtige, um meine Müdigkeit durch einen kleinen Mittagsschlaf zu vertreiben. Leider hatte ich nicht mit Ameisen und anderem Geziefer gerechnet, das etwas gegen meinen Schlaf hatte. Nach einer Viertelstunde war ich munter­gekrabbelt. Beim Schreiben habe ich nun meine Beine auch ausgeruht. Jetzt kann es weitergehen.

Ich freue mich sehr auf Martina! Hoffentlich glückt die Überraschung, und hoffentlich komme ich nicht so spät an.

Die »vielleicht« versprochene Karte an Walter habe ich schon in Ulm geschrieben. Seinen Christophorus habe ich nicht entdecken können. Schade.

14. Juli

Als ich endlich vor Martinas Haus stand, war es fast elf Uhr nachts. Kurz vor Ravensburg hatte ich mein Vorderrad flicken müssen, und als ich nur noch acht Kilometer zu fahren hatte, war es wieder platt. So blieb mir nichts anderes übrig, als zu schieben.

Ein paar junge Männer fuhren vorbei. »Wer sein Rad liebt, der schiebt!« rief einer.

Ich war zu müde, um zu antworten. Ich würde auch

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mit Martina nicht mehr viel sprechen. Das hatte morgen noch Zeit. Heute wollte ich nur noch schlafen.

Endlich war ich da. Das heißt: nicht ganz. Ich war an dem Landungssteg, bei dem ich links abbiegen sollte. Ich bog ab. Es gab da zwei Wege, und ich nahm nach kurzem Zögern den einen. Es war ein schmaler Pfad, uneben und steinig und häufig von Wurzeln durchzogen. Rechts davon lag der See. Er war vom Mond beschienen (der war schon wieder da und ich noch immer!) und schimmerte grau, silbern, schwarz. Vom anderen Ufer herüber flimmerten die Schweizer Lichter. Links vom Weg waren teils umzäunte, teils frei daliegende, mit Obst­bäumen und Beerensträuchern bepflanzte Wiesen. Manch­mal auch zwischen Hecken und Gebüsch verborgene Häu­ser. Von ihnen war wenig zu sehen. Sie lagen am anderen Ende der Grundstücke.

Ich schob einige Zeit mein schweres Rad. Dann merkte sogar mein schlafendes Hirn, daß ich den falschen Weg erwischt hatte. Unschlüssig blieb ich stehen. Ein Radfahrer kam mir entgegen. Er mußte absteigen, weil der Weg zu schmal war für zwei Räder.

»Radfahren ist auf diesem Weg streng untersagt!« schnauzte er mich an.

Ich war ziemlich verblüfft, denn schließlich war er ja gefahren!

»Ich habe nur geschoben. Könnten Sie mir wohl bitte sagen, wie ich von hier aus zu Frau Mertens komme?«

»Mertens? — Mertens! Noch nicht lange hier?«»Seit einem Vierteljahr. Sie muß irgendwo hier herum

wohnen. In einem ganz altmodischen Haus. Mit Türm­chen und so.«

»Und mit einer Wendeltreppe, meine Dame! Mit einer einzigen eisernen Wendeltreppe im ganzen Haus! Die Namen von den Leuten, die eingezogen sind, die vergess’

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ich, aber die Häuser, die merk’ ich mir. Ich bin seit sechs­unddreißig Jahren Spediteur von Beruf — nicht von hier, hier ist nur mein Häusle für den Sommer —, und ich kann Ihnen sagen: So etwas wie das Haus und den Umzug hab’ ich mein Lebtag noch nicht erlebt! Wenn i gwußt hätt’, daß in dem Haus so eine abschtrakte Treppe isch — den Umzug hätt’ i net gemacht! — Was wollen Sie denn in dem Haus?« fragte er etwas friedlicher.

Da ich keinen Wert darauf legte, noch einmal einen Zornausbruch heraufzubeschwören, wagte ich nicht zu sagen, daß ich mit den Leuten, die die »abschtrakte« Treppe benutzen, verwandt bin.

»Ich bin das neue Kindermädchen«, sagte ich. »Eigent­lich erwartet mich Frau Mertens seit sieben Uhr, aber ich habe einen Schaden am Rad, muß schieben und komme deshalb so spät.«

»Macht nichts«, tröstete mich der zornmütige Befahrer des verbotenen Weges, »die kann auch einmal einen Ärger haben, der gönn’ ich das! Wenn man so eine ab­schtrakte ...«

Er murmelte etwas vor sich hin, betrachtete die Grund­stücke, vor denen wir standen, und sagte dann: »Also, wenn Sie hier weiterfahren, kommen Sie nie zu dem Haus mit der Treppe. Wenn Sie zurückschieben, ist es ein Umweg. Aber es ist sehr gut, daß Sie mich getroffen haben, ich zeige Ihnen einen ganz kurzen Weg. Eigentlich ist es keiner, aber der Feldschütz schläft schon, und der Heimle-Bauer sitzt im >Adler<. Vor zwölfe geht der heute nicht heim. Ich will auch noch dahin. — Kommen Sie!«

Er nahm sein Rad, hob es über einen müde durchhän­genden Stacheldraht und lehnte es an einen nahe stehenden Baum, dann nahm er meins, beförderte es mit Leichtig­keit ebendahin, und als er sich umdrehte, sichtlich mit

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der Absicht, mich auch noch hinüberzuspeditieren, stand ich schon neben ihm.

Er schob mein schweres, ich sein leichtes Rad über die Wiese, und so gelangten wir auf eine Straße und nach wenigen Minuten vor ein angerostetes Tor, dessen eiserne Stäbe oben in Lanzenspitzen endeten. Mein Begleiter blieb stehen, zog eine Taschenlampe aus der Hosentasche und leuchtete das Tor an, an dem einige Schilder befestigt waren.

Das mit dem Hund war das größte.»Mertens!« sagte mein Spediteur erfreut und stolz.

»Hab’ ich’s nicht gesagt: das Haus mit der Treppe! Hier hängt auch noch ein Brief. An Fräulein Amberg. Sind Sie das?«

»Nein! — Das heißt: ja!«»Na, was ist? Ist er für Sie oder nicht?« fragte er miß­

trauisch.Ich versicherte ihm, daß er für mich sei und daß ich

ihm ganz ungeheuer dankbar sei für seine Führung hier­her und weil er mir das Rad geschoben habe usw.

»Ist schon recht«, sagte er. »Wissen Sie, ich hab’ ein gutes Herz, aber wenn man mir mit so einer abschtrakten Treppe kommt und einem Klavier, da kenn’ i nix! Machen Sie’s gut, und wenn Sie Lust haben, besuchen Sie mich einmal. Ich wohn’ ein Stückle weiter und heiße Knopf. Einfach Knopf.« Herr Knopf schwang sich auf sein Rad und fuhr zum »Adler«.

Vorsicht! Bissiger Hund!

Klaus Mertens Architekt

Martina Mertens Innenarchitektin

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I

Ich stand allein vor Martinas Haus, das sich dunkel, unfreundlich und türmereich vom Nachthimmel abhob. In der Hand hielt ich den Brief an Fräulein Amberg. Ich lehnte mein Rad an das Tor, wollte den Brief öffnen und bei Mondlicht zu entziffern versuchen und erschrak furcht­bar, denn da war plötzlich drin im Garten ein großer, schwarzer Hund, der aufgeregt bellte und am Tor hoch­sprang. Das war also der Beschützer, von dem Martina geschrieben hatte. Das war ja verheißungsvoll! Vor gro­ßen Hunden habe ich schon immer Angst gehabt, und wie sollte ich diesem da klarmachen, daß ich ins Haus gehöre und er die Pflicht habe, mich zu beschützen? Na, Martina­würde es ihm schon sagen.

Was ich getan hätte, wenn der Mond nicht so über­mäßig hell geschienen und den Brief beleuchtet hätte, weiß ich nicht. Auch so stand ich nach dem Lesen recht hilflos da.

»Liebes Fräulein Amberg!Es tut mir ungeheuer leid, daß ich Sie heute nicht mehr

begrüßen kann. Denken Sie sich: Vor zwei Stunden kam ein Freund meines Mannes mit dem Wagen hierher. Er befindet sich auf der Fahrt nach Italien, ganz in die Nähe des Ortes, in dem ich zu tun haben werde. Ich entschloß mich schnell, mit ihm zu fahren. Da ich sowieso morgen früh fahren wollte, war ich mit meinen Vorbereitungen fast fertig. Einen ausführlichen Brief lege ich auf den Küchentisch. Hier nur noch die Nachricht, daß Sie Florian und die Schlüssel nebenan bei Frau Grafe abholen kön­nen. Ich wünsche Ihnen gutes Eingewöhnen.

Ihre Martina Mertens

NS. Hoffentlich verstehen Sie, daß ich diese einzig­artige Gelegenheit ausgenützt habe!«

Page 76: Barbara Hug - Hundert Tage Mit Chirstiane

Na ja, das verstand ich schon, aber angenehm war die Sache nicht. Martina hatte selbstverständlich nicht damit gerechnet, daß die zuverlässige Betreuerin ihres Kindes erst nachts gegen elf Uhr kommen würde. Was sollte ich tun?

Zu Frau Grafe nebenan gehen? Jetzt noch? Und wohin sonst? Ich beschloß, mein Fahrrad ins Gebüsch zu schie­ben und nachzusehen, ob bei Frau Grafe noch Licht war. Wenn ja, würde ich klingeln. Wenn es dunkel sein sollte, wollte ich im »Adler« übernachten. So furchtbar teuer konnte das auch nicht sein.

Aber wo war das: »nebenan«? Da rechts und links nur Wiesen und Obstbäume zu sehen waren, war es in diesem Fall ein ziemlich unklarer Begriff. Meine Beine waren müde, aber noch nicht so wie der Kopf. Sie gingen einfach, ohne Weisung von oben, die Straße nach links weiter, und so kam ich nach etwa fünf Minuten zu einem Haus mit ziemlich flachem Dach und ohne jegliche Türmchenverzierung.

Die Gartentür lag im Schatten, so konnte ich das Namensschild nicht lesen. Ich fand auch keine Klingel. Ich rüttelte an der Klinke, um mich bemerkbar zu machen und vielleicht einen Menschen aus dem noch beleuchteten Haus herbeizuholen oder einen wachsamen Hund. Aber die Tür sprang auf. Es kam auch kein Hund. Ich ging vorsichtig zwischen üppig blühenden und duftenden Nel­kenbeeten hindurch auf das Haus zu. Auch hier keine Klingel zu entdecken.

Ich klopfte... Niemand kommt. Ich höre Musik, die ich kenne. Irgendeine Händel-Sonate. Martina und An­drea haben sie oft mitsammen gespielt. Ich klopfe wieder, da merke ich, daß die Tür nur angelehnt ist. >Entweder sind die Leute vertrauensselig oder leichtsinnig<, denke ich und gehe hinein in eine dunkle Diele. Durch einen

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Türspalt dringt Licht und kommen die Töne. Ich bleibe stehen und warte, denn ich weiß: noch drei, vier Takte, dann ist der zweite Satz zu Ende.

Stille. Ich rufe »Hallo!« (furchtbar blöd in diesem Augenblick. Aber was sonst hätte ich rufen sollen?) und habe Erfolg, denn die Tür tut sich auf, und eine Frauen­stimme fragt: »Ist jemand hier? Ach kommen Sie doch herein.«

Ich gehe ein paar Schritte bis zu der geöffneten Tür, und dann stehe ich in einem Raum, und es ist mir, als träumte ich, so unwahrscheinlich ist alles.

Ich sehe zunächst keine Einzelheiten, habe nur das Gefühl, nicht in einem gewöhnlichen Zimmer zu sein, sondern in einem Raum, der von einem goldenen Licht erfüllt ist, das meinen dunkelheitgewohnten Augen nicht weh tut, so sanft ist es. Als erstes unterscheide ich eine Dame, die in der linken Hand vorsichtig Geige und Bogen hält, die Rechte streckt sie mir zur Begrüßung hin. Sie hat ganz weißes Haar, ist sehr schmal und mit einem samtenen, dunklen Gewand bekleidet, dessen Farbe ich nicht recht sehe bei dem ungewissen Licht. Vielleicht ist es ein tiefes Violett. »Kleid« kann man es nicht nennen. Es reicht bis auf den Boden und sieht eher aus wie ein Morgenrock — nur paßt das Material nicht dazu. Ich nenne es: Gewand.

Mitten im Raum steht ein Notenpult und in der entfernteren Ecke ein Cembalo. Ein richtiges Cembalo — wie Mutters, das sie vor Jahren verkaufte, um Andreas Studium davon mitzufinanzieren. Auf dem Deckel steht ein Leuchter mit sieben Kerzen, die das Zimmer mit ihrem angenehmen Schein füllen und auch den Beglei­ter der Geigerin beleuchten, der mich aufmerksam ansieht.

Das alles dauert nicht so lange, wie es hier aufgeschrie­ben wirkt.

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Die Geigerin ergriff meine Hand und sagte freundlich: »Herzlich willkommen. Sicherlich sind Sie Fräulein Am­berg?«

»Ich heiße Christiane Andresen«, sagte ich. Hier wollte ich mich niemals mit einer Lüge und unter falschem Namen einführen. Bei Menschen, die eine völlig Unbe­kannte, die um Mitternacht in ihr Haus eingedrungen ist, so empfangen, ist das unmöglich.

»Schade, wir erwarten nämlich ein Fräulein Amberg. Nun wird sie erst morgen kommen. Da behalten wir unseren Schützling halt diese Nacht noch hier. Das heißt«, sagte sie lächelnd, »das Wort >schade< bezieht sich nicht auf Sie und auf Ihren schönen Namen — wir machen uns nur ein wenig Kummer wegen Florian. Und was hat Sie zu uns geführt?«

Ich erzählte nun von meiner Fahrt, von dem Mißge­schick mit dem Rad und daß ich an Stelle von Christel Amberg gekommen sei, um den kleinen Jungen zu be­treuen. Daß ich Martinas Schwester bin, sagte ich nicht. Es wäre zu schwierig und wohl auch etwas gar zu lang­wierig gewesen, die dazugehörige Geschichte erzählen zu müssen.

Frau Grafe ging hinaus, um mir schnell einen kleinen Imbiß zu holen. Der Cembalospieler, der sich als »Dok­tor Grafe« vorstellte, führte mich ins Nebenzimmer an ein kleines Tischchen und sprach inzwischen mit mir. Er hatte das elektrische Licht eingeschaltet und mich damit in große Verlegenheit gebracht. Hier sah ich, daß auch er einen ähnlichen Samtmantel trug wie seine Frau. Auf dem Kopf hatte er ein Käppchen aus demselben Stoff und an der rechten Hand einen breiten Ring. Haus, Menschen, Gegenstände waren von einem Geist beseelt, den ich noch niemals gespürt hatte. Auch die Tasse, in der mir Frau Grafe den Tee brachte, hatte diesen Stil — nur ich nicht.

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Mit meinen hundertmal gewaschenen, hellblauen langen Leinenhosen, dem roten Pulli, staubigen Sandalen, roten Söckchen, verstrubbelten Haaren und nicht ganz ein­wandfreien Fingernägeln kam ich mir höchlichst fehl am Platz vor. Auch konnte ich dem Gespräch nicht recht folgen. Die Stimmen waren manchmal ganz weit weg. Ich fror so, daß ich zitterte.

»Sind Sie krank?«»Nein, danke, nur müde.«Nach ein paar Fragen hatten sie heraus, daß ich so

lange nicht geschlafen hatte. Herr Grafe gab mir einen Enzian zu trinken, der scheußlich schmeckte, aber wärmte, sie bezog in Geschwindigkeit ein Bett für mich, ich bekam warmes Wasser zum Waschen, und beide sagten, ich müsse heute nacht ihr Gast sein und morgen früh so lange schlafen, wie ich wolle.

Es erschien dann noch ein junger Mann, anscheinend der Sohn des Hauses. Ich weiß nicht mehr, wie er aussah. War zu müde.

»Guten Abend, Herr Sterngucker«, sagte Frau Grafe zu ihm, »wir haben inzwischen, dank deiner offengelas­senen Türen, einen Gast bekommen.«

Daß es solche Menschen gibt, habe ich nicht gewußt. Mutter muß sie unbedingt kennenlernen. Wie würde sie sich hier heimisch fühlen!

Der heutige Tag begann für mich kurz vor zehn mit dem Erwachen und einem entsetzten Gedanken an mein Rad. Daß ich das in der Nacht so völlig vergessen und in dem unbekannten Gebüsch stehenlassen konnte! Jetzt mußte ich diesen Tag wieder so himmelblau und knallrot,

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verstaubt, verstrubbelt und ohne Kamm, Waschlappen und Zahnbürste beginnen!

Ich säuberte mich, so gut es ging, und wurde von Frau Grafe zum Kaffeetrinken geholt (sie hatte ein blaues Leinenkleid an mit schmalem, rotem Gürtel). Der Kaffee­tisch war auf der Terrasse gedeckt, und dort sah ich auch Florian, ein quicklebendiges, braungebranntes Etwas mit weißblondem Haarschopf. Er lag auf dem Rücken und besah seine Hände.

»Guten Morgen, mein kleiner Neffe«, sagte ich, »was bist du für ein süßes Kind!«

Und dann erzählte ich Frau Grafe die reichlich ver­wickelte und wunderbare Geschichte, an deren Ende ich nun hier bei ihr saß und ihre Gastfreundschaft genoß.

Sie übergab mir die Schlüssel, und ich ging zuerst einmal ohne Florian in Klaus’ und Martinas zinnen- und türmereiches Schloß mit der »abschtrakten« Treppe.

Die erste Sorge nahm mir Frau Grafe ab, indem sie sagte, der Hund Attila sei nur nachts da. Solange Martina verreist sei, würde er morgens von Heimles abgeholt und abends kurz vorm Einbruch der Dunkelheit gebracht. Die zweite verließ mich beim Anblick meines Rades, das unberührt im Gebüsch stand. Von der dritten Sorge ahnte ich noch nichts, die überkam mich erst später.

Zunächst probierte ich alle Schlüssel, um den zu finden, der das lanzenspitzenverzierte Tor öffnete, das die aus einer Mischung sämtlicher bekannter Stile erbaute Villa und den sie umgebenden verwahrlosten Garten vor uner­wünschten Besuchern schützen sollte. Der letzte war es.

Das gleiche Spiel begann aufs neue an der Haustür, die aus Eichenholz bestand, das mit schmiedeeisernen Schling­pflanzen verziert war und zu der drei marmorne Stufen hinaufführten, die rechts und links von zwei ionischen Säulen flankiert und oben durch ein dreieckiges Giebel­

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feld gekrönt wurden, aus dessen Mitte der Kopf der Medusa herabsah. Ich nehme jedenfalls an, daß es sich um diese Dame handeln soll, da sie so häßlich ist.

Über das Haus will ich heute weiter nichts schreiben. Daß es so etwas gibt, habe ich auch nicht gewußt. Ich beschreibe morgen alles ausführlich. Jetzt will ich noch schwimmen, danach den ganz herzigen Florian zur Nacht fertigmachen und selbst ins Bett gehen. Dann ist der Hund Attila Alleinherrscher ums Haus herum.

Ich werde ihm nicht ins Gehege kommen!

15. Juli

Heute haben die armen Ebenheimer noch einmal Schule. Ich habe mein Morgenbad hinter und einen langen Tag vor mir. Florian liegt in seinem Wagen neben mir und schläft, ich sitze unter einem Apfelbaum und will schrei­ben. Das ist eine mir wohlbekannte Situation, nur waren es sonst Holunder und Schularbeiten, das Kind nicht so hübsch und der Wagen nicht so häßlich. (Ich bin durch Langbeins Wagen schon etwas abgehärtet, aber er ist ein Prachtexemplar gegen das Gefährt, in das Martina ihren süßen Sohn zu legen sich nicht schämt.)

Florian macht es nichts aus — er ahnt auch noch nicht, daß er im häßlichsten Haus vom ganzen See wohnt, das ich gestern gründlich besichtigt habe. Vor allem so direkt nach dem ganz modernen Grafeschen Haus wirkt es unwahrscheinlich.

Ich begann unten im feuchten Keller, der mir recht verdächtig nach Mäusen und Ratten aussah und den ich deshalb schnell wieder verließ. (Wahrscheinlich hat ihn Martina das ganze Vierteljahr durch nicht betreten!)

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Zu ebener Erde ist die Küche zu finden, eine Art mit­telalterliches Verlies, ausgestattet mit einem schlechtbren­nenden Herd und schießschartenähnlichen Fenstern und nicht gerade dazu angetan, daß man viele Stunden des Tages darin zubringen möchte.

Von hier aus gelangt man durch einen gotischen Tor­bogen in die Speisekammer, die fast ebenso groß ist wie die Küche und durch ein ebenfalls gotisches großes Fenster viel zuviel Licht bekommt. Da für die Aufbewah­rung von Mertens’ Vorräten anscheinend ein Schrank und ein Regal genügen, wird dieser Raum als Abstellkammer für alle möglichen und unmöglichen Dinge verwendet. Es sieht dort aus wie in Sodom. Wie gut, daß ich zur Familie gehöre und meine Schwester Martina und ihren mangeln­den Ordnungssinn kenne. Wenn da eine Fremde hinein­gesehen hätte! Der Ruf der Familie Andresen wäre hin auf Generationen! So bleibt’s unter uns.

Der nächste Raum ist ein schmales, düsteres Badezim­mer mit einer Badewanne, die auf gußeisernen Löwen­pranken steht, einem mit barocken Auswüchsen versehe­nen, nicht funktionierenden Badeofen und einem sehr gro­ßen, in die Wand eingelassenen Spiegel, dessen Silberrück­wand sich vor Altersschwäche und Feuchtigkeit krümmt — teilweise auch schon ganz aufgelöst ist — und ähnlich wirkt wie die Spiegel im Lachkabinett auf dem Jahr­markt in Ebenheim.

Ein Becken für fließendes Wasser ist auch da, durch Seerosenbilder und zwei Sprünge belebt, und in der Ecke lehnt an einem Holzschemel Florians Badewännchen, das einzige normale Stück in diesem Museum.

Das Klosett ist ein schmales, langes, dämmriges Gelaß neben dem Bad.

Außer der Diele, einem sehr hübschen, aber nur schwach möblierten Raum, ist im Erdgeschoß noch ein Zimmer

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vorhanden. Wie Martina Mutter erzählte, soll darin ein­mal Klaus’ Assistent oder Techniker arbeiten. Mangels eines solchen steht es bisher leer, das heißt, ein Möbelstück steht darin: das Klavier, von dem mir mein Spediteur schon berichtet hatte.

Die »abschrakte« Treppe, die ihn noch nach einem Vierteljahr zu Wutausbrüchen reizte, windet sich von der unteren Diele hinauf zum ersten Stockwerk und dann weiter bis zu einer Falltür, durch die Klaus’ Arbeitszim­mer im »großen Turm« zu erreichen ist. Dort oben ver­stehe ich, warum er und Martina ausgerechnet dieses Haus gemietet haben — abgesehen davon, daß sie nun endlich einmal Platz zum Wohnen haben.

Der Turm ist achteckig, und so hat Klaus acht Fenster, durch die er Wasser, Erde, Berge und Himmel sehen kann in der besonderen Schönheit, die sie hierzulande haben. Wenn es ihm zuviel Licht zur Arbeit ist oder er sich kon­zentrieren muß, kann er die Vorhänge zuziehen, und alles ist abgeschlossen.

Martinas Arbeitszimmer ist im »kleinen Turm« zu fin­den. Das ist eigentlich nur ein weit aus der Hauswand vorspringender Erker, der mit Turmhelm und Wetter­fahne geziert ist. Er hat vier große Fenster, durch die man über den ganzen See bis hinüber zu den Alpen sehen kann.

Hier sitzen und arbeiten können, muß ein Vergnügen sein!

Ein größeres jedenfalls, als unten hinter Schießscharten Geschirr spülen zu müssen. Ich werde meinen Verbrauch an Tellern, Tassen und Töpfen möglichst niedrig halten. Aus den verschiedensten Gründen: Faulheit, Schlankheit, Geldknappheit.

Neben Martinas Erkerzimmer liegt das Wohnzimmer, hübsch mit neuen, nicht zu modernen Möbeln ausgestat­

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tet. Es ist verhältnismäßig groß. Sehr viel größer als Klaus’ Schlafzimmer daneben. Noch kleiner ist das von Martina und ganz winzig nebenan eine Kammer, in der Florians Bettchen und die Wickelkommode stehen.

Im letzten Zimmer dieser Etage stehen auch ein Bett, ein Stuhl und ein schmaler Schrank. Wahrscheinlich sollte die Betreuerin des Säuglings in diesem unvollendeten Ge­mach schlafen. Sie zog es aber vor, sich das Bett der Schwester auszuwählen, und fühlt sich darin recht wohl.

In der Decke der »Mädchenkammer« entdeckte ich eine Falltür, holte die Leiter aus Sodom und besah mir, was sich jenseits dieser Tür befindet. Es ist ein großer Boden­raum, von dem an einer Giebelwand eine Kammer abge­teilt ist. Außerdem gibt es dort oben Spinnweben, alte Wespennester; sogar Fledermäuse. Befriedigt vom Erfolg meiner Exkursion, trug ich die Leiter nicht wieder die Treppe hinab, sondern ließ sie in der Kammer stehen. Vielleicht kann ich sie einmal brauchen.

16. Juli

Heute muß ich nun doch einmal eine Rechnung in mein Haushaltsbuch hineinschreiben. Das ist ein recht schlech­tes Zeichen für die pekuniäre Lage, in der ich mich be­finde, denn rechnen tue ich nie freiwillig, nur in allerhöch­ster Not. Soweit ist es nun.

Als ich hierherkam, hatte ich genügend Geld mit, um mir ab und zu etwas kaufen zu können, auch für eine Fahrkarte (falls es im September regnen sollte oder mein Rad kaputt wäre) — genug, um ein unabhängiges Gefühl zu haben. Ob ich eine Entlohnung von Martina anneh­men würde, wollte ich abhängig machen von ihrer augen­blicklichen Vermögenslage — bis jetzt war sie immer ziemlich schlecht, aber vielleicht hatten die Italiener Vor­

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schuß gegeben —, und mit freier Kost und Unterkunft rechnete ich selbstverständlich.

Nun ist alles anders. Auf dem Küchentisch fand ich einen Zettel, auf dem stand, daß ich die beigefügten zwanzig Mark vorläufig nehmen möchte, um Milch, Waschpulver und so weiter für Florian zu kaufen. Es sei das letzte Geld, das sie, Martina, da habe. Ich würde aber bald genügend überwiesen bekommen.

Na, hoffentlich! Heute kam zuerst der Gasmann, dann eine Mahnung des Hausbesitzers wegen rückständiger Miete. Ich habe alles bezahlt und bin nun ziemlich pleite. Meine Schwester Martina ist zwar ein liebenswürdiges und begabtes Geschöpf, auf finanziellem Gebiet aber ein völliger Versager. Wie gut, daß auch das »unter uns« bleibt!

Hoffentlich vergißt sie nicht, Geld zu überweisen, denn ich weiß nicht recht, wie ich jetzt welches verdienen soll.

17. Juli

Seit dem Nachmittag regnet es. Das bedeutet, daß ich auf das Nachmittagsbad im See verzichten mußte, statt dessen in der Küche Ordnung zu machen versuchte und nun, nachdem Florian in seinem Bettchen liegt und friedlich schläft, an Martinas Arbeitstisch sitze und schnell noch etwas schreiben will, ehe ich mir ein Buch suche und damit auch im Bett verschwinde.

Neben meinem Fenster spuckt ein drachenköpfiger Wasserspeier das Regenwasser auf das Dach (wie sollte es an diesem Haus auch gewöhnliche Dachrinnen geben! Wasserspeier sind viel romantischer und so schön unprak­tisch), und die rostige Wetterfahne auf der Spitze des Turmes quietscht und ächzt bei jeder Bö. Neuartige Ge­räusche, an die ich mich erst gewöhnen muß.

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Attila liegt in seiner Hütte. Neben seinen Wassernapf habe ich ihm ein großes Stück Wurst gelegt, damit er langsam Sympathien für mich bekommt.

Außer für Florian und Attila habe ich für noch ein an­deres lebendiges, zur Familie Mertens gehörendes Wesen zu sorgen: für Alexa. Im November vergangenen Jahres hatte sie Klaus als Dank eines Bauern für gute Ratschläge zu einem Scheunenbau bekommen. Sie sollte der Weih­nachtsbraten werden.

Da weder Martina noch Klaus es fertiggebracht hatten, die Gans, die sie nun persönlich kannten, zu schlachten oder gar aufzuessen, hatten sie Weihnachten vegetarisch gelebt, und Alexa freut sich noch jetzt, im Juli, ihres Le­bens und wird es tun, bis sie an Altersschwäche stirbt. Sie ist ein anhängliches Tier und tagsüber, in Attilas Ab­wesenheit, vorzüglich als Wächter zu verwenden. Nachts schläft sie in einer Ecke der Waschküche.

Mein Tageslauf sieht so aus:6 Uhr weckt mich Florian. Ich lege ihn trocken, gebe

ihm die Flasche, unterhalte mich mit ihm und lege ihn zum Weiterschlafen wieder ins Bett. Mich auch.

8 Uhr: Ich erhebe mich mühsam, stelle Topf mit Win­deln zum Kochen auf, ziehe den Badeanzug an und laufe schnell durch die feuchte Wiese bis zu dem kleinen Pfört- chen in dem schiefen, durch eine verwilderte Ligusterhecke und Brennesseln gestützten Zaun. Nun brauche ich nur noch den für Radfahrer verbotenen Weg, auf dem ich damals in der Nacht meinen Spediteur getroffen habe, zu überqueren und über viele Steine zu laufen, dann bin ich im Wasser. Ein paar Minuten schwimmen, Bademantel umhängen und denselben Weg zurücklaufen — das ist meine mit Frühsport kombinierte Morgenwäsche.

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8.30 Uhr: Ich fahre mit Martinas klapperigem Fahr­rad zu Heimles und hole Milch, Kirschen, Eier, Gemüse — was ich gerade an landwirtschaftlichen Produkten haben will. Bis jetzt nur Milch und Kirschen, denn ich muß sparen.

9 Uhr: Milch abkochen, Windeln waschen, aufhängen und so weiter, und dann ist 9.30 Uhr Florians Badestunde angebrochen.

10.30 Uhr liegt er sauber, satt und zufrieden im Garten unterm Apfelbaum und ich irgendwo in der Nähe in der prallen Sonne, denn ich will dunkelbraun nach Eben­heim zurückkommen.

Die notwendigen Aufräumungs- und Säuberungsaktio­nen im Hause hebe ich mir für Regentage auf.

Ich schreibe Briefe, lese, döse... langweile mich nie, fühle mich wohl, esse irgendwann um die Mittagszeit Brot und Kirschen.

14 Uhr ist Florian wieder dran.18 Uhr wieder. 21 Uhr zum letztenmal.Zu überarbeiten brauche ich mich nicht. Die tägliche

Karte mit dem Bericht an die besorgte Mutter Martina ist auch schnell verfaßt. (Unterschreiben tu ich mit C. A., von mir aus gesehen bedeutet das Christiane Andresen — Martina wird es als Christel Amberg lesen. Sehr prak­tisch.)

Zu größeren Unternehmungen habe ich bisher noch keine Lust verspürt (ich zehre noch von den kürzlich hinter mich gebrachten) und fühle mich recht glücklich in meiner Faulheit. Genauso hatte ich mir das Dasein einer zuverlässigen, ehrlichen und sauberen Betreuerin eines Säuglings am Bodensee gedacht.

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18. Juli

Als ich vom Milchholen zurückkam (naß und ver­spritzt und mit dem Vorsatz, heute das Haus nicht wieder zu verlassen, wenn der Regen nicht aufhört), war Post für mich da: zwei Briefe an Fräulein Christiane Andre­sen und einer an Fräulein Christel Amberg. Letzterer kam aus Italien.

In ihm schreibt mir meine liebe Schwester, daß sie sich freue über meine Anwesenheit und weil alles so gut geklappt habe, und sie hoffe, es gehe alles weiterhin zur allgemeinen Zufriedenheit. Ihre Fahrt sei gut verlaufen, auch habe sie ihren Mann bei guter Gesundheit und für sich selbst viel Arbeit vorgefunden. Es sei sehr heiß.

Falls ich Geld brauche und Wert darauf lege, mein Gehalt wöchentlich zu empfangen, möchte ich doch bitte zum Adlerwirt gehen. Dort habe sie für die Renovierung der Weinstube und des Speisesaals noch Geld zu bekom­men. Sie habe schon gestern an den Wirt geschrieben, daß ich wahrscheinlich kommen und das Geld holen würde, er möge es bereitlegen. Durch die überstürzte Abreise sei sie leider nicht mehr dazugekommen, das Geld selbst ab­zuholen. Ich möge so freundlich sein und so weiter.

Nun bin ich ja gern freundlich, aber mit Geld habe ich nicht gern zu tun, vor allem dann nicht, wenn ich das Geld anderer Leute bei wieder anderen Leuten eintreiben muß.

Der zweite Brief war von Mutter und kam aus Stock­holm. Das scheint eine großartige Stadt zu sein. Sie hat mit Großvater zusammen ein Paket an mich abgeschickt, an dem ich großes Vergnügen haben soll. Sie wollen mir aus jedem Land, in das sie kommen, etwas Hübsches schicken. Norwegen und Finnland stehen noch aus. Das

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Schwedenpaket macht den Umweg über Holstein und Ebenheim, denn Mutter und Tante Gerda wissen nicht, daß ich hier Florian pflege.

Den Brief hat Frau Mozert nachgeschickt. Hintendrauf auf dem Umschlag hat sie geschrieben: »Verfolge Ihr Le­ben hier an Hand der Sterne. Nächste Tage günstig für Geldgeschäfte, ungünstig in Liebesangelegenheiten. M. frdl. Gr. B. M.«

Der dritte Brief, direkt und richtig adressiert, kam von Walter. Eine Seite lang bedankt er sich für meine Karte, auf der zweiten berichtet er von schulischen und sonstigen Ebenheimer Ereignissen, und die Ränder bekrit­zelt er mit den herzlichsten Grüßen an mich und mit der Mitteilung, daß er, falls er auf seiner Radfahrt in die Nähe des Bodensees käme, mich besuchen wolle. Mit die­sem Besuch werde ich wohl rechnen können.

Ich glaube, es ist so etwas Ähnliches wie ein Liebesbrief oder die Vorstufe dazu, den ich heute bekommen habe. Es ist mein erster. — Eigentlich hatte ich mir den etwas anders vorgestellt.

Abends: Es regnet noch immer. Ich bin im »Adler« gewesen. Der Wirt war nicht da, nur seine unfreundliche Frau. Ich soll morgen wiederkommen.

Mir scheint, Frau Mozerts Sterne irren sich in Geld- und Liebesdingen.

19. Juli

Der Tag begann grau und naß. Ich beschloß, etwas dagegen zu tun, zog den Badeanzug an und nahm mein Morgenbad im See. Anschließend fror ich so, daß ich erst noch einmal ins Bett kroch und mein munter werdendes Gewissen, das mich mit Windelwaschen und Milchholen aktivieren wollte, damit beruhigte, daß ich eine gesund­

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heitsfördernde Kneippkur mache und die Windeln auch nach Florians Badestunde waschen könne. (Wer weiß, zu welcher Tages- oder Nachtzeit Martina sie gewaschen hat!)

Florian kriegte seine Sechsuhrflasche eine halbe Stunde früher, dann zog ich meinen hellgrauen Falten­rock an, die weiße Bluse mit den langen Ärmeln und dem steifen, kleinen Kragen, schwarze Wildlederschuhe und lange Strümpfe. Das einzige Paar, das ich für besondere Anlässe mitgenommen habe! Der besondere Anlaß war der Adlerwirt, dem ich das Geld abringen wollte.

Die dänische Wolljacke nahm ich über den Arm, denn es regnete nicht, und mit meinem schäbigen Ano­rak wollte ich im »Adler« nicht erscheinen. Wieder war zunächst nur »sie« da. Ich sagte, ich wolle warten, und bestellte mir — um einen guten Eindruck zu machen — einen Zitronensprudel. Der Eindruck auf die Wirtin schien nicht bedeutend zu sein.

Zwei alte Männer saßen an einem Tisch und tran­ken ihr Viertele. Dann kamen Fremde, die ein Zimmer suchten. Er war anscheinend alles besetzt, denn sie gingen gleich wieder. Ich stand auf und holte, unter den mißbilligenden Blicken der Wirtin, eine Illustrierte vom Haken. Die Gäste kamen zum Abendessen, es war sieben Uhr.

Endlich erschien der Wirt. Seine Frau flüsterte mit ihm. Er sah zu mir herüber, kam aber nicht, sondern bediente. Ich wurde langsam unruhig: 1. wollte ich den Jungen nicht so lange allein lassen, 2. mußte ich vor Attila zu Hause sein, und der kam gegen acht.

»Ich stehe gleich zur Verfügung«, flüsterte mir der Wirt diskret zu und brachte ein dickes Schnitzel zum Nebentisch.

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Ich bekam Appetit auf ein ordentliches Essen und nahm mir vor, morgen auch ein dickes Schnitzel zu braten, wenn ich heute das Geld bekäme. Wenn nicht, würde ich mich weiterhin an Kirschen halten müssen, die sind billiger.

Ich wurde dann im Nebenzimmer abgefertigt. Mar­tinas Brief war da. Daß sie das Geld zu bekommen hatte, war klar, nur nicht, daß ich es bekommen sollte.

»Sind Sie Fräulein Amberg?« fragte er.»Ja.«»Bitte weisen Sie sich aus. Sie müssen verstehen, daß

ich eine solche Summe nicht einer Unbekannten aus­händigen kann.«

Nun saß ich da! Das heißt, ich stand schon an der Tür, sagte, daß ich den Ausweis zu Hause hätte und wann ich damit wiederkommen könne.

»Übermorgen nachmittag.«»Auf Wiedersehen.«Mein Heimweg dauerte eine Viertelstunde. So lange

hatte ich Zeit, über den Fall nachzudenken und in mir einen großen Zorn auf Martina wachsen zu las­sen. Ich war so in die zornigen Gedanken verstrickt, daß ich den richtigen Weg verpaßte und in den Ufer­pfad einbog.

Nicht schlimm, jetzt kannte ich ja den Riegel am Pförtchen, da konnte ich auch untenherum gehen.

Die Nähe des Sees beruhigte mich ein wenig, und als ich gerade beginnen wollte, dennoch mit meinem Da­sein zufrieden zu sein, sah ich etwas völlig Unpassen­des auf dem Wege stehen: so einen komischen drei­rädrigen Straßenfloh. Was tat er auf diesem Weg, der sogar für Radfahrer verboten ist? Was tat er direkt vor unserem Grundstück.

Als ich näher kam, entdeckte ich neben diesem gift­

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grünen Gefährt ein weibliches Wesen, das einen ebenso giftigen, langen Pullover anhatte, dazu quittengelbe enge Samthosen und violette, spitze Schuhe. Ich bin sehr fürs Bunte und werde in Ebenheim von manchen Leuten deshalb schief angesehen, aber das war mir denn doch etwas zuviel. Vor allem, weil dieses Wesen Haare von einem sehr auffallenden Rot hatte, die ihm bis auf die Schultern hingen.

Ich mußte meine gesamte gute Erziehung zu Hilfe ru­fen, um nicht zu auffällig hinzustarren, als ich vorbei­ging.

»Warum ist hier keine Reparaturwerkstatt?« fragte die Bunte.

Da sie mich bei dieser Frage ansah, nahm ich an, daß ich antworten sollte.

Ich tat es: »Weil Autos und solche, die es werden wol­len, hier nichts zu suchen haben.«

Diese blöde Ziege! Ich ging die paar Schritte bis zum Törchen.

Sie lachte überrascht: »Ach so«, sagte sie, »ich bitte um Verzeihung. Wenn ich mich vorstellen darf: Marie- Antoinette ist mein Name. Vorname. Der Nachname ist momentan uninteressant. Können Sie mir nicht einen Rat geben, wie ich das Ding hier von dem Weg ’runter- und für die Nacht unterkriege? Ich bin ziemlich hilflos. — Das bin ich selten, drum habe ich so einen Ärger.«

Na ja, sie schien auch vernünftige Seiten zu haben, ob­wohl sie nicht so aussah.

Ich überlegte. »Sie könnten es gut zu uns stellen für eine Nacht. Aber wie sollen wir es hineinbekommen? Ich heiße übrigens Christiane.«

»Ganz hübsch.«»Es geht, aber wir müssen uns eilen wegen Attila.«Die rot-giftgrün-gelbe Marie-Antoinette begann das

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Autobaby auszuräumen. Sie tat das, indem sie Koffer, Mäntel, Beutel, Kleider, Luftmatratze, Tennisschläger und sonstige Utensilien auf den steinigen Strand warf.

»So, nun versuchen wir, ihn hineinzubekommen, und dann wird er wieder gefüllt!«

Sie krempelte unternehmungslustig die Pulloverärmel auf, ich riegelte das Tor auf und begann meine Bluse auf­zuknöpfen, denn ich hatte keine Lust, ihr noch makelloses Weiß dem giftgrünen Pseudo-Auto zu opfern. Als ich sie ausziehen wollte erschien Bauer Heimle mit Attila. Ich war sehr froh, denn er band den Hund an den Baum, und gemeinsam mit der Besitzerin hatte er in kurzer Zeit das Gefährt auf unserer Wiese geparkt. Er half dann gleich bei der »Füllung«, trug die Sachen herbei, unterhielt sich über Autos und Motoren, versprach, mit dem »Auto-Stahl« zu sprechen, mit dem er jetzt zusammenkomme im Män­nergesangverein — der sei auch im zweiten Tenor und komme sicherlich ihm zulieb morgen früh und hole den Wagen. Er sagte tatsächlich »Wagen« zu dem Ding und war dienstbeflissen, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Zu mir ist er auch nett, aber anders. Mir scheint, daß dieses rothaarige Wesen auch das »gewisse Etwas« hat, wie Ingrid. Nein, ich glaube, sie hat kein gewisses, sondern ein sehr bestimmtes!

Ich stand ziemlich überflüssig daneben und wollte mich verabschieden, als der Heimle-Bauer sagte: »Übernachten können Sie im ganzen Ort nirgends. Wir haben jetzt Hochsaison, da ist alles belegt. Bei uns daheim auch. Ich würde Sie sonst mitnehmen, aber die Kinder schlafen schon im Heu. Das Fräulein Christel hat Platz, die kann Sie für heute nacht aufnehmen. Was meinen Sie?«

Was ich meinte, konnte ich nicht gut sagen, denn es blieb mir nun nichts anderes übrig, als das Mädchen mit­zunehmen. Ich dachte an den freundlichen Empfang, den

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ich bei Grafes gehabt hatte, und beschloß, freundlich zu sein, auch wenn mir der Gast gänzlich unsympathisch war.

Ich kochte Tee und Eier, strich Butterbrote, deckte den Tisch in Martinas Erker mit der schönen Aussicht und ließ die Rote allein, denn Florian schrie und wollte für die Nacht fertiggemacht werden. Anschließend brachte ich Klaus’ Zimmer für den Gast in Ordnung. Als ich zurück­kam, war es dunkel geworden. Marie-Antoinette stand am Fenster und sah auf das Wasser, das von den Lichtern am Schweizer Ufer begrenzt und von einem Himmel überspannt war, an dem schnelle, seltsam geformte Wol­ken dahinzogen.

Sie wandte sich um, als sie mich hörte.»Wenn es Ihnen recht ist, lassen wir das Licht aus«,

sagte sie. »Wie schön ist es, hier zu wohnen!«Ich stellte mich an das Nebenfenster, sah auch über den

See und sagte, daß ich hier nur als Haus- und Kinder­fräulein sei, solange Schwester und Schwager in Italien zu tun hätten.

Ich erfuhr, daß mein Gast aus dem Rheinland stamme und auch nach Italien wolle — aber nicht zur Arbeit — und sehr müde sei.

Das war mir recht, denn ich war es auch.»Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Gastfreundschaft«,

sagte Marie-Antoinette, und das war sozusagen der Gute­nachtgruß. Beim Anblick der eisernen Wendeltreppe, des Umgangs vor den Zimmertüren in der ersten Etage und erst recht bei dem des einmaligen Badezimmers, in das ich sie führte, wurde die müde bunte Dame wieder hellwach.

So etwas hatte sie nicht vermutet, weder überhaupt in diesem sachlichen Zeitalter noch am Bodensee. Es erhei­terte sie so, daß sie immer wieder lachen mußte — und ich mit —, obwohl ich bis dahin gedacht hatte, solche,

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die so aussehen, könnten gar nicht richtig lachen. Sie aber konnte es. Und wie!

Als ich nachgesehen hatte, ob auch alle Türen verschlos­sen waren, und am Bad vorbeiging, rief sie mich. Sie stand in einem blau-weiß gestreiften Pyjama mit kurzen Hosen da, wusch gerade einen Fuß in dem zersprungenen Seerosenwaschbecken und sagte: »Wenn Ihnen Marie- Antoinette zu lang ist, können Sie mich einfach Mette nennen. Gute Nacht.«

Mir scheint, mit dem geruhigen Leben einer Säuglings­betreuerin ist es bis zur Wiederherstellung des Kabinen­rollers vorbei.

20. Juli

Aus meinem genußreichen zweiten Morgenschlaf wurde ich heute durch ein monotones, von seltsamen Geräuschen begleitetes Zählen gerissen.

Marie-Antoinette !Bei 123 war ich so munter, daß ich meine Bemühungen,

trotzdem weiterzuschlafen, einstellte. Bei 137 stand ich auf, bei 149 hatte ich das Nachthemd aus —, den Bade­anzug angezogen, und bei 150 hörte das Theater auf.

Ich traf Marie-Antoinette auf den letzten Treppen­stufen. Sie kam von der unteren Diele, blau-weiß ge­streift, keuchend, barfuß und mit einem Springseil in der Hand. Sie strich sich die rote Mähne aus dem Gesicht, lachte munter in mein unausgeschlafenes Gesicht: »Mor­gen, meine Gnädigste! Wünsche wohl geruht zu haben! Ich für mein Teil habe! — 150 Seilsprünge allmorgend­lich kann ich nur empfehlen. Gut gegen jegliche Mangel- und Fülleerscheinungen, außerdem lebt man zehn Jahre länger.«

Das war die Begrüßungsrede. Später ging sie mit mir

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zum Heimle-Bauern. Ich wegen der Milch, sie wegen des autoähnlichen Fahrzeugs. Es wurde gegen zehn zur Repa­ratur abgeholt. Ich hoffte sehr, daß es heute noch fertig werden würde, damit der Gast davonfahren könne.

Mette blieb den ganzen Vormittag verschwunden. Mir war’s recht. Es war ein schwüler Tag. Florian war ganz schlapp vor Hitze, obwohl ich ihm nichts weiter ange­zogen hatte als ein kurzes Höschen, das die Windeln hielt, und er unterm dichtesten Schatten des Apfelbau­mes lag.

Er schlief schon wieder.Alexa hatte sich auch in diesen Schatten verzogen und

hielt eine Art Mittagsschlaf. Ich lag nicht weit entfernt in der prallen Sonne und empfand ihre Hitze angenehm nach dem kühlen Wasser des Sees. Es war völlig still. Die Autostraße mit dem nicht endenden Motorenlärm liegt weitab, die Badestelle des Dorfes auch, und heute hat noch niemand unsere Gegend zum Baden entdeckt.

Vor einer Woche war ich noch in Ebenheim und ver­zweifelt bei den letzten Reisevorbereitungen, heute schwelgte ich in Sonne, Wasser, Faulheit. Ich lag auf dem Bauch. Ich war glücklich.

Plötzlich ergoß sich eiskaltes Wasser auf meinen Rük- ken. Ich sprang wütend auf — und da stand Mette vor mir und schwenkte ihre weiße Bademütze.

»Erfrischend, nicht wahr?« rief sie, »stellen Sie sich vor, die machen Paulchen heute nicht mehr, weil Sonn­tag ist. Hatte ich völlig vergessen. Jetzt muß ich Ihre Gastfreundschaft noch für eine Nacht in Anspruch neh­men. Sagen Sie bitte, was eine Nacht kostet, ich bezahle gern und fühle mich dann nicht so in Ihrer Schuld. — Wie alt sind Sie eigentlich?«

Ich wollte auf diese direkten Fragen nicht mehr ant­worten, aber ich blieb brav und sagte: »Fast achtzehn.«

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»Und ich fast zwanzig, da könnten wir eigentlich du zueinander sagen. Ist nicht so anstrengend und außerdem seltener. Ich bin immer für die seltenen Dinge.«

Das schien mir auch so. Sie ging aufs Haus zu, um ihren Bademantel zu holen, der mir gestern abend schon auf­gefallen war, als sie ihn aus »Paulchen« herausschmiß. Er war weiß, mit bunten Fischen darauf. So einen hätte ich auch gerne.

Weniger den Badeanzug. Das Ding Anzug zu nennen, ist noch viel übertriebener, als wenn der Bauer Heimle den Roller »Wagen« nennt. Oben eine Andeutung und unten ein bißchen was — das war alles. Beides war türkis und paßte vorzüglich zu der roten Mähne und der nur leicht gebräunten Haut. Über Geschmack läßt sich nicht streiten — trotzdem: meiner war das nicht! Ich mußte laut lachen, als ich mir diese Marie-Antoinette im Klein- heimer Bad vorstellte. Ich glaube, Weckerle, unser Ober­polizist, müßte sie verhaften wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses!

Diese Dame, von der ich außer dem Vornamen und der Herkunftsgegend nichts weiß, scheint mit irdischen Gü­tern nicht gerade knapp bedacht zu sein. An Schüchtern­heit leidet sie auch nicht, ebensowenig an mangelndem Selbstbewußtsein. Ich nahm mir vor, mich heute abend ein bißchen heranzufragen. Schließlich muß ich ja wissen, wen ich eigentlich hier beherberge.

Nochmal am 20. 7.

spät in der Nacht.

Gegen sieben Uhr brach ein gewaltiges Gewitter los. Hinter Konstanz war ziemlich schnell eine schwarze Wol­kenmasse herauf gewachsen, die sich bald über den ganzen Himmel erstreckte, unheilvolle gelbe Ränder hatte, ferne

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Blitze und Donner mitbrachte und einen scheußlichen Wind, der die Bäume niederbog und unsere Wetterfahne herumdrehte, als wäre sie gar nicht verrostet, sondern be­weglich wie in ihren Jugendjahren. Sie ächzte und quietschte. Ich rettete alles ins Haus, auch Alexa, die auf­geregt schnatterte. Florian war seit der Flasche nicht mehr im Garten. Ich kann ihn nicht so einstauben lassen.

Ich dachte sogar daran, alle Fenster zu schließen, und als die ersten, mit Hagel vermischten Tropfen fielen, klappte die Hintertür, die ich immer benutzte, wenn ich in den Garten oder zum See gehe, und Mette kam an­gerannt. Unterm Bademantel hatte sie noch das türkis- farbene Nichts an. (Wo sie die ganze Zeit über gesteckt hat, weiß ich nicht, denn seit dem kühlen Guß am Nach­mittag hatte ich sie nicht mehr gesehen.)

»Ich habe Angst vor Gewittern«, sagte sie.»Und ich vorm Zahnarzt und vor großen Hunden!«Nachdem wir nun so ungefähr auf gleicher Ebene stan­

den, konnte der gemeinsame Abend beginnen.Er endete kurz vor Mitternacht oben in Klaus’ »gro­

ßem Turm«, als das Gewitter längst vorbei war, es nur noch ein wenig regnete und die Wellen unruhig an das Land liefen.

Wir hatten uns umgezogen, zu Abend gegessen. (Mette kam nicht zum rechten Genuß, weil sie bei jedem Donner­schlag zusammenzuckte, und es donnerte ziemlich häufig.) Dann hatte ich von Mutter erzählt, von den Schwestern, von Ebenheim... Danach versorgten wir gemeinsam Florian, den Süßen, den sogar Mette niedlich fand, ob­wohl sie sonst nichts für Babys übrig hat, und danach kam mir der Gedanke, auf den großen Turm zu steigen und dem Wetterleuchten am Horizont und dem aufge­regten Wasser zuzusehen.

Mette war begeistert von dem Raum hier oben. Wir

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holten uns die beiden türkischen Lederpolster, löschten das Licht und sahen aus zwei nebeneinanderliegenden Fenstern in den Abend hinaus.

Da begann Mette zu erzählen.»Du hast mir von deinem Zuhause erzählt, von deiner

Familie und deiner kleinen Stadt. Du hast mich auf­genommen, ohne zu fragen, wer ich bin, du hast mich verköstigt, ohne zu fragen, ob ich etwas dafür bezahle — alles nach dem hübschen Wort: Der Gast, so lästig er ist, er muß geehrt werden! — Daß ich dir lästig war, weiß ich. Vielleicht bin ich’s auch noch, aber du sollst dann wenigstens wissen, wenn ich morgen davonfahre, wer dein lästiger Gast gewesen ist. Name: schlicht und simpel Meier, Vornamen: weniger schlicht Marie-Antoinette. Al­ter: fast zwanzig Jahre, Beruf: noch Schülerin, da ich zu spät zur Schule gekommen und einmal sitzengeblieben bin. Äußere Erscheinung: bekannt; innere: kann ich selbst schlecht feststellen und wird von anderen verschieden, meist negativ beurteilt. Elternhaus: gut situiert, Lack- und Farbenfabrik. Ein im Zuge der allüberall ausbre­chenden Vorliebe für bunte Farben aufstrebendes Unter­nehmen, das ich einmal führen soll, da einziges Kind. Von den Eltern aus gesehen, liegt mein Lebensweg völlig klar da: Ostern wird das Abitur gemacht, dann wird die brave Tochter Betriebswissenschaft studieren, beste Prü­fungen machen, sich in ähnlichen Unternehmen umsehen, in die väterliche Fabrik einsteigen, sich einarbeiten und dann das Werk übernehmen. Möglichst wird dazu irgend­ein Sohn irgendeines ebensolchen Unternehmens geheira­tet. Schöne Aussichten, nicht wahr?

Wie in den meisten Dingen habe ich auch hier andere Ansichten als meine Eltern, und wie meistens, knallte es auch da — und ich habe mich in Paulchen gesetzt und bin davongefahren.

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Sie werden sich gewundert haben, als ich gestern nicht wieder da war! Ma hat inzwischen längst alle ihre Bekannten angerufen, um sich von ihnen gebührend be­dauern zu lassen wegen der furchtbaren Tochter, die ihre Nerven und Schönheit und Gesundheit, Ruf und was weiß ich noch was alles ruiniert. Dann kommen die üblichen Klagen über die verkommene Jugend und daß früher alles — aber auch alles — besser war. Vor allem die Jugend, und vor allem sie selbst. Weißt du, dabei werde ich allmählich verrückt. Vielmehr ich reagiere so, wie du mich siehst: ich ziehe einen Bikini an, damit sich die Erwachsenen aufregen über meine Verkommenheit (die heutige Jugend ist so!); ich trage gelbe Hosen, weil Ma Gelb nicht leiden kann; ich lasse meine Haare so lang wachsen, weil — naja, ist egal. Sieh mich nicht so verweisend an und denke jetzt nicht an >Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren ...<! Christiane, was täte ich lieber als das!

Weißt du, als ich konfirmiert wurde, oder kurz danach, irgendwann in der Zeit, als ich vierzehn Jahre alt war, da nahm ich mir ganz fest vor, einmal zu versuchen, ganz nach den Zehn Geboten und nach dem, was in der Bibel steht, zu leben. Und ich habe damit Ernst gemacht und begonnen. Von heute auf morgen.

Du hättest erleben sollen, wie es mir ergangen ist. Also: ich sagte nicht mehr >Ach Gott!<, wie ich es von Mutter -zigmal am Tag hörte und selbst gesagt hatte; ich ging sonntags in die Kirche, obwohl meine Eltern das nicht mehr für nötig hielten, nachdem ich doch konfir­miert war (aber sie ließen mich gewähren); ich ehrte die Eltern: ich war freundlich zu ihnen und unverhältnis­mäßig gehorsam. Das alles ging recht gut — aber nun kam das achte Gebot, und daran platzte alles. Ich gab mir Mühe, nicht zu lügen — und merkte, in welch ver­

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logener Welt die Erwachsenen leben. Da kam Frau Werk­mann — riesengroßes Malergeschäft und guter Kunde von Pa —, um Ma ihren Sohn vorzuführen. Ich sollte mit ihm spielen.

>Das tust du sicher gern, mit kleinen Kindern spielen?< meinte Frau Werkmann.

>Nein.<>Weshalb denn nicht?<>Ihr Junge ist mir viel zu ungezogen.<Oder das Telephon klingelte. >Wenn es der Konz ist,

sagst du, ich bin nicht da<, rief mir Pa nach.Es war Konz.>Ist dein Vater da?<>Ja.<Wenn ich zu einer Geburtstagsfeier eingeladen wurde,

zu der ich keine Lust hatte, sagte ich nicht: >Ich komme gern<, sondern: >Ich komme nicht.<

>Warum?<>Ich kann dich nicht so besonders gut leiden.< Oder: >Es ist immer so langweilig bei euch.<Ich schrieb in der Schule nicht mehr ab, sagte den

Lehrern hemmungslos, wenn ich nichts gearbeitet hatte, aß kein Fleisch, und wenn Ma schrie: >Huch! Die Spinne! Mach sie tot!<, dann ließ ich sie weiterhin über die Tapeten huschen.

Ich brachte es schließlich so weit, daß Pa in meiner Anwesenheit nicht mehr über geschäftliche Dinge sprach, weil ich ihm mit meinen strengen sittlichen Maßstäben auf die Nerven fiel. Ma bekam Herzanfälle, wenn ich ihr erklärte, ihre kosmetischen Bemühungen seien Lügen — wahr sei, daß sie alt sei und Runzeln habe. Als ich dann eines Tages auf dem Heimweg von der Schule meinen Mantel verschenkte (an ein wirklich armes Mäd­chen; ich habe es noch jahrelang heimlich beschenkt, bis es

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Geld verdiente), weil ich zu Hause noch einen hatte — außerdem drei Jacken, Anoraks und was weiß ich was noch alles —, und die aufgeregten Vorwürfe meiner Mutter ruhig hinnahm, ja ihr sagte, daß mindestens zwei Drittel unseres Besitzes nicht dringend lebensnotwendig seien und also verschenkt werden müßten an die Armen, da wurde es den Eltern zu bunt. Ich wurde zu einem Psychotherapeuten gebracht, und schließlich landete ich in einem Internat für schwierige Kinder aus besseren Kreisen. Das war in der Schweiz und wahrscheinlich rasend teuer. Sie gaben sich dort auch entsprechende Mühe mit mir, aber das war unnötig, denn ich war schon von mir aus dabei, den Versuch aufzugeben, ein wahr­haftiges Leben, so rigoros, wie ich mir das gedacht hatte, zu führen.

Ich hatte daraus einiges gelernt: Wenn man heutzutage so leben will, wie man eigentlich im christlichen Sinne sollte, landet man in einer Erziehungsanstalt und beim Irrenarzt — früher am Kreuz oder bei wilden Tieren, auf Scheiterhaufen oder sonstwo. Zweitens: Die Erwach­senen hängen sich den christlich-abendländischen Mantel um und tun darunter alles, was ihren Zwecken dienlich ist. Alles. Drittens: Man muß alles so machen, wie es die anderen auch tun — wie >man< es tut —, dann, nur dann kann man in Frieden leben und ist in den Augen der anderen >normal<. Ich kann dir sagen, daß das für mich eine schreckliche Zeit war.

Die Erwachsenen, die sich über meinen Fall genügend lange und ausgiebig unterhielten, beendeten ihre Unter­haltungen immer mit der >Erklärung<: >Sie ist jetzt eben in den Entwicklungsjahren.<

Natürlich war ich das: Ich hatte die Absicht, mich zu etwas Gutem zu entwickeln, war voller Ideale und guter Vorsätze — und niemand war da, der mich verstand, der

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mir sagen konnte: >Das ist richtig; aber mit dem da sei vorsichtig, fang langsam damit an.< Niemand rückte meine radikalen An- und Absichten zurecht. Niemand sah, daß da ein Mensch nach einem gangbaren Weg ins Leben suchte. Alle schimpften mit dem >Kind<, das ich weder war noch sein wollte, fanden mich unmöglich, aufsässig, geistesgestört. Und ich war so schrecklich allein. Du kannst dir nicht denken, wie allein. Am einsamsten in dem Internat, in dem ich äußerlich nie allein gelassen wurde.

Als ich zurückkam, war ich fünfzehn, ging noch einmal in die fünfte Klasse, und man fand mich allgemein >sehr gebessert<.

Ich hatte eine großartige Taktik entwickelt, um mein eigenes Leben leben zu können. (Denn mein Abscheu für uniforme Tätigkeiten und Ansichten hatte sich in der Schweiz noch verstärkt.) Äußerlich muß man tun, als wäre man eine der Ihren, dann lassen sie einen in Ruhe, und man kann ziemlich alles tun, was man will. Nach diesem Rezept lebe ich heute noch. Und zwar gut.

Ich kleide mich nach der Mode — immer etwas zuviel, um meine Umwelt zu schockieren —, ich sage ihnen, was sie zu hören wünschen, und denke sonst was, ich mache ab und zu beim Rock-’n’-Roll-Fimmel mit, obwohl ich mir nichts daraus mache. Man erwartet es von >der Jugend<. (>Und denken Sie, jetzt macht Marie-Antoinette da auch mit!<) Ich gehe in Filme, in die ich nicht gehen soll. Ich gehe aber auch in solche, in die die Erwachsenen gehen sollten und nicht gehen. Hast du >Nacht und Nebel< gesehen? Du, da vergeht dir verschiedenes, und alle sollten gezwungen sein, ihn anzusehen: die geschäftstüch­tigen Herren in den Maßanzügen und die Damen, die tun, als hätte die erste Jahrhunderthälfte nicht existiert, sondern 1951 sei die direkte Fortsetzung von 1900!

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Schluß damit. Das hat mit der Maturantin Mette Meier nichts zu tun, erhellt höchstens deren Haß gegen die Erwachsenen, zu denen sie nun bald auch gezählt werden, zwischen denen sie untergehen soll. Betriebswirtschaft, Farben- und Lackfabrik — meinethalben.

Eine andere Fabrik dazuheiraten? — Niemals!Dann müßte ich mich selbst auch hassen, und das ist

dann nicht mehr zu ertragen. Bisher habe ich mich näm­lich ganz gern.

Irgend jemand muß mich ja gern haben!« sagte sie ironisch, sprang von ihrem Lederpolster auf, reckte sich und strich mit beiden Händen die rote Mähne zurück.

»Hoffentlich bist du nicht eingeschlafen bei diesem einmalig tiefen Blick in meine äußere und innere Ver­gangenheit?« fragte sie, als ich stumm blieb. »Sag einmal ehrlich: Hast du in deinem Leben schon einen einzigen erwachsenen Menschen kennengelernt, den du dir als Vorbild nehmen könntest? Nicht Albert Schweitzer oder eine andere legendäre Einzelerscheinung, sondern einen ganz gewöhnlichen Durchschnittsmenschen, den du per­sönlich kennst?«

Ich stand auch auf. Um meine kurzgeschnittenen Haare in die richtige Lage zu bringen, brauchte ich nicht beide Hände — dazu genügt bei mir eine Bewegung mit dem Kopf.

Die machte ich, und dann sagte ich: »Ja!«Mette sagte nichts. Wahrscheinlich dachte sie, ich sei

ein braves Schaf.Vielleicht hat sie auch recht mit dieser Annahme.Ich knipste das Licht an. Die eiserne Treppe dröhnte,

als wir auf ihr hinuntersausten, Attila bellte aufge- schreckt, Florian begann zu brüllen — kurz: wir standen wieder auf realem Boden.

Als ich im Nachthemd aus der Küche kam, in der ich

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mich gewaschen hatte, weil Mette im Badezimmer so lange brauchte, gurgelte sie gerade mit voller Lautstärke. Ich bumste an die Tür: »Schlaf gut — und mach nicht vor acht Uhr Seilhüpfen!«

Das Gurgeln brach ab.»Nacht!« rief Mette. »Eins kann ich dir sagen: So bald

wie möglich besuche ich dich im Kirschberghaus! Deine Ebenheimer Idealmenschen muß ich kennenlernen!«

21. Juli

Kurz nach acht Uhr begann Mette mit dem Hüpfen und Zählen. Bei 75 hörte sie auf.

»Bei schlechtem Wetter mach ich nur die Hälfte!« rief sie mir zu und verschwand in ihrem Zimmer. Ich hörte Klaus’ Bett knacken und schickte ihr einige neidische Gedanken nach — eine zuverlässige, ehrliche und saubere Babybetreuerin kann es sich natürlich nicht leisten, mor­gens länger als bis acht Uhr zu schlafen. Auch nicht, wenn es regnet.

Daß es am Bodensee so oft regnet, hätte ich nie gedacht.Um die Mittagszeit verließ Mette das Haus. Sie wollte

irgendwo essen und sich nach Paulchens Befinden erkun­digen. Morgen früh will sie fahren. Nach Italien. Sie versprach, Martina aufzusuchen und ihr zu erzählen, daß Florian in allerbesten Händen ist. Ihre Eltern wollten mit ihr nach Portugal reisen — »Ma« fand es geeignet, weil es dort viele Exkönige gibt und deshalb das gesell­schaftliche Niveau eine gewisse Höhe erwarten läßt. »Pa« war einverstanden, weil er gelesen hatte, die Küste sei rauh und interessant. »Da angeln wir Ölsardinen!« hatte er gerufen und seine Tochter dabei angeblinzelt, und das, worauf sie beide warteten, kam: »Aber, Otto, das kann man doch nicht!«

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»Pa« hat, scheint’s, einigen Humor, der »Ma« völlig abgeht. Mette war es egal gewesen, wohin die Eltern in diesem Sommer fahren würden. Sie kennt ziemlich alles, was gerade Mode ist. Die Leute, die man dort trifft, sind einander alle ähnlich und meist nicht ihr Fall. Die Hotels ähneln einander und auch das Essen: internationale Stan­dardgerichte. Diesmal aber hatte sie plötzlich erfahren, daß Hügels ebenfalls in das monarchenreiche portugiesi­sche Seebad kommen wollten. Sie haben auch eine Farb- fabrik. Der alte Hügel ist kränklich und will sich zurück­ziehen, aber seine Frau ist da und Charly, der junge Hügel. Unverheiratet, solide und langweilig blickt er seit Jahren nach Mette aus, und die beiden Fabriken würden sich freuen, wenn sie auf so angenehme und einfache Art Zusammenkommen könnten. Nur eine freut sich gar nicht: Marie-Antoinette Meier. Als sie hörte, daß die Hügels mitfahren wollten, nahm sie ihre Sachen, das nötige Geld und Paulchen und fuhr los — so lange, bis sie hier hängenblieb.

Ein absonderliches Mädchen, diese Mette.Aber ich freue mich, daß ich sie kennengelernt habe. So

etwas gibt es in Ebenheim nicht. Es könnte dort auch gar nicht wachsen, dazu braucht man wohl Großstadtluft.

Am Nachmittag wollte ich einen Besuch bei den Grafes machen, war aber nicht ganz sicher, ob ich nicht, wenn ich so gänzlich ohne Grund dort ankäme, störend wirken würde, und das wollte ich bei diesen netten Leuten auf gar keinen Fall.

Aus diesem Zweifel wurde ich durch ein Dauerhupen herausgerissen. Ich legte Florian, dem ich gerade die Besuchshöschen anziehen wollte, in sein Bett (er reagierte mit Empörung und Gebrüll), lief ins Wohnzimmer und

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sah dort zum Fenster hinaus. Ich entdeckte das giftgrüne Paulchen vor unserem rostenden Tor.

Ich rannte zur Haustür — Paulchen hupte, mir fiel ein, daß das Tor verschlossen war — es hupte, ich suchte den Schlüssel — es hupte, ich fand ihn, lief zum Tor, schloß auf — endlich war es still.

Mette fuhr lachend auf dem verunkrauteten Weg in den Garten hinein und parkte den »Wagen« unterm Fliederbusch. Der ist auch die Garage für Mertens’ uralten Opel, mit dem sie jetzt an der Adria Aufsehen erregen werden.

Mette kroch heraus. Sie überreichte mir einige Päckchen und erzählte dabei, daß das liebe Paulchen wieder gesund sei an Leib und Seele, daß sie selbst darüber so erfreut gewesen sei, eine Fahrt nach Friedrichshafen gemacht und uns armen Zuhausegebliebenen von dort etwas mitge­bracht habe.

Florian bekam bunte Kugeln zum Spielen, die man über das Bettchen oder über den Wagen spannt, und Bananen. Mir schenkte sie eine schöne Einkaufstasche aus rotem Bast. Anscheinend hatte sie die schäbige Tasche (besser: den Rest einer Tasche) von Familie Mertens gesehen, obwohl ich sie vor ihr zu verstecken trachtete, und sich meiner erbarmt.

Im dritten Päckchen befanden sich Kuchen und Kaffee für uns beide.

Wir machten es uns oben im Turm gemütlich. Florian durfte auch mit. Den unmöglichen Kinderwagen trugen wir gemeinsam die Wendeltreppe hinauf.

»Der Wagen paßt im Stil einigermaßen zum Haus«, sagte ich entschuldigend, »das ist aber auch das einzig Positive an ihm.«

»Außer, daß ein Kind darin liegen und gefahren wer­den kann. Immerhin auch zwei Pluspunkte! — Das ist

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alles nicht so schlimm. Ich weiß, was hier in diesem Haus fehlt: die Farbe!«

»Du brauchst keine Betriebswissenschaft zu studieren, die Geschäftstüchtigkeit reicht.«

»Quatsch! Ich sage das nicht, weil ich die Tochter einer Farbfabrik bin. Überleg doch selbst einmal, wie es aussähe, wenn wir den Wagen anstrichen: Wünschen die Dame hygienisch-einwandfreies Weiß, das jedoch leichter schmutzt? Oder lieber ein leuchtendes Blau, da es ein Knabe ist, der darinnen liegt? —

Und sehen Sie diese Treppe! Diese grauschwarze — oder schwarzgraue — eiserne, abstrakte Wendeltreppe, weshalb hat sie keine farbigen Stufen, kein lustiges Ge­länder?

Warum ist diese Tür nicht gelb, jene nicht rot, die dritte grün? Die Fensterrahmen, weshalb sind sie dunkelbraun wie die Türen? Und d i e . . . «

»Danke schön, bitte bestellen Sie bei Ihrer Firma fünf­zig Kilo.«

»Das mache ich. Genau das! Wo ist das nächste Tele­phon? Was meinst du, wie sich Pa freut, wenn er hört, wo ich stecke, und wie gern er mir — sozusagen aus Wiedersehensfreude — Farben schickt! Wir berechnen alles, überlegen uns, was wir wie streichen wollen, und dann rufe ich an.

Nach Italien fahre ich ein paar Tage später. Ich freue mich rasend auf das Streichen.«

Ich habe schon immer gern etwas angestrichen, weil man da so schnell den Erfolg der Arbeit sieht. Das wird eine vorzügliche Sache. Wenn Klaus und Martina wieder­kommen, erkennen sie die Villa nicht mehr. Wir haben vor, alles kunterbunt zu streichen.

Plötzlich fiel mir etwas ein: »Müssen wir nicht den Hausbesitzer davon in Kenntnis setzen?«

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Mette sah gestört von ihrer Berechnung auf. »Weißt du, wo er wohnt, wie er heißt?«

»Keine Ahnung.«»Dann ist’s gut. Der soll sich freuen, wenn seine Mieter

etwas zur Erhaltung der alten Bude tun.«

22. Juli

In allerfrühester Frühe wachte ich heute morgen auf: Mette sprang und zählte. Als ich munter wurde, war sie bei 62. (Man gewöhnt sich anscheinend an die seltsamsten Geräusche. In Kürze werde ich überhaupt nicht mehr aufwachen bei Mettes lebensverlängerndem Frühsport.) Etwas nach 90 schlief ich schon wieder, beruhigt, weil die kritische 75 vorbei war. Es schien also heute nicht zu regnen, und Mette würde mit Paulchen »für ein bis zwei Tage ein bißchen nach Österreich hinein« fahren.

Ohne Farben ist es hier zu langweilig für sie.Schönes Zeugnis für mich!Ich weiß sowieso nicht recht: Gefällt es mir hier besser

mit ihr oder ohne sie? Vielleicht ist der Wechsel von Mit- und Ohne-Tagen das bekömmlichste. Ich fand den heuti­gen Tag sehr schön.

Von Walter kam eine Karte. Er meldete sich für näch­ste Woche an. Falls er länger bleibt, kann er gerne hier übernachten — in dem spartanisch eingerichteten Dienst­botengemach —, er muß als Dank dann mit anstreichen oder irgendwelche männlichen Reparaturarbeiten ver­richten.

Als ich in der Mittagssonne spürbar bräunte, habe ich über Walter nachgedacht und gemerkt, daß ich mich nicht sehr auf sein Kommen freue. Es belastet mich. Vor ein paar Wochen wäre es noch anders gewesen, da war er für mich »einer aus meiner Klasse«. Inzwischen habe

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sogar ich mit meiner sehr langen Leitung in dieser Bezie­hung gemerkt, daß er in mich verliebt ist, und damit ist meine Unbekümmertheit dahin.

Ich finde ihn nett, aber ich liebe ihn wirklich nicht und weiß nicht recht, wie ich mich ihm gegenüber ver­halten soll. So, als hätte ich noch immer nichts gemerkt? Oder soll ich ihm sagen, daß ich ihn nett finde, mehr aber nicht? Tut man das, oder ist das ungehörig? Viel­leicht ist er dann traurig — das möchte ich auch wieder nicht. Aber noch weniger kann ich aus Mitleid so tun als ob. — Es ist eine schwierige und schiefe Situation, in die er mich durch sein Kommen hineinbringt.

Wie gut, daß Mette, die Vielerfahrene, dasein wird in der nächsten Woche! Die wird irgendeinen gangbaren Weg wissen.

Wie einfach wäre es, wenn ich auch verliebt wäre! Aber mir scheint, dazu bringe ich es niemals in meinem Leben. Ich habe dafür wohl keine Ader. Ich habe einmal gelesen, daß es so etwas gibt.

Immer sieht meine eine Hälfte der ändern kritisch zu— und wenn man beobachtet wird, kann man, scheint’s, nicht lieben.

Wenn man die Durchschnittssendungen im Radio hört, könnte man meinen, außer der Liebe gebe es nichts auf der Welt. Na, ich weiß nicht, ich fühle mich ohne eigent­lich sehr wohl.

Komisch, erst als ich das dachte, fiel mir auf, daß in Florians Haus kein Radioapparat ist. Ich habe ihn bisher noch gar nicht vermißt.

Aber in dieser Stunde jetzt hätte ich sehr gern Musik gehört. Ein Streichquartett von Mozart. Es wäre so leicht und klar wie der grünlich verblassende Himmel, wie die perlmutterne Fläche des Sees, geheimnisvoll wie die fer­nen Berge und warm wie die Dämmerung, die mir jetzt

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das Schreiben unmöglich macht. Ich glaube, man soll Musik nicht mit Landschaften oder sonst was vergleichen. Manchmal empfinde ich aber doch eine Übereinstimmung und sehne mich nach der Ergänzung. Mutter könnte jetzt etwas Derartiges spielen, oder Andrea oder Grafes. Ich kann es nur fühlen und wünschen. Leider.

23. Juli

Programmäßiges Juliwetter. Ich bin ganz weit hin­ausgeschwommen, dachte, ich sei schon halb in der Schweiz, und war verblüfft, als ich mich einmal umsah und Deutschland noch so nah war. Ein Dampfer kam vorbei. Ich legte mich auf den Rücken, schloß die Augen und wartete auf die Wellen, die er ausschickte und die mich bald erreichen mußten.

Es schaukelte ganz hübsch.»Sieh da«, sagte eine Männerstimme neben mir, »das

Mädchen Christiane, wenn mich nicht alles täuscht!«Ich schluckte vor Schreck einen reichlichen Liter Boden­

seewasser und brauchte einige Zeit, ehe ich sagen konnte: »Andresen ist mein Name.«

»Sehr angenehm. Grafe ist der meine.«Er verbeugte sich, soweit man sich im Wasser ver­

beugen kann, und grinste dabei. Ich wäre beinahe zum zweitenmal untergetaucht: das war also der Sterngucker, der des Nachts alle Türen des elterlichen Hauses offen­zulassen pflegt. So sah er am Tage aus! Woher sollte ich das wissen? Ich war sehr ärgerlich, begann zurückzu­schwimmen und sagte zu meinem unerwünschten Beglei­ter: »So genau habe ich Sie nicht angesehen neulich in der Nacht, daß ich Sie hier mitten im See wiedererkennen kann.«

»Die Mitte ist es zwar noch nicht, aber immerhin so

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weit, wie ein einzelner Schwimmer nicht allein hinaus­schwimmen sollte.«

»Sie sind ja selbst so weit draußen!«»Erstens kenne ich den See genau, zweitens bin ich

ein Mann, und drittens sah ich weit draußen eine blaue Badekappe, die leichtsinnigerweise immer weiter weg­schwamm. Die beschloß ich wohlbehalten zum Ufer zu bringen und ihr dabei eine diesbezügliche Rede zu hal­ten. Und siehe, die leichtsinnige Besitzerin der Kappe ist das Mädchen Christ... Verzeihung: das Fräulein An- dresen.«

Ich war hübsch wütend. So was habe ich gerne! Der kommt sich noch vor wie mein Lebensretter, dabei kann ich stundenlang schwimmen.

Ich begann zu kraulen, damit er sich von meinen un­gebrochenen Kräften überzeugen konnte. Außerdem hatte ich die Hoffnung, ihn auf diese Weise abzuhän­gen, aber damit war es nichts. Er kraulte auch. Zur Erholung legte ich mich auf den Rücken und schwamm ganz langsam. Vielleicht wurde ihm die Sache auf diese Weise langweilig, und er verschwand ebenso überraschend, wie er aufgetaucht war. Er tat es nicht. Wir sprachen beide nicht.

Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Wenn ich es nicht gesagt hätte, wäre ich geplatzt: »Wieso behaup­ten Sie, als Mann hätten Sie ein Recht, weiter hinaus­zuschwimmen als ein Mädchen? Das ist doch völlig unlo­gisch!«

»In den meisten Fällen nicht — in Ihrem ja, weil das Mädchen — Verzeihung: das Fräulein! — weit besser schwimmt als viele Männer. Aber das konnte ich der blauen Badekappe nicht ansehen.«

Mein inneres Gleichgewicht war damit einigermaßen wiederhergestellt, und ich begann, in einem gemütlichen

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Tempo weiterzuschwimmen. Gegen ein Gespräch hatte ich auch nichts mehr, wenn der Jüngling mich schon sicher bis ans Land bringen wollte und nicht zu vertreiben war. Ich fragte nach seinen Eltern. Er sagte, daß er den Auftrag habe, mich für morgen abend einzuladen. Sieben Uhr zum Abendessen. Ich lehnte ab. Als zuver­lässige, ehrliche und saubere Betreuerin eines Säuglings könne ich diesen nicht so lange allein lassen.

»Und wer ist jetzt bei dem Kind?«»Alexa.«»Kenne ich nicht. Aber könnte diese Dame nicht mor­

gen abend auch zur Bewachung kommen?«Ich antwortete, daß sie zwar im Hause schlafe, aber

schon etwas betagt sei und nachts nicht gut zu wecken. Außerdem sei sie in Katastrophenfällen nicht zu brau­chen, sie sei zu dumm.

Der Herr Sterngucker betrachtete mich mißbilligend aus der Nähe: »Haben Sie immer so ein hartes Urteil?Zumindest bei alten Menschen ist das fehl am platz.«

Ich schluckte noch einmal eine Riesenmenge Wasser. Nicht vor Schreck diesmal, sondern weil ich so irrsinnig lachen mußte.

Als ich ausgehustet hatte, sah ich nach meinem Be­gleiter. Aha, jetzt war mein Zorn von vorhin zu ihm gekommen. Die Gleichschaltung von Mann und Frau war erreicht!

»Da Sie eine solch vorzügliche Schwimmerin sind, werden Sie vollends auch ohne meine Begleitung zu­rückkommen, Fräulein Andresen.«

»Komme ich! Ich danke nochmals für die Rettung!« rief ich vergnügt meinem abdrehenden Begleitschiff nach und eilte mich, nach Hause zu kommen.

Daß Sterngucker beleidigt sein können, wenn kleine Mädchen — Verzeihung: Fräuleins — albern lachen, habe

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ich bis heute nicht gewußt. Ich dachte, sie stünden viele geistige Lichtjahre höher als unsereins.

Florian krähte erfreut, als ich mich über ihn beugte und zur Begrüßung meine Haare schüttelte, damit er ein paar erfrischende Bodenseetropfen abbekam. — Alexa begrüßte mich mit Schnattern. Sie ist eine Prachtgans!

24. Juli

Am Vormittag bei Frau Grafe gewesen (mit Florian), für Einladung bedankt und mich entschuldigt. Mit gro­ßem, duftendem Nelkenstrauß und dem Versprechen, in der nächsten Woche einen Abend mit Florian dort zu sein, nach Hause gegangen.

Mette noch immer nicht da. Vielleicht macht sie einen Abstecher nach Italien, um Martina »zu besichtigen«, wie sie sagte. Martina ist bestimmt eine Besichtigung wert, und Mette hätte gleich Sympathien für sie — so wie ich beide kenne. Martina ist meine amüsanteste und charman­teste Schwester. Schade, daß sie nicht hier ist!

Von Mutter habe ich lange nichts gehört. Das Paket ist auch noch nicht da.

Mein Geld schmilzt dahin.Habe fünf Gläser Kirschen eingekocht, damit Martina

im Winter einmal was für ihre Männer hat. Eins davon war nicht zu.

Habe einen Teller zerbrochen und bin in schlechter Stimmung. Keine Lust zum Schreiben.

24. Juli, nachmittags

Wenn Mette morgen noch nicht da ist, werde ich eine Großfahndung nach ihr und Paulchen in die Wege leiten müssen. Was ist sie für ein aufregendes Mädchen!

Seit einer Stunde sind die Farbtöpfe da. Ich habe sie

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alle in das zukünftige Assistentenzimmer gestellt und stel­len lassen. Dort warten sie nun auf Fräulein M. A. Meier, und ich warte mit, nur nicht gerade in diesem Raum.

Auf dem Klavier habe ich schnell ein kleines Bach- Menuett gespielt (mein einziges auswendiges Stück!), da­mit es sich nicht so abgestellt vorkommt, und um etwaige Motten aus dem Filz zu vertreiben.

Florian hat heute den ersten Zahn bekommen! Ich habe es gleich auf einer Karte den glücklichen, fernen Eltern mitgeteilt.

Mit Florian, aber ohne Ausweis, werde ich nachher noch einen Vorstoß beim Adlerwirt wagen. Hoffentlich ist sie einmal weg.

noch am 24., fast um Mitternacht

Als wir am Nachmittag unverrichteter Dinge vom »Adler« nach Hause fuhren, sagte ich gleich zu Florian, daß er am Abend seine Flasche etwas früher trinken und dann ein bissel allein sein müsse, weil der Adlerwirt mich auf neun Uhr bestellt habe. Er hatte am Nachmittag wirklich keine Zeit. Drei Omnibusse hielten vorm Haus, und alle wollten so schnell wie möglich abgefertigt werden.

Ich hatte gehofft, das giftgrüne Paulchen vorzufinden, wenn wir nach Hause kämen, aber weder grünes Paul­chen noch rote Mette waren zu sehen.

Ich wäre nicht gegangen, wenn nicht ausgerechnet heute Attila nicht dagewesen wäre. Bauer Heimle hatte anscheinend vergessen, ihn zu bringen; so war der Weg frei, und ich konnte unzerfleischt von der Haustür zum Tor kommen.

Florian war fertig für die Nacht und schlief. Es war

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etwas später als neun, aber ich mußte warten, bis das Kind ganz fest eingeschlafen war.

Im »Adler« trank ich den üblichen Sprudel, um die Un­kosten nicht zu hoch werden zu lassen und doch nicht ärmlich zu wirken. Ich mußte dort auch die übliche Zeit warten. Dann bekam ich den üblichen Wink und ging ins »Nebenzimmer«. Dort zeigte ich dem Wirt meinen Ausweis auf den Namen Christiane Andresen und ver­suchte, ihm die ganze Situation zu erklären. Das war ein aussichtsloses Unternehmen. Er verstand überhaupt nichts, nur daß ich nicht Christel Amberg war und doch das Geld abholen wollte, das Christel Amberg abholen sollte.

»I hab’s gleich ’denkt! Karle, da stimmt was nicht!« sagte er immer wieder und schien stolz auf seine kri­minalistischen Fähigkeiten zu sein.

Ich ärgerte mich namenlos, Zeit und Namen und Ge­schichte an so einen Mann gehängt zu haben, der da­von überhaupt nichts verstand, von dem ich aber be­stimmt wußte, daß er diese ganze falschverstandene Sache sofort in der Gaststube berichten würde — nicht ohne seinen detektivischen Scharfsinn ins rechte Licht zu set­zen. Und ich bin das Opfer! Das schlimmste ist, daß der Heimle-Bauer, dessen Wohlwollen ich mir nicht ver­scherzen will, fast jeden Abend im »Adler« sitzt. Heute abend zwar hatte ich ihn nicht sitzen sehen, aber spä­testens morgen mittag würde er es auch wissen, daß die bei Mertens eine ganz gerissene Betrügerin ist.

Na, zur Hälfte bin ich selbst an dem Schlamassel schuld — zur anderen aber bestimmt Martina. Wer weiß denn, ob er einem echten Fräulein Amberg das Geld gegeben hätte? Und wovon sollte die und Florian leben?

Es war eine sehr dunkle Nacht, in der ich nach Hause ging. In mir drinnen war es auch total finster.

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Ich suchte das Schloß am Tor, und wie ich den Schlüs­sel hineinsteckte, sprang etwas laut bellend am Gitter hoch: Attila! Wie kam der Kerl doch noch hierher? Ich versuchte, ihm gut zuzureden. Vergeblich. Da ließ ich ihn bellen, ließ meinen Schlüssel stecken und setzte mich gegenüber an den Straßenrand auf einen Kilometerstein oder etwas Ähnliches. Ich saß lange. Wie ich mir die Sache auch überlegte, ich fand keine andere Lösung, als hier sitzen zu bleiben und zu warten, bis Attila wieder abgeholt wurde. Er war jetzt ruhig. Wahrscheinlich lag er in seiner Hütte und wartete darauf, daß ich wieder auf­zuschließen versuchte.

Vom Kirchturm schlug es elfmal. Bis zum Morgen hatte ich noch viel Zeit. Den Gedanken, einen Nacht- spaziergang zu machen, verwarf ich wieder, denn hier konnte ich hören, wenn Florian schrie (das Fenster von seinem Zimmerchen ist über der Haustüre), und es be­ruhigte mich sehr, daß bis jetzt alles so still und friedlich war.

Es war eine warme Nacht. Eine späte Grille zirpte noch. Dann hörte ich Schritte. Ich blieb still auf meinem Stein sitzen. Es war ein Mann, der da näher kam. Di­rekt vor mir blieb er stehen, nahm eine Zigarette aus der Tasche und steckte sie an. Im Schein des Streich­holzes sah ich, daß es mein unnötiger Lebensretter von gestern war.

Ich stand auf. Er sah in meine Richtung, warf das Hölzchen weg, konnte aber sicherlich nichts sehen, weil er noch vom Licht geblendet war.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich leise, um ihn nicht zu erschrecken, »ich bin wieder einmal mittendrin in etwas — nämlich in der Nacht und außerdem in Ver­legenheit. Vielleicht können Sie mir wieder heraus­helfen?«

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»Fräulein Andresen?« fragte er überrascht und nicht sehr erfreut.

Na, ich hätte ihn niemals angesprochen, wenn ich nicht in so einer blöden Lage gewesen wäre und gehofft hätte, er könne den Attila irgendwie besänftigen. Das sagte ich ihm auch.

»Ich denke, Sie können bei Nacht das Haus und den Jungen nicht verlassen? Das war doch der Grund, wes­halb Sie unsere Einladung absagten, wenn ich richtig verstanden habe?«

Es war mir ungeheuer peinlich, seiner Eltern wegen. »Ich war doch nur im >Adler<«, versuchte ich zu erklä­ren, kam aber nicht weiter, denn er sagte:

»Das ist für eine junge Dame ganz der richtige Auf­enthalt am Abend.«

Ohne sich weiter um mich zu kümmern, ging er zum Tor, rief den Hund, sprach mit ihm — sie scheinen ein­ander zu kennen —, ging in den Garten, faßte Attila am Halsband, rief: »Beeilen Sie sich doch!«, und ich ging geschwind an Mann und Hund vorbei, schloß die Haustür auf, von innen wieder zu, rannte die Treppe hinauf, daß es durchs Haus dröhnte, lief in mein Zim­mer, warf mich aufs Bett und heulte.

Als ich mich etwas gefaßt hatte, holte ich mein Buch, um darin die nicht gerade erfreuliche Bilanz des heu­tigen Tages zu ziehen und mir klarzuwerden, was nun zu geschehen hat.

Das beste wäre, morgen früh meine Sachen zu packen und mit Florian nach Ebenheim zu fahren. Aber woher soll ich das Geld für eine Fahrkarte nehmen? Grafes kann ich nun nicht mehr anpumpen. Den Spediteur Knopf? Wenn der die Sache vom Adlerwirt erfährt, glaubt er mir kein Wort mehr. Mette? Das ginge, aber sie ist verschollen.

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Ich bin sehr ratlos — und sehr unglücklich und wider­rufe hiermit das, was ich am Anfang dieser Aufzeich­nungen geschrieben habe. Nicht der 1. Juni, sondern heute war der scheußlichste Tag meines Lebens.

25. Juli

Es scheint üblich zu sein, daß Menschen, die einen großen Kummer haben, nicht schlafen können. Bei mir ist es gerade umgekehrt: Es gelang Florian heute morgen nur mühsam, mich aufzuwecken, und nachdem er ver­sorgt war, schlief ich gleich wieder ein und erwachte statt um acht Uhr erst gegen neun. Über solche Baga­tellen errege ich mich nicht mehr.

Vielleicht bekomme ich langsam eine Abgeklärtheit, wie sie meine Schwester Petra schon von Geburt an hat: Sie regt sich über nichts auf — ich mich über alles.

Bei Heimles holte ich die doppelte Milchmenge, damit ich morgen keine zu holen brauche. Vielleicht wissen sie dann schon von meiner Hochstapelei? Heute waren sie freundlich wie immer.

Vom Verlauf des heutigen Tages will ich es abhängig machen, ob ich abfahre oder nicht.

abends

Auf der Rückfahrt vom Bauern fühlte ich ein zusam­mengefaltetes Papier in meiner Hosentasche und ent­deckte beim Besehen, daß es ein Fünfmarkschein war. Sicherlich noch von der Herfahrt! Plötzlich schien der Himmel blauer, die Sonne heller, die Blumen bunter — das ganze Leben schöner zu sein! Ich besaß noch elf Mark und 43 Pfennig! Wie lange konnten wir beide damit leben, Florian und ich! Ich hätte dem Adlerwirt noch nichts zu beichten brauchen, hätte noch meinen guten Ruf,

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sowohl bei ihm wie beim Sterngucker — aber so ist alles hin. Na, nicht mehr zu ändern.

Alles wäre zu vermeiden gewesen, wenn ich das Haus­haltsbuch richtig geführt hätte. Nie kann dabei ein Fünf­markschein verschwinden. — Aber niemals kann man plötzlich und unerwartet einen in der Hosentasche wie­derfinden und sich so riesig darüber freuen!

Ich freute mich also, und da auch ein Glück selten allein kommt, brachte der Postbote das Schwedenpaket.

Florian, frisch gebadet und appetitlich nach Seife duf­tend, durfte beim Auspacken zusehen. Er tat das bäuch­lings auf der Couch im Wohnzimmer und mit größtem Interesse. Schließlich ist ein Paket eine ganz nette Ab­wechslung, wenn man sonst immer nur die eigenen Füße und Hände und die sich bewegenden Blätter des Apfel­baums betrachtet.

Echtes schwedisches Knäckebrot war im Paket, eine Dose Trockenmilch (für dich, Florian), Schokolade (für mich!), weiße Lederschuhe mit ganz flachem Absatz (sie passen!), weiße Handschuhe (ziehe ich bestimmt nie an, wie kommen die beiden nur darauf!) und ein Kleid. Ach, ein wunderbares Kleid. Ganz einfach geschnitten, mit weitem Rock und ganz kurzen Ärmeln aus einem ge­streiften Stoff. Es gibt solche und solche Streifen — solch bezaubernde wie diese, in verschiedenen Breiten aus vie­len Pastellfarben zusammengesetzt, habe ich noch nie gesehen. Ich probierte alles sofort an: Kleid, Schuhe und sogar Handschuhe, und verspürte große Lust, mich gleich vor jemandem zu zeigen, denn alles paßte großartig und stand mir gut, soweit ich das in dem Zerrspiegel im Bad feststellen konnte. Da weder Mutter noch Großvater, weder Martina noch Mette oder auch der benachbarte Sterngucker und Lebensretter greifbar waren, blieb mir nur Florian.

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»Sieh mich an, Flori, bin ich nicht ausnahmsweise hübsch?«

Aber der war uninteressiert. Er beschäftigte sich schon wieder mit seiner linken großen Zehe und würdigte mich und meine schwedische Sommerpracht keines Blickes.

Ich räumte die Papiere zusammen, und als ich sie in den Karton hineindrückte, fühlte ich noch etwas Hartes. Ich zog es heraus und fand einen kleinen weißen Beutel aus ganz weichem Leder in einem flachen Karton.

Noch nie habe ich Handtaschen leiden können, aber dieser Beutel ist ganz reizend. Ich hängte ihn an meinen Arm, wie die Königin Elizabeth zu tun pflegt, durch­wühlte das Paket abermals in der stillen Erwartung, noch etwas zu finden, und trug es, als alle Nachforschungen ergebnislos verliefen, in den sodomitischen Abstellraum.

Ich wandelte noch ein wenig durch den Garten, mit der kleinen Hoffnung im Herzen, es würde gerade jetzt jemand klingeln und mein Kleid bewundern.

Es war aber nur Alexa da, die erfreut auf mich zu­gewatschelt kam. Sie ist eben ein weibliches Wesen und hat Sinn für modische Dinge!

Alle anderen kamen erst nachher, als ich mit kurzen Hosen, einem alten Baumwollpulli von Martina, der mir zu eng, einem verklecksten Arbeitsmantel von Klaus, der mir einige Nummern zu groß ist, und barfuß dabei war, Florians Kinderwagen blau zu streichen. Der Junge mußte deshalb in seinem Bett bleiben und auf den Nachmittag im Freien verzichten. Ich vertröstete ihn auf den näch­sten Tag und war ganz überrascht, wie hübsch der Wagen plötzlich aussah. Mette hatte recht: es hatte nur die Farbe gefehlt.

Ich war im richtigen Schwung und nahm mich gleich

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noch der beiden abgeblätterten Küchenstühle an. Einer wurde blau, der andere orange. Meine Beine, Hände und Arme bekamen auch etwas ab. Als ich gerade über­legte, ob ich den Küchentisch auch noch blau-orange ein- färben solle, klingelte es.

Pinsel in Terpentin, Schlüssel vom Haken, Hände unterwegs an Zeitungspapier notdürftig abgewischt und zum Tor gesaust.

»Beeilen Sie sich«, rief Herr Grafe junior, der davor stand — und ich ärgerte mich sofort wieder: hatte ich mich denn nicht beeilt?! — »Bei uns wartet ein dringendes Ferngespräch für Sie.«

Ich streifte mir Klaus’ Mantel ab, schmiß ihn unter den Rhododendron, der gleich neben dem Eingang wächst, schloß hinter mir ab und folgte diesem immer wieder und unpassend auftauchenden Jüngling im Dauerlauf.

Da er die Strecke eben schon einmal gelaufen war, ich aber ganz frisch war, holte ich ihn bald ein.

»Woher?« fragte ich, denn es interessierte mich.»Mutter hat es abgenommen — ich dachte, Sie wüßten

es. Sie haben es doch zu uns bestellt.«Ich wußte nicht, daß sie Telephon haben, und wäre

auch dann niemals auf den Gedanken gekommen, so weit entfernt wohnende Nachbarn damit zu belästigen.

Der Jüngling schien mir alles zuzutrauen!»Ach, wissen Sie«, sagte ich hochnäsig, denn auch ein

schlechter Ruf verpflichtet, »ich habe so viele Bekannte und Verwandte mit Telephon, daß ich wirklich nicht weiß, wer es heute sein könnte.«

Wir liefen stumm weiter. Es machte mir Spaß, immer einen halben Schritt vor ihm zu sein. Er sollte sehen, daß seine Theorie von dem schwachen weiblichen Geschlecht falsch war!

»Haben Sie gemalt?« fragte er, als wir hintereinander

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auf dem Weg zwischen den verblühenden Nelken gingen.Ist das nicht eine dumme Frage, wenn jemand so aus­

sieht wie ich in diesem Augenblick?»Weil ich so blau bin? — Sie wissen doch, daß ich ge­

stern abend im >Adler< war!«

»Christiane Andresen«, keuchte ich ins Telephon.»Hier Mette . . . «Also Mette war es, die sich vom Fernamt den nächsten

Telephonanschluß hatte heraussuchen lassen! Das sah ihr ähnlich, andere Leute herumzuhetzen, nur um mitzutei­len, daß sie sich nach mir und den Farbtöpfen, nach Florian und Alexa, nach unserem unmöglichen Haus und nach dem lieben See sehne, und »alles andere mündlich! Und schaffe mir den Attila vom Haus!« Ehe ich ant­worten konnte, hatte sie aufgelegt, und ich stand da und schaute etwas ratlos in den Spiegel, der in der Nähe des Telephons an der Wand hing und aus dessen geschliffenem Glas und vergoldetem Rokokorahmen mir ein braunge­branntes Gesicht entgegensah mit vielen wohlbekannten Sommersprossen und beinahe noch mehr blauen und orangen Farbspritzern, die apart auf Stirn, Nase und Backen verteilt waren.

Und diese Haare! Mein Anblick war noch verkomme­ner, als ich gefürchtet hatte, und der Farbgeruch hier in Grafes Diele wesentlich penetranter als in der freien Luft.

Ich beschloß, so schnell und unauffällig wie möglich zu verschwinden, mußte mich zuvor aber noch bei Frau Grafe des Anrufes wegen entschuldigen, um zumindest einen innerlich anständigen Eindruck bei ihr zu hinter­lassen.

Sie kam aus der Küche, war herzlich wie immer.»Wie nett, daß Sie wieder einmal bei uns sind! Wis-

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sen Sie was? Sie bleiben zum Essen hier. Mein Mann hat gerade vor Ihrem Gespräch abtelephoniert, und es gibt heute Felchen, da wäre es jammerschade, wenn etwas übrigbliebe. Machen Sie mir die Freude? Oder haben Sie schon gegessen? — Nein? — Das ist recht. — Der Kleine schläft? — Das paßt großartig! —

Sie denken, es gehe nicht wegen Ihres Anzugs und der Farbkleckse? — Nicht schlimm: Wasser, Seife und Bürste sind da, einen Rock kann ich Ihnen leihen, wenn Sie mei­nen, Ihr behoster Anblick verschlüge uns den Appetit.

Wie nett, daß Sie bleiben wollen. Hier ist das Bad. Wenn Sie in sieben Minuten soweit sein könnten, wäre es mir sehr recht, bis dahin sind die Fische fertig.«

Da stand ich also in Grafes Badezimmer, schrubbte mich im Eiltempo, zog den weiten, bunten Rock und die Strohsandalen an und betrat gleichzeitig mit den Felchen das Zimmer.

Es waren die ersten Felchen meines Lebens, und ich genoß sie doppelt, denn als ich am geschmackvoll gedeck­ten Tisch saß, fiel mir erst auf, daß ich, seit ich am Boden­see bin, noch niemals richtig zu Mittag gegessen habe. Immer Brot und Kirschen, oder Schnittlauchsoße und Martinas alte Kartoffeln.

Frau Grafe ist eine wunderbare Frau.Ich werde Mette in den nächsten Tagen einmal mit

einem Auftrag zu ihr schicken, um zu hören, was dieses überkritische Mädchen von ihr sagt. Vielleicht ist Frau Grafe so ein Mensch, nach dem Mette Ausschau hielt — vielleicht auch noch hält?

Der sternguckende Sohn war auch ganz vernünftig, und als ich merkte, daß er vom gestrigen Abend nichts erzählt hatte, wurde ich gesprächig.

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Zufrieden mit meinem Dasein (alle unangenehmen Dinge steckte ich in eine entfernte Gehirnschublade und schob sie zu!) und langsamen Schrittes ging ich nach einer Stunde nach Hause. Ich war satt, und Mettes Heimkehr war gesichert. Frau Grafe meinte, ich solle sehen, daß ich im Laufe des Nachmittags oder am Abend, wenn er den Hund bringe, dem Bauern Heimle Bescheid sage, daß Attila ausnahmsweise einmal nicht da sein solle in der Nacht. Ge­gen neun Uhr komme Till (das ist der Sohn) vorbei, um sich von der Abwesenheit Attilas zu überzeugen. Wenn der Hund doch da sein sollte, weil ich Heimles nicht erwischt hätte, komme er zur »Nachtwache« zu uns ins Haus, denn er kenne den Hund schon lange, schon ehe ihn Martina für ein paar Mark von Heimles gekauft habe und er von Klaus den Namen Attila bekam, weil er so krumm­beinig und schwarzhaarig ist, wie er sich immer den Hunnenkönig vorgestellt hat. Damals hieß er noch Bello.

Na, es würde schon alles klappen, und ich brauchte die von der Mutter angebotene Hilfsbereitschaft des Sohnes nicht in Anspruch zu nehmen.

Es wäre mir sehr unangenehm.

26. Juli

Ich sehe, rieche, fühle, schmecke nur noch Farbe!Unser Haus klebt an allen möglichen und unmöglichen

Stellen. Mette und ich kommen zu keinem Gespräch mehr, weil wir nur noch Warnrufe ausstoßen müssen:

»Vorsicht, die Tür!«»Nicht diesen Stuhl, der klebt!«»Das Geländer ist bis morgen nicht mehr anzugreifen!«»Erwisch nicht die falschen Stufen!«Für die Treppe haben wir nämlich einen genialen Ein­

fall gehabt: Wir wollen die blechernen, durchbrochenen

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Stufen in zwei Farben streichen, immer abwechselnd eine Stufe rot, eine weiß. Wirkt bestimmt großartig. Bisher haben wir nur jede zweite Stufe rot gestrichen. Die künf­tigen weißen sind noch schwarzgrau wie bisher und kom­men erst dran, wenn die roten trocken sind. Wir müssen ja schließlich auf irgendeine Weise hinauf und herunter kommen. Wir benutzen nur jede zweite Stufe, so geht es am besten. Wir wollen übrigens nur Diele, Küche, Bad, Klosett, Wendeltreppe, oberen Umgang (Flur kann man das Gebilde nicht gut nennen) und danach alles, was außen am Haus notwendig ist, streichen. In den Räumen wollen wir nichts verändern. Wer weiß, was Klaus und Martina damit vorhaben, wenn sie aus dem farbenfrohen Italien zurückkommen und etwas besser bei Kasse sein werden als zuvor. Wir werden der trüben Ritterburg schon zu einem munteren Aussehen verhelfen!

Ich will heute abend nicht viel schreiben. Mette schnarcht schon in Klaus’ Bett, und ich habe Sehnsucht nach meinem, denn der Tag war anstrengend und die vergangene Nacht recht kurz.

Als ich gestern kurz nach Florians Sechsuhrflasche Martinas betagtes Rad besteigen und zu Heimles fahren wollte, merkte ich, daß Alexa verschwunden war. Ich begab mich sofort auf die Suche, denn ich befürchtete, sie könne bei irgendwelchen Campingleuten als Sonn­tagsbraten mißbraucht werden, und das wollte ich ver­hüten. Nach langem Suchen fand ich sie in der Nähe der Landungsbrücke vergnügt im See schwimmen. Als alle meine Versuche, sie aus dem Wasser zu locken, fehl­schlugen und sie sich benahm, als kenne sie mich nicht, ging ich, so wie ich war, mit der verklecksten kurzen Hose und dem engen weißen Pulli, ins Wasser, schwamm hinter Alexa und trieb sie schwimmend bis an unser

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Hintertürchen. Dort war ihr Widerstand gebrochen, und sie watschelte brav hindurch, über die Wiese zu ihrem Stall und ließ sich widerstandslos einsperren.

Diese Rettung war geglückt!Ich ging schnell in mein Zimmer, um mich umzuziehen,

denn in diesem nassen Zustand konnte ich nicht gut zu Heimles radeln. Als ich gerade meine Haare abtrocknete, hörte ich Attila bellen. Ich sah zum Fenster hinaus: da war er tatsächlich schon im Garten und ärgerte sich über einen Vorübergehenden.

Vom Bauern war nichts mehr zu sehen.Nun saß ich da!Ich war wütend auf die Gans, die schuld daran war,

daß ich nun einige Stunden der Nacht mit diesem feind­lichen Bruder der Frau Mozert würde verbringen müssen.

Ich hatte die Hoffnung, daß der Jüngling gar nicht käme. Sicherlich war ihm ein Zusammensein mit mir ebenso unerfreulich wie mir das mit ihm. Wenn Mette käme, so sollte sie in Paulchen übernachten — diese Lösung empfand ich als das kleinere Übel.

Wenn er aber doch käme, wollte ich einen guten Ein­druck machen. Ich zog mein neues Schwedenkleid an, bürstete meine Haare, bis sie fügsam wurden, klaute mir ein paar Tropfen von Martinas Parfüm und ihre naht­losen Strümpfe, räumte das Wohnzimmer auf, verteilte alles Backobst in eine hübsche Schale und harrte der Dinge, die kommen sollten.

Kurz vor neun Uhr ertönte ein Pfiff. Attila raste erfreut an den Zaun, ich seufzte tief, warf den Schlüssel auf die Straße und empfing den Hundebändiger an der Haustür.

Der überraschte Blick, mit dem er meine durch das Kleid angenehm verschönte Erscheinung betrachtete, war mir ein Vergnügen!

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Sonst begann der Abend wenig vergnüglich. Ich machte Florian fertig für die Nacht. Mein Besucher wollte un­bedingt dabeisein.

Meinetwegen.Wir brachten Florian ins Bettchen und gingen dann

ins Wohnzimmer.Mein Nachtwächter war sehr schweigsam. Ich als Gast­

geberin — wenn auch unfreiwillige — fühlte mich ver­pflichtet, ihn zu unterhalten.

»Es tut mir leid, daß Sie nun hier sitzen müssen«, begann ich das Gespräch. »Stellen Sie sich vor, Alexa war weg, gerade als ich zu Heimles fahren und Bescheid sagen wollte. Da mußte ich sie zuerst suchen, und das war eine langwierige Sache.«

»Ist das die alte Dame, von der Sie damals im Wasser erzählten?«

Richtig — ich hatte ganz vergessen, daß er nicht wußte, wer Alexa ist! Die beiden Christianen in mir kämpften kurz und heftig miteinander. Sieger blieb die laute und spitzzüngige, die immer zu Blödsinn aufgelegte.

»Ja, die damals bei Florian war. Heute war sie abge­hauen. Raten Sie einmal, wo ich sie fand!«

»Im Park?«»Nein, im See und ziemlich draußen.«»Kann sie denn schwimmen?«»Kann sie. Aber sie stellte sich taub, als ich am Strand

stand und nach ihr rief. Es blieb mir nichts übrig, als in meinen Kleidern zu ihr zu schwimmen und sie heimzu­jagen.«

»Zu begleiten!«»Meinethalben auch begleiten. Als wir dann wieder

im Garten waren, war sie ganz glücklich. Sie hätten sehen sollen, wie sie davonwatschelte!«

»Fräulein Andresen!!«

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Ich blickte ihn unschuldig an: »Ja, wie nennen Sie denn die Gangart soldi einer alten Gans?«

Christiane I. konnte mit dem Erfolg dieser Unterhal­tung zufrieden sein: Der Verteidiger der Dame Alexa sprach kein Wort mehr, obwohl ihm das sichtlich schwer­fiel. Er stand schnell vom Sessel auf, machte ein paar Schritte durchs Zimmer, blieb vor dem Bücherregal ste­hen und starrte auf ein Bild, das darüber hing. Wahr­scheinlich sah er es gar nicht vor Zorn.

Christiane II. tat er leid: Da war er aus purer Men­schenfreundlichkeit, Nachbarschaft, sohnlichem Gehorsam oder was weiß ich weshalb, aber bestimmt ungern, hier­hergekommen, und ich ärgerte ihn mit beachtlichem Er­folg.

Er wandte mir den Rücken zu: dunkle Haare, helles Hemd mit kurzen Ärmeln, lange, helle Hose.

Er war nur noch undeutlich zu erkennen. Die Däm­merung verdichtete sich von Minute zu Minute und das Schweigen zwischen uns auch.

Ich dachte: >Bleib du stumm, bis Mette angefahren kommt. Ich befreie dich von meiner Gegenwart und lege mich ins Bett. Bin müde.<

Ich sagte: »Es ist von Paul Klee, das Bild.«War es nicht nett von mir, ihm diese Brücke zu schla­

gen?Er starrte weiter auf das Bild, von dem er kaum noch

etwas erkennen konnte, und sagte nach einiger Zeit: »Wie kann man so nett aussehen und sich so unmöglich und lieblos benehmen!«

Ich dachte: >Was geht dich meine Lieblosigkeit an!< und sagte: »Das Kleid stammt aus Schweden. Ich bekam es heute in einem Paket von Mutter.«

Er sah weder das Kleid noch mich an und blieb weiter­hin stumm.

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Ich dachte: >Es ist doch seltsam, daß so überaus nette Eltern solch einen überaus unerfreulichen Stoffel als Sohn haben.<

»Haben Sie Geschwister?« fragte ich, in der Hoffnung, Grafes würden noch ein paar nettere Nachkommen haben als nur diesen.

Er antwortete widerstrebend: »Einen Bruder.«»Welch ein Glück!«»Wieso?« Mein seltsamer Gast wandte sich überrascht

von der Wand ab und sah in die Ecke des dunklen Zim­mers, in der ich saß.

»Ach, weil Sie doch so ... ich meine, weil Sie . . . « Ich stockte wieder, denn ich konnte ihm unmöglich sagen, was ich von ihm dachte, und beschloß meine Rede drum schnell: »Vielleicht ist Ihr Bruder fröhlicher als Sie.«

»Sind Sie der Meinung, daß Fröhlichsein und Glück­lichsein zusammengehören?«

»Selbstverständlich!«»Dann ist es ein Unglück, solch einen Bruder zu haben.

Für ihn und für uns. — Das wird Sie aber wohl kaum interessieren.«

Ich war überzeugt, noch niemals mit solch einem unlie­benswürdigen Menschen beisammengesessen zu sein und niemals mit einem, der solch schlechte Meinung von mir hat. Er sollte bloß nicht denken, mich gekränkt zu haben!

»Kaum«, stimmte ich ihm zu, stand auf und zündete eine Kerze an. Eine schmale, lange, die in einem gläsernen Leuchter stak, der ihr sanftes Licht in vielen kleinen, hellen Strahlen reflektierte.

Martina hat ein paar sehr hübsche Dinge um sich herum. Wenn sie einmal mehr Geld hat, wird sie sich eine wunderbare Wohnung einrichten.

Ob ich meinen Gast ebenso falsch einschätze wie er mich?

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»Darf ich Ihnen etwas Backobst anbieten?« fragte ich und nahm mir vor, harmlos und naiv zu sein und zu tun, als merkte ich nichts von seiner Verstimmung. »Ich esse am liebsten Aprikosen.« Ich bediente mich. Wenn er nicht wollte, sollte er es bleiben lassen, dann aß ich es eben allein auf.

Es mußte doch möglich sein, die paar Stunden ohne Komplikationen herumzubringen!

Anscheinend hatte mein stummer Gast inzwischen den gleichen guten Vorsatz gefaßt. Er setzte sich in den Sessel, griff nach einer Backpflaume und fragte, ob Mutter längere Zeit in Schweden sei. Er habe einen guten, sehr viel älteren Freund dort.

Wir kamen ins Erzählen — hauptsächlich ich erzählte.Als kein Dörrobst mehr da war, beschlossen wir, auf

den Turm zu steigen und Sterne anzusehen.Wir nahmen die Leiter aus der Dienstbotenkammer

mit in Klaus’ Arbeitsraum und stiegen durch die kleine Luke hinaus auf die zinnenumrahmte Plattform. Dort oben bin ich noch nie gewesen. Der Blick ist noch schöner als aus den acht Fenstern darunter.

Die Nacht war warm und dunkel und völlig windstill. Der Herr Sterngucker suchte nach dem Atair, den er mir unbedingt zeigen wollte. Er war begeistert von dem großen Himmel, den er vom Turm aus zu sehen bekam, ungestört von Häusern, Bäumen und sonstigen Silhouet­ten.

»Machen Sie das hauptamtlich?« fragte ich, »das mit den Lichtjahren und so?«

»Nur zur Erholung. Hauptamtlich will ich kranke Menschen gesund zu machen versuchen.«

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Wie unbeschreiblich winzig sind wir Menschen! Wie unwichtig! Wie groß und weit ist die Welt!

Schon der Teil der Welt, den wir sehen und ahnen können, ist so groß, daß mein mathematisch unbegabtes Hirn nur einen geringen Bruchteil erfassen und begreifen kann.

Wieviel mehr ahnt der Mensch, der sich mit der Größe, der Weite, der Unendlichkeit des Weltalls be­schäftigt, von der Kraft des Schöpfers als alle die vielen, denen die Sterne nichts als die treuen Gefährten der Nacht sind!

Wir meinen, alles, was um uns ist, sei unseretwegen da — und dabei sind wir ein Nichts. Weniger als nichts.

Wir sprachen über das alles. Ihm, meinem Gast, waren es bekannte Gedanken, mit denen er sich schon lange herumgeschlagen hat — mir war alles neu und erschrek- kend. Es ist nicht einfach, die eigene Bedeutungslosigkeit plötzlich so klar sehen zu müssen.

Da begann Florian zu maunzen, mein lieber, süßer, kleiner! Wie war die Nacht wieder warm, meine kleine Welt so nah und groß und die Sterne ferne, glitzernde Pünktchen.

Ich bekam langsam Boden unter den Füßen, aus dem Nichts wuchs wieder ein Mensch, ein zwar nicht gerade erstklassiger und unentbehrlicher, aber doch einmaliger Mensch: ich.

»Haben Sie noch immer etwas dagegen, wenn ich Chri­stiane zu Ihnen sage?« fragte mein Begleiter, als ich im Begriff war, die Leiter wieder hinunterzusteigen.

»Nein.«»Danke schön. — Aber dann sagen Sie bitte auch Till

zu mir. Geht das?«

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Warum sollte es nicht gehen? Also: Till.Er ist etwas seltsam, aber nicht so übel, wie ich dachte.Kurz danach kam Paulchen angeschnauft. Er hielt dicht

vorm Tor. Attila bellte wie rasend. Mette drückte auf die Hupe, Florian wachte auf und brüllte — das war das Begrüßungskonzert.

Till hielt den Hund fest, ich öffnete das Tor, und Paulchen begab sich unter den Fliederbusch.

Mette stieg aus: rothaarig, schlank und auch um Mitter­nacht von unwahrscheinlichem Temperament.

»Tag, die Herrschaften!« rief sie und schloß durch eine umfassende Geste in diesen Gruß mich, Attila und den ihr unbekannten Bändiger des Tieres ein. »Vielleicht kann mir einer behilflich sein, meine Mitbringsel auszuladen, damit es schneller geht. Ich bin so müde. Uuuuuaah!«

Mir blieb das Gähnen im Munde stecken, als diese Mitbringsel aus Paulchen herauskamen. Als erster das Amadeusle. Leibhaftig, dünn und verlegen wie immer, aber strahlend stand er vor mir.

Mette griff abermals hinein ins Dunkle, holte etwas Kleines, Zappelndes heraus und drückte es dem Jungen in den Arm. »Soraya«, sagte sie erklärend, »süß, aber noch nicht ganz stubenrein.«

»Sind Sie bald fertig?« rief Till, der den Hund kaum mehr halten konnte.

»Sofort. Vorher kommt aber noch der Clou.«Nach dem Amadeusle und der Katze Soraya meinte ich

auf alles gefaßt zu sein, war es aber doch nicht auf das Gebrüll, das plötzlich einsetzte.

— Ebenheimer Turnhalle — Dr. Wagner — der Rek­tor — die schöne Friederike: »Horch, die Nachtigall!«

Es war unverkennbar der Bäckersohn.»Bernd? Wieso bringst du ihn aus Österreich mit?«»Noch eine Minute höchstens, dann reißt sich der

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Hund los!« rief Till warnend, und so liefen wir, Mette, Amadeus und ich, mit Gepäck, neuem Strohhut, Soraya und einem schreienden Säugling so schnell wir konnten ins Haus.

»Wir brauchen weder Fragen noch etwas zu essen — nur Betten.«

Ich war so begierig darauf, selbst ins Bett gehen zu können, daß ich gar keine Lust zum Fragen mehr ver­spürte und nur das sichere Gefühl hatte, daß es von nun an mit meiner Bodenseeruhe gänzlich aus sei.

27. Juli

Ich bin dabei, Meinungen, die ich in der Ebenheimer Luft jahrelang gehegt habe, zu revidieren. Zum Beispiel die über Mädchen, die so aussehen wie Mette.

Heute morgen erschien sie in einem hellgrünen Kleid mit unmöglich großem Ausschnitt zum Morgentee. Die rote Mähne hatte sie zu einem Knoten hochgesteckt (»Mein Nacken muß auch braunbrennen«), und Lippen, Finger- und Zehennägel erglänzten in einem silbrigen Rosa.

Und dieses perlmutterfarbene Mädchen berichtete mir, daß es am Ende seiner Reise schnell einmal nach Eben­heim gefahren sei, um dort die Menschen kennenzulernen, die ich ihr als vorbildlich dargestellt hatte.

Vor ihr hätten sie sich verborgen — sie würde deshalb nochmals kommen, wenn ich wieder zu Hause sei und meine reiselustige Mutter ebenfalls —, dafür habe sie aber drei arme Wesen entdeckt, die unter weniger vor­bildlichen Erwachsenen zu leiden gehabt hätten. Sie habe sie für einige Zeit erretten wollen und sie kurzerhand mitgebracht.

Am schwierigsten sei es gewesen, Frau Mozert herum­

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zukriegen, mit der sie sich vier Stunden unterhalten habe. (»Teilweise ziemlich laut!«)

Schneller sei es mit dem Baby gegangen. Frau Langbein liege im Krankenhaus, er, der Bäckermeister, habe be­greiflicherweise keine Zeit, und die Frau, die sie für das Kind engagiert haben, sei ein Biest, die das Kind erfolg­reich zugrunde richte, wenn es noch lange ihrer »Pflege« anvertraut sei.

Soraya hatte sie vor der in Ebenheim üblichen Todesart für junge Katzen gerettet.

Nun waren also die drei hier und sollten sich erholen.»Du stellst die Unterkunft, und ich komme für die

Verpflegung auf«, sagte sie und zündete sich eine Ziga­rette an. »Das große Elend in der Welt können wir sowieso nicht wegschaffen — die es tun könnten, wollen es nicht, weil es ihnen aus wirtschaftlichen oder politischen oder was weiß ich was für Gründen nicht in den Kram paßt —, aber manchmal können wir es ein bißchen min­dern, da, wo wir es treffen.

Weißt du, deshalb will ich auch Vaters Betrieb einmal führen, und gut führen. Ich will Geld verdienen, damit ich welches übrig habe für die Unterdrückten. Für die Kinder und für die Alten. Die dazwischen interessieren mich nicht. Sie können sich selbst helfen, und außerdem sind sie an allem schuld, denn sie sind böse.«

Sie stand auf. »Tschüß! Ich sehe jetzt nach dem Wölfle und gehe dann mit ihm baden. Er muß das Schwimmen lernen — und darf hier keine Klaviertaste anrühren! Nur wenn er selbst gern möchte.«

Aus Frau Mozerts übendem Amadeusle sollte Mettes schwimmendes Wölfle werden!

Einige Zeit danach besuchte sie mich mit ihrem Schütz­ling im Badezimmer. (Ich war gerade dabei, neues Bade­wasser für meinen zweiten Säugling zu bereiten. Florian

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war schon sauber und satt.) Sie hatte den schönen Bade­mantel umgehängt und wollte mir nur schnell noch sagen, daß sie selbstverständlich nicht alles Geld auf diese selbst­lose Art verwenden wolle, sondern sie habe auch vor, gut zu leben. Arm sein wolle sie nie, das sei ihr ein Greuel.

»Dies nur, damit du dir kein falsches Bild von meinem edelmütigen Innenleben machst!« —

So langsam fange ich an, mir ein richtiges zu machen!

Von meinem Innenleben mache ich mir gar kein Bild mehr, dazu habe ich am friedlichen See keine Zeit.

Mutter hat lange nicht geschrieben. Tagsüber denke ich nicht daran, aber abends bekümmert es mich.

28. Juli

Unsere Villa wird kunterbunt!Walter kam gegen Mittag und war leicht verstört, als

er nicht nur mich in farbenfreudigstem Zustand vorfand, sondern noch eine Maid, die ihm, kaum hatte er sein Rad abgestellt, Geld in die Hand drückte, damit er im Ort Würstchen und Brötchen kaufe und Sprudel, soviel er schleppen könne.

Er konnte ziemlich viel, war auch, nachdem er sich gefaßt hatte, bereit, die Sachen in der mittelalterlichen Küche zuzubereiten, damit wir durch zeitraubendes Säu­bern nicht in unserer Arbeit gestört würden.

Nach der gemeinsamen Mahlzeit zog Walter ein altes Nachthemd meines abwesenden Schwagers an (hoffent­lich ist Martina auch der Meinung, daß das Hemd alters­schwach ist!), umgürtete es mit einem Strick und begann die weißen Treppenstufen zu streichen. Die Wirkung

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der Treppe ist kolossal! Ich werde sie Herrn Knopf ein­mal vorführen. Es muß ein Vergnügen sein, Möbel über solch eine rot-weiße Treppe transportieren zu dürfen. Auch wenn sie jetzt noch »abschtrakter« wirkt.

Mette und ich waren inzwischen bei den Fensterrah­men. Wir malen sie recht bunt, damit die Ritterburg freundlicher wirkt.

Am Bodensee gibt es kein Fenster ohne Blumenkasten — nur unser Haus steht ungeschmückt da. Ist das nicht eine Schande, wenn sogar Heimles Kuhstallfenster kaum mehr Licht in den Stall lassen, weil Blumen in Fülle an den Scheiben emporwachsen? Für Blumen ist’s in diesem Jahr zu spät. Außerdem sind sie zu teuer — so machen wir’s mit Farben.

Am schönsten ist das Medusenhaupt überm Eingang geworden. Die Häßlichkeit konnte ich ihm zwar nicht ganz nehmen, aber doch beträchtlich lindern durch freund­liche rote Backen, gelbe Haare, blaue Augen. — Man be­tritt das Haus nun viel lieber.

Mette hatte sich der Dachrinnen und Wasserspeier an­genommen, die durch muntere Farben auch viel vom Dämonischen verloren haben. Morgen wollen wir aufs Dach.

Walter ist sehr nett. Ich bin froh, daß alles so harm­los geht.

29. Juli

Als ich gerade mit dem Heimle-Bauern am Tor stand und mich mit ihm übers Wasser unterhielt, damit er mir weiterhin freundlich gesonnen sei (er betrachtet mich seit einigen Tagen mit verhohlenem Mißtrauen), stand eine junge Dame draußen. Mit zwei Koffern, Tasche, Hut und Kostüm und etwas mitgenommen vom beschwer­lichen Weg bis zu unserem Haus.

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Es war Andrea.Attila, den Heimle noch an der Leine hatte und der

mir bereits zugeneigt ist, zog bellend an seiner Kette. Ich öffnete das Tor und nahm einen Koffer von der Erde.

»Willkommen, Andrea!«»Ach, bist du auch hier?« Das klang recht erfreut.

»Ich will Martina besuchen.«Ihre Enttäuschung darüber, daß Martina nicht da sei

und sie mit mir vorliebnehmen müsse, konnte sie nicht verbergen. Da unsereins nicht so ein dickes Fell hat, wie die Umwelt meist annimmt, schmerzte es mich ein wenig. Schließlich bin ich doch auch jemand!

»Großartig, daß du da bist!« sagte ich und steckte die empfindsame Christiane schnell weg. »Wir können gut noch einen zum Anstreichen brauchen. Wir renovieren nämlich den Kasten«, das sagte ich zu beiden, und zum Bauern allein: »Das ist meine Schwester.«

»Hoffentlich ist es Frau Mertens recht, wenn Sie soviel Besuch hier haben, Fräulein Amberg«, meinte der Mann bedenklich.

Aber ich hatte in dieser Beziehung ein reines Gewissen und ging mit Andrea ins Haus. Überall standen Farb- töpfe herum, und es roch entsprechend. Die Garderobe war unbenutzbar, da sie einen gelben Hintergrund be­kommen hatte, der noch feucht war.

Im Badezimmer, in das ich die etwas überraschte An­drea führte, damit sie ablegen und sich gleich ein bißchen frisch machen könne, roch es nicht nach Farbe. Andrea schnupperte.

»Das war schon wieder Soraya«, sagte ich empört, »Marie-Antoinette hat sie mitgebracht, und seither haben wir nur Ärger!«

»Bist du irrsinnig?«»Ich glaube nicht. Ich freue mich so, weil du da bist!

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Und nun beeil dich, ich will dir Florian zeigen. Er ist so niedlich, wie du noch nie ein Kind gesehen hast!«

Draußen rief jemand nach mir. Ich sagte schnell zu Andrea, daß ich ihr inzwischen etwas zu essen machen wolle. Wenn sie fertig sei, solle sie die Treppe hinauf­gehen, »aber bitte nur die roten Stufen benutzen, weil die weißen noch kleben!«, und dann geradeaus, erste Tür rechts, dort sei Florian zu besichtigen. Sie solle ent­schuldigen, aber ich müsse schnell noch nach Alexa sehen, die sich heute nicht ganz wohl fühle, weil sie gestern mit Attila, dem Hunnen zusammengeraten sei. Der Junge rufe deshalb nach mir. »Es ist Wolfgang Amadeus Mo­zert«, erklärte ich und merkte erst an dem ängstlich be­sorgten Blick, mit dem Andrea mich betrachtete, als ich das Licht in einer tulpenförmigen Glasschale über dem Waschbecken angeknipst hatte und zur Tür hinausgehen wollte, daß sie an meinem Verstand zweifelte. Es kann schon sein, daß sich jemand über dieses Haus und seine Bewohner wundert!

Andrea tat es an diesem Abend nur noch einmal gründ­lich, nämlich als sie zwei kleine Jungen in dem Zimmer- chen hinter der ersten Tür rechts vorfand und nicht recht wußte, welcher davon ihr Neffe sei. Dabei sieht man es gleich, weil er sehr viel niedlicher ist.

Über Walters Anwesenheit und Mettes grünes Kleid mit dem unmöglichen Ausschnitt wunderte sie sich dann schon nicht mehr. Auch an sonderbare Dinge kann man sich gewöhnen, wie mir scheint.

Andrea war sehr müde. Sie legte sich bald auf die Couch im Wohnzimmer und wollte schlafen. »Es ist nur für zwei Nächte«, sagte sie.

Wahrscheinlich weil nur ich da bin und so ein unan­genehmes Durcheinander um mich herum.

Als ich das alles aufschrieb, merkte ich, daß mir An­

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drea eigentlich sehr fremd ist. Schon immer war sie mir die fernste meiner Schwestern und die, die ich am mei­sten bewunderte.

Sie ist schon vierundzwanzig Jahre alt und sehr schön. Nicht hübsch wie Martina, sondern schön. Selbst die kritische Mette ist dieser Meinung — von Walter gar nicht zu sprechen —, aber sie ist unerreichbar und kühl.

Wir wollen sehen, ob wir sie mit vereinten Kräften nicht ein wenig auftauen können. Ihrer Musik täte das bestimmt auch gut.

30. Juli

Nichts Besonderes los: die Kinder gedeihen, die Sonne scheint, das Wölfle ist zum Gans- und Kinderhüter avan­ciert, wir vier anderen haben alle Farbe verstrichen. Was nun noch grau ist, bleibt grau. Glücklicherweise ist es nur wenig, und die Ritterburg sieht beinahe lustig aus. Der Medusa haben wir die Mundwinkel nach oben ge­schminkt; nun sieht es aus, als lache sie.

Vielleicht lacht Andrea auch bald wieder. Von der Ab­fahrt hat sie heute nichts gesagt, es scheint ihr recht gut zu gefallen. Auch ohne Martina und trotz irgendeines Kummers, den sie zu haben scheint.

31. Juli

Es ist zum Weinen: Wie gern würde ich einmal ein Boot mieten, um eine Stunde auf dem See herumzufahren — das Geld ist knapp. Wie gern würde ich Florian einen neuen Wagen kaufen — es scheitert an der Finanz. — Schnitzel? Kein Geld! — Blumenkästen für die Fenster? Geht nicht. Eine Creme gegen Sommersprossen? Zu teuer!

Als ich heute morgen in der finstern Küche stand und aus wenig Margarine und viel Schnittlauch eine Soße zu

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Martinas alten Kartoffeln herzustellen versuchte, da ich ziemlichen Hunger hatte, kam mir ein vorzüglicher Ge­danke: Noch ehe mein Geld völlig aufgebraucht ist, werde ich mir eine Verdienstquelle suchen. (Ich kann doch nicht zuviel bei Mette schmarotzen!) Ich weiß auch, wie die sein wird: Auf der Wiese darf gezeltet werden. Gegen Ge­bühr natürlich, denn nur um sie ist mir’s zu tun.

Die saubere und zuverlässige Betreuerin wird nicht — mit dem betreuten Säugling zusammen — Hungers ster­ben! Wir werden schon zu Geld kommen!

Ein Gutes hat die angespannte Finanzlage auch: Ich bekomme eine schlanke Linie — so ganz nebenbei.

Im Ort drin gibt es eine Waage. Ich wüßte gern, wie­viel ich abgenommen habe, kaufte mir für den Groschen aber lieber einen Kaugummi — beim Kauen merkt man den Hunger nicht so.

Gleich schreibe ich an Martina eine energische Karte. Sie soll irgendwelches Geld flüssigmachen. So geht’s wirk­lich nicht!

1. August

Nach den vier anstrengenden Arbeitstagen sind wir wieder zur erholsamen Praxis des unorganisierten Ta­geslaufes zurückgekehrt. Jeder kann tun, was, kommen und gehen, wann und wie er will.

Die zuverlässige Betreuerin der Säuglinge ist natürlich von deren Tageslauf abhängig, und so blieb ich zu Hause. Andrea machte irgendwelche einsame Spaziergänge, Mette nahm Walter, das Amadeusle-Wölfle und Paulchen und fuhr mit ihnen nach Meersburg. Ich fand das Alleinsein schön, versorgte die Kinder, schwamm weit hinaus in den See, bedauerte, daß der unnnötige Lebensretter Till dies­mal nicht auftauchte, lag in der Sonne und beschloß, als es mir zu warm wurde und in einem seltenen Anfall von

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Ordnungswut, die leeren Farbtöpfe in einer großen Kiste zu verstauen und hinters Haus in die entlegenste Ecke zu stellen. Ich sammelte sie überall auf, wo die malenden Zeitgenossen sie gestern hatten stehenlassen, und stellte fest, daß in vielen Dosen noch kleine Farbreste waren.

Wegwerfen? Nein, viel zu schade.Da überkam mich eine großartige Idee: Ich wollte das

verrostete Tor an der Straße bunt bemalen. Was hilft es, wenn das Haus munter hinter alten Bäumen steht, und das Eingangstor sieht weiterhin trübsinnig dem Besucher entgegen!

Solch ein Tor ist sicherlich am ganzen Bodensee — ach, in ganz Deutschland — nicht wieder zu finden: es ist einmalig!

Pünktlich um sechs Uhr, als Bernd hungrig zu brüllen begann, war ich mit der letzten Lanzenspitze fertig. Ich setzte mich auf den Randstein jenseits der Straße, auf dem ich damals in der Nacht gesessen war, als mich Attila nicht einlassen wollte, und von dort sah ich, daß meine Resteverwertung wohl gelungen war. (Finde ich jedenfalls!) Was mich noch störte, waren die drei weißen Schilder. — Nach einer Stunde waren sie verschwunden unter einem alten Kistendeckel, den ich mit den nun wirklich allerkleinsten Farbenresten beschriftet und be­malt hatte.

»Zum bunten Florian«

steht darauf.Und jetzt setze ich mich mit meinem Buch hinter den

Rhododendron und warte auf meine Gäste, um mich an ihrer Überraschung zu erlaben.

Zwei vorübergehende Männer:»Jetzt machet die Mertens auch noch einen Pensions­

betrieb auf. Das glaub’ i, daß das eine bessere Einnahme-

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quelle ist als das Häuserbauen, wenn man noch ein An­fänger ist.«

»Des scho«, gab Herr Knopf zu bedenken, »aber ob Gäste in ein Haus mit einer abschtrakten Treppe gehen, bezweifle ich!«

Eine Kinderstimme: »Mamme, schau ammal das lusch- tige Tor!«

Mamme: »Die spinnet!«

Nach einiger Zeit wieder Schritte. Bleiben vor dem Tor stehen, gehen dann langsam weiter.

(Mein Werk scheint aufzufallen!)

Nun kommt Paulchen angeschnurrt. Stoppt. Hupt.Mette steigt aus, öffnet das Tor vorsichtig, um nicht

Farbhände zu bekommen. Sie lacht: »Diese Christiane! Kaum verlassen wir vernünftigen Menschen das Haus, macht sie solche Sachen. Aber gar nicht übel.«

»Sie hat immer so hübsch verrückte Ideen«! bestätigt Walter, und das Wölfle meint: »Wie ein Gasthausschild! Hoffentlich kommen recht viele!«

»Was?»»Na, Gäscht!«(»Hoffentlich zahlende!!« — Nebenbemerkung der

Chronistin. —)Die drei verschwinden durch die Hintertür ins Haus,

und bald höre ich appetitanregendes Brutzeln aus der Küche.

Nach mir sucht niemand, denn jeder kann essen und kochen, was und wann er will, unter der Bedingung, daß er sein gebrauchtes Geschirr selbst spült und auf­räumt.

So sitze ich weiterhin hungrig im Busch und warte auf Andrea. Endlich kommt sie. Ich höre sie sprechen.

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Mit wem wohl? Sie kennt doch niemanden hier.Jetzt: »So etwas Verrücktes! Das kann nur Christiane

gemacht haben! Sie hatte schon als Kind eine Vorliebe für das übermäßig Bunte.«

»Sie ist auch jetzt noch recht kindlich, Ihre Schwester«, sagt eine Männerstimme, die ich gut kenne. »Das Tor gefällt mir eigentlich ganz gut.«

»Ich finde es gräßlich! Gute Nacht, Herr Grafe, und herzlichen Dank für die Begleitung.«

»Ich habe zu danken. — Schlafen Sie wohl.«Ich sitze ganz still in meinem Versteck und halte den

Atem an. Sicherlich kommt jetzt noch: »Ist es Ihnen recht, wenn ich Andrea zu Ihnen sage?«

Vielleicht fragt er alle Mädchen so, die er einmal im oder am See kurz trifft? Ach, und ich dumme Gans habe gedacht, er fragt es nur mich, weil ich ihm ein wenig gefallen habe, trotz meiner Sommersprossen und der Frotzelei mit Alexa. Aber nun kommt Andrea: schön, klug, liebenswürdig, ernsthaft und völlige Dame — etwas ganz anderes als die »noch recht kindliche Schwester«.

Die kleine, buntgestreifte Gittertür neben dem großen Tor fällt ins Schloß, Andrea geht schnell über den ver­unkrauteten Weg dem Haus zu, und Tills Schritte sind schon fern. Er hat es nicht gefragt. Ein kleines Triumph­gefühl will in mir wachsen, wird aber von der kritischen Christiane sofort getötet: Er sieht in mir das kleine Mäd­chen, drum die Anrede mit dem Vornamen!

Ach, wäre ich doch mit Walter und Mette in die Küche gegangen! Dort wäre sicherlich auch für mich eine Brat­wurst abgefallen, und ich hätte mein inneres Gleichge­wicht noch.

Hungrig und traurig sein ist ein bißchen viel auf einmal.

Ich werde gleich gegen beides etwas unternehmen: min­

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destens fünf Butterbrote essen und an Till überhaupt nicht mehr denken. Wenn ich ihn wieder treffen sollte, dann werde ich ihn aber zum besten halten. Strafe muß sein!

NS. Weil ich in diesem Buch ganz ehrlich sein will, muß ich noch schreiben, daß ich mich beinahe zum ersten­mal und richtig verliebt hätte. In Till. Das darf nun niemand erfahren, ich schäme mich sonst zu Tode, und ich selbst will es auch nicht mehr wissen.

— Vorbei. —Vor dem Einschlafen werde ich mir jetzt alle schlech­

ten Eigenschaften, die ich bei Till, nein bei Herrn Grafe, vermute, aufzählen, damit alles in mir wieder in Ord­nung kommt.

Wieviel schneller war der Johannisfeuerkuß durch die Ohrfeige neutralisiert!

Man sollte viel öfter ohrfeigen dürfen.

2. August

Am Nachmittag habe ich Florian und Bernd in den himmelblauen Wagen gepackt und bin mit ihnen zu Frau Grafe gefahren. Sie hat eine Waage, und ich muß un­bedingt wissen, wieviel Florian zugenommen hat in den vergangenen vierzehn Tagen, damit ich es Martina schrei­ben kann. Walter hat heute morgen Aufnahmen gemacht, die werden mitgeschickt, und dann kann sich das südliche Elternpaar augenscheinlich vom Wohlergehen seines Soh­nes überzeugen. Die ehrliche und saubere Pflegerin ist — aus begreiflichen Gründen — nicht mit auf den Bildern. Andrea war nicht da, und Mette sah, obwohl sie behaup­tete, ihrem Gesicht einen mütterlichen Ausdruck gegeben zu haben, zu mondän aus, um bei Martina einen zuver­lässigen pflegerischen Eindruck zu machen. So kam nur

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Florian aufs Bild — und einmal Bernd, damit seine Mutter schneller gesund wird.

Frau Grafe war reizend und herzlich wie immer. Glücklicherweise sagte sie gleich bei der Begrüßung, daß sie allein sei. So konnte ich das Beisammensein und das Kaffeetrinken genießen, ohne befürchten zu müssen, daß plötzlich der Herr Sohn auftaucht. Nach ihm hatte ich keine Sehnsucht.

Frau Grafe versprach, gleich morgen zu kommen und unser buntes Haus — und meine nicht minder bunten Hausgenossen — zu besichtigen.

Am meisten gespannt ist sie auf die rot-weiße Wendel­treppe mit blauer Mittelachse und auf Andrea, von der ihr Till erzählt hat.

Florian wiegt 7 Kilo, Bernd 6¼ Kilo.

3. August

Endlich ein Brief von Mutter! Aus Norwegen. Sie weiß nun, wie und warum ich doch Martinas Haus hüte, und amüsiert sich darüber, meint aber, ich solle in den näch­sten Tagen Martina alles schreiben. Es sei besser und ich hätte ja inzwischen den Beweis erbracht, daß ich eine vorzügliche Säuglingspflegerin sei. Na, wollen sehen. Meine alte Tine soll ruhig noch ein bißchen im unge­wissen bleiben, wenn auch Andrea derselben Meinung ist wie Mutter. Sie war schon immer so vernünftig und für die Wahrheit.

Bei Frau Grafe war unser Haus vom Eingangsgitter bis zum obersten Wasserspeier, von Soraya bis zu Mette ein voller Erfolg. Sie lud uns alle für einen Abend in der nächsten Woche ein. Die beiden Kleinen sollen auch mit­kommen und drüben schlafen, damit niemand von uns hierbleiben oder ein schlechtes Gewissen haben muß.

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Programmpunkte: Abendessen und Musik.Es komme ein Freund ihres Hauses, ein vorzüglicher

Flötist. Ob Andrea vielleicht die »Flötensonate 1936« von Hindemith kenne? Die Begleitung sei ihrem Mann zu schwer, zum Üben habe er keine Zeit, ob sie es über­nehmen könne? »Es wäre uns allen ein großes Geschenk.«

Sie kenne sie gut, sagte Andrea beinahe schroff und sehr unverbindlich, sie habe sie bereits gespielt, wisse aber nicht, ob sie kommende Woche schon wieder beglei­ten könne. Sie habe ihre linke Hand überspielt und des­halb hier noch keine Taste angerührt.

»Dann lassen Sie es«, lächelte Frau Grafe, »spielen Sie ja nicht in diesen Tagen — vielleicht geht es dann an diesem Abend bei uns. Es wäre uns wirklich ein Ge­schenk.«

Andrea sah unglücklich aus, als sie zusagte.Mette sagte später: »Das ist klar, daß du spielen mußt.

Sozusagen als Bezahlung für die Einladung.«»Ich gehe nicht hin«, sagte Andrea müde urtd erklärte,

als sie unsere erstaunten Gesichter sah: »Flöte vertrage ich augenblicklich nicht, und die Mischung von Cembalo und Flöte ist mir eine Qual.«

»Paßt doch besser zusammen als Cembalo und Geige!«»Das verstehst du nicht, Kleines.«Das verstehe ich wirklich nicht! Die meisten anderen

Dinge, von denen sie seit Jahren annimmt, ich verstünde sie nicht, verstehe ich zwar recht gut. Diese Marotte aber bestimmt nicht. Na, wir werden sie schon noch herum­kriegen.

4. August

Seit gestern abend regnet es ununterbrochen.Kurz nach dem Mittagessen klingelte es. Da Andrea

einen Regenspaziergang am See entlang machte, Mette auf

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ihrem Bett lag, um Wölfles Mittagsschlaf zu bewachen und zu lesen, und ich gerade Florian mit Möhrenbrei fütterte, hängte sich Walter den Kleppermantel um und ging zum bunten Tor, um zu sehen, wer da sei.

Kurz danach betraten drei tropfende Gestalten unser Haus: Walter, Jörn und Uwe! Die Vettern aus Holstein! Sie sind mit den Rädern auf einer Italienfahrt (muß denn alles nach Italien fahren?!) und wollten fragen, ob sie bei uns zelten oder sonstwie übernachten könnten.

Wegen des Wetters entschieden wir uns sofort für »sonstwie«. Ich werde schon irgendein Nachtlager für die beiden finden. Muß Mette fragen, die weiß meistens Rat.

Jetzt sitzt sie in der Küche und füttert Florian fertig. »Nie habe ich gedacht, daß ich jemals in meinem Leben einen Säugling füttern würde, aber das arme Kind kann man doch nicht halbsatt ins Bett legen, nur weil zwei nasse Männer aufgetaucht sind, deren Sachen aufzuhän­gen und die mit heißem Tee zu laben sind. — Komm, mein Schatz!«

Walter stellte inzwischen die Räder in der Wasch­küche unter, und Andrea erschien gerade dann, als der Tisch gedeckt war und wir uns gemütlich zusammen­setzten.

Nun hat der »Bunte Florian« schon sieben Gäste — mit Soraya acht.

Die Sache mit der Übernachtung ist schon geklärt. Die beiden haben Luftmatratzen mit und schlafen auf dem Boden unter den Fledermäusen. Zugang: über die Leiter durch die Luke in Walters Zimmer. Da oben können noch viele Obdachlose schlafen. Heute haben schon zwei Autos gehalten und gedacht, wir seien ein Hotel. (Dabei ist der »Bunte Florian« doch nur eine Hausmarke, so wie es im Mittelalter in den deutschen Städten üblich war. Anschei­

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nend ist das unseren Zeitgenossen nicht mehr ganz ge­läufig.)

Beide Male war Mette am Tor und gab Bescheid.»Wenn es junge Leute gewesen wären, mit Rädern oder

sonst durchnäßt, ich glaube, ich hätte sie hereingelassen«, sagte sie, »denn müde, naß und ohne Nachtquartier, das ist scheußlich!«

»Nicht nur für junge Leute«, warf Andrea ein.Aber Mette schüttelte kampfeslustig ihre nasse Mähne

und sagte: »Die Erwachsenen mit Auto finden immer noch irgendwo ein Bett. Sollen sie halt in eine weniger überlaufene Gegend fahren. Ich bin aber dafür, daß wir jugendliche Notfälle aufnehmen!«

Sie sah mich an, weil ich dafür verantwortlich bin.»Meinetwegen«, sagte ich erfreut, denn den gleichen

Gedanken, wenn auch aus anderem Grund, hatte ich auch gehabt, »aber nur Wiese zum Zelten und Dachboden zum Übernachten. In eine Wohnung, die mir nicht gehört, kann ich keine Leute lassen, die ich nicht kenne.?

»Nie hätte ich gedacht, daß ich eine derart vernünftige Kusine mein eigen nenne«, lästerte Jörn. Er hatte schon früher solch eine geschraubte Ausdrucksweise.

»Dann vermerkt möglichst die Altersgrenze auf eurer >Hausmarke<, damit sich ältere Jahrgänge gar nicht erst bemühen«, riet Walter, und Mette versprach, morgen mit dem weißen Emaillelack, den sie zur Ausbesserung von Paulchens Autonummer zurückbehalten hatte, kundzutun, daß Personen über —

»Sagt einmal, wie alt ist hier der älteste?«Andrea ist vierundzwanzig, Jörn dreiundzwanzig.»Also: Personen über vierundzwanzig Jahren ist der

Zutritt verboten.«»Nicht gestattet. Das klingt nicht so schroff.«»Sagt’s doch gleich positiv: Nur Personen unter vier­

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undzwanzig Jahren dürfen das Grundstück betreten.«»Viel zuviel Text! Meine Farbe ist knapp.«»Laßt >verboten<, das ist eindeutig.«»Und was machst du mit den Grenzfällen?«»Gibt’s nicht! Entweder ist jemand unter oder über

vierundzwanzig. «»Und wenn nun die eine Hälfte eines Liebespaares

darüber ist?«»Die werden sowieso nicht aufgenommen.«»Falls deine Farbe noch reicht, kannst du es gleich

dazuschreiben.«»Haben Sie prinzipiell etwas gegen Liebespaare?« er­

kundigte sich Jörn und bekam von Mette die Antwort, daß sie an sich nichts dagegen habe, aber sie wolle nicht mit solchen unter einem Dach wohnen. Sie vertrage das Händchenhalten und Turteln nicht.

Eine verträgt keine Flötentöne, die andere keine Lie­bespaare — na, wir werden sehen, wer sonst noch was nicht verträgt. Hauptsache: Alle vertragen sich unterein­ander, die hier wohnen; und das ist bisher der Fall. Ich bin furchtbar müde — und hatte so sehr gehofft, mich in der Bodenseeruhe einmal richtig ausschlafen zu können!

5. August

Als ich heute morgen Mette nur fünfzigmal Seilhüpfen hörte, begriff ich auch im Halbschlaf, daß es weiterhin ganz miserables Wetter sein müsse. Da freut man sich monatelang auf sommerliche Hitze, und dann besteht der ganze Sommer aus drei oder vier schönen Tagen und sonst aus Frieren. Und Mutter schreibt, in Norwegen sei es warm wie seit Jahren nicht. Ich glaube doch, daß die

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Atombomben daran schuld sind. Wir hatten heute ein großes Kampfgespräch deswegen.

Walter, Jörn und Andrea meinten: nein. Wir anderen meinten: ja. Da keine Partei der anderen das Gegenteil beweisen konnte, Amadeus und Soraya sich der Stimme enthielten, ging der Kampf unentschieden aus. Und es regnet weiter.

In der Waschküche haben wir die Tischtennisplatte aufgestellt. Alexa war zunächst etwas irritiert. Entweder wollte sie mitspielen oder protestieren, auf jeden Fall brachte sie mit Geschrei und Gezisch jedes Spiel durchein­ander. Wir einigten uns so: Tagsüber muß sie draußen bleiben im Regen (schließlich ist sie ein Wasservogel), abends darf sie in der Waschküche schlafen, und wir sitzen oben in Klaus’ Zimmer und erholen uns vom Spiel.

Ich bemühe mich, dem Amadeusle das Spielen beizu­bringen. Wenn das seine Mutter wüßte, daß er seine Hände zu solch sinnlosem Tun benutzt und noch niemals Klavier gespielt hat! Aber er wird hier bei uns ganz munter. Mette füttert ihn mit guten Bissen, zwingt ihn zum Seilspringen und bedauert sehr, daß durch den Regen das Schwimmen ausfällt; Andrea nimmt ihn statt dessen mit bei ihren täglichen Spaziergängen; Walter spielt mit ihm Halma und versucht, ihm das Radfahren auf Marti­nas alter Kiste beizubringen. Er hat ihm versprochen, wenn er es kann, schenkt er ihm in Ebenheim sein altes Rad.

Walter ist wirklich ein netter Kerl. Auch sonst.

6. August

Mette hat heute nachmittag auf dem Schild »Zum bunten Florian« die 24 durchgestrichen und eine 25 dar­übergeschrieben.

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Till war nämlich da, um uns endgültig für morgen abend einzuladen. Da er fünfundzwanzig Jahre alt sei, dürfe er leider nicht näher treten, sagte er zu Andrea, die gerade am Tor stand. Mette kam hinzu und versprach, die Grenze seines hohen Alters wegen um ein Jahr zu verschieben.

Sie hätte es ruhig sein lassen können. Mir ist’s recht, wenn er nicht hereinkommt.

Aber morgen abend werde ich mich so schön wie mög­lich anziehen — und ihn so »kindlich«-frech wie nur möglich behandeln. Jörn und Uwe sollen mitkommen, falls es morgen noch regnen sollte und sie deshalb hier noch festgehalten werden.

Bis vor ein paar Minuten saßen wir alle mitsammen oben im Turmzimmer. Amadeus und die beiden Babys schliefen, Mette saß an ihrem Lieblingsfenster auf einem der türkischen Lederkissen, Rücken an Rücken mit An­drea, und so sah ich, die letzte, die nach dem Fertig­machen der Kleinen das Zimmer betrat, ihre beiden Profile sich deutlich und schwarz von dem helleren Him­mel abheben. Es war schon recht dunkel im Raum. Mir war es recht, und die anderen würden schon einen Grund haben, das Licht nicht einzuschalten.

Mette streichelte die Katze auf ihrem Schoß und sagte gerade: »Du mußt mitkommen, Andrea, da hilft alles nichts. Notfalls stopfst du dir eben Watte in die Ohren, wenn du was gegen Flöte hast. Aber spielen mußt du.«

Aha, sie waren dabei, Andrea herumzukriegen. Da ich keine Lust hatte, bei Grafes noch tiefer in die Dankes­schuld hineinzugeraten, sagte ich sofort: »Tu es uns zulieb. Wer weiß, was für ein mittelmäßiger Dilettant dort die Flöte blasen wird, und du regst dich seinetwegen so auf.«

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»Mittelmäßig kann er nicht sein, dazu ist das Stück zu schwer. Auch wenn man es nicht richtig spielt, ist es nur etwas für Könner.«

»Magst du es?« Das war wieder Mette.»Ich habe es einmal sehr geschätzt.«»Auf meinem Kissen ist noch Platz«, flüsterte Walter

und zog mich neben sich auf den zweiten türkischen Ledersitz, auf dem es so bequem ist. Uwe saß irgendwie quer in dem altersschwachen Klubsessel, in dem sich Klaus seine Häuser auszudenken pflegt.

»Aber, Andrea«, sagte er überrascht, »ist das nicht das Konzert, das du vor ein paar Wochen in Frankfurt gespielt hast, zusammen mit diesem berühmten Flötisten? Ich sah die Besprechung bei Großvater liegen. Eine sehr gute übrigens.«

»Ja«, sagte Andrea und sprach schnell weiter: »Weißt du, ich fühle mich verpflichtet, Großvater die Kritiken zu schicken und ihm auch sonst immer von meinen musi­kalischen Unternehmungen zu berichten, weil er mir einen großen Teil meines Studiums bezahlt hat. Er soll sehen, daß sein Geld nicht umsonst ausgegeben ist. — Nur seinetwegen bin ich bis heute der Musik treu geblieben.«

»Na, du, bei deinem Können!«»Das ist doch von Kindheit an dein Ziel gewesen!«»Was hast du bloß für irrsinnige Absichten!«»Solch eine großartige Stelle, vorzügliche Kritiken,

ungezählte Möglichkeiten, bekannt und berühmt zu wer­den . . . «

Wir waren alle ganz erregt.Jörn hatte als letzter gesprochen, und so wandte sich

Andrea an ihn mit der Antwort: »Bei der Musik ist das anders als beim Import von Waren — versteh es richtig, ich will deinen Beruf nicht schmälern, eher den meinen. Wenn du da Großes vorhast und kommst plötzlich dahin,

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daß du merkst, hier schaffe ich es nicht weiter, dann sollte man um der Musik willen die Finger gänzlich davon lassen und sich einen anderen Beruf suchen. Es gibt ge­nügend. Gewiß, die Kritiken sind gut, und nicht nur, weil es die Herren Rezensenten gut mit mir meinen, son­dern weil ich wirklich etwas kann — aber ich kann nicht genug! Andere können zwar weniger und wagen sich dennoch mit einer Unverfrorenheit an Werke, die sie nie­mals bewältigen können. Sie haben ein andächtiges Publi­kum, sie werden gefeiert, sie sind >berühmt< — aber sie haben keine Ehrfurcht vor dem Werk.

Mich schmerzt jeder falsche Ton, jeder verzogene Rhythmus, jede Mogelei.

Ich habe eine großartige Stelle, sagst du. Die habe ich, aber ich habe keine Zeit mehr, richtig zu üben, richtig zu arbeiten. Natürlich spiele ich irgendeine Bachsche Fuge ordentlich und ohne auffallende Fehler, aber ich könnte sie besser spielen. Ich müßte sie besser spielen. Manchmal denke ich, es liegt nicht an der Zersplitterung meines Daseins, nicht an der mangelnden Zeit, sondern ich bin am Ende meines Könnens angekommen — mehr habe ich nicht in mir.

Und wenn das stimmt, dann will ich lieber gar nicht mehr spielen. Sofort einen anderen Beruf — und die Musik höchstens für Mußestunden. Dafür ist sie wohl auch da.«

Mette räusperte sich: »Wenn alle so dächten, dann gäbe es keine Musiker mehr, keine Konzerte, vielleicht ein paar von unbekümmerten Könnern bespielte Schall­platten, die wir uns dann als Konzertersatz leisten müß­ten. Das Leben würde arm.«

»Es gibt kein fehlerloses Leben — auch keine fehler­lose Kunst«, pflichtete Jörn ihr bei, und ich dachte, daß solche Gedanken Andrea schon immer beschäftigt haben

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müssen. Schon immer bemühte sie sich, alles »richtig« zu machen.

»Vielleicht«, sagte ich, »vielleicht ist es nicht so schlimm, einmal eine Note falsch zu spielen; aber man sollte von dem Werk so ergriffen, vielleicht sogar besessen sein, daß es einen mitreißt. Ich weiß nicht, wie es ist, aber ich könnte es mir ähnlich denken wie beim Schauspieler, der sein eigenes Wesen aus sich entläßt, um Platz zu machen für den anderen Menschen, den er darstellen soll. — Ja, so denke ich mir das. — Der Schauspieler kann jedes Wort richtig bringen und hat damit noch kein Leben in der Rolle; der Musiker kann jeden Ton richtig im rechten Augenblick bringen, und doch fehlt das Wichtigste: das Lebendige.«

Ob ich wörtlich genauso gesprochen habe, kann ich nicht sagen, aber sinngemäß war es so, und ich war selbst überrascht über die lange Rede. Die anderen auch, da sie mir ernsthafte Gedanken nie zutrauen. Außer Mette. Sie kennt mich zwar von allen die kürzeste Zeit, aber sie kennt mich am besten.

Jetzt setzte sie Soraya vorsichtig auf den Fußboden, stand auf und sagte: »Ich bin zwar erst neunzehn, komme mir aber uralt und sehr lebenserfahren vor — lach nicht so überlegen, Jörn! —, drum weiß ich auch eins: Jeder hat zwei Möglichkeiten, sein Leben zu leben — er kann es sparen oder verschenken. Wenn der Spar­same, der alle seine Taten, Worte, Gefühle und Gedanken durch viele Siebe filtert, ehe er sie entläßt, sein Leben betrachtet, ist es erschreckend arm. Kein aktiver Posten ist zu finden und kein passiver. Ich finde, wir müssen viel unmittelbarer leben. Viel wärmer und völlig ohne Angst. Alle, und die Künstler erst recht, weil sie nicht nur im Leben, sondern auch in der Kunst unmittelbar sein müssen. — Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen

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für die gespannte Aufmerksamkeit, mit der Sie meinen Ausführungen gefolgt sind, und empfehle mich.«

Sie ging zur Tür, schaltete das Licht an und wendelte bereits die Treppe hinunter, um als erste im Badezimmer zu sein, als wir noch geblendet blinzelten und noch eine Zeitlang über dieses Thema sprachen. Andrea versprach, morgen mitzukommen und, wenn es sich nicht umgehen lasse und der Flötist ordentlich sei, die Sonate mit ihm zu spielen. — Na, also!

7. August

Wenn es morgen immer noch regnet, fahre ich auch nach Italien! Welch günstige klimatische Bedingungen haben die Italienerinnen zum Windeltrocknen!

Eben kam ein dickes, schweres Paket von Frau Mozert an Wolfgang Amadeus. Inhalt: Noten, Noten, Noten und ein Wollschal, außerdem ein auf beides bezugnehmen­des Schreiben. Das nahm Wölfle mit. Noten und Schal wollte er nicht haben, Walter verstaute sie neben dem Klavier, da stören sie niemanden.

Gegen sieben Uhr sollen wir heute abend bei Grafes sein, da werde ich morgen einen langen Bericht in mein Buch schreiben müssen. Tu ich gerne! Jetzt habe ich keine Zeit zu längerer Schriftstellerei.

Andrea hat sich erboten, die weißen Hemden für un­sere drei Herren zu bügeln, Mette und Wölfle sind mit Paulchen nach Friedrichshafen gefahren, um dem Jungen dort ein festliches Hemd und eine ebensolche Hose zu kaufen. Florians und Bernds hübscheste Strampelhosen baumeln über dem Herd, der einzig warmen Stelle im ganzen Haus, und ich hoffe, daß sie bis zum Abend eini­germaßen trocken werden.

Mette wird ein Seidenkleid anziehen von einem raffi­nierten Gelb. Fast orange ist es und paßt wunderbar zu

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ihrem Haar. Ich ziehe mein Tüllkleid an — lange habe ich geschwankt, ob ich nicht lieber das Schwedenkleid anzie- hen solle, habe mich dann doch für den Tüll entschieden, um einigermaßen konkurrenzfähig zu sein gegenüber Mette und Andrea, die eben ihr Kleid aus weißer, ein ganz klein wenig gelblicher Honanseide gebügelt hat. Einen goldenen Gürtel trägt sie dazu und eine phanta­stische kurze Jacke aus Goldbrokat. Sie sei ein Geschenk, verriet mir Andrea auf meine Frage nach dem Preis des edlen Stückes. Von wem, sagte sie mir nicht.

Na, ist egal. Hoffentlich schenkt mir später auch einmal jemand so eine Jacke!

In meinem blauen Tüll werde ich mir neben den bei­den vorkommen wie die Unschuld vom Lande.

Till kann zufrieden sein über meinen kindlichen Anblick!

8. August, nachts 2 Uhr

Vorneweg Mette mit einem riesengroßen Rosenstrauß, Wölfle und Walter, dann Uwe und ich mit dem himmel­blauen Kinderwagen und zwei satten und vergnügten kleinen Buben darin, zum Schluß Andrea mit Jörn, so be­wegten wir uns langsam — Wölfle gab das Tempo an — auf Grafes Haus zu.

Der Regen hatte rücksichtsvoll aufgehört, den Pfützen gingen wir aus dem Weg und kamen so trocken und genußfreudig dort an.

Der Hausherr kam uns im Garten entgegen.Ich hatte ihn seit der mitternächtlichen Stunde, in der

ich in sein Haus eingebrochen war, nicht wieder gesehen und war überrascht, daß er einen »normalen« Anzug an­hatte. Er hatte einen auffallend interessanten Kopf, und ich möchte gern wissen, was er wohl von Beruf ist. Mette flüsterte mir nach der Begrüßung zu: »Bildhauer«, Andrea

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meinte Schriftsteller. Ich weiß nicht, ob Schriftsteller so­viel Geld verdienen, daß sie sich so ein Haus bauen und es sich mit solchen ausgesuchten Kostbarkeiten füllen kön­nen. Ich tippe auf Wissenschaftler mit vermögender Frau.

Im Laufe des Abends stellte sich dann heraus, daß er Jurist sei. Syndikus eines größeren Werkes. Ich kriegte einen rechten Schrecken, der auch nicht durch Andreas beruhigende Bemerkung abzuschwächen war, auch Händel habe Jus studiert und sei dennoch ein großer Künstler geworden und ein vernünftiger Mensch geblieben, denn ich dachte an meinen falschen Namen und empfand ihm ge­genüber die gleichen Hemmungen, die ich habe, wenn ich mich mit einem Zahnarzt unterhalte und weiß, daß einer meiner Zähne dringend plombiert werden muß.

Sonst begann der Abend sehr nett und nahrhaft. Wie genoß ich gutes Essen und schöngedeckten Tisch — und Frau Grafes reizende Art!

Till saß zwischen Andrea und Mette. Obwohl ich mit ihm nichts mehr zu tun haben wollte und zugeben mußte, daß er mit seinen schwarzen Haaren gut zwischen der Hellblonden und der Roten aussah, schmerzte es mich doch. Ich saß ihm schräg gegenüber. Ich wollte ihn über­sehen und unterhielt mich lebhaft mit Walter und Uwe, meinen Nachbarn. Eins meiner Ohren horchte allerdings immer auf das Gespräch gegenüber.

»Stell dir vor«, sagte Uwe, »wir treiben mit dem Kahn weit draußen und haben das eine Ruder verloren! Da sage ich . . . «

»Wollen Sie mir eine Freude machen, Herr Grafe?«»Immer.«»Dann sagen Sie bitte nicht Fräulein Meier zu mir,

sondern Marie-Antoinette. Ich höre es lieber. Ja?«Mette! Dieses Biest! Niemals hätte ich so etwas zu

Till gesagt!

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» . . . Was meinst du dazu?« schloß Uwe seinen Bericht und sah mich erwartungsvoll an.

»Das ist eben das unmittelbare Leben«, sagte ich seuf­zend und war mit meinen Gedanken und beiden Ohren bei Mette.

Uwe sah mich entgeistert an, denn er hatte von einem umgeschlagenen Boot erzählt. Walter begann zu lachen.

»Macht eure Witze ein bißchen lauter, damit wir auch etwas davon haben«, sagte Mette über den Tisch und machte damit den Anfang eines umfassenden Gesprächs, an dem ich mich kaum beteiligte, da ich wütend war und mich auf das Essen konzentrierte.

Der Flötist werde erst gegen zehn von Lindau herüber­kommen, sagte Frau Grafe, wir sollten uns in dieser einen Stunde noch gut unterhalten. »Es wird Ihnen nicht schwer­fallen«, meinte sie lächelnd, stand auf und beendete damit das Abendessen.

Ich hatte meine Unterhaltung: die beiden Kleinen für die Nacht fertigzumachen. Frau Grafe war ganz entzückt von meinem dicken Florian, aber auch Bernd gefiel ihr.

»Wir beide bleiben jetzt gemütlich zu Hause«, sagte sie später zu Wölfle, der auch nicht mit weggegangen war, »und Christiane sucht die anderen. Sie werden im Garten sein, unten am See.«

Als ich über die Terrasse ging, kam mir Till entgegen.»Fertig? Vater ist mit den anderen ein wenig hinaus­

gerudert. Für Sie und mich reichte der Platz nicht mehr — nun sind Sie also gezwungen, mit mir vorliebzuneh­men. Fällt Ihnen schwer, nicht wahr?«

»Beruht auf Gegenseitigkeit.«»Danke schön«, lachte er. »Wissen Sie, Christiane, ich

freue mich immer, Sie zu sehen.«

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War das Hohn? Spott? Wahrheit?Kurzer Kampf der beiden Christianen in mir. Die

spöttische siegte: »Weil Sie ein Kinderfreund sind?« Als er mich überrascht anblickte, erzählte ich ihm die Sache, die ich unterm Rhododendronbusch belauscht hatte. Soll er ruhig wissen, daß ich weiß, wie er über mich denkt! Soll er wissen, daß ich neugierig bin!

»Ich verspreche hiermit feierlich, die Reife Ihrer sieb­zehn J a h r e . . . «

»Fast achtzehn!«» . . . fast achtzehn Jahre in Zukunft zu respektieren. —

Nun etwas ganz anderes: Was ist eigentlich mit dem klei­nen Jungen los, den Sie bei sich haben?«

Wir hatten ein langes Gespräch über Mozerts und über den Jungen.

Als wir später wieder im Haus waren, besah er sich Wölfles Bein. Dann wollte er meine Hände sehen. Sie waren heute abend garantiert sauber, ich konnte sie mit gutem Gewissen zeigen.

»Ausgezeichnet«, sagte er. »Ich zeige Ihnen jetzt ein paar ganz einfache Massagegriffe, mit denen Sie dem Jungen sehr helfen können.«

Er machte sie vor. Ich versuchte es, begriff überraschend schnell und bekam dadurch ein neues Amt: Wölfle täglich zweimal zu massieren.

So schnell komme ich immer zu unbezahlten Neben­ämtern.

Kurz darauf kam der flötende Freund des Hauses. Er wurde von Frau Grafe und Sohn herzlich begrüßt. Ich saß mit dem Amadeusle im Zimmer und überlegte ange­strengt, wo ich diese Stimme schon einmal gehört hatte. Ich kannte sie ganz bestimmt. Aber woher?

»Darf ich vorstellen? Lutz Wittike — Fräulein An­dresen.«

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Ich schaute dumm.Er faßte sich schneller: »Die Welt ist sehr klein, Chri­

stiane«, sagte er.»Kennt ihr euch?«»Schon lange. Haben tüchtig miteinander getanzt«,

übertrieb er und lachte mich ebenso nett an wie beim Sommerfest vom Ebenheimer Tennisklub.

Da wurde ich auch munter: »Sie kennen doch Andrea? Denken Sie sich, sie ist auch hier und wird Sie begleiten. Sie wird gleich kommen«, erklärte ich, weil ich merkte, daß er sich suchend umsah. »Sie wird sich wundern! Keine Ahnung haben wir gehabt, daß Sie der Flötist sind! Und da hat sie sich gesträubt und nicht mitkommen wollen, weil sie etwas gegen Flöte und Cembalotöne hat.«

»So«, sagte er abwesend, » A n d r e a . . . « Damit ließ er mich und Till stehen und ging mit seinem Flötenkasten auffallend rasch in den nächsten Raum, um sein Instru­ment auszupacken.

Die andern kamen mit Lachen und Lärm zurück. Till ging ihnen entgegen. Andrea kam als erste ins Haus. Sie ging gleich zum Cembalo, wollte es schnell noch auspro­bieren.

»Guten Abend, Andrea.«Lange Pause, dann endlich Andrea ganz leise: »Hast

du das gewußt, daß ich hier bin?«»Dann wäre ich niemals gekommen.«»Ja. — Da will ich nun gehen.«Dann Lutz Wittike schnell und überredend: »Sieh, An­

drea, wir wußten beide nicht, daß wir uns so schnell, daß wir uns überhaupt je wiedersehen würden. Nun kommt es so unerwartet auf uns zu. Wollen wir es nicht als Ge­schenk nehmen? Als eine seltene, kostbare Gabe? Wir wollen musizieren wie noch nie, weil wir wissen, daß es zum letztenmal ist. Zum allerletztenmal.«

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Anscheinend war Andrea noch nicht ganz überzeugt, denn es kam noch einmal die Stimme des Mannes:

»Du sagst immer, daß alles, was geschieht, einen Sinn hat, Andrea. Was für einen soll unser Beisammensein heute abend haben, wenn nicht ein wunderbares Musi­zieren?«

»Also gut, ich bleibe dem Hindemith zuliebe!«Da kamen die anderen vom Garten ins Haus.»Darf ich vorstellen?« sagte Till.Ich kam als letzte, suchte mir einen Stuhl und ließ

den Raum, den ich vom ersten Abend her kannte, wieder auf mich wirken. Till zündete die Kerzen am siebenarmi- gen Leuchter und an dem barocken Notenpult an, löschte das elektrische Licht, und dann begann eine Musik, wie ich sie noch nie in meinem Leben gehört habe — vielleicht auch nie mehr hören werde.

Zuerst spielte Frau Grafe eine Händel-Sonate. Sie spielte gut. Andrea saß am Cembalo und sah im Kerzenlicht be­rückend schön aus. Wenn ich ein Mann wäre, würde ich mich sofort in sie verlieben. Es sahen auch alle nach ihr hin — von Tills Vater bis zum Wölfle.

Dann stand Lutz Wittike auf und begann mit einer Flötensonate von Händel. Weiter: Bach, Sonate g-Moll, danach Hindemith.

Ich glaube, daß wir Zuhörer für die Spieler nicht vor­handen waren. Sie spielten für sich selbst. Sie waren wie in einem Trancezustand, besessen von der Musik.

Nach dem Hindemith war Andrea nicht mehr da — sie war gegangen, ohne sich zu verabschieden. Mir war das ungeheuer peinlich. Lutz Wittike sagte, sie habe star­kes Kopfweh (»Das Kopfweh kenne ich«, flüsterte mir Mette zu), und spielte noch etwas von Quantz. Das war so leicht, daß es Herr Grafe begleiten konnte.

Bald danach gingen wir. Kurz darauf hörten wir die

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Flöte. Bis fast zu unserem Haus hin begleitete sie uns mit einer kleinen Melodie, die keinen Anfang und kein Ende zu haben schien. Wahrscheinlich eine griechische Hirten­weise oder so etwas. Andrea wird es wissen, aber ich werde sie nicht danach fragen.

Nochmal am 8. August, aber sehr spät abends

Im Bett liegend, will ich schnell das Wichtigste vom heutigen Tag aufschreiben. Wer weiß, was morgen ge­schieht und ob ich dann Zeit finde zum Schreiben.

Zunächst die fröhliche Bemerkung, daß heute die Sonne schien.

Jörn und Uwe, die nur darauf gewartet hatten, um nach dem Süden zu starten, beschlossen, zuerst den Boden­see etwas kennenzulernen und mit den Rädern über Meersburg und das Kloster Birnau zu der Insel Mainau zu fahren.

Mette versuchte vergeblich, sie davon abzubringen (»Orangenbäume und Palmen könnt ihr in Italien noch genug bewundern!«) und für die Reichenau zu begeistern. Die beiden Jünglinge wollten sich beizeiten an die subtro­pische Vegetation gewöhnen, wie sie sagten, und fuhren mit Walter los.

Von uns Daheimgebliebenen tat jeder, was er wollte. Ich kam meinen Pflichten nach und tat sogar noch etwas darüber hinaus: Ich wusch meine und Wölfles schmutzige Wäsche, obwohl ich eigentlich lieber mit nach der Mainau gefahren wäre. Aber das ist eben das Los der Frauen!

Ich beschloß, diesem Übelstand nicht weiter nachzuhän­gen und so bald wie möglich fertig zu werden, um viel Zeit zum Schwimmen zu haben. — Da hörte ich vertraute Klänge: die Haydn-Sonate, mit der das Amadeusle in Ebenheim so lange gekämpft hatte! Mit tropfenden Sei­

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fenschaumhänden eilte ich in das große zukünftige Assi- stentenzimmer und sah Wölfle am Klavier sitzen. Andrea ging in dem leeren Raum hin und her.

»Ges!« sagte sie. »Links Ges! — Jetzt rechts Des! Laß mich einmal.«

Aha, das war die üble Stelle, an der der Junge in Eben­heim immer hängengeblieben war. Andrea hatte die paar Takte — mit richtiger Verteilung der Ges und Des — ge­spielt, und schon versuchte sich Wölfle wieder daran.

Ich wischte meine nassen Hände an der Schürze ab und wollte diskret den Raum verlassen, als Mette hereinge­stürzt kam.

»Gehe gleich wieder!« entschuldigte sie sich. »Wollte nur sehen, wer von euch seinen musikalischen Lebensmut wiedergefunden hat. Das Wölfle ...« Sie stutzte. »Willst du verreisen?« fragte sie Andrea überrascht.

Und da bemerkte ich auch, daß meine Schwester das Kostüm anhatte, mit dem sie hier angekommen war, und sah die Koffer neben der Tür. Sie wollte tatsächlich fort.

»Wegen gestern abend?«Andrea antwortete nicht. Aber wenn sie dachte, damit

Mette abschütteln zu können, hatte sie sich getäuscht.»Mit oder ohne?« fragte die weiter.»Was?«»Na, den Herrn Flötisten?«»Ohne.«»Schade, jammer-jammerschade! Ihr beide solltet auf

Konzertreise gehen. Und wenn du, meine Liebe, noch ein­mal komische Gedanken und Komplexe haben solltest wegen nicht richtig Musik machen können, dann ruf mich an. 53 46 25 ist unsere Nummer. Ich rücke dich dann wie­der zurecht, denn ich habe gehört, wie du gestern gespielt hast — und wenn eine so Cembalo spielen kann, hat sie nicht mit solchen Gedanken zu spielen. Das ist Sünde!«

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Nach dieser langen Rede ließ sich Mette erschöpft auf das Notenpaket der Frau Mozert fallen, aus dem bis jetzt nur der Haydn entnommen worden war. Sie schlug die Beine übereinander, balancierte den kleinen Pantoffel mit ihrer rechten großen Zehe und fragte: »Weshalb geht ihr nicht auf Tournee? Es würde ein großer Erfolg, und ihr könntet damit vielen Menschen eine Freude machen. Das ist nämlich der Sinn der Sache.« Sie sah dabei Andrea nicht an, sondern nur den wippenden Pantoffel.

»Es geht nicht«, sagte diese abweisend, gab sich dann innerlich einen Ruck und sagte, sie hätten es vorgehabt, es gehe nun aber nicht, weil sie sich — nun ja, weil sie sich zu nahe stünden. (Typisch Andrea. Konnte sie nicht sagen: »Wir lieben uns«? Aber das kommt ihr bestimmt kitschig vor! Mir auch.) Sie hätten dann in Frankfurt beschlossen, daß sie sich aus dem Weg gehen und nie mehr miteinander spielen wollten.

Nun seien sie bei Grafes zusammengetroffen, leider.»Ganz und gar nicht leider!« widersprach Mette. »Für

uns nicht und für dich auch nicht! Hast du vielleicht ge­stern irgendwann das Gefühl gehabt, du müßtest noch besser spielen? Da hattest du alle kritischen Siebe, die dich vielleicht sonst hindern, weggeworfen. Das mußt du nun immer tun — auch wenn du verliebt bist. Weshalb eigent­lich auf so unglückliche Art?«

»Er ist verheiratet.«»Würde mich nicht stören«, sagte Mette leichtsinnig.»Aber mich!« rief ich und kam Andrea zu Hilfe. Das

ging mir entschieden zu weit! Es war mir auch egal, daß Mette mich mitleidig ansah, und ich verstand sie nicht, als sie sagte, niemals würde sie einsehen, daß solch eine ideale Partnerschaft in jeglicher Beziehung nur wegen einer verfrüht eingegangenen Ehe scheitern sollte. Auf eventuell vorhandene Kinder würde sie vielleicht Rücksicht

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nehmen; wenn keine da seien, sähe sie aber absolut keinen Grund dazu.

»Ich habe alles tausendmal durchdacht«, sagte Andrea müde, »ich kann es nicht tun. — Ich werde zu Martina fahren. In einer halben Stunde muß ich gehen. Komm, Wölfle, wir probieren den schlimmen Takt noch einmal.«

Ich begleitete Andrea zum Bahnhof. Wir sprachen über ganz alltägliche Dinge. Mette transportierte das Gepäck mit Paulchen. Wölfle hütete die Kleinen.

Jetzt wird Andrea bald an der Adria sein. Es ist gut, daß sie zu Martina fährt, die hat sie schon immer auf­gemuntert.

Die verwickelte Geschichte mit der ehrlichen und sau­beren und zuverlässigen Betreuerin Florians will sie gleich am ersten Tag regeln.

Ein Stück aus einem Gespräch, das zwischen Mette und mir auf der Rückfahrt vom Bahnhof stattfand.

Ich: »Die arme Andrea! Sie tut mir leid.«Mette: »Quatsch! Es ist ein Glück, daß sie endlich ein­

mal verliebt ist.«Ich: »Na, aber ...«Mette: »Besser unglücklich als gar nicht!«Ich: »Ich werde mich nie verlieben — und wenn, dann

nicht ins falsche Objekt. Da paß ich schon auf.«Mette: »Mit Aufpassen ist da nichts zu machen. Das

kommt über dich, und wenn du’s merkst, ist es zu spät.«Ich: »Tu doch nicht so erfahren.«Mette: »Bin ich aber, du kleines Schaf. In zehn Jahren

sprechen wir wieder darüber.«

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Ich war wütend über das »Schaf« und sprach nicht mehr, bis wir zu Hause waren. Sie soll nicht so angeben. Und in zehn Jahren? — Ach, was kümmert mich jetzt, wie ich in zehn Jahren über die Liebe denke!

9. August

Endlich wieder ein normaler Tag! Gebadet, gebräunt, gefaulenzt im Rahmen des Möglichen. Alle meine Gäste waren unterwegs. Wölfle wurde von Frau Grafe abge­holt, Mette fuhr mit Paulchen davon, ist immer noch nicht da. Mir ist’s egal, ich gehe jetzt ins Bett. Wenn sie kommt, soll sie hupen, bis ich aufwache, damit ich Attila bändige und sie hereinlassen kann. Er kennt mich jetzt schon gut. Hoffentlich reagiert Martina endlich auf meinen Hilfe­ruf und schickt Geld! Das, was mir Mette als Kostgeld für Wölfle, Bernd und Soraya gegeben hat, ist nun auch fast aus, und ich möchte sie nicht um mehr bitten.

10. August

Der Bauer Heimle fragte mich heute morgen, ob ich nicht für eine Woche noch ein Baby aufnehmen könne. Seine Pensionsgäste möchten gern in die Schweiz fahren, um dort Bergtouren zu machen, und könnten es des Kin­des wegen nicht. Sie würden gut zahlen. Das gab, bei meiner bedrängten Finanzlage, den Ausschlag. Übermor­gen bringen sie das Kind.

11. August

Jörn und Uwe haben beschlossen, morgen, spätestens übermorgen loszufahren, obwohl es hier so gemütlich ist. Mette trägt sich auch mit Reiseplänen. Da werde ich in den letzten drei Wochen wieder Alleinherrscherin im Hause sein. Auch schön! —

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Als ich so weit gekommen war, klingelte es, und es erschienen adrett, sauber, zuverlässig und ehrlich Schwe­ster Petra Andresen und Schwester Christel Amberg. Großartig! Christel bleibt nur zwei Tage, Petra länger, falls es ihr »zusagt«, sonst fährt sie weiter nach Eben­heim. Bis jetzt gefällt es ihr sehr. War auch sehr schön heute abend!

Ankunftsabend der Schwestern — Abschiedsabend der Vettern.

Morgen geht’s los.

12. August

Die Vettern fuhren vor fünf Uhr los. Da schliefen wir noch alle, nur ich mußte aufstehen, Attila festhalten und winken.

Dann kam der Geldbriefträger und brachte 50 DM für Fräulein Christel Amberg. Wie gut, daß die richtige mit dem richtigen Ausweis gerade hier war! Ich holte sie aus dem Bett und kam so zu den 50 Mark, die jemand aus Konstanz in Martinas Auftrag an mich schickte.

Wenig später kam der neue Säugling nebst Bett. Es ist eine halbjährige Karin. Sie ist zwar niedlich, aber längst nicht so wie Florian!

Das Pensionsgeld lieferten die Eltern gleich mit ab. Ich komme mir sehr wohlhabend vor!

Als ich am Montag im Ort war, um einige dringend benötigte Dinge endlich zu kaufen, kam noch jemand: mein Spediteur Knopf und der Adlerwirt. Beide be­trächtlich älter als die erlaubten fünfundzwanzig Jahre. Mette war gerade vor dem Haus.

»Sind Sie Fräulein Amberg?« fragte der Wirt.»Marie-Antoinette Meier«, stellte sich Mette vor.

»Kommen Sie bitte mit herein, ich rufe sie gleich. Wen darf ich melden?«

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»Knopf, einfach Knopf! Aber da hinein geh’ ich nicht. Die abschtrakte Treppe will ich nicht mehr sehen!«

Sie blieben also vor der Tür stehen.Christel erschien etwas erstaunt und wurde, als sie im

Türrahmen unter dem lächelnden Medusenhaupt erschien, begrüßt mit: »Das ist die Falsche!«

»Ich hab’s gleich gesagt, Karle, wir kommen einem großangelegten Betrug auf die Spur, und die Frau Mer­tens wird uns dankbar sein müssen, weil wir ihr Geld vor fremdem Zugriff retten. Wenn sie es auch nicht ver­dient hat mit so einer Treppe! — Haben Sie einen Ausweis?«

Christel ging und holte ihn. Die Männer betrachteten ihn prüfend, gaben ihn zurück.

»Sie sind trotzdem falsch!« sagte der Adlerwirt. »Jetzt wollen wir ein Fräulein Andresen sprechen.«

Christel lief ins Haus und rief nach Petra mit Ausweis.»Auch nicht die Richtige!« sagten beide Männer, als

Petra vor ihnen stand. »Wohnt sonst noch jemand hier?«»Wenn Sie von der Polizei sind, möchte ich Ihre Aus­

weise sehen, wenn nicht, verlassen Sie vielleicht dieses Grundstück.« Mette mischte sich ein und ließ sich auch nicht einschüchtern, als die beiden im Weggehen vom Benachrichtigen der Polizei sprachen.

Sie kennt ja die Vorgeschichte nicht, aber ich kenne sie, und mir ist gar nicht wohl bei der Sache. Wahrschein­lich hat Martina im »Adler« angefragt, ob ich das Geld habe, und brachte dadurch die Sache wieder ins Rollen.

Meine einzige Hoffnung ist, daß der Adlerwirt im August so viel in seinem Gasthaus zu tun hat, daß er zu Fahndungen und polizeilicher Anzeige keine Zeit findet.

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13. August

Schwester Christel ist kurz vor zehn abgefahren. Sie bekam einen »großen Bahnhof«. Walter, Mette, Petra, Wölfle, ich und alle drei Kinder gaben ihr das Geleit.

Als wir zurückkamen, standen Gabi und Moni vor dem verschlossenen Tor. Ihr zahlreiches Gepäck lag zwanglos verstreut um sie herum, und ihre unglück­lichen Gesichter wurden hell bei unserem Anblick. Sie waren mit allem zufrieden: daß sie beträchtlich unter der Fünfundzwanzig-Jahr-Grenze sind, daß eine Wiese da ist zum Aufschlagen des Zeltes, daß wir in so einem verrückten Haus wohnen, daß die rote Mette da ist und Petra, daß die Sonne scheint, der See so nahe und Eben­heim so fern ist.

Gegen Abend ertönte unser Klassenpfiff. Roland und Günter standen mit Rädern und Zelt vorm Tor.

Großes Hallo, Zelt aufgebaut, Walter zog aus dem Haus, um mit im Zelt zu schlafen.

Wir beschlossen, ab acht Uhr ein Fest auf dem Turm über Klaus’ Arbeitszimmer zu feiern. Ich bin sehr für solche Feste, bei denen man nichts vorzubereiten hat. Gabi und Moni hatten einen großen Kuchen mitgebracht, Petra holte ihre eiserne Ration, die sie in Gestalt einer runden Keksdose in ihrem Koffer versteckt gehalten hatte, und stellte sie der Allgemeinheit zur Verfügung. Ich berei­tete einige Liter Zitronentee, die Jungen schleppten Sitz­gelegenheiten über die Leiter auf den Turm, und Mette tat ein übriges: sie fuhr mit dem Rad zu Grafes, um einige Eiswürfel aus dem Eisschrank zu erbetteln.

Mit vielen Würfeln und mit Till kam sie zurück. Er sagte, er feiere sehr gern Feste, und eins auf dem Turm fehle ihm noch. Kaum hatte er zwischen Petra (»Nun lerne ich doch auch die dritte Schwester von Frau Mertens

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kennen.«) und Gabi Platz gefunden, als noch ein Gast auftauchte, einer, der die Altersgrenze des »Bunten Flo­rian« um sicher das Doppelte überstieg. Es war Onkel Willi, der nachsehen wollte, ob die Nichten Gabi und Moni, die er am Morgen nebst Gepäck vor unserem Haus abgeladen hatte, gut untergekommen seien. Er kam von einer geschäftlichen Besprechung in Bregenz zurück und war bereit, die beiden nach Ebenheim zurückzufahren, wenn es ihnen nicht gefalle. Es gefällt ihnen. Dem Onkel auch. Er übernachtete sogar bei uns. Der Abend war großartig. Ich befürchte, unser Lachen war bis in die Schweiz zu hören.

14. August

Onkel Willis Pensionsgeld bestand aus einer Damp­ferfahrt für die gesamte Belegschaft des »Bunten Florian«.

Da irgend jemand bei den drei Kleinen bleiben mußte und dafür nur Petra oder ich in Frage kamen — die anderen haben ja keine Ahnung von einer Babybehand­lung! —, warfen wir einen Pfennig in die Luft. Eins nach oben hieß: Petra darf. Beim Eichenlaub hätte ich mitfahren dürfen. Ich hätte furchtbar gern einmal aus­ländischen Boden betreten und wäre mit nach Romans­horn gefahren, aber leider entschied sich der Pfennig zur Eins und damit für Petra.

Vielleicht ist es auch besser so, denn sie hat nur ein paar Tage Urlaub, dann muß sie zurück zu den Münch­ner Windeln, und wer weiß, ob ich nicht noch einmal in meinem Leben Gelegenheit habe, in die Schweiz zu kom­men. Ich gönne meiner Schwester das Vergnügen und mache mir’s hier gemütlich.

Aus der Beschaulichkeit des Tages wurde nicht viel, denn kurz nach der Zwei-Uhr-Mahlzeit der Kinder, als sie

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zufrieden und sauber in ihren Wagen und Bettchen un­term Apfelbaum standen, in dessen Schatten sich auch Alexa und Soraya zurückgezogen hatten, und ich gerade schwimmen gehen wollte, klingelte es. Vor dem Tor sah ich Ingrid stehen. Die hatte mir gerade noch gefehlt in meiner Sammlung! Ich machte ein freundliches Gesicht und begrüßte sie. Ob sie drei Tage hier bleiben könne, fragte sie. Ihre Eltern seien in Bad Schachen, und sie würde gern einen kleinen Abstecher zu uns machen. Was soll man da sagen?

Ich forderte sie auf, mit hereinzukommen. Als sie von den Klassenkameraden hörte, deren Zelte auf der Wiese stehen, meinte sie sofort: »Zelten kommt für mich nicht in Frage, dafür bin ich zu empfindlich.«

Sie wird nun auf der Couch im Wohnzimmer schlafen, denn Petra bleibt in Walters ehemaliger Kemenate, In­grids wegen werde ich sie nicht wieder umsiedeln.

»Ich möchte mich zuerst duschen«, erklärte mir mein neuester Gast und war völlig verblüfft, als er hörte, daß in diesem Haus keine Dusche und nur ein defekter Bade­ofen existiere; auch der Hinweis auf den nahen See wirkte nicht beruhigend, denn: »Der Strand ist überall so schrecklich steinig! Ich bin da sehr empfindlich!«

Ich hoffte sehr, daß die empfindliche Dame nun viel­leicht wieder abfahren würde, aber leider vergeblich, denn inzwischen kam Till, um im Auftrag seiner Mutter zu fragen, ob das Wölfle nicht zu ihnen übersiedeln könne. Ingrid, die unlustig am Treppengeländer gelehnt war, wurde plötzlich lebendig. Sie zeigte sich von ihrer besten Seite, mischte sich mit kurzen Sätzen in unser Gespräch, lächelte Till so an, daß mich ein großer Zorn packte, und tat, als wäre der Herr Grafe nur ihretwegen

hierhergekommen. Sie ist eine ganz raffinierte Person.Zur Abkühlung meiner Wut schwamm ich ein Stück

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in den See hinaus, merkte draußen, daß die Sonne ver­schwunden war, sah schnelle, dunkle Wolken daherkom­men und schwamm rasch zurück, denn Ingrid würde kaum die Kinder ins Haus retten, wenn das Gewitter losbrach, ehe ich da war.

Wie gut, daß ich so schnell schwimmen kann! Der See begann schon unruhig zu werden, alle Segel-, Ruder- und Tretboote eilten dem Land zu, und der Wind erreichte unsere Uferbäume gerade, als ich das Wasser verließ. Auf dem Seepfad stand Ingrid.

»Habt ihr einen Blitzableiter?« fragte sie mich zur Begrüßung.

Wir haben verschiedene — ob sie funktionieren, weiß ich nicht. Das sagte ich ihr und außerdem noch, daß das Wohnzimmer sicher sei, denn Blitze hätten eine Schwäche für Türme und würden, wenn solche an einem Haus seien, nicht in ein gewöhnliches Dach einschlagen. Sie solle jedoch so freundlich sein und mir helfen, die Kinder ins Haus zu bringen.

Wir schafften es gerade noch rechtzeitig, ehe der Regen begann. Soraya war schon an der Tür gesessen und hatte darauf gewartet, daß einer komme und öffne. Die war also auch gerettet. Alexa und ich waren die einzigen, die durchweicht wurden, und das machte uns beiden nicht viel aus.

Wie es wohl unseren Schweizfahrern gehen mochte, deren Schiff jetzt irgendwo auf dem aufgewühlten See schwamm? Wahrscheinlich kamen sie nun mit Verspätung hier an.

Die Zelte hatte ich zugemacht, die Leinen gelockert — nun wollte ich nur rasch noch nachschauen, ob bei Paul- chen unterm Fliederbusch alles dicht sei.

»Fräulein«, rief da eine Stimme vom Tor durch den Regenguß, »machen Sie bitte schnell auf!«

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Es war ein Mann, von dem ich im Augenblick nur wahrnahm, daß er einen schwerbepackten Rucksack trug und wesentlich unsere Altersgrenze überschritt.

Als er naß in der Diele stand und ich mir überlegte, was nun mit ihm geschehen solle, gab es einen gewaltigen Donnerschlag, die Fenster klirrten, das elektrische Licht erlosch, Ingrid kam in tiefer Dämmerung die Treppe heruntergerast. »Es hat eingeschlagen!« schrie sie hyste­risch.

»Aber nicht hier«, sagte beruhigend der nun fast un­sichtbare Fremde. »Es wird bald vorüber sein.«

Ich fror in meinem nassen Badeanzug und ging ins Badezimmer, um ein Handtuch zu holen. Ingrid ging mit. Sie fürchtete sich vorm Gewitter, vor der Dämmerung, vor dem Fremden.

Während ich unter den vielen, auf dem Badewannen­rand hängenden Handtüchern nach meinem eigenen fühlte, ertönte etwas Seltsames von der Diele her: Musik! Ich hatte gerade Mettes Bademantel in der Hand, den zog ich vor lauter Schrecken an, und Ingrids geflüsterte Mei­nung: »Es ist ein Verrückter!« war völlig die meine.

Was für seltsame Menschen gibt es doch! Dieser Mann stand in der dunklen Diele neben der Wendeltreppe, spielte Laute und sang dazu ein Lied von Stürmen und frischer, froher Jugend. Na, wir beide waren weder frisch noch froh. Ingrid zwickte mich vor Angst in den Oberarm, und ich war erleichtert, daß ich nicht ganz allein dem Mann gegenüberstand. Niemals wieder werde ich Perso­nen über fünfundzwanzig Jahren das Tor öffnen, wenn ich allein im Hause bin — vielleicht denen unter fünfund­zwanzig auch nicht!

Der Donner grollte ferner, es wurde wieder heller, auf der Laute erklangen die Schlußakkorde, und dann war plötzlich auch das Licht wieder da und beleuchtete einen

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Mann mit angegrauten, bis zur Schulter herabhängenden Haaren, der bekleidet war mit Kniehosen aus schwarzem Samt und einem ebensolchen jackenähnlichen Oberteil, das mit silbernen Knöpfen und Ketten geschlossen war. Nie habe ich mir überlegt, was eigentlich ein »Wams« ist, könnte mir dieses mittelalterliche Kleidungsstück aber so ähnlich vorstellen.

An den nackten Füßen trug er Kneippsandalen, und alles war sehr durchweicht vom Regen. Mehr als zuvor war ich der Meinung, es mit einem Geistesgestörten zu tun zu haben — als ich aber seine hellen, klugen Augen sah, faßte ich Mut und sprach ihn an. Er hatte gedacht, wir seien ein Gasthaus oder so etwas Ähnliches, und war froh, daß er nun auf unserer privaten Wiese sein Zelt aufschlagen durfte.

»Ich wandere durch Deutschland, durch unser schönes Vaterland«, sagte er mit Pathos, derweilen er eine Sandale auszog und sich den Sand von der Fußsohle strich. »We­gen der Altersgrenze, die Sie angegeben haben, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Man darf die Menschen nicht nach Lebensalter oder äußerer Erscheinung beurtei­len — mein Inneres ist jung geblieben!«

Er griff wieder nach der Laute, aber ich meinte, er solle lieber seine nassen Sachen trocknen, und öffnete die Tür zu dem künftigen Assistentenzimmer, das nun mit dem Klavier und dem Paket der Frau Mozert möbliert war. Er könne hier übernachten, sagte ich — wenn auch mit einem unguten Gefühl. Aber er lehnte ab.

»Auch eine feuchte Nacht gehört zu den Schönheiten Deutschlands«, sagte er ernsthaft und schlug sein kleines Zelt draußen auf, als der Regen aufgehört hatte.

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Ingrid schläft schon. Sie wollte zum Abendessen ein hartes Ei und den Saft einer halben Zitrone. Sie macht eine Schlankheitskur. Viel Spaß! Nachdem sie überrascht festgestellt hatte, daß in diesem Haus der Eisschrank fehlt und weder Mixer noch Radio vorhanden sind, legte sie sich auf die Couch.

»Je länger man schläft, um so schöner wird man«, sagte sie mir, als sie sich von mir verabschiedete: Lockenwickler im Haar und mit fettglänzendem Gesicht.

Ich warte auf die anderen und habe inzwischen ge­schrieben: einen Brief an Mutter, die tägliche Karte an Martina und in mein »Haushaltsbuch«. Heute habe ich die Karte mit meinem richtigen Namen unterschrieben. Andrea wird wohl inzwischen aufklärend gewirkt haben.

Eben pfeift jemand den Klassenpfiff. Attila bellt am Tor wie wild. Ich muß hinunter, den Hund bändigen und die Gäste des »Bunten Florian« hereinlassen. Drum Schluß für heute!

15. August

In gemeinsamer Aktion haben wir in zwei Stunden das leerstehende Zimmer unten als Säuglingszimmer ein­gerichtet. Oben ist es zu eng, außerdem brauchen wir die Kinder nun nicht mehr x-mal am Tag die Treppe hinauf- und herunterzutragen und haben es sehr viel bequemer. Auf diesen guten Gedanken kam natürlich Petra. Sie war schon immer so praktisch.

Nur Ingrid beteiligte sich nicht beim Saubermachen und Umräumen, denn ihre Hungerkur ist zu anstrengend und kräftezehrend. Außerdem ist gustav nagel (da wir den Namen unseres seltsamen Zeltbewohners nicht ken­nen, nennen wir ihn nach seinem großen Vorgänger) spur­los verschwunden. Zelt und Laute und sonstige Habselig­keiten sind noch da, und ich nehme an, daß der Besitzer

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wieder auftauchen wird. Hoffentlich wandert er bald weiter!

Kurz vor zwölf kam Frau Grafe, um Wölfle zu sich zu holen. Sie will ihm lauter gute Sachen kochen und ihn verwöhnen. Dem Jungen war es nicht ganz recht, aber die Aussicht auf das Spielendürfen auf dem Cembalo und darauf, daß er zum Massieren, Seilhüpfen, Radfah­ren, Schwimmen und so weiter zu uns kommen dürfe, machte ihm den Abschied erträglicher.

Frau Grafe hat viel mehr Zeit, sich um den Jungen zu kümmern, und wie ich Wölfle kenne, ist er spätestens morgen völlig glücklich. In dem Haus und bei solch einer Frau kann man das auch sein! Ich brachte die beiden bis zur Gartentür.

Beim Abschied sagte Frau Grafe: »Ich möchte Ihnen noch sagen, daß ich außer Till noch einen Sohn habe. Er ist von Geburt an gelähmt und in einer Anstalt. Er ist dort gut aufgehoben. Ich hätte ihn gern hier, doch kann mein Mann, der durch und durch Ästhet ist, den Anblick nicht ertragen. — Vielleicht können Sie verstehen, daß ich Wölfle etwas von dem geben möchte, was mein Sohn an Heimat und Elternhaus nicht haben kann.«

So ist das also. Und ich hatte gedacht, Grafes seien eine ganz und gar glückliche Familie, der nichts fehle zu einem sorglosen und schönen Leben: Geld, Haus, Garten, See, Musik und viele, viele schöne Dinge, ein Sohn, der seinen Doktor macht und das Staatsexamen bald hinter sich hat und so weiter. Ob es das gar nicht gibt: eine von jeglichem Kummer verschonte Familie?

16. August

Wenn ich geahnt hätte, was sich alles hier ereignen würde, wäre ich die Ferien über lieber in Ebenheim ge­

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blieben. Falls keine neue Katastrophe über mich herein­bricht, werde ich morgen den Bericht vom heutigen Tag schreiben. Jetzt bin ich zu müde.

17. August

Es war heute ein friedlicher Tag. Kein Gewitter, keine Einbrüche von außen in unsere Villa, gustav nagel ist weitergezogen, Ingrid ist zurückhaltend — außer wenn Till auftaucht. Zu besonderen Unternehmungen hatte heute niemand Lust. Wir genossen Sonne und Wasser, und wenn wir uns unterhielten, dann immer über dasselbe ziemlich unerschöpfliche Thema: über den gestrigen Be­such von Ehepaar Kilian.

Die Existenz dieses Ehepaares war mir bis gestern morgen unbekannt. Da brachte der Briefträger gegen acht Uhr eine Postkarte an Klaus Mertens, mit zwei Post­sachen an mich. Daß die Karte hierherkam, war ein Ver­sehen, denn sonst leitet die Post alles, was für Mertens kommt, gleich nach Italien weiter. Diese Karte also kam zu uns. Neugierig, wie ich immer bin, las ich den Schreib­maschinentext und war der Post für ihr Versehen unge­heuer dankbar. Auf der Karte stand:

»Sehr geehrter Herr Mertens! Möchte Ihnen mitteilen, daß ich meine zur Zeit von Ihnen nebst Familie bewohnte Villa am Bodensee verkaufen will. Als derzeitigem Mieter biete ich Ihnen das Gebäude hiermit an. Falls Sie nicht interessiert sind, werde ich mich nach anderen Interessen­ten umsehen, da mir an schnellem Verkauf liegt.

Im Laufe der nächsten Tage werde ich bei Ihnen vor­beikommen, um mich vom Zustand der Villa und des Grundstücks zu überzeugen, in der Hoffnung, daß Sie, wie im Mietvertrag ausdrücklich als sofortiger Kündi­

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gungsgrund vermerkt, keine Gäste, Verwandten und der­gleichen sowie keinerlei Tiere in der Villa aufgenommen haben. Das Gebäude wird sonst zu sehr abgenützt und aus seinem eigentlichen Zustand herausgerissen.

Hochachtungsvoll Fr. Kilian, Fabrikant.«

Außer mir war noch niemand wach, so hatte ich Ruhe, die neue Situation zu durchdenken. Klaus und Martina hatten also das Haus nur unter der Bedingung mieten können, daß sie keinen Gast und kein Haustier bei sich haben. Was tut man nicht alles, um endlich eine eigene Wohnung, in diesem Falle sogar ein ganzes Haus, be­wohnen zu können!

Wenn der Hausbesitzer das Haus verkaufte, würden sie in Kürze die Wohnung verlieren und irgendwohin ziehen müssen, sobald der neue Besitzer eine entspre­chende Wohnung für sie weiß.

Wenn der alte Kilian in den nächsten Tagen hier ankommt und feststellt, daß von Mertens außer Florian niemand, dafür aber zwölf fremde Menschen und drei Tiere im Hause sind, kündigt er ihnen sofort und ver­kauft »die Villa« niemals an sie.

Wir werden alle Kriegsrat halten und nach dem besten Weg suchen, Klaus, Martina und Florian das Haus zu erhalten. —

»Wir müssen alle verschwinden«, sagte Walter.»Aber wohin denn?« Das war Gabi, die ihren mühsam

von den Eltern erkämpften Sommeraufenthalt wegrut­schen sah.

»Ganz weg brauchen wir nicht, nur für die Zeit der Besichtigung müssen wir und alle Spuren verwischt sein.«

»Die Zelte müssen sofort abgebrochen werden, damit sich das Gras wieder aufrichten kann!«

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»Ihr könnt alle auf dem Boden schlafen, wo die Fle­dermäuse hängen.«

»Huch!« schrie Ingrid. »Da gehe ich nicht hin!«Roland erbot sich, die Balken über Ingrids Nachtlager

zuvor nach Fledermäusen, Spinnen, Wespen, Hornissen, Wanzen und anderem abzusuchen, und ich konnte weiter­sprechen.

»Er hat zwei Räume und ist nur über eine Leiter durch eine Luke in der Decke von Petras Schlafzimmer zu erreichen. An diesen Boden denkt der alte Kilian be­stimmt nicht. Vielleicht weiß er überhaupt nicht, daß es so einen gibt.«

»Auf in den Kampf!« rief Mette und lief in Klaus’ Schlafzimmer, um ihre Sachen zusammenzusuchen.

Die anderen gingen zu den Zelten, und bald war nur noch die zertrampelte Wiese als Überbleibsel eines Zelt­platzes da.

Die Zelte wurden zusammengelegt und in der Wasch­küche aufbewahrt, der Inhalt auf dem verborgenen Boden verstaut. Bei Gefahr hatten alle dort oben zu verschwin­den und die Leiter hochzuziehen, die Luke zu schließen und ganz ruhig zu sein. Nur Petra und ich durften sicht­bar bleiben. Sie als Säuglingspflegerin, ich als Frau Mer­tens. Irgendeiner mußte sich dafür opfern. Mir machte es wenig aus, 1. kenne ich Martina gut genug, um auf irgendwelche kilianische Fragen eine Antwort zu wissen, und 2. bin ich allmählich an falsche Namen gewöhnt.

Wir beide brauchten unsere Zimmer nicht zu räumen. Von Petras Zimmer, mit dem Zugang zum Boden, würde ich nur ganz flüchtig die Tür öffnen und sagen: »Hier wohnt unsere Hausgehilfin.«

Es wäre ungehörig, deren Zimmer gründlich zu durch­suchen.

So war alles glänzend organisiert. Ab morgen wollten

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wir eine unauffällige Wache aufstellen, die rechtzeitig pfeifen sollte, um im Haus befindliche Leute schnell auf den Boden und die außerhalb des Hauses irgendwohin in die Landschaft zu verweisen.

Nur gustav nagel war nicht zu erreichen. Na, bis morgen würde er sowieso weg sein. Sein Zelt hatten wir vorsichtshalber abgeschlagen und auch seine Sachen auf dem Boden verstaut.

Eine Gefahrenquelle war Soraya, die zwar meist ab­wesend war, im unpassenden Augenblick aber sicherlich Herrn Kilian über die Füße laufen würde, und dann Alexa. Roland meinte, wir sollten sie vorsichtshalber sofort auf den Boden stecken, und brachte sie schon unterm Arm mit. Ich nahm mir vor, sie wieder herunterzuholen und für die paar kritischen Tage bei Heimles einzuquartieren.

Schwierig waren die beiden fremden Kinder. Wenn der Bernd auf dem Boden zu schreien begänne, könnte das noch schlimmere Folgen haben als sein Gebrüll in der Ebenheimer Turnhalle. Es gab nur eins: einen Kinder­wagen startbereit in der Nähe des Pförtchens am Ufer­pfad stehen zu haben, und wer gerade da war, mußte die beiden Kinder auf den Arm nehmen und durch die Hintertür entwischen, während der gestrenge Herr Kilian unter dem Medusenhaupt in seine Villa eintrat. Solange die Inspektion dauert, müssen die Babys spazierengefah­ren werden.

Die Organisation klappte prächtig.Als alles einen ordentlichen und unbewohnten Ein­

druck machte, gingen die drei Jungen und Ingrid weg zum Tretbootfahren. Gabi und Moni wollten Petra, die so etwas noch nie gesehen hatte, den überfüllten Cam­pingplatz zeigen, ich räumte die Küche auf, und Mette ergriff einen ziemlich zahnlosen Rechen, um den Weg vom bunten Tor zum Haus etwas »gepflegt aufzurauhen«.

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Bei dieser Beschäftigung trug sie ihre kleinen Pantof­feln, blau-weiß gestreifte, enge Hosen, weiße Bluse mit großem Ausschnitt und um den Hals eine dicke Kette aus gläsernen Kirschen. Die Ohren waren mit entspre­chendem Schmuck versehen, die Sonnenbrille hatte eine ganz verrückte Form, und die rote Mähne leuchtete in der Sonne. Sie pfiff vor sich hin, rechte im gleichen Rhyth­mus, und Soraya sprang um sie herum.

Die Babys schliefen. Es war ein friedlicher Vormittag. Ich trug gerade einen Stapel frische Windeln ins neue Säuglingszimmer, warf einen Blick durchs Fenster und sah ein großes, schwarzes Auto langsam herankommen und vor unserem Tor stoppen. Wahrscheinlich wieder einmal Leute, die ein Nachtquartier suchten. Wenn sie nicht mehr ganz jung waren, würde Mette sie nicht hereinlassen — und in solchen Wagen pflegen junge Leute eigentlich nicht zu fahren.

Ein ganz großer Dicker mit Glatze stieg aus. Jetzt wurde es spannend. Ich öffnete das Fenster, denn das Ge­spräch zwischen Mette und dem sich sehr weit jenseits der Altersgrenze befindlichen Dicken wollte ich mir nicht entgehen lassen.

»He! Hallo!« rief er.Mette rechte ruhig weiter. Auf He-Hallo reagierte sie

nicht.Der Dicke versuchte hereinzukommen. Tür und Tor

waren verschlossen, die Klingel abgestellt, da wir meist den Seeweg benutzen und fremde Leute jetzt, bei Kilians in den nächsten Tagen drohendem Erscheinen, nicht haben wollen.

»Üst Frau Mertens zu Hause?» rief der Dicke mit gro­ßer Lautstärke — wahrscheinlich nahm er an, daß Mette schwerhörig sei. »Melden Sü müch an. Mein Name üst Kühlian!«

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Der Rechen fiel auf Sorayas Schwanz. Die machte einen Satz und war im Gebüsch verschwunden. Mette ging lang­sam auf die Tür zu. Wie gut, daß sie gerecht hatte und nicht Moni, Gabi, Petra oder gar Ingrid! Sie würde sich bestimmt zu helfen wissen.

»Ich bin selbst Frau Mertens«, hörte ich sie sagen, und dann rannte ich hinauf in Petras Zimmer, um die Luke zu schließen und die Leiter... ja, wohin mit der Leiter? Oben auf dem Boden war niemand, der sie hoch- ziehen könnte, nur Gepäck und Alexa. Ich schmiß sie zum Fenster hinaus in den Garten. Mochte sie zerschellen, das war jetzt unwichtig!

Dieser Herr »Kühlian« hätte besser »in den nächsten Stunden« auf seiner Karte vermerkt und nicht »in den nächsten Tagen«!

Ich rutschte das Treppengeländer hinunter, das ging schneller und geräuschloser als die Treppenbenutzung, schlich über die Diele, blieb vor der Tür des Säuglings­zimmers stehen und hörte, wie der Dicke sagte: »Wü kommen Sü eigentlich darauf, das Tor so unmöglich an­zustreichen? Unmöglich! Rostschutzfarbe und dann ver­goldete Spützen, das üst das rüchtige, damüt kann man den Verkaufspreis steigern! Äh. Und wozu düses Schüld? Sü sünd doch allein üm Haus, hoffe üch?«

Mette sagte etwas, was ich nicht verstand.»Dummheit! Hausnamen! Wir sünd weder in einer

Stadt noch im Müttelalter! Ich habe Ühnen das Haus vermütet mit der ausdrücklichen ...«

»Friedrich«, unterbrach ihn eine Frauenstimme, »sieh nur diesen reizenden Engelskopf! Und so frisch in den Farben. Ich kann mich gar nicht mehr an ihn erinnern.«

Sie meinte das Medusenhaupt.»Wir schätzen ihn auch sehr, gnädige Frau.« Das war

Mette.

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Sie schloß die Türe auf, und ich verschwand bei den Kindern, in der Hoffnung, daß Mette es irgendwie fertig­bringen würde, die Hausbesitzer an diesem Raum vor­beizuführen, denn wie sollte ich die Anwesenheit der beiden geliehenen Babys erklären? Wenn sie nur ruhig blieben!

Der Dicke war mit der bunten Treppe ganz und gar nicht einverstanden. Mette versuchte, die Wogen zu glät­ten. Dann begann die Besichtigung. Sie war, an der Länge der Zeit gemessen, gründlich. Wenn sie bloß gehen woll­ten, ehe die anderen zurückkommen! Ich konnte nicht draußen auf sie warten, um zu warnen, ich mußte hier bleiben und in eventuell aufwachenden Kindern das Schreien sofort durch eine Milchflasche ersticken.

Endlich kamen sie die Treppe herunter.»Jetzt noch dü Nebenräume und den Garten, dann

fahren wür, Julie.«>Die Sache scheint gut abzugehen<, dachte ich erleichtert,

aber da sah Julie die gelbe Tür zum Babyzimmer und wollte wissen, was in diesem Raum sei, den sie anschei­nend noch nicht gesehen habe. Ach, hätten wir die Türen in dem schmutzigen Braun gelassen! Sie sahen alle ein­ander ähnlich, und sicherlich hätte niemand bemerkt, daß eine der vielen braunen noch nicht geöffnet worden war. Aber nun war die Tür auffällig gelb. Sie öffnete sich, und herein trat Frau Julie Kilian, noch dicker als ihr Mann, mit weißem Federhütchen und unwahrscheinlich hohen Absätzen an den spitzen Schuhen. Er sah aus der Nähe noch unsympathischer aus, als ich gedacht hatte. Auch viel älter.

Zuletzt kam Mette.»Dies ist mein Kindermädchen«, stellte sie mich vor.

»Sie müssen verstehen, daß ich die Arbeit mit den Kin­dern allein nicht schaffen kann und mir deshalb jemanden

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ins Haus nehmen mußte — aber so werden Sie das Ver­bot wohl auch nicht gemeint haben.«

»Wieso sind hier drei Kinder?«»Drillinge«, sagte Mette. »Wir schickten Ihnen damals

eine Anzeige.«Wie gut, daß ich die Anzeige Mette einmal gezeigt

hatte, weil sie sehr hübsch war. Ob Klaus an Kilians eine geschickt hat, kann sie ebensowenig wissen wie ich. Sie behauptet es eben auf gut Glück. Wer weiß, was sie sonst noch alles behauptet hat!

»Soviel ich mich erinnere, stand darauf: >Die Geburt unseres Sohnes.. .<«

»Druckfehler, gnädige Frau. So ist das mit den Setzern, man kann sich nicht darauf verlassen. >Florian, Ernst, Georg<, ging der Text weiter, und sehen Sie, dies hier ist Florian«, sie zeigte auf den echten, »Ernst (Bernd) und das Georg (Karin). Er ist unser dickster, nicht wahr, Fräulein?«

Ich nickte mühsam. Frau Kilian besah sich interessiert die Kinder. Sie hatte noch nie lebendige Drillinge gesehen. Herr Kilian überprüfte inzwischen die Fensterrahmen und fragte, ob der Ofen gut heize.

»Hier seid ihr!« rief Walter und kam zur Tür herein. »Ich ...« Er erblickte das dicke Ehepaar und verstummte.

Mette faßte sich schnell: »Darf ich vorstellen: Mein Mann — Herr und Frau Kilian, unsere Hausbesitzer.«

Sehr intelligent sah Walter in diesem Augenblick nicht aus.

»Die Drillinge haben aber sehr junge Eltern«, meinte Frau Kilian mißbilligend.

Mette: »Ach, es scheint nur so. In dem guten Boden- seeklima bleibt man länger jung.«

Kilian: »Sünd Sü nücht ün Ütalien?«Mette: »Er ist vor ein paar Tagen zurückgekommen.«

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Walter bekam von ihr einen ermunternden Knuff.Frau Julie: »Deshalb sind Sie so braun! Diese Bräune

kann man in Deutschland nicht erwerben. Man sieht gleich den Süden.«

Walter: »Es war dort sehr heiß.«Kilian: »Es ist gut, daß Sü da sünd, wir können dann

gleich zusammen das Haus taxüren — oder wollen Sü es lüber schrüftlich tun? Aber dann bütte bis morgen. Es eilt, wenn Sü es nücht selber kaufen wollen.«

Walter entschied sich erleichtert für ein schriftliches Gutachten und sagte, er müsse sich die Frage des Haus­kaufs überlegen.

Mette, um das verfängliche Gespräch zu beenden: »Wenn es Ihnen recht ist, zeige ich Ihnen jetzt die Kellerräume.«

Da erklangen drei Lautenakkorde vorm Haus und danach: »Ich reise übers grüne Land...« — gustav nagel!

Ich erschrak furchtbar: Die Drillinge und Walter waren akzeptiert — aber wie sollten wir jetzt ihn un­terbringen?

»Düse Bettelei!« sagte da Herr Kilian. »Am Boden­see sollte man davon verschont sein.«

Er warf Mette den rettenden Gedanken zu. Sie zog einen Groschen aus der Hosentasche: »Bringen Sie ihm das«, sagte sie zu mir, und ich rannte los, um ihm die Lage zu erklären und vielleicht die anderen abfangen zu können. Mette und Walter führten Kilians in Wasch­küche und Keller.

Später traf ich das Ehepaar nochmals im Garten. »Übrigens«, sagte er zu mir, »düsen Dohlenhorst auf

dem Dach über Ührem Zümmer würde üch entfernen

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lassen. Sü können ja nücht schlafen, wenn düse Türe derartig schreien.«

Erst viel später begriff ich, daß Alexa die Dohle ist, die aufgeregt und verärgert auf dem Boden geschnattert hatte, als Kilians das Haus besichtigten.

Mette rettete der richtigen Martina die Wohnung durch die Behauptung, es seien Dohlen, die da schreien. Herr Kilian scheint in der Zoologie nicht sehr bewan­dert zu sein. Wie gut!

Ehe er losfuhr, leierte er das Autofenster herunter, um Walter noch mitzuteilen, daß er das Gutachten nicht zu schreiben und abzusenden brauche. »Üch schücke einen Unparteiüschen!«

Soll er schicken. Wir werden ihm alle schlechten Eigen­schaften des Hauses in hellstem Licht zeigen.

Mette setzte sich erschöpft auf den Rasen. Sie betrach­tete prüfend das Haus. »Wieder ein Sprichwort, das nicht stimmt«, murmelte sie und sagte dann zu uns: »Krumm und schief müßte dem Kilian seine verschro­bene Villa sein wegen der verbogenen Balken, denn ich habe diesem arroganten, wohlsituierten Ehepaar Dinge erzählt... Unglaubliche. Sie wunderten sich über nichts... Euch erzähl’ ich’s ein andermal. Ihr biegt euch dann vor Lachen!

Stellt euch vor, ich kenne die Kilians — glücklicher­weise sie mich nicht. Er ist ein unfairer und gemeiner Konkurrent von Pa. Entschuldigt, daß ich die Rolle der Martina übernommen habe. Als ich den Dicken am Tor stehen sah, konnte ich nicht anders, ich mußte die Gelegenheit wahrnehmen, ihm eins auszuwischen.«

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18. August

Mette hat ihren gesamten Krimskrams in Paulchen eingeladen und ist heute morgen davongefahren. Kilians haben dem unechten Ehepaar Mertens — und somit auch dem echten — eine »Früst« von zwölf Tagen zugebilligt, in der sie sich des Hauskaufs wegen entscheiden sollen. Ich wollte bei Martina anrufen, aber Mette meinte, es komme zu teuer, denn so schnell könne so etwas nicht entschieden werden, außerdem habe sie eine Idee. Sie wolle die Gelegenheit benützen, um endlich dahin zu fahren, wohin sie vor Wochen habe fahren wollen, und Mertens die Nachricht überbringen. Der echte Klaus soll daraufhin seinen Entschluß in einem Schreiben an Herrn Kilian mitteilen und das Schreiben hierher schik- ken, damit es mit dem hiesigen Poststempel und der rich­tigen Unterschrift zum Hausbesitzer kommt.

Alles eilt natürlich sehr, drum fuhr Mette sofort. Hof­fentlich schafft Paulchen die Alpen!

19. August

Ein Mann war da, der im Auftrag vom Hausbesitzer die Villa taxieren sollte. Er durchforschte sie gründlich. Ich zeigte ihm alle brüchigen und verrosteten und feuch­ten Stellen, damit er den Preis nicht zu hoch nimmt. Der Kilian braucht daran nicht so viel zu verdienen, und falls Klaus und Martina sich zum Kauf entschließen soll­ten, sollen sie keinen Pfennig zuviel bezahlen müssen.

Wölfle kommt täglich zum Massieren. Seit Mette weg ist, habe ich das Seilspringen auch noch übernommen. Ich finde, daß das Bein schon viel kräftiger geworden ist.

Ingrid ist abgereist. Es war ihr hier zu primitiv, und Till kam zu selten.

Das Wetter ist wechselnd. Meine Stimmung auch.

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20. August

Mit Petra zusammen habe ich Mutters langen Brief gelesen, den heute der Briefträger brachte:

»Liebe Christiane!Wir sind seit ein paar Tagen in Finnland. Von den

Seen, den Wäldern, den Birken berichte ich mündlich. Es ist alles so wundervoll, daß ich zum schriftlichen Übermitteln dieser Schönheit entsprechende Worte hätte suchen müssen, die ich wohl nie finde, und stümpern will ich dabei nicht.

Also mündlich, mit vielen, vielen Worten und mit Bildern, denn ich habe viel photographiert.

Nun aber zu etwas anderem. Wir wohnten in Helsinki bei einem alten Freund Großvaters. Er bewohnt ein kleines weißes Haus in einem Wald am Stadtrand und hat auf diesem Grundstück noch ein anderes, viel grö­ßeres gebaut. Für blinde Kinder. Er hat selbst einen blin­den Sohn, der Lehrer in diesem Haus ist. Wir sind ein­mal durch das Haus gegangen, und es hat mich alles sehr bewegt, nicht nur das Erschütternde, blinde Kinder zu sehen, sondern auch die selbstverständliche Liebe, mit der sie hier umsorgt werden.

Nun kam mir, als ich in der hellen finnischen Nacht und wegen der Kinder nicht einschlafen konnte, ein gro­ßer Gedanke. (Du wirst denken: >Mutter hat wieder einmal eine ihrer großen Ideen!< Diesmal ist’s wirklich eine!)

Wir wollen unser Kirschberghaus solchen Kindern zur Verfügung stellen.

Nicht gerade blinden, das ist zu schwierig für Laien; aber wie wäre es mit solchen Kindern wie das Ama- deusle? Mit gelähmten, mit solchen, denen von der Kin-

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derlähmung etwas geblieben ist, die für ein paar Wo­chen oder Monate gute Pflege, Massagen, Übungen, Diät, Fröhlichkeit, Liebe brauchen?

Verschiedenes davon, Kochen und so weiter kann ich selbst machen. Vielleicht hat Petra Lust mitzumachen — da hätten wir eine Kinderschwester. Jemanden für Gym­nastik, Massieren und dergleichen werden wir wohl auch finden. Vielleicht sogar einen Arzt, der neben- oder haupt­amtlich mitmacht. Na, das ist alles noch genauestens zu durchdenken. Wir haben ja Zeit. Was meinst Du dazu?

Ich habe mir schon oft überlegt, was ich mit meinem Leben machen soll, wenn Du die Matura gemacht hast und auch weggehst. Ich glaube, daß das eine schöne und große Lösung wäre. Du auch? — Nun Schluß! Das finni­sche Mitbringsel überreiche ich persönlich. Wie geht es Dir und Florian? Grüß ihn von mir und seinem Urgroß­vater!

Dir viele, viele liebe Grüße vonDeiner plänereichen Mutter.«

Petra hatte große Lust, beim Sanatorium Kirschberg­haus mitzumachen. Für mich gibt’s dort wohl nur das Amt einer Putzfrau. Schade, vielleicht fällt mir noch was anderes ein!

21. August

Diese Zeilen werden am Ende eines wunderschönen Tages geschrieben. Ich bin sehr müde, aber so glücklich, daß ich noch aufschreiben muß, wie alles war.

Ich war gerade beim Windelwaschen — für drei Kin­der ist das ein ganzer Windelberg, den ich nicht immer mit Begeisterung säubere —, war weder froh noch trau­rig, sondern in einer gleichgültigen und langweiligen Stimmung. Da kam Till in die Küche (er kennt jetzt

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unsere Hintertüren) und fragte mich, ob ich Lust hätte, mit ihm eine Segelbootfahrt zu machen. Abfahrt in zwei Stunden am Steg.

Und ob ich wollte!Petra war ja da, sie konnte die falschen Drillinge in­

zwischen versorgen! Nichts war nun mehr langweilig, alles ging schnell voran.

Petra und die Zeltleute freuten sich, daß ich nun auch einmal etwas unternehmen konnte, und versprachen, Haus und Kinder zu versorgen, keine Fremden herein­zulassen und brav zu sein. Sie waren es, die schuld daran waren, daß ich meine verwaschenen himmelblauen Ho­sen und den roten Pulli anhatte, als ich glücklich davon­ging. (»Zum Segeln zieht man Hosen an!« — und ich wäre so gern im schwedischen Kleid gegangen.) — Sechs Taschentücher und zwanzig Windeln winkten mir nach. Es war ein Abschied wie vor einer Weltumseglung.

Till war bereits da und das Boot auch, ein achtung­gebietendes Ding mit einer richtigen, wenn auch win­zigen Kajüte.

Da ich außer einem Kopftuch, das ich vorerst um den Hals trug, einem Taschentuch in der rechten und zwei Sahnebonbons in der linken Hosentasche kein Gepäck mitgebracht hatte, brauchte ich keins zu verstauen, und wir konnten gleich losfahren, -schwimmen, -segeln, was weiß ich, wie der Fachausdruck heißt! Ich mußte mich in die Kajüte setzen, bis wir draußen auf dem offenen See waren. Till hatte viel zu tun, ehe er das Boot hinaus­manövriert hatte. Leider konnte ich nicht helfen, da ich zwar die Tochter eines Seeoffiziers, aber im wasserlosen Ebenheim aufgewachsen und somit völliger Laie bin. Und Segeln ist eine Kunst!

Langsam kamen wir vom Land ab. Das Boot lag schräg, und ich fand es draußen angenehmer als drinnen. Stolz

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sah ich die Fußgänger an Land — und überrascht auf eine Gans, die sich so weit herausgewagt hatte. Deutlich sah ich den schwarzen Fleck am linken Flügel: »Alexa!« schrie ich entsetzt.

»Wo?« fragte Till, der meinen Ruf gehört hatte. Er suchte die Wasserfläche ab und machte ein besorgtes Ge- sicht. Innerlich bereitete er sich wahrscheinlich auf die Rettung einer alten Dame vor. Ich zeigte auf die Gans — und sah den verhinderten Lebensretter an. >Ist er jetzt beleidigt, springe ich sofort ins Wasser und schwimme heim<, dachte ich. >Lacht er, dann ist alles gut, und der Tag wird noch schöner, als ich gehofft habe.<

Er lachte. Wie war ich froh, daß er lachte!Da kam ein Ruderboot in unseren Kurs. Inhalt: Petra,

Gabi, Moni, Walter, Roland und Günter. Sie winkten und begleiteten uns ein Stück.

»Dort drüben schwimmt Alexa«, rief ich, als wir das Boot überholten, und dann waren wir bald weit draußen auf dem See, denn der Wind war frischer geworden. Meinethalben schwimmt die Gans bis in die Schweiz. Das alles war unwesentlich. Es gab nur noch das Boot, Wasser, Wind, Sonne, Himmel und Till und mich na­türlich, eine rundum glückliche Christiane.

Später gab es dann noch Wasserburg: alte, dicke Mau­ern, uralte Häuser, die Kirche ganz vorn auf der Land­zunge, die weit in den See hineinragt, und drumherum der Friedhof.

Heutzutage hätte man an dieser Stelle ein komfor­tables Hotel erbaut, früher gönnte man den Toten die­sen Platz.

Wir aßen zu Mittag und segelten bald nachher wieder hinaus.

Wir ließen uns von der Sonne bescheinen, sprachen manchmal miteinander, schwiegen, hörten ab und zu ein

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Motorboot, manchmal eine Schiffsglocke. Die Segel hin­gen schlaff.

Till erzählte von seinem Bruder und daß er seinet­wegen Arzt werden wolle. Orthopäde. In zwei Monaten sei das Staatsexamen, danach komme die Assistentenzeit, und später sei er dann Facharzt für Orthopädie. Wieder einer, der genau weiß, was er werden will! Es war mir recht unangenehm, ihm auf seine Frage gestehen zu müs­sen, daß ich noch nichts wüßte ...

»Macht nichts, Mädchen. Solange du dich noch nicht entschieden hast, steht dir noch alles offen. In Zweifels­fällen entscheide man sich für das Richtige — rät Goethe oder sonst ein kluger Mann —, und ich rate dir jetzt: Spucke ins Wasser! Das ist das einzige Mittel, um den Wind wieder herzulocken.«

Ich spuckte kräftig, aber erfolglos.Nun mußten wir rudern, bis sich endlich gegen Abend

ein kleiner Wind aufmachte und uns nach Hause blies. Till hatte mit dem Segeln zu tun. Ich saß ganz vorn im Boot. Leuchtend rot war der Himmel, dem wir ent­gegenfuhren. Er wurde nach oben immer lichter, ging über in ein zartes Grün, und mitten in dem grünen Himmel schwamm eine kleine rosa Wolke. Sie war vom Wind vergessen worden, schien sich nicht zu bewegen, wurde aber langsam dunkler, beinahe violett.

»Wir sind da«, rief Till in meine stille Betrachtung hinein — Männer sind immer roh, aber schließlich hatte er die ganze Zeit über arbeiten müssen und keine Ahnung von Abendwolken.

»Ein Glück, daß wir’s so schnell geschafft haben. Ich muß nämlich heute nacht noch Beobachtungen machen an diesem einen Stern, nach dem ich seit Wochen suche. Wird’s klar?«

»Ich glaube schon.«

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Meine kleine Wolke war weg, einfach aufgelöst.Im Westen stand der Abendstern.

Als ich den Uferpfad entlang nach Hause ging, war ich glücklich. Ich hatte den Stern vor mir und kaute die beiden Bonbons, an die ich den Tag über nicht gedacht und die ich eben gefunden hatte, als ich die Hände in die Taschen stecken wollte.

Wie schön, wie schön ist das Leben!Gegenüber unserer kleinen Pforte, auf den Wurzeln

einer großen Silberpappel, saß Petra und sah über den See.

»Die andern sind im Kino«, sagte sie, ohne den Blick zu lösen.

»Und du?«»Kann die Kinder nicht so lange allein lassen, und

Kinos habe ich in München genug — aber diesen Abend am See, den gibt’s nur hier. — War’s schön?«

Es tat mir plötzlich sehr leid, daß ich ihr nichts mit­gebracht hatte. Zumindest ein Sahnebonbon hätte ich auf- heben können! Ich setzte mich neben sie und erzählte ihr den heutigen Tag. Sozusagen statt Mitbringsel. Endlich hatten wir einmal Zeit füreinander. Als ich von der kleinen rosa Wolke sprach, sagte Petra, daß sie sie auch beobachtet habe.

Wie schön, daß ich diese Schwester habe!

22. August

Mit List und Tücke haben wir mit vereinten Kräften heute zwei »Interessenten« abgewimmelt. Solange sich Klaus und Martina nicht entschieden haben, haben andere Leute hier nichts zu suchen, auch wenn sie der dücke Kühlian schückt!

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23. August

>So eine Frechheit!< dachte ich erbost, als einer, der ganz nach Hauskäufer aussah, vom See her quer über unsere Wiese kam. Vorne sind Tor und Tür fest ver­riegelt und verschlossen und die Klingel abgestellt, da kann keiner dieser Herren ’rein. Nun kommen sie hin­ten herum. Ich werde Attila jetzt auch am Tag dabehal­ten müssen! Ich ließ die Windeln, die ich aufhängen wollte, im Eimer und ging dem Eindringling forsch ent­gegen.

»Guten Morgen«, sagte er, »Meier.«»Guten Morgen.« Wie ich hieß, ging ihn gar nichts an.»Ich bin der Vater von Marie-Antoinette. Sie hat

mich hierherbestellt, um . . . «»Ach, sie ist leider nicht mehr hier!« fiel ich ihm un­

gehörig, aber voller Mitgefühl ins Wort, und dann stellte sich heraus, daß Mette von Italien aus angerufen, ihrem Vater alles erklärt, das Ehepaar Mertens und sein archi­tektonisches Können sehr gelobt und ihn schließlich in­ständigst gebeten hatte, das Kiliansche Haus am Boden­see zu kaufen. Besser gesagt: Mertens das fehlende Geld vorzuschießen. Die würden zwar an dem Hotel gut ver­dienen, zweifellos, aber das würde natürlich längst nicht reichen.

»Ich bin nun gleich hierherjefahren, um mir dat Ob­jekt zu besichtigen. Kann schließlich nichts unbesehen kaufen, obwohl es mir einen Spaß macht, dem Kilian dat Ding sozusagen indirekt abzuluchsen. Würde er mir nie geben. Hahaha!«

Das war also Mettes Vater. Die Tochter scheint den Unternehmungsgeist von ihm zu haben.

Wir verstanden uns prächtig. Ich weiß gar nicht, was Mette an ihm auszusetzen hat. Vielleicht ist er zu Hause

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anders. Das gibt es. Ich wäre dennoch froh, hätte ich so einen Vater.

Als er alles besichtigt hatte und sichtlich beeindruckt war von dem verschnörkelten Gebäude und vor allem von dem Rundblick, sagte er: »Dat Ding wird!«, lud uns alle ein zu einer Tasse Kaffee »mit Zubehör«, brachte alle sechs — und Wölfle, der gerade von Grafes herüber­kam — in seinem breiten Wagen unter und fuhr zum nächsten Café.

Mir wollen sie ein Stück Kuchen mitbringen. (Hoffent­lich mit Sahne!) Ich hüte inzwischen Kinder und Haus und zehre von Erinnerungen an die Segelbootfahrt.

Zum Abschied erzählte ich Herrn Meier die hübsche Geschichte von Kilians Hausbesichtigung und der fal­schen Frau Mertens. Er lachte noch, als er davonfuhr. Es scheint zu stimmen, daß Rheinländer fröhlicher sind als andere Leute.

24. August

Herr Meier hat mich gestern gebeten, heute morgen gleich Mette anzurufen und ihr Bescheid zu geben, daß er das Geld zur Verfügung stellt. Klaus solle also einen positiven Brief an seinen Hausbesitzer schreiben. Sofort, damit nicht noch etwas dazwischenkomme.

Ungewohnt pünktlich, bereits fünf Minuten vor acht, wartete ich vor der Post (Grafes wollte ich damit nicht belästigen) und versuchte, Mette zu erreichen. Die Num­mer hatte ich. Das Hotel meldete sich nach langer Warte­zeit auch, aber Mette war nicht da. Glücklicherweise sprach der Mann deutsch! Ich hatte mir schon einige lateinische Sätze überlegt, mit denen ich mich verständ­lich machen wollte. Wahrscheinlich wäre es ihm so vor­gekommen wie mir, wenn sich einer mit mir mittelhoch­deutsch unterhalten wollte.

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Lieber hätte ich zwar auf latein-italienisch gehört, Mette sei da, als ein deutsches: »Nicht vor fünf Uhr!«

Ab vier Uhr werde ich mich wieder auf die harte Wartebank der Post setzen. Hoffentlich klappt es dann.

Wie gut, daß Petra heute noch da ist, wegen der Kinder!

25. August

Wenn das so weitergeht, bekehre ich mich auch noch zur Auffassung der Frau Dr. Wagner: Ferien sind zur Muße da.

Ich habe Lust, einmal zwei Tage ganz allein zu sein — mit Petra meinetwegen, aber am liebsten ganz allein — und faul sein zu können und zu schlafen soviel wie nur möglich. Bei mir ist von beidem ziemlich viel möglich.

Danach kann der Betrieb dann weitergehen. Ich fühle mich am wohlsten beim Wechsel von Einsamkeit und Geselligkeit. Beim einen tankt man sich voll für das andere. Jetzt hätte ich ein Auftanken nötig, denn gestern abend passierte wieder eine tolle Sache.

Ich saß brav in der Post und wartete. Ein Buch zum Lesen hatte ich mitgenommen. Als es sieben Uhr und das Gespräch noch immer nicht da war, erklärte mir der Schalterbeamte (zugleich »Oberpostdirektor« des hie­sigen Amtes), er müsse jetzt schließen. Ich solle es mor­gen früh wieder probieren. Ich versuchte ihn zu bewe­gen, mich doch noch eine Viertelstunde hier zu lassen. Bestimmt komme das Gespräch inzwischen.

»Das kann elfe werden«, meinte er, war dann aber bereit, das Gespräch zum »Adler« umzulegen.

Angenehm war mir das nicht gerade, aber das Ge­spräch war so wichtig, daß ich das Unangenehme auf mich nehmen mußte.

Page 198: Barbara Hug - Hundert Tage Mit Chirstiane

Ich holte tief Luft und betrat die Gaststube. Sie war voller abendessender Feriengäste. Den Wirt sah ich nir­gends, er bediente wohl nebenan, aber sie, die Wirtin, stand an der Theke. Ich sagte ihr, daß ich ein Gespräch aus Italien erwarte und inzwischen hier bleiben wolle. Sie nickte, füllte Biergläser und sah nicht auf.

Diese Klippe war also erfolgreich umgangen.Ich setzte mich auf einen freien Stuhl, bestellte bei

der Bedienung den üblichen Sprudel, zog mein Buch her­aus und las. Es war spannend.

Auf meine Umgebung wurde ich erst wieder aufmerk­sam, als der Lärm von sprechenden Menschenmassen und klappernden Bestecken plötzlich aufgehört hatte. Ich sah auf — und entdeckte den Wirt vor mir.

Alle Gäste sahen neugierig auf uns beide. Es gibt Angenehmeres, als auf diese Weise zum Mittelpunkt zu werden!

»Sie ischt’s!« sagte er befriedigt.Die Spannung stieg.»Er kommt gleich!« rief eine mir bekannte Stimme.Sie gehörte meinem Spediteur, der einfach Knopf heißt.Das Telephon läutete. Ich sprang auf. Es war mein Ge­

spräch. Alle hörten aufmerksam mit, als ich sprach.»Hier Christiane Andresen.«

»Tag, Mette. Endlich habe ich dich. Ich will nur schnell sagen, daß dein Vater gestern dagewesen ist und alles in Ordnung geht.«

»Ja, Klaus soll sofort schreiben. Es eilt. Der Dicke schickt schon laufend Interessenten.«

»Gut.«

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»Lieber heute als morgen!«

»Hahaha! Mach Schluß, es wird zu teuer!«

»Natürlich: Geld allein nützt nichts, man muß es auch ausgeben können!«

»Addio! — Recht bald!«Ich legte auf und blieb stehen, um die Meldung der

Gebühr abzuwarten.Da legte sich eine Hand auf meine linke Schulter.

Ich wollte sie abschütteln, aber sie lag fest, und als ich mich empört umsah, merkte ich, daß es die des Gesetzes war. Der Ortspolizist (»Er kommt gleich!«) stand neben mir und hatte offensichtlich vor, mich zu verhaften oder was Ähnliches. (Hier klingt das lustig. Mir war gestern abend alles andere als lustig zumute.) Die Lage war da­durch noch schiefer, weil ich keinen Ausweis bei mir hatte (Männer haben unzählige Taschen, in denen sie Ausweise transportieren können — wohin sollen wir aber so etwas stecken, wenn wir ein dünnes Sommerkleid anhaben?!) und weil alle mein Gespräch mit angehört hatten, das reichlich mysteriös geklungen haben dürfte und dummer­weise auch das Wort »Geld« enthalten hatte.

»Sie will nach Italien entfliehen!« behauptete der Adler­wirt. »Halt sie fest, Guschtav!«

»Guschtav«, der Polizist, brachte mich zuerst einmal vor den Blicken der Gäste in Sicherheit und führte mich in ein kleines Zimmer. Knopf und der Wirt gingen mit, später kam seine Frau noch dazu. Ich erklärte noch ein­mal die ganze dumme Sache. Sie glaubten mir nicht. Ich bestand darauf, daß jemand geholt würde, der mich kennt. Schließlich setzte sich Knopf persönlich aufs Rad, um meinen Ausweis, Petra, von der ich behauptet hatte,

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sie sei meine Schwester, und irgend jemanden von Grafes zu holen. Grafes waren gut bekannt und sehr geschätzt im Ort. Wenn mich hier jemand erretten konnte, waren sie es. Es war mir zwar schrecklich unangenehm, sie in solch eine Sache zu verwickeln, aber es half nichts. Wie gut, daß sie mich kennen!

Martina, die an dem ganzen Schlamassel mitschuldig ist, sagte früher immer: »Beziehungen schaden nur dem, der keine hat.« Jetzt will ich nur hoffen, daß mir die meinen nicht schaden, sondern helfen!

Mein Ausweis, Petra und alle drei Grafes kamen zu gleicher Zeit und gleichmäßig aufgeregt an. Nein: Doktor Grafe war es nicht. Juristen sind, glaub’ ich, nie aufge­regt. Er war es auch, der in Kürze alles geklärt und die Gemüter beruhigt hatte.

So konnten wir bald nach Hause gehen, und alles wäre erledigt, wenn nicht alle Gäste Zeuge meiner Bei­naheverhaftung gewesen wären. Mein guter Ruf ist hin — ich bin jetzt berüchtigt und berühmt.

26. August

Petra ist heute nach München zurückgefahren. Die zweite Hälfte ihres Urlaubs nimmt sie im Oktober, wenn Mutter wieder da ist. Ich freue mich, daß wir in Ebenheim mehr Zeit füreinander haben werden.

Die kleine Karin ist abgeholt worden.

27. August

Gerade als ich mich mit der löblichen Absicht, an Mut­ter und Großvater einen Brief zu schreiben, in Martinas Zimmer niedergelassen hatte, hörte ich unseren Klas­senpfiff.

>Diese Kamele können doch hintenrum gehen!< dachte

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ich verärgert, holte aber, als die Pfeiferei nicht aufhörte, doch den Schlüssel und sah zu meiner Überraschung nicht einen meiner alten Gäste, sondern Hilde und Horst, die Unzertrennlichen, mit vollgepackten Rädern vor dem Tor stehen.

Herzliche Begrüßung. Als sie hörten, daß schon fünf aus der Klasse da seien, stieg die Begeisterung.

»Fehlt nur noch der Mathematik-Weber«, sagte Horst anzüglich.

Man sollte Tore, die verschlossen sein sollen, immer sofort wieder abschließen! Ich lehnte es nur an und ging mit den beiden ums Haus herum, um ihnen zu zeigen, wo sie die Räder abladen und wohin sie sie dann stellen können. Als ich zurückkam, stand ein Auto vorm Tor, dem ich schon von ferne ansah, daß es Hauskaufinter- essenten gehört.

Ein junger Mann in kariertem Anzug, mit Stoppel­haaren über rundem Gesicht, kam auf mich zu„. wäh­rend eine dürre ältere Dame noch aus dem Wagen stieg.

»Wir wollen das Haus besichtigen!« rief sie, noch ehe der junge Mann etwas sagen konnte.

»Frau Mertens ist nicht da, und ich bin nur das Kin­dermädchen.«

»Vielleicht könnten...«, begann der karierte Jüng­ling, wurde aber von seiner heraneilenden Mutter unter­brochen (oder überschrien?): »Kindermädchen sind keine Verhandlungspartner! Aber Sie können uns ins Haus ’reinlassen. Hier ist ein diesbezügliches Schreiben von . . . «— sie suchte nervös in einer großen Handtasche — »von Fabrikant Kilian. Feine Farben und Lacke. Charlie, hole es aus dem Wagen!«

Charlie holte es. Bis er wieder da war, wurde ich un­terrichtet über den Grund des Interesses an diesem Haus.

Page 202: Barbara Hug - Hundert Tage Mit Chirstiane

»Ach, wissen Sie, Bodensee! Die Fischerin! Schwäbi­sches Meer! Es ist so romantisch! Das Richtige für ein junges Glück! Mein Sohn ... danke, Charlie. Hier ist das Schreiben — mein Sohn wird in absehbarer Zeit hei­raten. — Sei ruhig, Charlie! — Wir sind auch aus der Farbenbranche wie Herr Kilian, nur nicht so groß, aber die junge Dame, die Charlie heiratet, bringt eine Fabrik mit. Sie ist nur etwas kapriziös. Sei ruhig, Charlie: sie ist es! Hier, das Schreiben!«

Ich sah das Schreiben nur an, weil ich ganz sicher sein wollte, daß ich hier den für Mette ausgesuchten künf­tigen Ehemann und die dazugehörige Schwiegermutter vor mir hatte. Vor denen wäre ich auch geflohen! Es stimmte: Frau Hügel und Sohn.

Ich gab es zurück.»Es tut mir leid, das Haus ist bereits verkauft.«»Das macht nichts. Wir werden mit Kilian so lange

verhandeln, bis er den Kauf rückgängig macht. Wie kann er sagen, er habe ein Haus zu verkaufen, und dann ist es weg! — Charlie, wir fahren nur zwei Tage nach Zü­rich. Dann sofort zurück zu Kilian!«

Sie ließ mich stehen und ging schnell auf das Auto zu. Charlie gönnte mir immerhin ein kurzes »Guten Tag«, stieg ein, fuhr ab.

Ich mache mir Sorgen: In zwei Tagen wollen die Hü­gels mit Kilian sprechen — spätestens in zwei Tagen muß er die Zusage von Klaus in Händen haben, sonst läuft alles schief.

Aber wie? Es ist alles zu spät, wenn nicht ein Wunder geschieht.

Page 203: Barbara Hug - Hundert Tage Mit Chirstiane

Es ist geschehen! Giftgrünes Paulchen hupte gegen Abend am Tor. Als wir alle herbeigerannt kamen, klappte Mette das Dach hoch.

»Habt ihr eine Briefmarke da?« fragte sie zur Begrü­ßung. »Ich brauche ganz schnell eine Briefmarke!« Gün­ter brachte eine, Mette klebte sie auf einen Briefumschlag und fuhr davon.

Ehe wir uns von unserer Überraschung erholt und den beiden Neuen erklärt hatten, wer das rote Mädchen sei, war sie schon wieder zurück. Es war knapp sechs Uhr, die Zeit der letzten Briefkastenleerung, und Mette hatte es gerade noch geschafft, denn es war Klaus’ Brief, den sie eingeworfen hatte und der unbedingt den Stem­pel des heutigen Tages haben mußte. Und hier mußte er abgestempelt sein.

»Wenn die beim Zoll nicht so lange gebraucht hätten, hätte ich gemütlich fahren können. Aber so! Ich bin so müde, daß ich erst eine Stunde schlafen muß. Alsdann stehe ich zur Verfügung.«

Sie legte sich auf mein Bett.Wir anderen bereiteten inzwischen wieder einmal einen

geselligen Abend vor. Dieses Mal sollte es ein großes Wurstessen werden. Hilde hat einen Onkel, der in Fried­richshafen Metzger ist. Zu dem machten sie am Nach­mittag eine Radfahrt und kamen mit einer Unmenge Würsten zurück. Wir beschlossen, ein Wurstfest zu feiern. Horst spendete die Brötchen (er ist noch frisch bei Kasse), die alte Belegschaft den Senf und ich den üblichen Zitro­nentee. Durch Mettes plötzliches Auftauchen bekam das Fest noch einen Extraglanz. Später kam noch Till. Auch für ihn reichten die Würstchen noch. Attila und Soraya kriegten natürlich auch reichlich davon, nur Alexa war interesselos und verschlief den Abend.

Mette erzählte viel von ihrer Reise. Von Klaus und

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Martina und ihrem preisgekrönten Hotel. Martina, die ja nur zum Vorarbeiten dort ist, wird spätestens am 10. September wieder hier sein. So lange kann ich nicht bleiben. Ich muß wohl Frau Grafe bitten, Florian für die letzten Tage zu nehmen. Ich muß unbedingt zur Schule.

28. August

Mette fuhr heute sehr früh ab. Ich hatte mit ihr wegen Hügels gesprochen. Sie hofft sehr, daß die keinen Strich durch unseren Plan machen. Wie gut, daß Klaus’ Zusage gestern weggegangen ist! Die hat der Fabrikant bereits, wenn Frau Hügel aufkreuzt.

Verschlafen, seltsam bekleidet und mit Taschentüchern versehen, standen wir alle am Tor, als Mette wegfuhr. Sie nahm Soraya mit.

»Ich muß mich beeilen«, sagte sie, »am Fünfundzwan­zigsten hat nämlich meine Schule bereits angefangen!«

Paulchen hupte nochmals kräftig zum Abschied (wie gut, daß wir keine Nachbarn haben!), und dann war nur noch Benzingeruch da und eine Staubwolke, der wir nachwinkten.

Wir krochen wieder in die Betten.Ich war scheußlich müde, konnte aber nicht schlafen,

sondern mußte an Mette denken: Wie ich sie zum er­stenmal gesehen habe, wie es die ganze Zeit mit ihr gewesen ist — und nun fährt sie weg. Schluß. Man schreibt sich hin und wieder, trifft sich ein paarmal, aber so, wie es war, wird es nie wieder werden.

Ich habe heute meinen melancholischen Tag — der kommt immer, wenn ich nicht genug geschlafen habe.

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29. August

»Vielen Dank auch für die lange Gastfreundschaft, Christiane«, sagte Walter, als er reisefertig zu mir in die Küche kam und seinen Proviant abholte.

»Hat’s dir gefallen?« fragte ich unüberlegt.»Es war schön. Aber es hätte noch schöner sein

können.«»Naja, das Wetter war manchmal miserabel und . . . «»Meinethalben hätte es immer regnen können; du

weißt doch, was ich meine.«Ach so! — Natürlich, ich wußte es. Die ganzen Wo­

chen hindurch war ich einem Alleinsein mit Walter aus­gewichen, und jetzt erwischte er mich doch noch in der allerletzten Minute.

Da kam Gabi zur Tür herein. Wie war ich froh! Sie brachte Walter eine Tafel Schokolade für unterwegs und die Nachricht, daß alle bereitstünden zum Abschied­winken.

»Ich freue mich auf Ebenheim«, sagte ich, um ihn auf­zumuntern, »und recht gute Fahrt!«

»Ich freu’ mich auch.«Das war der Abschied. Ich freue mich zwar nicht sehr,

weil ich dann einem Gespräch nicht mehr aus dem Wege gehen kann, und ich hätte es ihm und mir so gern erspart.

Hoffentlich lernt Walter auf seiner Radfahrt ein viel netteres Mädchen als Christiane Andresen mit den Som­mersprossen kennen, und ich bin ihm dann nicht mehr wichtig!

Hoffentlich!30. August

Heute erwachte ich von einem komischen Tuten. Ich stand auf, ging zum Fenster und sah, daß alles voll Nebel war.

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Nun ist der Sommer vorbei.»Nebelhorn«, sagte Hilde beruhigend. Sie schläft im

Nebenzimmer und war anscheinend auch davon erwacht. Wir schliefen beide gern weiter.

Für sechs Uhr war ich zu Grafes eingeladen. Zu einer »kleinen Überraschung«. Ich hatte keine Ahnung, worum es sich handeln könnte, hoffte aber, dabei Till zu sehen, und zog deshalb mein Schwedenkleid an, mit weißen Schuhen und allem Zubehör.

Als ich gerade dabei war, vor dem Zerrspiegel im Bad zu erforschen, ob ich nicht eine neue Frisur mit meinen Haaren fertigbringen würde — meine alte ist mir bald über! —, hörte ich jemanden rufen: »Amadeus! Ama­deus!« Betonung auf der ersten Silbe. Es konnte nur Frau Mozert höchstpersönlich sein.

Ich bürstete meine Haare mit den üblichen Bürsten­strichen in die altbekannte Lage und ging hinaus, um Frau Mozert hereinzulassen. Sie war es wirklich.

Begrüßung. Frage nach dem Sohn. Herausgenommen aus ihrer Wohnung und der gewohnten Umgebung, er­schien sie mir irgendwie fremd. Längst nicht so respekt­heischend.

»Mein Gatte läßt grüßen«, sagte sie und war empört, daß der Amadeusle nicht hier bei mir, sondern in der Nachbarschaft untergebracht war. Auch daß dort ein Arzt sei, der sich sehr um das Bein kümmere, beruhigte sie nicht. Sie wollte wissen, ob der Bub täglich seine vier Stunden am Klavier gesessen sei. Nur unter dieser Be­dingung habe sie ihn dem geschminkten Fräulein mit­gegeben.

Um sie zu beruhigen — und weil ich sonst unweiger­lich zu spät gekommen wäre —, nahm ich Frau Mozert gleich mit zu Grafes. Unterwegs sprach sie von Verschie­bungen in den Konstellationen der Gestirne. Sie sei des­

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halb beunruhigt und hierhergefahren, um sich an Ort und Stelle vom Ferienaufenthalt ihres Sohnes zu über­zeugen und ihn mit nach Hause zu nehmen.

Bei Grafes war große Freude über Frau Mozerts Er­scheinen. Das Wölfle — nun wieder Amadeusle — um­armte seine Mutter glücklich, Frau Grafe war froh, die Frau kennenzulernen und mit ihr über die Weiterbehand­lung des Beines sprechen zu können. Ich glaube, sie hat eine Art, die Frau Mozert überzeugen kann.

Die »kleine Überraschung« bestand aus einem Konzert- chen.

Das Wölfle spielte Cembalo. Lauter kleine Sachen, aber so nett und sauber und so selbstsicher und ohne Angst, daß es eine Freude war. Das schönste war, daß er Frau Grafe begleiten durfte. Frau Mozert war stolz und glück­lich, und in diesem Zustand begann Frau Grafe ein Ge­spräch mit ihr. Hoffentlich wirkt es!

Till, mit dem ich inzwischen im Garten auf einer Steinmauer saß, mußte ich versprechen, mich um das Kind zu kümmern und notfalls gegen Frau Mozert auf­zutreten. Wenn er wüßte, was für ein Drachen sie ist, wenn sie den Schutz des Gewohnten um sich weiß! Ich will es aber versuchen. Vielleicht wird sie selbst ver­nünftiger.

31. August

Es war ein wunderbarer, warmer Badetag.Till war da. Warum, weiß ich eigentlich nicht recht,

aber es war schön, daß er da war.Frau Mozert ist dabei, das Haus zu entstauben. Mit

dieser Tätigkeit ist leider ein Teil ihrer alten Herrsch­sucht über sie gekommen.

Wölfle ist noch bei Grafes.

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Der Adlerwirt hat mir endlich das Geld überbringen lassen, zwar erst zur Hälfte, aber immerhin.

So reich war ich noch nie.Ich habe beschlossen, mit allen meinen Gästen eine

Abschiedsfahrt nach Lindau zu machen. Ich bezahle alles. Ein schönes Gefühl!

Frau Grafe übernimmt die zwei Kleinen.

1. September

Die Fahrt auf dem Schiff war schön (Segelboote trafen wir unterwegs, und in Wasserburg legten wir an. Ich dachte sehr an Till.) — und dann Lindau! Wie gut, daß wir alle diese Stadt noch miteinander gesehen haben, ehe wir vom See weggingen: enge Gäßchen, schmale, uralte Häuser (der Platz auf der Insel ist knapp, drum drängt sich alles so), Wasser, verschwenderisch blühende Blumen, Läden mit hübschen Dingen. Hier würde ich gerne woh­nen.

2. September

Noch ehe Frau Mozert mit Wölfle und Bernd, den sie freundlicherweise mitnehmen will (sie hat doch auch, wenn auch leider recht versteckt, gute Seiten), zum Bahn­hof ging, kam Onkel Willi, um Gabi, Moni und Gepäck abzuholen. Als er hörte, daß Frau Mozert auch nach Ebenheim fahren wollte, lud er sie kurz entschlossen in sein Auto und nahm sie mit. Da sind sie bald und ohne Umsteigen dort.

Die drei Jungen und Hilde fuhren etwas später mit den Rädern los.

Nun ist es wie am Anfang: Florian, ich und Alexa — und Attila für die Nacht —, wir bewohnen das Haus. Ich habe stundenlang aufgeräumt, denn ich möchte, daß

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Martina sich nicht über unseren Nachlaß ärgert, und von mir weiß ich, daß ich höchstens heute noch zu einer großen Aufräumeaktion fähig bin. Ab morgen will ich endlich Ferien haben.

3. September

Ich habe nur noch ganz wenig Platz in meinem Haus­haltsbuch und schreibe drum heute nur: Der Kreis hat sich geschlossen, mir geht es wieder wie am Anfang dieser Chronik: Ich habe mir wieder denselben Fuß verstaucht, er ist wieder ebenso dick und tut ebenso weh — nur riecht er nicht essigsauer, weil es solche Flüssigkeiten hier im Haus nicht gibt, aber meine Wut über das Mißgeschick ist ebenso groß wie vor einem Vierteljahr.

4. September

Es ist nicht einfach, mit solch einem Fuß Florian zu versorgen! Ich wickle ihn gleich im Bett, damit ich, ihn nicht zu tragen brauche. Baden entfällt und das In-den- Garten-Stellen auch. Ich bin jedesmal froh, wenn ich mich wieder auf Martinas Couch legen und Umschläge mit kaltem Wasser machen kann.

Eben lag ich dort und blätterte in diesem Heft. Ich wunderte mich sehr über das, was man alles in reichlich drei Monaten erleben kann, auch wenn man nur zu Hause oder im Hause der Schwester ist.

Noch sehr viel mehr wunderte es mich, als es klingelte. Ich wußte bestimmt, daß ich die Torklingel abgestellt hatte.

Sollte es klingeln, ich würde heute nicht aufstehen.Beim fünften Male wurde ich unsicher, beim sechsten

dachte ich: >Noch einmal, dann gehe ich.< Und so stand ich beim siebenten Male auf, hüpfte auf dem gesunden

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Fuß zum Fenster und sah Till vor der Haustür stehen.»Ich werfe den Schlüssel ’runter«, rief ich — und nach

ein paar Minuten hatte ich die notwendige ärztliche Hilfe.

Till untersuchte den Fuß und tröstete mich mit der Be­merkung, daß ich, wenn ich denselben Knöchel noch ein paarmal verstauchte, endgültig ausgeleierte Bänder be­kommen und bei jeder Gelegenheit umknicken würde. Ich müßte ihm versprechen, eine elastische Binde um den Knöchel zu wickeln, sobald er abgeschwollen sei, und bis Weihnachten keinen Schritt ohne sie zu gehen.

Ich und eine elastische Binde! Vielleicht in den ersten Tagen, wenn ich noch unsicher bin beim Auftreten, aber bis Weihnachten! Niemals! —

»Also das kann ich . . . « , begann ich meine Ablehnung.»Tu es mir zuliebe.«Die eine Christiane dachte: >Sei bloß nicht so eingebil­

det und denke, daß ich irgend etwas »dir zuliebe« tue. So stehen wir ja nun wirklich nicht, und ich müßte mich jeden Morgen beim Bindewickeln ärgern.<

Die andere Christiane sagte: »Also gut, ich verspreche es dir.«

Nun liege ich hier mit meinem von Heilerde aus der Grafeschen Hausapotheke gekühlten Fuß und in einer ganz unbekannten Stimmung. Teils ärgere ich mich furcht­bar, daß ich so brav ja gesagt habe, andererseits bin ich irgendwie froh darüber, weil Till sich sichtlich freute. Ich möchte nicht mehr an die ganze Sache denken und sie in eine entfernte Gedächtnisschublade stecken, wie ich das sonst oberflächlicherweise mit Dingen, die mir unan­genehm sind, zu machen pflege. Aber sie läßt sich nicht!

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5. September

Frau Grafe hat heute morgen Florian mitgenommen. Mittags brachte sie vorzügliches Essen, und später kam Till, um seine Krankenvisite zu machen und mir zu sagen, daß er morgen den Wagen seines Vaters zur Ver­fügung habe und mich damit nach Ebenheim fahren wolle.

Mühsam und langsam habe ich meine Sachen zusam­mengesucht und in den Rucksack gepackt. Alles, außer dem Schwedenkleid, das mir so gut steht. Wie gut, daß man bei einer Autofahrt nicht unbedingt himmelblaue Hosen anziehen muß!

Jetzt wäre Florian für die Nacht fertigzumachen. Mein Süßer! Ich komme mir ganz komisch vor, so ohne Pflichten.

6. September

»Halt dich fest«, sagte Till, nahm mich hoch und trug mich unsere »abschtrakte« Treppe hinunter, unter der mühsam lächelnden Medusa hindurch ins Auto hinein. Meine Abfahrt hatte ich mir auch anders gedacht! Das Rad will Till mit der Bahn nachschicken, und das Schild vom Bunten Florian will er abhängen.

Was soll ich zur Fahrt sagen? Ich lag hinten, quer, gut verpackt und war, trotz Fuß, fast so glücklich wie bei der Segelfahrt. Glücklichsein steht wohl nicht im Zusammen­hang mit irgendeinem bestimmten Fahrzeug, einer Land­schaft, ja nicht einmal mit Gesundheit und Krankheit — es ist außerhalb dieser Dinge.

Vielleicht ist es abhängig von den Menschen, mit denen man beisammen ist? Oder kommt es nur auf mich selbst

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an? Na, ich weiß es nicht, ich weiß nur, daß ich glück­lich bin.

Frau Mozert blickte mehr als mißbilligend, als sie die Tür öffnete und ich, von einem fremden jungen Mann (den sie erst später wiedererkannte) gestützt, davorstand, aber sie konnte uns nicht gut das Haus verbieten. Es ist ja schließlich unseres, auch wenn sie immer so tut, als müßten wir vor ihr zittern.

Till zitterte nicht. Er tat, als merke er nichts von der Empörung, fragte nach dem Wölfle und wie die Fahrt verlaufen sei und ob sie die Übungen mit dem Bein täg­lich mache, und brachte unseren Hausdrachen so weit, daß er uns Kaffee und Marmeladebrötchen heraufbrachte und einen Asternstrauß aus dem Garten. Sonst sind mir die ersten Astern immer unangenehm, weil mit ihnen der Herbst kommt — heute dachte ich nicht daran, freute mich an den bunten Farben und unterhielt mich weiter mit Till. Er ist von unserem Kirschberghaus begeistert. Ich erzählte ihm von Mutters Plan, den sie für die Zukunft für sich und Petra und für das Haus hat.

»Und für dich, Christiane?«Ich zuckte mit den Schultern. Was sollte ich schon

dabei?»Überleg einmal, wie es wäre, wenn du Heilgymnastin,

Masseuse oder etwas Ähnliches würdest? — Und wenn ihr vorerst keinen Arzt findet, dann fragt später bei Dr. Till Grafe an — falls ihr ihn haben wollt.«

7. September

Ich bin wieder allein.Für die anderen hat heute die Schule begonnen — ich

habe noch ein paar Tage »Fußferien«. Schade, nach den

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großen Ferien gehe ich jedesmal gern wieder zur Schule. — Eben habe ich die Tage gezählt, die ich in meinem »Haushaltsbuch« beschrieben habe. Es sind achtundneun­zig. Da will ich von den beiden letzten, von heute und morgen, auch noch schreiben, damit es hundert werden. Platz dazu ist nur noch auf dem grauen Einband. Wenn ich klein schreibe, reicht er noch für die zwei Tage.

Von heute ist sowieso nicht viel zu berichten: Habe brav Umschläge gemacht, astrologische Reden angehört, Sauerkraut gegessen, Besuch von Wolfgang Amadeus ge­habt (braucht nur noch ein bis zwei Stunden täglich zu üben, eine — für aktive und passive Beteiligte — erfreu­liche Nachricht), und von Mutter kam eine Karte aus Schleswig. Morgen abend will sie hier sein, damit sie noch einen kleinen Zipfel meines Geburtstages mitfeiern kann. Schön! Ich hatte schon befürchtet, ganz allein achtzehn Jahre alt werden zu müssen.

8. September, mein Geburtstag

In einer halben Stunde wird Mutter hier sein. Ich freue mich sehr! Leider kann ich sie nicht abholen; aber Gabi, Moni, Walter, Günter, Roland, Hilde, Horst und Ingrid, die bis vor kurzem hier waren, um mir zu gratulieren, sind zum Bahnhof gegangen und werden sie begrüßen und heraufbegleiten. Jürgen will die Koffer mit seinem Roller fahren. Wölfle steht schon am Gartentor mit dem Willkommenstrauß. —

Ich habe nun noch ein klein wenig Zeit, um zu schrei­ben, daß der hundertste Tag über Erwarten schön war. Gestern abend hatte ich noch gedacht, daß er der ein­samste Geburtstag meines Lebens würde — und nun kamen so viele Briefe und Gäste wie noch nie.

Wie gut, daß mir Frau Mozert einen großen Kirsch­

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kuchen schenkte, so hatte ich doch etwas zu essen für meine Gäste. Mette schrieb einen langen Brief, ebenso Petra, Andrea (Martina nicht, deren Geburtstagsbriefe kommen immer zu spät), Frau Grafe und Till. Er schickte als Geburtstagsgeschenk eine elastische Binde mit. Seinen Brief will ich gleich noch einmal lesen (ich weiß nicht, zum wievieltenmal), und vorher will ich als letzten Satz schreiben, daß ich mich auf die nächsten hundert Tage freue.

Daß ich mich auf mein ganzes Leben freue!

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