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58. Jahrgang – ifo Schnelldienst 6/2005 3 1. Das deutsche Erkenntnisproblem Seit ich am 15. November 2003 in mei- ner Deutschland-Rede 2 bei der Stiftung Schloss Neu-Hardenberg sowie in der gleichzeitig erschienenen dritten Auflage meines Buches Ist Deutschland noch zu retten? den Begriff der Basar-Ökonomie zur Kennzeichnung der Standortverlage- rung der Industrie in Niedriglohnländer ge- braucht habe, ist dieser Begriff zum ge- flügelten Wort geworden. Die Diskussion reißt nicht ab, und vor allem häufen sich die kritischen Stellungnahmen von For- schern, die zeigen wollen, dass sich Deutschland nicht zur Basar-Ökonomie entwickelt. Hier greife ich das Thema noch einmal umfassender auf, um es in eine Grundsatzdiskussion über Deutschlands Wirtschaftsentwicklung in einer turbulen- ten Zeit einzubetten. Die Welt um Deutschland herum ändert sich so schnell wie kaum je zuvor in Frie- denszeiten. Die Kräfte der Globalisierung ziehen auch dieses Land in ihren Bann und zwingen es gegen erhebliche Wider- stände zu inneren Reformen. Dass die Re- formen nur mühsam voran schreiten, liegt auch daran, dass noch unklar ist, wie die allmählich sichtbar werdenden Entwick- lungstendenzen der deutschen Volks- wirtschaft zu interpretieren sind. Zu neu, zu diffus und zu widersprüchlich sind die Informationen, die die Statistiken liefern. Da ist auf der einen Seite Deutschlands angebliche Weltmeisterschaft beim Ex- port sowie der große deutsche Export- überschuss, die zu belegen scheinen, dass diese Volkswirtschaft prächtig mit der Globalisierung zurechtkommt. Und auf der anderen Seite gibt es eine Mas- senarbeitslosigkeit, die sich trotz eines ge- radezu dramatischen Aufschwungs der Weltkonjunktur immer noch vergrößert, sowie eine Wachstumsschwäche, die das Land seit 1995 zum Schlusslicht in Europa gemacht hat. Manchmal wird gesagt, Deutschland ha- be kein Erkenntnis-, sondern nur ein Um- setzungsproblem. Aber das stimmt nicht, denn die Volkswirte sind sich selbst nicht einig, wie die scheinbar widersprüchli- chen Informationen zu interpretieren sind. Viele sehen beide Entwicklungen als ge- trennte Ereignisse. Sie sehen den Boom der Exporte als Beleg der Wettbe- werbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft inklusive seiner Arbeitnehmer und führen Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwä- che auf eine »fehlende Binnennachfra- ge« oder eine »schwache Binnenkon- junktur« zurück, die sie nicht durch au- ßenwirtschaftliche Kräfte verursacht se- hen. Mit seinem Gutachten Erfolge im Ausland, Herausforderungen im Inland macht sich der Sachverständigenrat für die Begutachtung der gesamtwirt- Exportweltmeister oder Schlusslicht? Hans-Werner Sinn 1 Basar-Ökonomie Deutschland Deutschland ist angeblich Exportweltmeister und Schlusslicht beim europäischen Wachstum. Das Land kämpft mit einer wachsenden Massenarbeitslosigkeit und beobachtet fassungslos die fort- schreitende Verlagerung industrieller Arbeitsplätze in Niedriglohnländer. Die Angst der Bevölke- rung kontrastiert auffällig mit offiziellen Beteuerungen, dass unser Land wegen seiner Exporter- folge wettbewerbsfähig sei und es nur an Binnennachfrage fehle. Diese Studie ist ein Versuch, empirisches Licht auf die scheinbar widersprüchlichen Entwicklungstendenzen zu werfen und die- se Tendenzen ökonomisch zu erklären. 1 Ich danke Sascha Becker, Peter Bernholz, Geb- hard Flaig, Martin Hellwig, Herbert Henzler, Helmut Hesse, Robert Koll, Frank Westermann, Karlhans Sauernheimer und Tobias Seidel für nützliche Kom- mentare und Reinhard Hild, Marga Jennewein, Wolfgang Meister und Elsita Walter für sorgfältige Forschungs- und Redaktionsassistenz. Die Struk- turierung eines noch diffusen geschichtlichen Phä- nomens und seine Erhellung durch konkrete Zah- len erwiesen sich in diesem Artikel als Herausfor- derung besonderer Art. 2 H.-W. Sinn, »Der kranke Mann Europas: Diagno- se und Therapie eines Kathedersozialisten«, Deutschland-Rede, Stiftung Schloss Neu-Har- denberg, Live-Übertragung im Deutschland Radio am 15. November 2003, 17.00–19.00 Uhr; wie- derabgedruckt in: H.-W. Sinn, Mut zu Reformen. 50 Denkanstöße für die Wirtschaftspolitik, Beck (DTV), München 2004, S. 1–19; Manuskript und Video-Mitschnitt auch auf www.ifo.de. Vgl. auch H.-W. Sinn, Ist Deutschland noch zu retten?, ab 3. Auflage, Econ Verlag, München, 2003, Kap. 2, und H.-W. Sinn, »4,5 Millionen Verlierer«, Die Zeit, 22. Dezember 2003, S. 28. Die umfangreiche Li- teratur zu diesem Thema, die daraufhin entstan- den ist, wird im Laufe dieses Beitrages zitiert.

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1. Das deutsche Erkenntnisproblem

Seit ich am 15. November 2003 in mei-ner Deutschland-Rede2 bei der StiftungSchloss Neu-Hardenberg sowie in dergleichzeitig erschienenen dritten Auflagemeines Buches Ist Deutschland noch zuretten? den Begriff der Basar-Ökonomiezur Kennzeichnung der Standortverlage-rung der Industrie in Niedriglohnländer ge-braucht habe, ist dieser Begriff zum ge-flügelten Wort geworden. Die Diskussionreißt nicht ab, und vor allem häufen sichdie kritischen Stellungnahmen von For-schern, die zeigen wollen, dass sichDeutschland nicht zur Basar-Ökonomieentwickelt. Hier greife ich das Thema nocheinmal umfassender auf, um es in eineGrundsatzdiskussion über DeutschlandsWirtschaftsentwicklung in einer turbulen-ten Zeit einzubetten.

Die Welt um Deutschland herum ändertsich so schnell wie kaum je zuvor in Frie-denszeiten. Die Kräfte der Globalisierungziehen auch dieses Land in ihren Bannund zwingen es gegen erhebliche Wider-stände zu inneren Reformen. Dass die Re-formen nur mühsam voran schreiten, liegtauch daran, dass noch unklar ist, wie dieallmählich sichtbar werdenden Entwick-lungstendenzen der deutschen Volks-wirtschaft zu interpretieren sind. Zu neu,zu diffus und zu widersprüchlich sind dieInformationen, die die Statistiken liefern.Da ist auf der einen Seite Deutschlandsangebliche Weltmeisterschaft beim Ex-port sowie der große deutsche Export-überschuss, die zu belegen scheinen,dass diese Volkswirtschaft prächtig mitder Globalisierung zurechtkommt. Undauf der anderen Seite gibt es eine Mas-senarbeitslosigkeit, die sich trotz eines ge-radezu dramatischen Aufschwungs der

Weltkonjunktur immer noch vergrößert,sowie eine Wachstumsschwäche, die dasLand seit 1995 zum Schlusslicht in Europagemacht hat.

Manchmal wird gesagt, Deutschland ha-be kein Erkenntnis-, sondern nur ein Um-setzungsproblem. Aber das stimmt nicht,denn die Volkswirte sind sich selbst nichteinig, wie die scheinbar widersprüchli-chen Informationen zu interpretieren sind.Viele sehen beide Entwicklungen als ge-trennte Ereignisse. Sie sehen den Boomder Exporte als Beleg der Wettbe-werbsfähigkeit der deutschen Wirtschaftinklusive seiner Arbeitnehmer und führenArbeitslosigkeit und Wachstumsschwä-che auf eine »fehlende Binnennachfra-ge« oder eine »schwache Binnenkon-junktur« zurück, die sie nicht durch au-ßenwirtschaftliche Kräfte verursacht se-hen. Mit seinem Gutachten Erfolge imAusland, Herausforderungen im Inlandmacht sich der Sachverständigenrat fürdie Begutachtung der gesamtwirt-

Exportweltmeister oder Schlusslicht?

Hans-Werner Sinn1

Basar-Ökonomie Deutschland

Deutschland ist angeblich Exportweltmeister und Schlusslicht beim europäischen Wachstum. Das

Land kämpft mit einer wachsenden Massenarbeitslosigkeit und beobachtet fassungslos die fort-

schreitende Verlagerung industrieller Arbeitsplätze in Niedriglohnländer. Die Angst der Bevölke-

rung kontrastiert auffällig mit offiziellen Beteuerungen, dass unser Land wegen seiner Exporter-

folge wettbewerbsfähig sei und es nur an Binnennachfrage fehle. Diese Studie ist ein Versuch,

empirisches Licht auf die scheinbar widersprüchlichen Entwicklungstendenzen zu werfen und die-

se Tendenzen ökonomisch zu erklären.

1 Ich danke Sascha Becker, Peter Bernholz, Geb-hard Flaig, Martin Hellwig, Herbert Henzler, HelmutHesse, Robert Koll, Frank Westermann, KarlhansSauernheimer und Tobias Seidel für nützliche Kom-mentare und Reinhard Hild, Marga Jennewein,Wolfgang Meister und Elsita Walter für sorgfältigeForschungs- und Redaktionsassistenz. Die Struk-turierung eines noch diffusen geschichtlichen Phä-nomens und seine Erhellung durch konkrete Zah-len erwiesen sich in diesem Artikel als Herausfor-derung besonderer Art.

2 H.-W. Sinn, »Der kranke Mann Europas: Diagno-se und Therapie eines Kathedersozialisten«,Deutschland-Rede, Stiftung Schloss Neu-Har-denberg, Live-Übertragung im Deutschland Radioam 15. November 2003, 17.00–19.00 Uhr; wie-derabgedruckt in: H.-W. Sinn, Mut zu Reformen.50 Denkanstöße für die Wirtschaftspolitik, Beck(DTV), München 2004, S. 1–19; Manuskript undVideo-Mitschnitt auch auf www.ifo.de. Vgl. auchH.-W. Sinn, Ist Deutschland noch zu retten?, ab3. Auflage, Econ Verlag, München, 2003, Kap. 2,und H.-W. Sinn, »4,5 Millionen Verlierer«, Die Zeit,22. Dezember 2003, S. 28. Die umfangreiche Li-teratur zu diesem Thema, die daraufhin entstan-den ist, wird im Laufe dieses Beitrages zitiert.

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schaftlichen Entwicklung zum Protagonisten dieser Sicht-weise.3 Manche, freilich nicht die Mehrheit des Rates, for-dern sogar staatliche Maßnahmen zur Stützung der Bin-nenkonjunktur.

Dieser Beitrag entwickelt eine andere Sicht der Dinge. Ex-portboom, Basar-Effekt und innere Wachstumsschwächesind keine getrennten Ereignisse, sondern ökonomisch engzusammenpassende Teile eines Entwicklungsprozesses, beidem sich die Wettbewerbsfähigkeit der Firmen und die Wett-bewerbsfähigkeit der Arbeitnehmer von einander loslösen,weil letztere den Sozialstaat, erstere aber Niedriglöhner ausaller Welt als Optionen vor Augen haben.

Die Entwicklung zur Basar-Ökonomie ist zu einem Teil ei-ne natürliche Konsequenz der Globalisierung und der in-ternationalen Spezialisierung. Wie noch ausgeführt wird,kann diese Entwicklung mit Wohlfahrtsgewinnen für diedeutsche Volkswirtschaft verbunden sein, weil sie die knap-pen Industriearbeiter für bessere Verwendungen in ande-ren Branchen freisetzt. Prinzipiell kann die Globalisierungden beteiligten Volkswirtschaften Handelsgewinne ver-schaffen, und die Spezialisierung unseres Landes auf Ba-sar-Tätigkeiten ist keine Ausnahme von dieser Regel. Da-mit würde sich eine Entwicklung fortsetzen, von derDeutschland schon sehr lange, insbesondere in der Nach-kriegszeit, profitieren konnte und die unserem Land einWirtschaftswunder gebracht hat.

Zu einem anderen Teil kann die Entwicklung zur Basar-Öko-nomie als Anzeichen eines verzweifelten Kampfes gesehenwerden, den die westliche Welt im Allgemeinen und Deutsch-land im Besonderen in diesen Jahren gegen die Kräfte desFaktorpreisausgleichs führt. Handelsgewinne kann mannämlich nur machen, wenn man den Prozess des Faktor-preisausgleichs nicht behindert, und sie lassen sich meis-tens auch nur in dem Sinne erzielen, dass die Gewinner mehrgewinnen, als die Verlierer verlieren. Der Faktorpreisausgleichbesagt unter anderem, dass sich die Löhne zwischen denHandel treibenden Ländern aneinander annähern. Davonhaben die deutschen Arbeitnehmer in der Nachkriegszeitstark profitieren können, als unser Land selbst noch amBoden lag und allmählich wieder in das Welthandelssys-tem integriert wurde. Doch heute, wo es um den Faktor-preisausgleich mit den ex-kommunistischen Ländern geht,die sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs am Welthan-del beteiligen, gehören die deutschen Arbeitnehmer wie auchihre Kollegen in den anderen westlichen Ländern wahr-scheinlich zu den Verlierern des Prozesses. Mehr als jedeandere Begleiterscheinung des Freihandels zwischen gutfunktionierenden Marktwirtschaften muss der Faktorpreis-

ausgleich die Arbeitnehmer der heutigen Hochlohnländerbeunruhigen.

Wie viele andere Europäer kämpfen auch wir Deutschengegen den Faktorpreisausgleich. Mit allem, was uns hei-lig ist, versuchen wir, die Errungenschaften der sozialenMarktwirtschaft und unser Lohnniveau zu verteidigen. Vie-le hoffen, dass die politische Macht stärker ist als die öko-nomischen Gesetze, nach denen die Integration der Welt-wirtschaft vonstatten geht. Aber die Erfahrung bietet füreine solche Hoffnung kaum eine Basis. Das ist das alteThema Eugen von Böhm-Bawerks, des großen österrei-chischen Nationalökonomen und Finanzministers, derschon 1914 darauf hingewiesen hat, dass die politischeMacht nicht gegen, sondern immer nur innerhalb der öko-nomischen Wert-, Preis- und Verteilungsgesetze wirkt undsie nicht aufheben, sondern nur bestätigen und erfüllenkann.4 Wenn ein Land sich dem Faktorpreisausgleich ent-gegenstemmt, erzeugt es zwangsläufig immer mehr Ar-beitslosigkeit und macht die Lage für die Arbeitnehmereher noch schlimmer.

In dieser schwierigen Lage ist es außerordentlich wichtig,dass die Politik die Zeichen der Zeit richtig interpretiert,denn nur dann ist sie in der Lage, sinnvoll zu reagieren.Leider habe ich nicht den Eindruck, dass dies der Fall ist.Die Stellungnahmen zur Basar-Hypothese, die von denverschiedensten Seiten gekommen sind, zeugen großen-teils von keynesianischen Denkmustern, die zwar kon-junkturell ihre Bedeutung haben, doch im Widerspruchzu den langfristig relevanten Effekten des außenwirt-schaftlichen Geschehens stehen. Es wird Deutschlandnicht helfen, wenn sich seine Politiker und die Fachöko-nomen der Ministerien an diesen Denkmustern ausrich-ten, denn bei der Frage, wie Deutschland mit der Globa-lisierung zurechtkommt, geht es wahrlich nicht um die kon-junkturellen Probleme, für deren Behandlung die keyne-sianische Theorie geschaffen wurde.

Ich fasse in diesem Beitrag die bislang bekannt geworde-nen Fakten zur Basar-Hypothese zusammen und interpre-tiere sie. Außerdem antworte ich meinen expliziten und im-pliziten Kritikern, denn der Dialog mit ihnen hilft, das Prob-lembewusstsein zu schärfen und Fehleinschätzungen auf-zudecken. Zu den Kritikern gehören unter anderem die Financial Times Deutschland, das Bundesministerium derFinanzen, das Bundesministerium für Wirtschaft und Ar-beit, das DIW und verschiedene Ökonomen. Auch den Sach-verständigenrat kommentiere ich, obwohl ich wegen einerinneren Dichotomie des letzten Gutachtens nicht weiß, wieich ihn einordnen kann. Einerseits bestätigt der Rat die Ba-

3 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Ent-wicklung, Erfolge im Ausland, Herausforderungen im Inland, Jahresgut-achten 2005, Wiesbaden 2004.

4 Eugen von Böhm-Bawerk, »Macht oder ökonomisches Gesetz«, Sonder-abdruck aus der Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung23, Manz, Wien 1914, S. 266.

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sar-These und bezieht im Kern ebenfalls eine angebots-orientierte Sicht. Andererseits setzt er meiner Skepsis eineim Grundsatz positive Interpretation des außenwirtschaftli-chen Geschehens entgegen.5

Ich unternehme nicht den Versuch, den Begriff der Basar-Ökonomie als solchen zu verteidigen, den manche als zunegativ empfinden.6 Über Definitionen kann man endlos strei-ten, aber wer den Begriff einführt, darf ihn auch definieren,und angebliche Gegenbeweise, die sich ganz anderer De-finitionen bedienen, sind nicht legitim. Die Verballhornungder Basar-Hypothese, die einige der Kritiker vornehmen, istschon abenteuerlich, insbesondere die Interpretation, dassich als Folge der Spezialisierung auf Basar-Tätigkeiten an-geblich einen Rückgang (!) der Wertschöpfung in den Ba-saren behaupte. Mir geht es nicht um Begriffe, sondern nurum Fakten und ihre Bewertung aus volkswirtschaftlicherSicht. Natürlich ist, wie ich immer betont habe, der Begriffder Basar-Ökonomie eine Karikatur, und natürlich istDeutschland heute noch keine Basar-Ökonomie. Aber dieReise geht, wenn auch langsam, so doch stetig in dieseRichtung. Ob sie gut oder schlecht ist, wird sich erweisen.

2. Die Basar-Hypothese: Das empirische Phänomen

Die Basar-Hypothese besagt, dass der inländische Wert-schöpfungsanteil an der Industrieproduktion, die so genannteFertigungstiefe, zugunsten des Auslands fällt und dass sichDeutschland zunehmend auf Basar-Tätigkeiten spezialisiert.Sie besagt nicht, dass der Wertschöpfungsanteil der In-dustrie am Bruttoinlandsprodukt fällt, und schon gar nicht,dass die Wertschöpfung der Basare fällt. Die Basar-Hypo-these geht von der Erkenntnis aus, dass immer mehr deut-sche Industrieunternehmen arbeitsintensive Teile ihrer Wert-schöpfungsketten in ausländische Niederlassungen verla-gern (Offshoring) oder bei Zulieferern aus dem Ausland kau-fen (ausländisches Outsourcing), um dadurch den hohendeutschen Lohnkosten zu entkommen.7 Deutschland bautseine Position als Basar der Welt aus und kann auf hohe undwachsende Exporte verweisen. Doch werden die Industrie-güter zu wachsenden Wertanteilen in Niedriglohnländernvorfabriziert, vor allem neuerdings auch wieder in Deutsch-

lands traditionellem Hinterland in Osteuropa.8 Dadurch läuftdie Industrieproduktion und auch der Export von Industrie-gütern der industriellen Wertschöpfung davon. Schon ausdiesem Grunde zeigt die Exportstatistik nicht, wie Deutsch-land mit der Globalisierung zurechtkommt.

Ein extremes und mittlerweile wohlbekanntes Beispiel ausmeinem Buch Ist Deutschland noch zu retten? ist der Por-sche Cayenne, der scheinbar in Leipzig produziert wird, beidem aber in Wahrheit 88% des Wertes bereits in dem vor-gefertigten Auto stecken, das Porsche von seinem Werk inBratislava anliefern lässt. In Leipzig wird kaum mehr als Len-kung und Getriebe eingebaut. Das Band, auf dem der Wa-gen gefertigt wird, steht in Bratislava. Es ist übrigens dasGleiche, auf dem Volkswagen seinen Touareg produziert.Die Kunden aus aller Welt, die bei Porsche kaufen, habendas Gefühl, ein Auto mit dem Prädikat »Made in Germany«zu erwerben, doch in Wahrheit findet ein Etikettenschwin-del statt, der über die tatsächlichen Verhältnisse hinwegtäuscht. Wenn der Cayenne nach Amerika exportiert wird,steht er zu 100% in der deutschen Exportstatistik, obwohlnur 12% der Wertschöpfung in Form von Gewinnen, Löh-nen, anderen Einkommen und Deckungsbeiträgen für Ab-schreibungen in Leipzig anfielen. Der Export ist in diesemBeispiel mehr als achtmal so groß wie die Wertschöpfungfür den Export.

Aber Beispiele zählen nicht. Erste Anhaltspunkte für den tat-sächlichen Umfang der Entwicklung zur Basar-Ökonomiegibt die Abbildung 1, die die Fertigungstiefe der deutschenIndustrie im Sinne ihres eigenen Wertschöpfungsanteils anihrer Produktion in den Jahren von 1970 bis 2003 darstellt.9

Man sieht, dass der eigene Wertschöpfungsanteil an derIndustrieproduktion in den letzen 33 Jahren von 40,2% auf34% zurückgegangen ist. Dabei hat sich die Entwicklung of-fensichtlich seit 1995 besonders stark beschleunigt. Wäh-

5 Ich kommentiere hier nicht alles, was zu dem Thema gesagt wird. Wennjemand, wie der ehemalige Brandt-Berater Werner Müller, den Reformernim Titel seines Buches »Lügen« unterstellt und ansonsten zur Stützung dereigenen Meinung im Wesentlichen nur irrelevante Banalitäten aneinan-derreiht, kann er nicht erwarten, dass man sich ernsthaft mit ihm ausein-ander setzt. Pikanterweise gehört Müller zur Gruppe jener Publizisten, diewahrheitswidrig behaupten, Deutschland sei Exportweltmeister. Vgl. Ab-schnitt 7.

6 Vgl. z.B. M. Kannegiesser, Zukunft der M+E-Industrie: Die Rolle der Netz-werke zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit, Pressestatement zur Vor-stellung einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft, Köln, Frank-furt am Main, Presseclub, 14. Oktober 2004. Kannegiesser bestätigt dasempirische Phänomen der Entwicklung zur Basar-Ökonomie für die Me-tall- und Elektroindustrie, wendet sich aber gegen den negativen Unter-ton, der diesem Begriff innewohnt.

7 Manchmal wird der Begriff Outsourcing allein auf die Verlagerung von Dienst-leistungen bezogen. Diese Verengung der Interpretation wird hier aber nichtübernommen, zumal in Deutschland die Verlagerung von industrieller Pro-duktion bislang eindeutig im Vordergrund steht. Zur Bedeutung des Out-sourcing von Dienstleistungen vergleiche man United Nations Conferenceon Trade and Develoment, World Investment Report 2004: The Shift Towards Services, United Nations, New York und Genf 2004.

8 Der Begriff »Hinterland« ist ein Germanismus der englischen Sprache, derschon vor dem Krieg gebräuchlich war, und er bezeichnete schon damalsdie osteuropäischen Staaten.

9 Die Angaben zum Wertschöpfungsanteil beziehen sich grundsätzlich aufdie so genannte Bruttowertschöpfung einschließlich Abschreibungen. DieBruttowertschöpfung ist die Differenz aus dem Produktionswert (zu Her-stellungspreisen) und den Vorleistungen (zu Käuferpreisen). Der Produkti-onswert stellt den Wert des Verkaufserlöses von Waren und Dienstleis-tungen aus eigener Produktion sowie von Handelsware nach Abzug derin Rechnung gestellten Umsatzsteuer dar, vermehrt um den Wert der Be-standsveränderung an Halb- und Fertigwaren und um den Wert selbster-stellter Anlagen. Die Bruttowertschöpfung entspricht der Summe aus denArbeitnehmerentgelten (Bruttolöhne und -gehälter zuzüglich Sozialabga-ben der Arbeitgeber), dem Betriebsüberschuss bzw. Selbständigenein-kommen (einschließlich Fremdkapitalzinsen, Pacht, Mieten etc.), dem Sal-do aus den staatlichen Produktionsabgaben (z.B. Gewerbesteuer, Grund-steuer, Kfz-Steuer der Unternehmen) und den Subventionen sowie den Ab-schreibungen (also den zum Erhalt des Kapitalstocks nötigen Reinvesti-tionen).

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rend die Fertigungstiefe in den 24 Jahren von 1970 bis 1994um 1,8 Prozentpunkte zurückging, fiel sie in den neun Jah-ren von 1994 bis 2003 um 4,4 Prozentpunkte.10

Allerdings ist seit 2002 eine gewisse Rückbewegung zubeobachten, deren Ursachen und Persistenz noch nichtklar sind. Dahinter könnte das Bemühen stehen, in derkonjunkturellen Flaute zunächst die eigenen Arbeitsplät-ze zu schützen. Es könnte sich um eine Konsolidierungs-phase handeln, die aus der Erfahrung resultiert, dass dieVerlagerung von Vorproduktion auf Zulieferer zu einem in-direkten Technologietransfer an Wettbewerber führte.11 Eskönnte sich auch um einen Aufwertungseffekt handeln,der den Wertanteil der Vorleistungsimporte am Wert derProduktion verringert hat. Immerhin hat ja der Euro sei-nen realen Außenwert von 2001 bis 2003 sehr stark er-höht.12 Die Ausschläge der Kurve am aktuellen Rand sindaber, wie die Abbildung deutlich zeigt, im Vergleich zuden Ausschlägen früherer Jahre bislang viel zu klein, alsdass sie als Trendänderung interpretierbar wären. DerTrend während der letzten 30 Jahre zeigt trotz der Ge-genbewegung in den letzten zwei, drei Jahren immer nochprogressiv nach unten.

Eine mögliche Erklärung dafür, dass die Fer-tigungstiefe insbesondere seit 1995 stark ab-genommen hat, kann darin gesehen werden,dass sich damals die ehemals kommunisti-schen Länder verstärkt dem internationalenKapital öffneten. China liberalisierte die Be-dingungen, unter denen westliche Investi-tionen möglich wurden, und die Länder Ost-europas hatten ihre Transformationskriseüberwunden. Insbesondere letzteres war fürDeutschland als unmittelbaren Nachbarnwichtig, zumal die Osterweiterung der EUnach dem Gipfel in Kopenhagen im Jahr1993 beschlossene Sache war. Der EiserneVorhang hatte zuvor nicht nur die Menschenein-, sondern auch das InvestitionskapitalWesteuropas ausgesperrt. Durch die neuenpolitischen Verhältnisse wurden dem west-lichen Kapital lukrative Investitionsmöglich-keiten eröffnet, zu denen vorher kein Zugang

bestanden hatte. Natürlich eröffneten sich diese Möglich-keiten für alle westlichen Länder, aber Deutschland hat hier-von am stärksten Gebrauch gemacht. Schon früh war klar,dass unser Land der bei weitem größte Direktinvestor in Ost-europa sein würde, vor den USA und größer als Frankreichund Großbritannien zusammen.13

Nicht nur Volkswagen und Audi machten mit ihrer Beteili-gung an den Skoda-Werken, dem Aufbau neuer Ferti-gungsstraßen in Bratislava und der Verlegung der Fertigungfür die Audi-Motoren nach Györ in Ungarn von den neuenMöglichkeiten Gebrauch. In großem Umfang hat sich auchder deutsche Mittelstand engagiert. Nach einer Umfrage desInstituts der Deutschen Wirtschaft (IW) hatten bereits im Jahr2002 etwa 60% der mittelständischen Unternehmen mitbis zu 5 000 Beschäftigten Standorte außerhalb der altenEU-Länder begründet.14 Und nach der Direktinvestitions-statistik der Deutschen Bundesbank hatten deutsche Un-ternehmen im Jahr 2002 bereits 4,4 Millionen Arbeitsplätzeim Ausland geschaffen.15 Viele dieser zusätzlichen Aktivitä-ten verstreuen sich über die Welt, aber viele konzentrierensich in Osteuropa. Der Mittelstand macht in Osteuropa dasnach, was die Großindustrie schon seit den achtziger Jah-ren in China und anderen asiatischen Niedriglohnländernvorgemacht hat. Die Rüstkosten sind viel kleiner als bei ei-nem Engagement in China, schon wegen der größeren kul-turellen und geographischen Nähe. Dank Osteuropa wur-den und werden die mittelständischen UnternehmenDeutschlands zu Global Players im Kleinen.

Abb. 1

10 Ähnliche Effekte zeigen sich auch für andere Länder. Dazu vergleiche manR. C. Feenstra, »Integration of Trade and Disintegration of Production inthe Global Economy«, Journal of Economic Perspectives 12, 1996, S. 31–50, sowie F. Ng und A. Yeats, »Production Sharing in East Asia: Who Does What for Whom and Why?«, in: L. Cheng, und H. Kierzkowski, Hrsg.,Globalization of Trade and Production in South-East Asia, Kluwer Acade-mic Press, New York 2002.

11 So der Vorstandssprecher von Audi, Martin Winterkorn, in einem Gesprächmit dem Verfasser.

12 Nach Berechnungen der EZB stieg der effektive Wechselkurs des Eurogegenüber den 42 wichtigsten Handelspartnern der Euroländer von 2001bis 2003 nominal um 17,9% und real um 16,8%. Gegenüber dem US-Dollar nahm der Euro-Kurs sogar um 26,3% zu. Siehe Deutsche Bun-desbank, Statistisches Beiheft zum Monatsbericht 5, Devisenkursstatis-tik, Januar 2005, S. 6 und S. 9.

13 H.-W. Sinn und A. Weichenrieder: »Foreign Direct Investment, Political Re-sentment and the Privatization Process in Eastern Europe«, EconomicPolicy 24, 1997, S. 177–210.

14 Institut der deutschen Wirtschaft, IW-Trends, Dokumentation 4, 2002. 15 Deutsche Bundesbank, Statistische Sonderveröffentlichung 10, Kapital-

verflechtung mit dem Ausland, Mai 2004, S. 16.

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Getrieben wird die Entwicklung zweifellosdurch die extrem niedrigen Lohnkosten inOsteuropa.16 Das Motiv der Markterschlie-ßung, das noch in Asien eine wichtige Rollegespielt hatte, tritt im gemeinsamen euro-päischen Binnenmarkt, zu dem die wich-tigsten osteuropäischen Länder nun gehö-ren, in den Hintergrund. Im Durchschnitt la-gen die Lohnkosten für Industriearbeiter inden zehn Beitrittsländern, die im Jahr 2004zur EU stießen, im Jahr 2003 bei nur 14%der westdeutschen Lohnkosten (vgl. unten,Abb. 14 und die zugehörige Diskussion desLohnkostenthemas).

Die Entwicklung zur Basar-Ökonomie ver-läuft in den deutschen Industriebranchennaturgemäß mit unterschiedlicher Ge-schwindigkeit. Abbildung 3 zeigt dies fürdie sechs größten Branchen, die zusam-men 77% der Wertschöpfung des verarbeitenden Ge-werbes erzeugen. Wie man sieht, ging die Fertigungstie-fe in den elf Jahren von 1991 bis 2002 in diesen Bran-chen fast durchweg zurück, wobei der Maschinenbau miteiner Abnahme von nur 0,7 Prozentpunkten kaum, ande-re Sektoren dafür umso mehr betroffen waren. Spitzen-reiter war der Fahrzeugbau, wo der Anteil der eigenenWertschöpfung an der Produktion um 10,3 Prozentpunk-te abnahm. Bei der Entwicklung scheint es sich um ein all-gemeines Phänomen zu handeln, das die meisten Indus-triebranchen erfasst hat. Eine echte Ausnahme bildet le-diglich das Ernährungsgewerbe und die Tabakverarbei-tung, wo der Anteil der Bruttowertschöpfung am Produk-tionswert sogar stieg.

Die Verringerung der Fertigungstiefe bedeutet nicht not-wendigerweise, dass die Wertschöpfung der Industrie-sektoren relativ zur gesamten Wertschöpfung der Wirt-schaft fällt. Immerhin zeigt sich in dieser Verringerung fastschon definitionsgemäß eine den Gewinn vergrößernde Re-aktion der Firmen auf eine veränderte Wettbewerbslage.Die Ausweitung der Produktionswerte aufgrund der Ver-besserung der Wettbewerbsfähigkeit der betroffenen In-dustrien kann die Verringerung der Fertigungstiefe über-kompensieren. Das ist insbesondere in den Exportbran-chen zu erwarten, die im internationalen Handel Speziali-sierungsvorteile erzielen und deshalb überdurchschnittlichwachsen.

Abbildung 3 zeigt in dieser Hinsicht ein ge-mischtes Bild. Einerseits ist der Wertschöp-fungsanteil des verarbeitenden Gewerbes amBruttoinlandsprodukt seit 1970 dramatisch zu-rückgegangen. Er fiel von ursprünglich 33,8%bis auf nur noch 20,6% im Jahr 2003. Offen-bar hat in den letzten 30 Jahren eine umfang-reiche Deindustrialisierung Deutschlands statt-gefunden.17 Andererseits hat sich der Wert-schöpfungsanteil des verarbeitenden Gewer-

Abb. 2

Abb. 3

16 Vgl. D. Marin, A. Lorentowicz und A. Raubold, »Owner-ship, Capital and Outsourcing: What Drives GermanInvestment to Eastern Europe?«, Department of Eco-nomics, University of Munich, Discussion paper 02-03, 2002; S. O. Becker. K. Ekholm, R. Jäckle undM.-A. Muendler, »Location Choice and EmploymentDecisions: A Comparison of German and SwedishMultinationals«, CESifo Working Paper Nr 1374, Ja-nuar 2005.

17 Vgl. auch P. Bernholz, »Globalisierung und Umstruk-turierung der Wirtschaft: Sind sie neu?«, Walter AdolfJöhr-Vorlesung 2000, Forschungsgemeinschaft fürNationalökonomie, Hrsg., Universität St. Gallen, St.Gallen 2000.

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bes seit Mitte der neunziger Jahre, also gerade zu der Zeit,als der Basar-Effekt besonders stark war, einigermaßen sta-bilisiert. Er fiel von 1995 bis 2003 nur um 0,6 Prozentpunkte,und im Jahr 2004 stieg er sogar leicht. Dabei ist freilich unklar,ob dies eine wirkliche Stabilisierung war oder nur ein Reflexder Tatsache, dass das gesamte BruttoinlandsproduktDeutschlands seit Mitte der neunziger Jahre im internationa-len Vergleich besonders langsam gewachsen ist. Auch dieoben schon erwähnte Euro-Aufwertung seit dem Jahr 2002hat auf dem Wege über die Verbilligung der Importe zuletzt si-cherlich einen Beitrag zur Erhöhung des Wertschöpfungsan-teils des verarbeitenden Gewerbes geleistet. Die Beschäfti-gung im verarbeitenden Gewerbe hat sich jedoch, wie weiterunten gezeigt wird, in keiner Weise stabilisiert. Wertschöp-fung und Beschäftigung sind zwar korreliert, aber nicht das-selbe (vgl. Abschnitt 6, Auf die Faktormärkte kommt es an.).

Die oben unterschiedenen Branchen haben ihre Wert-schöpfungsanteile am gesamten Bruttoinlandsprodukt mitunterschiedlichem Erfolg verteidigen können. Alle sechs gro-ßen Industriebranchen sind in den letzten 30 Jahren antei-lig geschrumpft, doch verlief der Schrumpfungsprozess nichtgleichmäßig. Der erste Schub ging bis etwa 1984, und derzweite fand nach der Vereinigung bis Mitte der neunzigerJahre statt. Danach hat sich der Wertschöpfungsanteil imWesentlichen stabilisiert. Es gibt aber einige kleinere Bran-chen, in denen dieser Anteil weiterhin abnahm. Nach ihrerGröße sortiert, sind dies die Branchen Glasgewerbe, Kera-mik, Verarbeitung von Steinen und Erden (0,7% Anteil amBIP), Herstellung von Möbeln, Schmuck, Musikinstrumen-ten usw. (0,5%), Holzgewerbe ohne Herstellung von Möbeln(0,4%), Textilgewerbe (0,2%), Herstellung von Büromaschi-nen, DV-Geräten und -einrichtungen (0,2%) und Beklei-dungsgewerbe (0,1%).

3. Outsourcing in den Dienstleis-tungssektor?

Die Kritik an der Basar-Hypothese hat sichauf die empirischen Fakten konzentriert. Dieersten Zweifel an dieser Hypothese wurdenvon der Financial Times Deutschland geäu-ßert. Die Zeitung bestätigte zwar die Aussa-ge, dass der Wertschöpfungsanteil, den dieIndustrie an ihrer eigenen Produktion hat,durch Outsourcing zurückgeht. Sie vertrataber die Meinung, dass es sich hierbei umein Outsourcing in den inländischen Dienst-leistungssektor handele:18

»Der Haken an den Zahlen ist, dass die Wert-schöpfung der Industrie auch und vor allemdeshalb langsamer stieg, weil die deutschenFirmen einen internationalen Trend nachhol-ten und Teile ihrer Produktion an Dienstleis-ter auslagern; die entsprechende Wert-schöpfung taucht jetzt in den Service-

Statistiken auf, nicht in Osteuropa.«

Ähnlich äußern sich Morgan Stanley in der Studie Germany:Turning Into a Bazaar?. Auch sie vermuten einen wesent-lichen Effekt durch die Verlagerung von Vorleistungen in denDienstleistungssektor und bestreiten die Basar-These im Sin-ne einer Verringerung der Fertigungstiefe zugunsten des Aus-landes. So heißt es in der Studie:19

»Hence, there is no reason to believe that value-addedgrowth would consistently fall short of industrial outputgrowth going forward.«

Dieser Sachverhalt konnte inzwischen geklärt werden. Zwarstimmt es, dass es eine Tendenz zum Outsourcing aus derIndustrie in andere Wirtschaftsbereiche gibt. So hat zum Bei-spiel das Industrieleasing in den letzten Jahren stark an Be-deutung gewonnen und sich zu einem wichtigen Wirt-schaftszweig entwickelt.

Dennoch erklärt das inländische Outsourcing die im vori-gen Abschnitt dargestellte Verringerung der Fertigungstiefenur zu einem ganz geringen Teil. Dies wurde vom ifo Insti-tut alsbald festgestellt.20 Abbildung 5 verdeutlicht das Er-

Abb. 4

18 Th. Fricke, »Deutscher Weltmeistertitel kommt manchem ungelegen«, Financial Times Deutschland, 6. April 2004, S. 18. Vgl. auch Th. Fricke,»Schöne neue Industrie«, Financial Times Deutschland, 20. Februar 2004,S. 26, S. Dullien und M. Schieritz, »Banker zweifeln an Basar-Ökono-mie«, Financial Times Deutschland, 16. Juli 2004, S. 16.

19 E. Bartsch, »Germany: Turning into a Bazaar?«, Morgan Stanley, GlobalEconomic Forum, 15. Juli 2004.

20 Siehe R. Hild, »Produktion, Wertschöpfung und Beschäftigung im verarbei-tenden Gewerbe«, ifo Schnelldienst, 57. Jg., 7/2004, S. 19–27 und Statis-tisches Bundesamt, Fachserie 18: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen,Reihe 2: Input-Output-Rechnung, 1995 und 2000; Statistisches Bundes-amt, Fachserie 18: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Reihe 1.3.

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gebnis der Berechnungen des ifo Instituts auf der Basis derInput-Output-Statistiken des Statistischen Bundesamtes.21

Abbildung 5 bezieht sich auf die Periode von 1995 bis 2003.Sie zeigt, dass die Industrieproduktion in dieser Zeit um 18%wuchs, während die reale Wertschöpfung in eben dieserIndustrie um gerade einmal 4% anstieg. 14 der 18 PunkteProduktionswachstum wurden also nicht durch eine Zu-nahme der realen Wertschöpfung in der Industrie erklärt,sondern weisen auf die Bedeutung des Outsourcing undOffshoring hin.

Interessanterweise war die Wachstumsrate der realen In-dustrieproduktion mit einem Wert von 18% genauso hochwie das Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts derEU-Länder. Sie lag deutlich über der Wachstumsrate desrealen Bruttoinlandsprodukts in Deutschland, die nur 10,3%betrug und damit den niedrigsten Wert in ganz West- undMitteleuropa eingenommen hatte (vgl. Abschnitt 5, Abb. 14).

Wie nun wird die Differenz in den Wachstumsraten der In-dustrieproduktion und der Wertschöpfung der Industrie er-klärt? Die Antwort wird von den beiden anderen Kurven der

Abbildung gegeben, die den Zuwachs derrealen Vorleistungen darstellen, die die deut-sche Industrie aus anderen inländischen Sek-toren sowie aus dem Ausland bezieht. Of-fenbar zeigen die Vorleistungen aus andereninländischen Sektoren keinerlei Auffälligkei-ten. Mit einem Zuwachs von 23% liegen sienur wenig über dem Zuwachs der Industrie-produktion selbst. Demgegenüber schnell-ten die Vorleistungen, die die Industrie ausdem Ausland bezogen, rasant in die Höhe.Auch wenn sich in den Jahren 2002 und2003 die Entwicklung wieder umkehrte, wasdie oben erläuterten Gründe haben mag(Konjunktur, Euro-Aufwertung, Konsolidie-rung), lag der Gesamtzuwachs in der be-trachteten Zeitspanne von nur acht Jahrenbei 45%.

Wenn man den Zuwachs der Industriepro-duktion seit 1995 in seine Komponenten auf-spaltet, wie es in Abbildung 6 geschieht, er-kennt man die Besonderheit der Entwicklungnoch deutlicher. Nur 11% dieses Zuwachses

wurden in der deutschen Industrie selbst erzeugt. 89% ka-men anderswo her: 38% kamen aus anderen inländischenSektoren, und 51% kamen aus dem Ausland.

Hätten sich die Proportionen, zu denen die Industrie selbst,inländische nichtindustrielle Zulieferer und ausländische Zu-lieferer zur Wertschöpfung in der deutschen Industrie bei-tragen, gegenüber 1995 nicht verändert, so hätte der Ei-genbeitrag der Industrie zur Zunahme ihrer Produktion bei49% liegen müssen, das Ausland hätte 21% beigesteuert,und andere inländische Vorlieferanten hätten für 30% desZuwachses verantwortlich gezeichnet. Dass das nicht derFall ist, zeigt, dass die eigene, industrielle Wertschöpfungbeim Zuwachs der Industrieproduktion auf geradezu dra-matische Weise verdrängt wurde. Wenn man die Verdrän-

Abb. 5

21 In einer Fußnote eines Berichtes des Bundesministeriums für Wirtschaftund Arbeit wird behauptet, die von mir herangezogenen Zahlen stamm-ten einerseits aus der Wirtschaftsstatistik und andererseits aus der Volks-wirtschaftlichen Gesamtrechnung, was wegen unterschiedlicher Ab-grenzungen methodisch nicht zulässig sei. Diese Behauptung ist falsch.Alle Zahlen stammen aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Vgl.B. Diekmann, M. Meurers und N. Felgentreu, Basarökonomie Deutsch-land?, Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, WirtschaftsanalysenNr. 4, Fußnote 1.

Abb. 6

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gung als Rückgang der Fertigungstiefe interpretiert, kannman den Befund auch so ausdrücken, dass vier Fünftel(30/38) der Verringerung der Fertigungstiefe der Industrieseit 1995 auf eine Verlagerung von Produktion ins Ausland,aber nur ein Fünftel (8/38) auf eine Verlagerung in andereinländische Sektoren, die nicht zur Industrie zählen, zu-rückzuführen ist. Es kann also kein Zweifel bestehen, dasssich die Tendenz zur Basar-Ökonomie in der betrachtetenZeitspanne von 1995 bis 2003 mit großer Kraft durchgesetzthat.

Die genannten Zahlen beziehen sich auf die gesamte Pro-duktion des verarbeitenden Gewerbes, aber es scheint, dassdie Tendenz zur Basar-Ökonomie auch bei anderen Teil-gruppen der deutschen Produktion zu beobachten ist, wasich in meinem Buch nur vermuten konnte. So hat das Sta-tistische Bundesamt diese Tendenz in einer eigenen Unter-suchung zu den Implikationen seiner Input-Output-Analyseauch für die Teilgruppe der Exportprodukte festgestellt.22 Inder Studie des Amtes heißt es (S. 4):

»Nach der vorliegenden Analyse hat sich im Zeitraum 1991bis 2002 das Verhältnis zwischen in den Exporten enthalte-ner inländischer Bruttowertschöpfung und importierten Vor-leistungen stark zu Gunsten des Auslandes verschoben.1991 lag der (nominale) Importanteil der deutschen Expor-te noch bei 26,7%, stieg insbesondere zwischen 1995(29,7%) und 2000 (38,1%) stark an und erreichte 38,8% imJahr 2002.«

Hiernach lagen der Importanteil an den Exporten zuletztbei etwa zwei Fünfteln und der Inlandsanteil bei etwa dreiFünfteln. Manchmal wird argumentiert, der Name Basar-Ökonomie sei solange unangebracht, wie die Vorlieferungenaus dem Ausland noch bei weniger als 50% der Exporte lä-gen. So heißt es in einem populären Buch:23

»Der Inlandsanteil von drei Fünfteln zeigt …,wie falsch das von Sinn geprägte Bild eines»Basars« ist, das den Eindruck erwecken soll,bei unseren Exporten handele es sich über-wiegend um im Ausland produzierte Güter,die gerade noch mit dem Etikett »Made inGermany« versehen werden.«

Nun, ich wiederhole, dass ich hier keinesemantischen Diskussionen betreibe undselbst den Basar-Effekt anders, nämlich alsVerringerung der Fertigungstiefe zuguns-

ten des Auslandes, definiert habe. Es wird eine Tendenzbeschrieben und kein Zustand. Es sei aber der Hinweiserlaubt, dass die starke Zunahme der exportinduziertenVorleistungen, die das Statistische Bundesamt ausweist,impliziert, dass die marginale Importquote deutlich überder für das Jahr 2002 ausgewiesenen durchschnittlichenQuote von 38,8% liegen muss. Schon die Abbildung 6,die sich auf das gesamte verarbeitende Gewerbe be-zieht und nur die Jahre 2003 und 1995 vergleicht, zeigt,dass die reale marginale Importquote bei 51%, also ganzknapp über 50%, liegt. Aber die Produktion des verar-beitenden Gewerbes ist ja nicht mit dem Export gleich-zusetzen.

Die relevanten Daten für die Exporte und exportinduziertenVorleistungen, die der gerade zitierten Aussage des Statis-tischen Bundesamtes zugrunde liegen, werden in Abbil-dung 7 mitsamt einer einfachen Regressionsgeraden dar-gestellt. Dabei stehen leider nur Datenpunkte für die vier Jah-re zur Verfügung, für die das Statistische Bundesamt seineBerechnungen durchgeführt hat. Das ist für eine statistischeInterpretation normalerweise zu wenig. Andererseits werdenhier Grundgesamtheiten und nicht nur Stichproben be-trachtet, und zudem liegen die vier Datenpunkte ziemlichgenau auf einer Geraden. Die Streuung um die Regressi-onsgrade ist praktisch null.

Die Steigung der Regressionsgeraden ist 0,55. Das be-deutet, dass ein Exportanstieg um einen Euro eine Zu-nahme der exportinduzierten Vorleistungsimporte um 55Cent und eine Zunahme der inländischen Wertschöpfungum nur 45 Cent impliziert. Auch wenn man den Basar-Ef-fekt als Zustandsbeschreibung statt, wie ich, als Ten-denzaussage versteht, liegt insofern also bereits ein mar-ginaler Basar-Effekt vor. Deutlich mehr als die Hälfte des

Abb. 7

22 Statistisches Bundesamt, Volkswirtschaftliche Ge-samtrechnungen. Input-Output-Rechnung. Import-abhängigkeit der deutschen Exporte 1991, 1995, 2000und 2002, Wiesbaden 2004.

23 P. Bofinger, Wir sind besser, als wir glauben. Wohl-stand für alle, Pearson Studium, München 2004.

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zusätzlichen Exports geht postwendend in zusätzliche Vor-leistungsimporte.24

Im Übrigen ist die durchschnittliche Vorleistungsquote in denletzten Jahren so rasch gestiegen, dass auch sie bei einerFortsetzung des Trends bereits in etwa sechs bis sieben Jah-ren über 50% liegen wird.

Dass die reale marginale Importneigung im Hinblick auf denExport bei 55% liegt, während die durchschnittliche Im-portneigung zuletzt bei 39% lag25, impliziert, dass die so ge-nannte Elastizität des Imports bezüglich des Exports, die derQuotient aus diesen Zahlen ist, den Wert 1,42 hat. Eine Er-höhung des Exports um 1% erhöht also die exportinduziertenImporte derzeit um 1,42%.

Dies wird in der Zeichnung durch die gestrichelte Geradeverdeutlicht, die vom gedanklichen Ursprung des Diagrammsin etwa durch die Mitte der Regressionsgeraden führt. Dadie Regressionsgerade die Ursprungsgerade von untenschneidet, muss die Elastizität des Vorleistungsimports be-züglich des Exports größer als eins sein.

Eine reale marginale Erhöhung der exportinduzierten Wert-schöpfung im Hinblick auf das Exportvolumen in Höhe von45% im Verein mit einem durchschnittlichen Anteil der in-ländischen exportorientierten Wertschöpfung am Export-volumen von 61% bedeutet darüber hinaus, dass die Elas-tizität des Exports bezüglich der Wertschöpfung in den Ex-portsektoren bei 61/45, also 1,36, liegt. Eine Erhöhung derWertschöpfung für den Export von 1% impliziert also eineZunahme des Exportvolumens von 1,36%. Eine stärkereSpezialisierung Deutschlands, die die für den Export arbei-tenden Produktionsfaktoren vermehrt und deshalb die Wert-schöpfung im Export vergrößert, führt wegen des Basar-Effekts zu einer überproportionalen Ausweitung des Ex-portvolumens, die weit über die Steigerung der Wert-schöpfung hinausgeht.

Wichtig ist für diesen Zusammenhang, dass sich die deut-sche Industrie tatsächlich auf die kundennahen Endstufender mehrgliedrigen Produktionsprozesse spezialisiert. Wenndort immer mehr Wertschöpfung für den Export stattfindet,dann müssen immer mehr Vorprodukte importiert werden,die mit den im Inland erstellten Produktteilen physisch ver-bunden und dann anschließend, gleichsam als Kuppelpro-

dukte, gemeinsam mit diesen wieder exportiert werden.Die exportorientierte Wertschöpfung in der Basar-Ökono-mie erzeugt also quasi im Huckepackverfahren einen Durch-fluss von Waren durch das exportierende Land, der sich ineiner überproportionalen Erhöhung der Exporte und Im-porte äußert. Eine Spezialisierung auf kundenferne Teile derProduktionskette, also die Upstream-Aktivitäten, hätte die-se Wirkung nicht. Sie würde zwar auch die exportinduzier-te Wertschöpfung erhöhen, doch ginge damit kein über-proportionaler Anstieg des Exportvolumens einher.

Der Basar-Effekt hat übrigens erhebliche Bedeutung für dieKonjunkturübertragung vom Ausland in das Inland. Im Jahr2004 boomte die Weltwirtschaft wie seit 28 Jahren nichtmehr, und der deutsche Export zog um 8,6% an, aber diedeutsche Wirtschaft machte den Boom trotzdem nicht mit.Da der deutsche Export 36% des Bruttoinlandsproduktsausmacht, hätte man auf den ersten Blick ein nachfragein-duziertes Wachstum der deutschen Wirtschaft von 3,1%(36% von 8,6%) erwarten können. Berücksichtigt man aber,dass sich nur 45% der zusätzlichen Exportnachfrage im In-land direkt in eine erhöhte Wertschöpfung übertragen, er-gibt sich ein Wachstumseffekt von nur noch 1,4% (45%von 3,1%). Auch dies ist einer der Gründe, warum die deut-sche Wirtschaft im Jahr 2004 am Boom der Weltwirtschaftnur in sehr geringem Maße teilhatte und insgesamt nur um1,6% wuchs.26 Dies bestätigt vom Grundsatz her die Argu-mentation der volkswirtschaftlichen Abteilung der HVB inMünchen, nach der der Basar-Effekt zur Entkoppelung zwi-schen deutscher Konjunktur und Weltkonjunktur beiträgt.27

Auch der Sachverständigenrat hat sich den Befund des Sta-tistischen Bundesamtes zu Eigen gemacht.28 Er zitiert dieZahlen zwar mit dem Distanz signalisierenden Satz:

»Überspitzt wird dies als Tendenz zur Basar-Ökonomie be-zeichnet.«

(Mit fast den gleichen Worten, so als stammte dieser Satzaus der gleichen Feder wie der Text des Sachverständi-genrates, äußert sich das Statistische Bundesamt in einerinternen Mitteilung vom 5. Januar 2005.) Wie die weiterenAusführungen des Rates zeigen, bezieht sich die Distanz je-doch nicht auf den Befund als solchen, sondern nur aufden negativen Unterton des Wortes Basar-Ökonomie. Vonder Sache her konzediert der Rat, dass der Basar-Effekt

24 Dabei ist zu beachten, dass es sich hierbei nur um die vom Export selbstinduzierten Vorleistungsimporte inklusive der durchgeleiteten Handels-waren handelt. Importe von Vorleistungen für inländische Produktion so-wie Importe von Endprodukten und Dienstleistungen für den Endverbrauchsind in dieser Rechnung nicht erfasst.

25 Man beachte, dass der vom Statistischen Bundesamt gelieferte Durch-schnittswert sowohl ein realer als auch ein nominaler Wert ist. Die Unter-scheidung zwischen realen und nominalen Werten ist nur bei den Margi-nalgrößen relevant. So würde eine Erhöhung der Inflation den margina-len nominalen Wert gegen den durchschnittlichen Wert treiben, währendletzterer unverändert bliebe.

26 Der Wert wird freilich durch einen anders begründeten Anstieg beim Im-port von Endprodukten noch weiter vermindert und durch andere positi-ve Effekte, insbesondere einen Wiederaufbau von Lägern, vergrößert.

27 A. Rees, »Basar Ökonomie und Konjunktur«, Vortrag im ifo Institut für Wirt-schaftsforschung am 29. September 2004, bzw. vgl. auch: »Die Basar-ökonomie kann Arbeitsplätze retten«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.Juni 2004, S. 13.

28 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Ent-wicklung, Erfolge im Ausland – Herausforderung im Inland, Jahresgut-achten 2004/05, Wiesbaden 2004, S. 359.

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»… zumindest teilweise eine mögliche Er-klärung bieten (kann), dass die positive au-ßenwirtschaftliche Entwicklung in den zu-rückliegenden Jahren nicht die allgemein er-wartete Initialzündung für die binnenwirt-schaftliche Belebung war.«29

Dessen ungeachtet betont der Rat zu Recht,dass der Exporteffekt auf die Konjunktur persaldo positiv war.

Der Sachverständigenrat erweitert die Ana-lyse des Statistischen Bundesamtes inso-fern, als er zeigt, dass nicht nur der Anteil derimportierten Vorleistungen an der Gesamt-heit der deutschen Exporte steigt, sondernauch der Anteil der importierten Vorleistun-gen an den Exporten des verarbeitenden Ge-werbes:30

»Der Importanteil der Exporte des Verarbei-tenden Gewerbes im Zeitraum der Jahre 1991 bis 2000 –aktuellere Daten stehen auf der sektoralen Ebene für eine In-put-Output-Analyse nicht zur Verfügung – stieg merklich von26,7vH auf 38,1vH an.«

Interessanterweise entsprechen diese Zahlen ziemlich ge-nau den oben zitierten Zahlen für den Export aller Sek-toren.

Wie man es auch dreht und wendet: Es kann als gesi-chert gelten, dass sich die Fertigungstiefe der deutschenWirtschaft in den letzten Jahren durch eine Produktions-verlagerung ins Ausland extrem stark verringert hat. Dasgilt für

– das verarbeitende Gewerbe (ifo), – für die Exportwirtschaft im Ganzen (Statistisches Bun-

desamt) und auch – für die Exportwirtschaft innerhalb des verarbeitenden Ge-

werbes (Sachverständigenrat).

Damit ist die Basar-Hypothese entgegen der Vermutungder Autoren der Financial Times Deutschland und von Mor-gan Stanley zweifelsfrei bestätigt worden. Massiver alsdurch solche Zahlen kann der statistische Nachweis nichtgeführt werden.

4. Sind alle Länder gleich betroffen?

Nun kann man natürlich darauf verweisen, dass der fürDeutschland nachgewiesene Basar-Effekt auch anderswozu beobachten ist. Das ist die Position, die die Financial Times Deutschland anschließend vertreten hat. So schriebsie:31

Es »…deutet nichts darauf hin, dass die Verlagerung vonProduktionsteilen ins Ausland in Deutschland ein größeresMaß erreicht hätte als im Rest der Welt.«

Richtig daran ist, dass Deutschland im Vergleich zu ande-ren Ländern noch immer einen hohen eigenen Wertschöp-fungsanteil an seiner Industrieproduktion aufweist. Dank derSpezialisierung auf die Industrieproduktion, die traditionelldie deutsche Stärke war, benötigte die Industrie bislang we-niger Vorleistungen aus dem Ausland als die Industrien dermeisten anderen Länder. Außerdem ist Deutschland ein gro-ßes Land, und große Länder haben naturgemäß einen ver-gleichsweise kleinen Anteil importierter Vorleistungen.

Dabei handelt es sich um eine einfache geometrische Ge-setzmäßigkeit. Um sie zu verstehen, nehme man die Land-karte Europas und zeichne einen Kreis um einen beliebigenPunkt, um so die Lage und Größe eines fiktiven Landes dar-zustellen. Je kleiner der Radius, desto größer ist das Ver-hältnis von Kreisumfang und Kreisfläche, desto größer wirdalso der Anteil der grenzüberschreitenden Vorleistungen ander Produktion des Landes sein.

Aber das hohe Eigenleistungsniveau der deutschen Indus-trie geht im internationalen Vergleich besonders schnell zu-rück. Abbildung 8 zeigt, dass die Fertigungstiefe der deut-schen Industrie wesentlich schneller fällt als jene der ande-ren alten EU-Länder. Während der Abstand zwischenDeutschland und den anderen EU-Ländern im Jahr 1991noch bei 4,7 Prozentpunkten gelegen hatte, betrug er im

Abb. 8

29 Sachverständigenrat, a.a.O., Textziffer 467. 30 Sachverständigenrat, a.a.O., S. 361 f. 31 S. Dullien, »Die Welt wird zum Basar«, Financial Times Deutschland,

9. Juli 2004, S. 26.

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Jahr 2001 nur noch 2,6 Prozentpunkte. Deutschland ver-liert seine Sonderstellung und konvergiert gegen den Durch-schnitt der anderen EU-Länder, obwohl es als größtes EU-Land wegen des beschriebenen geographischen Effekteseigentlich dauerhaft eine höhere Fertigungstiefe behaltenmüsste, wenn die geographische Verflechtung seiner Un-ternehmen sich nicht von jener der anderen Länder unter-scheidet. Die Zukunft wird erweisen, wie weit dieser Kon-vergenzprozess tatsächlich führt. Bislang ist die deutscheSonderentwicklung jedoch unübersehbar.

Informativ ist in diesem Zusammenhang auch ein Vergleichmit anderen großen Ländern. Die türkisfarbene Kurve derAbbildung zeigt die Entwicklung der durchschnittlichen Fer-tigungstiefe in den USA, Japan, Großbritannien und Frank-reich. Man sieht, dass Deutschland Anfang der neunzigerJahre eine um etwa 2,25 Prozentpunkte höhere Ferti-gungstiefe als diese Länder hatte, dann aber im Jahr 1998gleichzog und inzwischen am aktuellen Rand um 2,5 Pro-zentpunkte unter diesen Ländern liegt. Auch dieser Vergleichbestätigt, dass das Phänomen in Deutschland stärker aus-geprägt ist als anderswo.32

Einen dritten Beleg für einen deutschen Sonderweg findetman in der Information, die in Tabelle 1 zusammengefasstist. Die Tabelle, die sich auf alle EU-Länder bezieht, für dieEurostat entsprechende Daten zur Verfügung stellte, zeigt,dass die aus dem Ausland bezogenen Vorleistungen der eu-ropäischen Volkswirtschaften in der Zeitspanne von 1995

bis 2000 überall zunahmen. Dies deutet darauf hin, dass derBasar-Effekt in allen betrachteten Ländern zu beobachtenwar. Indes lag die Zunahme in Deutschland mit 6 Prozent-punkten an der Spitze, vor Schweden mit 5 Punkten unddeutlich über dem Durchschnitt von 3,7 Punkten.

5. Auf die Faktormärkte kommt es an

Die bislang dargestellten Fakten zeigen unzweifelhaft, dassder Basar-Effekt die Entwicklung des verarbeitenden Ge-werbes in Deutschland mindestens seit Mitte der neunzigerJahre kennzeichnet und dass dieser Effekt hier zu Landestärker wirkt als anderswo. Die Fertigungstiefe des verar-beitenden Gewerbes hat sich speziell in Deutschland mit ge-radezu dramatischem Tempo verringert. Die Fakten lassenaber noch keine ökonomische Bewertung dieser Entwick-lung zu.

Zwar ist das Bild des verglühenden Kerns der deutschenWirtschaft, das Gabor Steingart im Hinblick auf die Pro-duktionsverlagerung ins Ausland gezeichnet hat, eine inte-ressante Zuspitzung.33 In der Tat ist es die Industriearbeit,durch die Deutschlands Wirtschaft stark geworden ist. Ander Industrie hängt unser Wohlstand wie an keinem ande-ren Sektor. Wenn sie verloren geht, wird es schwer fallen,Ersatz zu finden.

Dennoch gibt es Argumente, die der Entwicklung zur Ba-sar-Ökonomie positive Aspekte abzugewinnen in der Lagesind. So wird häufig angeführt, dass sich die deutschenUnternehmen durch das Outsourcing gegenüber der Nied-riglohnkonkurrenz aus Fernost behaupten und Arbeitsplät-ze retten, die sonst verloren gegangen wären. Die Booteschwimmen weiter, weil sie Ballast abwerfen. Dieses etwassarkastische betriebswirtschaftliche Argument ist schon des-halb volkswirtschaftlich nicht überzeugend, weil es dasSchicksal des Ballastes außer Acht lässt.

Wichtiger ist stattdessen die Möglichkeit, die ich in meinemBuch entwickle, dass auch die deutsche Volkswirtschaftals Ganze erhebliche Vorteile aus dem Basar-Effekt zieht,weil er eine Verbesserung der internationalen Arbeitsteilungdarstellen könnte. Im Prinzip kann die Basar-Ökonomie un-serem Land nämlich Spezialisierungsvorteile verschaffen.

Tab. 1

Der Anteil ausländischer Vorprodukte

an allen Vorprodukten der Wirtschaft (%)

Jahr Anteil in %

Zunahme desAnteils in

Prozentpunkten

Italien 1995 17

2000 19 + 2

Dänemark 1995 22

2000 26 + 4

Finnland 1995 20

2000 24 + 4

Niederlande 1995 29

2000 30 + 1

Österreich 1995 25

2000 29 + 4

Schweden 1995 23

2000 28 + 5

Deutschland 1995 20

2000 26 + 6

Alle Werte beziehen sich auf die Gesamtwirtschaft.Erfasst sind alle Länder, für die Eurostat Daten zurVerfügung gestellt hat.

Quelle: Eurostat, CIRCA Datenbank.

32 Vgl. auch B. Diekmann, M. Meurers und N. Felgentreu, BasarökonomieDeutschland?, Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, Wirtschafts-analysen, Nr. 4, Berlin, Oktober 2004. Die Autoren des Wirtschaftsminis-teriums zeigen die Daten, kommen aber zu einem erstaunlich ambivalen-ten Schluss. Einerseits schreiben sie auf S. 9 ihres Berichtes: »Gemessenam Durchschnitt der betrachteten Länder … zeigt sich, dass die Wert-schöpfungsquote in Deutschland seit 1995 überproportional zurückgingund seit 2000 unter dem Schnitt (einschließlich Deutschlands, HWS) liegt.«Andererseits kommen sie zu dem Schluss, dass es keinerlei Anzeichengebe, dass die Outsourcing-Intensität in Deutschland besonders hoch sei.

33 G. Steingart, Deutschland: der Abstieg eines Superstars, Piper, München2004.

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Deutschland hat die Chance, sich zur zentralen Handels-drehscheibe zwischen Ost und West zu entwickeln und ausdem Betrieb dieser Drehscheibe neue Einkommen zu erzie-len. Neben die Wertschöpfung aus eigener Produktion trittdie Wertschöpfung durch Handelsaktivitäten und sichert denWohlstand der Deutschen.34 Deutschland könnte sich einstückweit in Richtung Hongkong entwickeln und im Großennachholen, was Hongkong im Kleinen vorgemacht hat. Zu-gegeben: Man muss seine Phantasie bei diesem Vergleichetwas strapazieren. Aber das Bild wird überzeugender, wennman den Begriff Basar weiter fasst und die Planung und Or-ganisation industrieller Großanlagen, deren Komponenten zu-nehmend auch im Rest der Welt einkauft werden, sowie krea-tive Produktentwicklungen mit einer kundennahen Endmon-tage einbezieht. Unser Land liegt an der Nahtstelle zwischenOst und West. Es verfügt über eine umfangreiche Palettehochwertiger Industrieprodukte, deren Vielfalt von kaum ei-nem anderen Land der Erde übertroffen wird. Das Land derstillen Stars im Mittelstand hat tatsächlich die Chance, seinGeld als ein um eine gewisse Endproduktion erweiterter Ba-sar der Welt oder doch Europas zu verdienen. Deutschlandwäre dann in der Lage, die großen Vorteile, die es schon inden vergangenen zwei Jahrhunderten aus dem internatio-nalen Handel ziehen konnte, noch weiter zu vergrößern.

Das sind indes nur Möglichkeiten. Damit weitere Wohlfahrts-gewinne aus der Verbesserung der internationalen Arbeits-teilung Realität werden, braucht ein Land gut funktionieren-de Faktormärkte für Arbeit und Kapital, die den raschen Struk-turwandel ermöglichen und die Vollbeschäftigung der Fakto-ren sicherstellen. Strukturwandel und Spezialisierung heißtnämlich, dass einzelne Branchen schrumpfen, um anderenPlatz zu machen. Die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapi-tal müssen aus den schrumpfenden Wirtschaftssektoren indie wachsenden wandern. Ohne solche Wanderungen sindHandelsgewinne aus der Spezialisierungkaum möglich. Dieser Aspekt wird in der öf-fentlichen Diskussion immer wieder überse-hen, ist aber von zentraler Bedeutung für dieAnalyse der Wohlfahrtseffekte der Globalisie-rung im Allgemeinen und des Outsourcingund Offshoring im Besonderen. Wenn sichDeutschland auf Basar-Leistungen speziali-siert, dann wandern immer mehr Produk-tionsfaktoren, also Arbeit und Kapital, in ba-sar-ähnliche Produktionsprozesse mit der Fol-ge, dass deren Wertschöpfung steigt, wäh-rend die Wertschöpfung anderswo fällt.

Wohlfahrtsgewinne kann man in der Regeldann unterstellen, wenn die Produktions-

faktoren schnell zwischen den Sektoren wandern und trotzder Wanderung voll beschäftigt bleiben. Ferner muss sichdie Preisstruktur durch die Aufnahme des Handels von derPreisstruktur bei Autarkie wegbewegen, denn nur, wenn die-se Bedingung erfüllt ist, kann das Land im Ausland Import-güter billiger kaufen, als es dieses Güter selbst hätte her-stellen können. Ob sich die Preisstruktur von der Autarkie-situation entfernt, ist nicht leicht festzustellen, weil das einekontrafaktische Analyse verlangt. Leichter ist das Kriteriumder Vollbeschäftigung der Produktionsfaktoren und ihrerraschen Wanderung zwischen den Sektoren zu überprüfen.

Betrachten wir zunächst den Kapitalmarkt. Der Finanzkapi-talmarkt ist zwar grundsätzlich flexibel, doch kommt es aufdas physisch investierte Realkapital und nicht auf das Fi-nanzkapital an. Bereits investiertes Realkapital ist nicht mehrbeweglich. Um die Kapitalstruktur zwischen den Sektoren zuverändern, bedarf es neuer realer Investitionen, denn nur siesind disponibel. Am besten ist es, wenn die Wirtschaft schnellwächst, denn dann sind die Investitionen besonders groß, undschon nach kurzer Zeit besteht der Kapitalstock überwie-gend aus neuem Kapital. Wenn der Kapitalstock nicht wächst,sind Verschiebungen in der Sektorstruktur zwar auch mög-lich, weil man in den schrumpfenden Sektoren auf Investitio-nen zum Ersatz der Abschreibungen verzichten und die Brut-toinvestitionen anderswo vornehmen kann, aber die Verän-derung der Sektorstrukturen gelingt entsprechend langsam.Dies ist insbesondere bei Immobilieninvestitionen ein Problem,die in der Regel eine sehr lange Kapitalbindung haben.

Das für den Strukturwandel wichtige Wachstum des Kapi-talstocks kann durch die Nettoinvestitionsquote bezüglichdes Nettoinlandsprodukts gemessen werden. Die Nettoin-vestitionsquote ist, wie Abbildung 9 zeigt, in Deutschlandheutzutage extrem niedrig. Noch in der ersten Hälfte der

Abb. 9

34 Vgl. H.-W. Sinn, Ist Deutschland noch zu retten?, a.a.O.,Kap. 2, Abschnitt: »Internationale Arbeitsteilung: vonder Globalisierung profitieren« sowie H.-W. Sinn, Ko-lumne: »Basarökonomie Deutschland«, Financial Times Deutschland, 17. September, 2004, S. 38.

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neunziger Jahre lag sie beim OECD-Durchschnitt und überdem niedrigeren Durchschnitt der anderen EU-Länder. Dochseit dem Jahr 2000 liegt sie nun sogar unter dem EU-Durch-schnitt. Sie ist, wie Abbildung 10 zeigt, im Jahr 2003 auf denzweitniedrigsten Wert aller OECD-Länder gefallen. Das zeigt,dass sich der Kapitalstock in Deutschland nur noch sehrlangsam vergrößert und folglich auch die Möglichkeiten,die Sektorstrukturen schnell an die Notwendigkeiten einerglobalisierten Wirtschaft anzupassen, gering sind.

Die in den Diagrammen erfassten Investitionen umschlie-ßen sowohl private als auch staatliche Investitionen in Aus-rüstungen, Fabrikgebäude, Wohnbauten und sonstige An-lagen. Der negative Trend umfasst alle diese Komponen-ten. Zwar fielen die staatlichen Bruttoinvestitionen seit 1991etwas stärker als die privaten Bruttoinvestitionen, doch kanndas den Trend schon deshalb nicht erklären, weil diese In-vestitionen nur etwa ein Zehntel aller Anlageinvestitionenumfassen.35 Hinter dem Trend steckt vor allem, dass dieBauinvestitionen und insbesondere auch die privaten Aus-rüstungsinvestitionen zurückgingen. Die Ausrüstungsin-vestitionen sind jene Komponente der privaten Investitio-nen, die seit 1991 nicht nur in Relation zu den Produk-tionsaggregaten, sondern sogar nominal fiel.36 Es fehlt inDeutschland insbesondere an Investitionen in neue Ma-schinen und Fabrikationsanlagen, die neue Arbeitsplätzemit sich bringen.

Der deutsche Arbeitsmarkt entspricht demBild eines raschen Wandels in der Sektor-struktur ebenfalls nicht. Relativ günstig wä-re die Situation, wenn die Industriebeschäf-tigung selbst konstant bliebe, etwa weil inden Basaren so viel zusätzliche Beschäfti-gung entsteht, wie in den vorgelagerten Pro-duktionsstufen verloren geht. Ist das der Fall,liegt die Vermutung eines wohlfahrtsstei-gernden internationalen Handels nahe.

Aber selbst wenn das nicht der Fall ist, könn-te der Beschäftigungsabbau in der Industrieimmer noch von Vorteil für Deutschland sein,weil in anderen Sektoren neue, bessere Ar-beitsplätze entstehen. Da billige Industriear-beiter in Polen, China und sonst wo auf derWelt verfügbar sind, könnte Deutschland in-sofern profitieren, als die bei der Verringe-rung der Fertigungstiefe frei gewordenendeutschen Arbeitskräfte für Tätigkeiten au-ßerhalb der Industrie eingesetzt werden, dievon den ausländischen Industriearbeiternnicht erledigt werden können. So ist vor-

stellbar, dass Deutschland gewinnt, weil es sich auf denExport industrienaher Dienstleistungen spezialisiert und dortneue Arbeitsplätze schafft. Ebenso ist vorstellbar, dass im-portierte Industriegüter so billig werden, dass nur wenig imAusgleich exportiert werden muss, was die Verwendung dervon der Industrie freigesetzten Arbeitnehmer bei lokalenDienstleistungen oder im Bau ermöglicht.

Aber die Realität des deutschen Arbeitsmarktes sieht andersaus. Allenfalls die Hälfte des Bildes vom raschen Struktur-wandel erkennt man in den Statistiken, nämlich die schrump-fende Beschäftigung im verarbeitenden Gewerbe. Von 1991bis 2003 gingen im verarbeitenden Gewerbe bald 3 Millionen(2,84 Mill.) Arbeitsplätze oder 27% verloren. Dies ist der stärks-te prozentuale Rückgang in allen OECD-Ländern. Der Rück-gang war sogar noch etwas stärker als in Japan, das in die-ser Zeit unter einer großen Wirtschaftskrise litt.

Bei der Interpretation des deutschen Wertes muss man zwarbedenken, dass er auch mit dem Rückgang der industriel-len Arbeit in den neuen Ländern zu tun hat. Doch kann das,wie man leicht erkennen kann, wirklich nur ein Teil der Er-klärung sein. Trotz der Integration von rund 2 Millionen imostdeutschen verarbeitenden Gewerbe beschäftigten Ar-beitnehmern lag nämlich die gesamtdeutsche Beschäftigungim verarbeitenden Gewerbe im Jahr 2003 um 855 000 Per-sonen oder 9,9% unter dem Niveau, das allein West-deutschland im Jahr der Vereinigung (1990) hatte. Der Rück-gang der Beschäftigung im westdeutschen verarbeitendenGewerbe (einschließlich Westberlin) in der Zeit 1991 bis 2003betrug circa 1,9 Millionen Personen oder 22%. Abbildung 11verdeutlicht diese Zusammenhänge.

Abb. 10

35 Die staatlichen Bruttoanlageinvestitionen umfassten im Jahr 2004 nur8,1% aller Bruttoanlageinvestitionen (1991: 11,5%); vgl. Statistisches Bun-desamt, Fachserie 18, Reihe 3, 4. Vierteljahr 2004, Tab. 3.8 und Tab. 3.10.

36 Statistisches Bundesamt, Fachserie 18, Reihe 1.1, Februar 2005, Tab. 3.8und Tab. 3.10.

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Dass der deutsche Beschäftigungsrückgang tatsächlichmit den Lohndifferenzen zwischen Osteuropa und West-europa zu tun hat, ist nicht selbstverständlich. Grund-sätzlich könnten hierfür auch irgendwelche anderen zeit-gleich stattfindenden Effekte verantwortlich sein. Der um-fangreiche Mikrodatensatz, den die Deutsche Bundesbankzu den Direktinvestitionen deutscher Unternehmen in Nied-riglohnländern aufgebaut und erst kürzlich für die For-schung freigegeben hat, erlaubt eine Klärung dieser Fra-ge. So wurde in einer umfassenden ökonometrischen Stu-die des ifo Instituts festgestellt, dass deutsche Direktin-vestitionen in Osteuropa im Hinblick auf die im Auslandentstehenden Arbeitsplätze enge Substitute deutscher Ar-beitsplätze sind. Die Schaffung von Arbeitsplätzen in Ost-europa geht nach dieser Studie mit einer Senkung der Be-schäftigung hier zu Lande einher, und nicht etwa mit ei-ner Erhöhung, wie manchmal behauptet wird.37 Nach derifo-Studie führt eine einprozentige Lohnerhöhung inDeutschland, gegeben die Löhne der Ost-europäer, zu einer 2,1-prozentigen Be-schäftigungszunahme in den osteuropäi-schen Niederlassungen dieser Unterneh-men. Und umgekehrt führt eine Lohnsen-kung in Osteuropa um 1% bei gegebenemdeutschen Lohn zu einer Abnahme derdeutschen Beschäftigung um 0,05%.

Das alles kann nicht wirklich verwundern,denn die Vorstellung, dass es sich bei dervielfach beklagten Verlagerung von Jobsaus der deutschen Industrie nach Osteu-

ropa um eine optische Illusion handelnkönnte, die einer ökonometrischen Unter-suchung nicht standhält, wäre denn dochzu euphemistisch.

Der wahre Test für einen effizienten Struk-turwandel liegt in der Entwicklung der Be-schäftigung in den anderen Sektoren, dienicht oder nicht so sehr vom Outsourcingund Offshoring betroffen sind. Sie müssenso viele zusätzliche Stellen bereitstellen, wiedurch den Stellenabbau in der Industrie ver-loren gehen, wenn dieser StrukturwandelDeutschland zum Vorteil gereichen soll. Lei-der besteht die deutsche Wirtschaft diesenTest nicht, denn im Rest der Wirtschaft sinddie zur Kompensation des im verarbeiten-den Gewerbe zurückgehenden Beschäfti-gungsvolumens notwendigen neuen Stel-len nicht entstanden.

Dies zeigt sich ansatzweise bereits an der Entwicklung derArbeitslosenquote, also des Anteils der gemessenen Ar-beitslosen an den zivilen Erwerbspersonen. Im Zeitraum vom1995 bis 2004 nahm diese Quote in Westdeutschland von8,1% auf 8,5% und in Gesamtdeutschland von 9,4% auf10,5% zu.

Die Arbeitslosenquote ist jedoch insofern ein nur grobesMaß, als sie durch Frühverrentungsmodelle, Teilzeitjobssowie Umdefinitionen der Arbeitslosigkeit in den letztenJahren erheblich modifiziert wurde. Deutlicher wird derSachverhalt, wenn man, wie es in Tabelle 2 geschieht,die Veränderung der Zahl der in der Industrie geleistetenStunden mit der Veränderung der Zahl der im Rest derWirtschaft geleisteten Stunden vergleicht, wobei zusätz-lich die Erhöhung der Zahl der Arbeitstage durch Kalen-

Abb. 11

Tab. 2 Sektorwanderungen 1995 bis 2004, Industrie (Produzierendes Gewerbe ohne Bau) vs. Rest der Wirtschaft*

1) Veränderung Beschäftigungsvolumen Industrie

– 2,074 Mrd. Std.

2) Veränderung Beschäftigungsvolumen Rest der Wirtschaft – 0,048 Mrd. Std.

3) Nettoveränderung des gesamten

Beschäftigungsvolumens: 1) + 2) – 2,122 Mrd. Std.

4) Nettoveränderung des gesamten

Beschäftigungsvolumens in Vollzeitäquivalenten (Basis 2000)

– 1,29 Mill. Personen

5) Relative Nettoveränderung des gesamten Beschäftigungsvolumens – 3,7%

*Bereinigt um Arbeitstageeffekte, Basis 2000.

Quellen: Statistisches Bundesamt, Fachserie 18, Reihe 1.1; Institut für

Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Kurzbericht 17/2004; Berechnungen des ifo Instituts.

37 Siehe S. Becker, K. Ekholm, R. Jäckle und M.-A.Muendler, »Location Choice and Employment Decisions: A Comparison of German and SwedishMultinationals«, a.a.O.

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dereffekte herausgerechnet ist.38 Leider stellt das Statis-tische Bundesamt das Arbeitsvolumen nur unter Ver-wendung einer gröberen Wirtschaftsgliederung zur Ver-fügung. Das dem verarbeitenden Gewerbe am nächstenkommende Aggregat in der Arbeitsvolumenstatistik ist das»produzierende Gewerbe ohne Baugewerbe«. Zum pro-duzierenden Gewerbe ohne Baugewerbe gehören ne-ben den Sektoren des verarbeitenden Gewerbes zusätz-lich die Sektoren »Bergbau und Gewinnung von Steinenund Erden« und »Energie und Wasserversorgung«. Fürdiese Definition der Industrie gibt Tabelle 2 den ge-wünschten Aufschluss.

Von 1995 bis 2004 sind, bereinigt um Kalendereffekte, improduzierenden Gewerbe ohne den Bausektor 2,07 Milli-arden Arbeitsstunden verschwunden, was 1,26 Millionenvollzeitäquivalenten Stellen entspricht, doch im Rest derWirtschaft entstand zum Ausgleich keinerlei neue Be-schäftigung. Vielmehr sank das Arbeitsvolumen dort eben-falls, wenn auch nur ganz leicht (– 30 000 vollzeitäquiva-lente Stellen). Insgesamt sind 2,12 Milliarden Arbeitsstun-den verschwunden, was zu durchschnittlichen Arbeitszei-ten des Jahres 2000 etwa 1,29 Millionen Vollzeitbeschäf-tigten entspricht.39

Wie sehr ein Blick auf die normalen Ar-beitsmarktstatistiken den Blick vernebelnkann, zeigt auch Abbildung 12, die die Ent-wicklung der offiziellen Zahl der Erwerbs-tätigen mit der Entwicklung der Zahl dervollzeitäquivalenten Beschäftigungsver-hältnisse vergleicht, die aufgrund der Sta-tistik über das Arbeitsvolumen berechnetwurden. So ist die Zahl der offiziell Er-werbstätigen seit 1991 praktisch unver-ändert geblieben, doch nahm die Zahl dervollzeitäquivalenten Stellen in der gleichenZeit um etwa 3 Millionen ab. Und währenddie offizielle Beschäftigung von 1995 bis2004 um 1,06 Millionen Personen zunahm,fiel die Zahl der Vollzeitäquivalente um dieoben schon zitierten 1,29 Millionen.

Es folgt also, dass es zwar Sektorwande-rungen aus den vorgelagerten Produkti-onsstufen heraus gegeben hat, die durchOutsourcing und Offshoring schrumpften.

Aber erstens sind in den Basaren zur Kompensation nichtgenug Stellen entstanden, so dass die gesamte Indus-triebeschäftigung fiel, und zweitens wanderten die in derIndustrie freigesetzten Arbeitskräfte netto nicht in andereSektoren der Wirtschaft, sondern in die Arbeitslosigkeitund damit großenteils zum Sozialstaat bzw. in staatlichgeförderte Mini-Beschäftigungsverhältnisse. Es hat zwarin den anderen Sektoren ebenfalls erhebliche Bewegun-gen gegeben. So sind im Dienstleistungsgewerbe vieleneue Stellen entstanden, während im Bausektor viele Stel-len verschwanden. Aber dennoch gab es dort per saldokeinerlei Ersatz für die in der Industrie verschwundenenStellen, wie man es auch dreht und wendet.40

Abb. 12

38 Im Jahr 2004 fiel eine ungewöhnlich große Zahl von Feiertagen auf dasWochenende. Die Berechnungen unterstellen ein Beschäftigungsvolumenin den Jahren 1995 und 2004, wie es unter sonst gleichen Vorausset-zungen realisiert worden wäre, wenn die Zahl der Arbeitstage so großwie im Jahr 2000 gewesen wäre, das im Hinblick auf die Zahl der auf dasWochenende entfallenden Feiertage ein Normaljahr war. Vgl. auch Abb. 12.

39 Das Jahr 2000 wurde als Basisjahr gewählt, weil dort die Zahl der Feier-tage, die auf das Wochenende entfielen, etwa dem langfristigen Durch-schnitt entsprach.

40 In einer bislang unveröffentlichten Studie des Instituts der deutschenWirtschaft wird ein dem verarbeitenden Gewerbe vorgelagerter Vorleis-tungsverbund identifiziert, in dem neue Stellen entstanden sind. Rechnetman diesen Verbund dem verarbeitenden Gewerbe hinzu, so ergibt sichin einem solcherart erweiterten Aggregat seit 1995 möglicherweise keinBeschäftigungsabbau in Köpfen mehr. Indes muss dann der Beschäfti-gungsabbau in anderen, ausgegrenzten Sektoren umso größer sein. Ander Gesamtproblematik, insbesondere dem aggregierten Stellenverlust,wie er in Abbildung 13 dargestellt wird, ändert sich durch solche Umde-finitionen nichts. Der Anteil des »Vorleistungsverbunds« an der gesamt-wirtschaftlichen Bruttowertschöpfung ist nach Angaben des Instituts derdeutschen Wirtschaft von 5,1% im Jahr 1995 über 6,1% (2000) bis 2004auf 7,6% gestiegen. Im selben Zeitraum nahm der Anteil des verarbei-tenden Gewerbes ohne Vorleistungsverbund von 21,7% über 22,2% auf22,4% zu (vgl. oben Abbildungen 4 und 5). Die Summe aus beiden er-höhte sich damit nach IW-Angaben von 26,8% (1995) über 28,3% (2000)auf 30,0% (2004). Der Vergleichswert für 1991 wird mit 31,4% ausge-wiesen; die Angabe für 1995 bildet dabei das Minimum im gesamtenZeitraum. Nach Angaben in der Zeitschrift div-aktiv, die sich auf das Ins-titut der deutschen Wirtschaft bezieht, ist die Kopfzahl der Beschäftigten(keine Vollzeitäquivalente) in der so erweiterten Industrie zwischen 1994und 2004 von 9,9 Millionen auf 10,0 Millionen gestiegen, statt, wie amt-lich ausgewiesen, von 8,3 Millionen auf 7,3 Millionen gesunken. Vgl. IWDNr. 4 vom 21. Januar 2005 und U. von Lampe, »Job-Maschine Indus-trie«, Aktiv, 1/2005, S. 1, www.div-aktiv.de.

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Arbeitslosigkeit ist in den Lehrbuchmodellen, die Handels-gewinne aus der Spezialisierung versprechen, nicht vorge-sehen, denn stets sind Sektorwanderungen bei Vollbe-schäftigung gemeint. Dass die Chinesen, Polen und Tsche-chen nun anstelle deutscher Arbeiter die einfachere Indus-triearbeit erledigen, mag für sich genommen einleuchten,nicht aber, dass diese Arbeiter anschließend nichts mehr tunund im Zweifel vom Sozialstaat ihr Geld bekommen. Bei ei-ner solchen Änderung der Sektorstruktur kann das Out-sourcing und Offshoring schwerlich Handelsgewinne fürDeutschland erzeugen.

Wenn ein Land einen immer größeren Teil seines Arbeits-kräftepotentials ungenutzt lässt, kann es nur langsamwachsen. Wie Deutschland beim Wirtschaftswachstumim Vergleich zu anderen Ländern abschneidet, zeigt dieAbbildung 13. Man sieht, dass das deutsche Bruttoin-landsprodukt von 1995 bis 2004 real nur um 11,9%wuchs. Selbst Italien ist mit 14,0% noch schneller ge-wachsen, ganz zu schweigen von Ländern wie Großbri-tannien, Finnland oder Irland, die um 28,5%, 36,8% bzw.95,5% wuchsen. Das deutsche Wachstum lag nicht nurweit unter dem durchschnittlichen Wachstum der altenEU, das 21,0% betrug. Es war vielmehr mit der Ausnah-me Moldawiens das niedrigste in ganz Europa. Deutsch-land war einmal die Lokomotive des europäischen Ge-leitzuges. Jetzt ist es Schlusslicht.

Dabei resultiert das langsame Wachstum nicht aus dem Um-stand, dass die anderen europäischen Länder beim Pro-Kopf-Wert des Bruttoinlandsprodukts noch unter uns liegenund nun zu uns aufschließen, wie man manchmal hört. DasGegenteil ist der Fall. Viele der Länder, die schneller alsDeutschland wachsen, haben uns bereits überholt. Im Hin-blick auf das nominale, zu herrschenden Wechselkursen ge-

rechnete Sozialprodukt pro Kopf lag Frank-reich im Jahr 2004 um 1,2% über Deutsch-land, Großbritannien um 8,2%, Finnland um7,2% und Irland um 12,1%.41

Auch die deutsche Vereinigung kann nichtper se als Argument für das niedrige Wachs-tum herangezogen werden. Zwar sank dasgesamtdeutsche Sozialprodukt pro Kopfdurch die Vereinigung abrupt auf ein niedri-geres Niveau. Das ist ein Teil der Erklärungdafür, dass Deutschland bereits in jüngsterZeit von anderen Ländern überholt wurde.Aber das niedrige Wachstum erklärt es nicht,im Gegenteil. Eigentlich hätte die Vereinigungdas Wachstum in der Zeit nach der Über-windung der ostdeutschen Transformati-onskrise beschleunigen müssen, weil sichauf niedrigem Niveau leichter ein höheresWachstum als auf hohem Niveau erzielenlässt. Bei der Wachstumsrate hätte Ge-

samtdeutschland zumindest seit etwa 1995 rechnerisch da-von profitieren müssen, dass die neuen, noch rückständi-gen Länder sehr rasch zum Durchschnitt Westeuropas auf-schließen. Dass es dazu nicht kam, liegt nicht an der Verei-nigung selbst, sondern auch daran, dass die neuen Bun-desländer von Anfang an mit all den institutionellen Fehl-entwicklungen befrachtet wurden, unter denen auch die al-te Bundesrepublik leidet. Seit 1995 ist auch Westdeutsch-land (einschl. Berlin) für sich genommen langsamer ge-wachsen als jedes andere europäische Land außer Molda-wien, nämlich in den genannten neun Jahren nur um 12,1%.Und Ostdeutschland (ohne Berlin) ist mit nur 11,7% nochlangsamer als Westdeutschland gewachsen.42 Wie man esauch dreht und wendet: Die Wachstumszahlen sind dasreinste Desaster.

Insofern verstärken sich die Anhaltspunkte, dass Deutsch-lands Probleme mit der Unfähigkeit zu tun haben, die Her-ausforderung der Globalisierung zu bestehen. Außenhandelbedeutet Spezialisierung, und Spezialisierung bedeutet, dassTeile der Wirtschaft schrumpfen, um für den Import vonWaren und Dienstleistungen Platz zu schaffen. Ein Land, dases nicht schafft, die in den retardierenden Sektoren entfal-lenen Arbeitsplätze anderswo neu entstehen zu lassen,wächst eben kaum noch und fällt beim Einkommen hinterandere Länder zurück. Es muss etwas falsch machen.

Abb. 13

41 Schätzungen des ifo Instituts, basierend auf OECD, National Accounts2004.

42 Vgl. Arbeitskreis Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder, Brut-toinlandsprodukt nach Ländern, 1. Fortschreibung 2004 vom 8. Febru-ar.2005. Inzwischen wurde die Wachstumsrate für das reale Bruttoin-landsprodukt Deutschlands im Jahr 2004 von damals 1,7 auf 1,6% kor-rigiert; diese Korrektur ist in den Bundesländerergebnissen noch nicht ent-halten.

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6. Der deutsche Sozialstaat und das Gesetz desFaktorpreisausgleichs: Warum das Outsourcingzu weit geht

Der Grund für die Unfähigkeit des deutschen Arbeitsmark-tes, die für Handelsgewinne notwendigen Sektorwande-rungen zu ermöglichen, liegt in einer mangelnden Lohnfle-xibilität, die im Tarifrecht und im Sozialstaat seine Ursachehat und im Bewusstsein der Öffentlichkeit als Selbstver-ständlichkeit verhaftet ist. Löhne, so denken die meisten,müssen auch in der Marktwirtschaft nach Gerechtigkeits-vorstellungen festgelegt werden, und die haben wenig da-mit zu tun, ob die Polen und Chinesen nun ebenfalls amWelthandel beteiligt sind. Doch der Markt ist auf dem Augeder Gerechtigkeit blind. Er entlohnt nicht nach Verdienst,sondern nach Knappheit. Jeder Versuch, die Löhne anderszu strukturieren, als es das Gesetz der Knappheit diktiert,endet zwangsläufig in wirtschaftlichen Verzerrungen und Ar-beitslosigkeit. Wer diejenigen verteuert, denen der Markt vonalleine keine hohen Einkommen verschafft, bestraft sie durchArbeitslosigkeit. Das Gleiche tut derjenige, der die Löhnevon Menschen festzurren will, die sich nun der Niedriglohn-konkurrenz der Polen, Tschechen und Chinesen ausgesetztsehen.

Das Problem ist der so genannte Faktorpreisausgleich, dervon den Kräften der Globalisierung erzwungen wird.43 Da-mit ist gemeint, dass die Löhne der alten Industrieländer desWestens einem Konvergenzprozess unterworfen sind, andem auf der anderen Seite die Löhne der Marktwirtschaf-ten in Osteuropa und Asien beteiligt sind, also jener Länder,die seit dem Fall des Eisernen Vorhangs neu auf der Bild-fläche erschienen sind. Die Globalisierung schafft, auch oh-ne dass Menschen zwischen den Ländern wandern kön-nen, einen gemeinsamen Arbeitsmarkt mit den Chinesen,Polen, Tschechen und vielen anderen Niedriglohngebieten.Auf diesem gemeinsamen Arbeitsmarkt nähern sich die Löh-ne aneinander an.

Die Kräfte des Faktorpreisausgleichs wirken auf dem Wegeder internationalen Wissensübertragung, der Spezialisierungund der Faktorwanderungen zwischen den Ländern. Wennsich das technologische Wissen frei verbreitet, kommt derFaktorpreisausgleich großenteils schon dadurch zustande,

dass sich die kapitalreichen Hochlohnländer auf die kapi-talintensiven Güter und die kapitalarmen Niedriglohnländerauf die arbeitsintensiven Güter spezialisieren.44 Dadurch fälltdie Arbeitsnachfrage in den Hochlohnländern und steigt inden Niedriglohnländern, was eine Lohnkonvergenz impli-ziert. Verstärkt wird dieser Prozess, wenn auch das Kapitalvon den Hochlohnländern in die Niedriglohnländer wan-dert, denn dadurch wird die Nachfrage nach Arbeitskräftenin ersteren nochmals verringert und in letzteren nochmalsvergrößert. Unter gewissen Modell-Bedingungen reicht aberschon der reine Güterhandel aus, die völlige Angleichungder Faktorpreise zu bewirken. Der Faktorpreisausgleich zwi-schen Ländern mit ähnlichem technologischen Wissen isteines der Fundamentalgesetze der Ökonomie, das untersehr allgemeinen Bedingungen wirkt und eine sich mit eher-ner Notwendigkeit durchsetzende Tendenz darstellt, gegendie die deutsche Politik machtlos ist.

Abgeschwächt wird die Tendenz zum Faktorpreisausgleichnur durch den steten Strom neuer Erfindungen im Westen,sofern die Erfindungen zunächst dort realisiert werden. Aberdie faktische Diffusionsgeschwindigkeit für technologischeNeuerungen ist in der globalen Informationsgesellschafthoch. Nicht einmal Patente bieten den ArbeitnehmernSchutz, denn niemand hindert die Patentinhaber daran, ihrgeschütztes Wissen in Niedriglohnländern zu verwerten oderLizenzen an Firmen zu vergeben, die dort arbeiten. Bislanghat Deutschland seinen technischen Vorsprung gegenüberanderen westlichen Ländern zwar durch die Verwertung stetsneuer Erfindungen leidlich verteidigen können, doch der Ab-fluss von technischem Wissen in andere Länder war schonimmer groß. So gehörte Deutschland noch in den achtzigerJahren mit den USA und Japan zu den drei Ländern, vonderen gemeinsamen Erfindungen mehr als 50% des Wachs-tum der westlichen Welt erklärt wurden.45 Dass Deutsch-land seine Produktivitätsvorsprünge durch stets neue Erfin-dungen gegenüber den westlichen Ländern verteidigen kann,ist vielleicht noch denkbar. Hingegen ist kaum vorstellbar,dass die heute noch bestehenden Vorsprünge gegenüberden ehemals kommunistischen Ländern aufrechterhaltenbleiben können. Die Kräfte des Faktorpreisausgleichs wur-den erst durch den Fall des Eisernen Vorhangs frei gesetztund haben ihr Gleichgewicht noch nicht gefunden. Es ist,als ob zwischen zwei bislang getrennten Seen eine Schleu-se geöffnet worden wäre. Obwohl der Wasserstand in demeinen See durch einen kräftigen Zufluss neuen Wassersnachgefüllt wird, bleibt es ganz bestimmt nicht bei den rie-43 Das Gesetz des Faktorpreisausgleiches geht auf Eli F. Heckscher und Ber-

til Ohlin zurück, die schon 1919 bzw. 1933 dargelegt haben, wieso be-reits der Güterhandel selbst die Löhne und Kapitalerträge der beteiligtenLänder einander annähert. Vgl. E. F. Heckscher, »The Effect of ForeignTrade on the Distribution of Income«, Economisk Tidskrift 21, 1919; B. Ohlin, Interregional and International Trade, Harvard University Press,Cambridge, Mass. 1933. Unter Heckscher-Ohlin-Theorem wird meist dervon Paul A. Samuelson (»International Factor Price Equalization OnceAgain«, Economic Journal 59, 1949, S. 181 ff.) formalisierte Ansatz ver-standen. Zu einer politischen Diskussion des Faktorpreisausgleichs imZusammenhang mit der Globalisierung vgl. man H.-W. Sinn, Das Dilem-ma der Globalisierung, Walter Adolf Jöhr-Vorlesung 2004, Forschungs-gemeinschaft für Nationalökonomie, Hrsg., Universität St. Gallen.

44 Wilhelm Kohler hat gezeigt, dass der Faktorpreisausgleich im Falle desOutsourcing nicht unbedingt zustande kommen muss, aber er hat dazuangenommen, dass das betrachtete Land technologisch höher entwickeltbleibt, was die Annahme des freien Wissenstransfers verletzt. Vgl. W. Koh-ler, »International Outsourcing and Factor Prices with Multistage Pro-duction«, Economic Journal 114, 2004, S. C 166–185.

45 Siehe J. Eaton und S. Kortum, »Trade in Ideas. Patenting and Productivityin the OECD«, Journal of International Economics 40, 1996, S. 251–278.

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sigen Unterschieden, die heute, kurz nach der Öffnung derSchleuse, noch bestehen.

Das ist insbesondere auch deshalb nicht zu erwarten, weil esauch beim anderen See direkte Zuflüsse gibt. Die Chinesenund Osteuropäer sind nicht auf den Kopf gefallen. Sie werdenunsere Technologien nicht nur imitieren, sondern mehr undmehr eigene Entwicklungen hinzufügen. Dazu trägt bei, dasssich das Ousourcing und Offshoring nicht auf arbeitsintensiveProduktionsprozesse konzentriert, sondern zunehmend auchdie Forschungs- und Entwicklungsabteilungen umfasst.46

Der Faktorpreisausgleich wird nie im strengen Sinne perfektsein, weil es immer irgendwelche Standortunterschiede gibt,die dauerhafte Lohnunterschiede implizieren. In dem Maße,wie noch ein Vorsprung bei der Infrastruktur, beim Rechts-system, beim technischen Wissen und bei anderen Stand-ortfaktoren besteht, lassen sich Lohnunterschiede verteidi-gen, aber eben nur in dem Maße. Wer sagt, Deutschlandbräuchte sich um das Lohnthema nicht zu kümmern, weil esdie Lohnkonkurrenz mit China nicht bestehen kann, hat die-sen Zusammenhang nicht begriffen und gibt sich gefährlichenIllusionen hin. Man kann so viel teurer als seine Konkurren-ten sein, wie man besser bleibt. Nur: Wenn man siebenmalso teuer wie die Osteuropäer und fünfundzwanzigmal so teu-er wie die Chinesen ist, dann müsste man auch sieben- bzw.fünfundzwanzigmal so gut sein, damit diese Rechnung auf-geht. Wenn man es nicht ist, gibt es Probleme.

Derzeit sind, wie Abbildung 14 verdeutlicht, die Lohnunter-schiede noch erheblich. Während die westdeutschen Lohn-

kosten pro Stunde bei 27 Euro liegen, hat Polen Lohnkos-ten von knapp über 4 Euro, und Rumänien und Bulgarienliegen bei nur etwa 1 bis 2 Euro. China hat gar Lohnkostenvon kaum mehr als 1 Euro.

Die in der Abbildung dargestellten Unterschiede in den Stun-denlohnkosten zwischen den alten und neuen EU-Ländernsind so riesig, dass es schwer fallen dürfte, im Hinblick aufden Handel zwischen Industrieländern Parallelen zu finden.Insbesondere sind sie viel größer als seinerzeit bei der EU-Westerweiterung um Spanien und Portugal. Im Durchschnitthatten die spanischen und portugiesischen Löhne beim Bei-tritt dieser Länder zur EU bereits bei knapp 50% der west-deutschen Löhne gelegen.47

Zur Höhe der Konvergenzgeschwindigkeit gibt es unter-schiedliche Informationen. Die in Westeuropa während derletzten 30 Jahre beobachtbare Konvergenzgeschwindigkeitim Sinne der so genannten Sigma-Konvergenz lag bei et-was mehr als 1% pro Jahr. Das entspricht einer Halbwerts-zeit für die Schließung der Lohnlücken von etwa 60 Jah-ren.48 Selbst wenn man unterstellt, dass die Konvergenz-geschwindigkeit in Osteuropa 2% pro Jahr beträgt, wie esin Studien von Barro und Sala-i-Martin für andere Regionenund Zeiträume als empirische Regelmäßigkeit gefunden wur-de49, wird die Halbwertszeit immer noch 35 Jahre betra-gen. Die Lohnkosten der osteuropäischen Länder werdendann im Jahr 2020 erst bei 39% und im Jahr 2030 bei 50%der westdeutschen Lohnkosten angekommen sein. Kurz-um: Es wird eine ganze Generation dauern, bis die osteu-ropäischen Länder im Verhältnis zu Westdeutschland dort

stehen, wo die südwesteuropäischen Län-der schon beim EU-Beitritt standen.

Die chinesischen Lohnkosten werden im Fal-le einer zwei-prozentigen Sigma-Konvergenzzum westdeutschen Niveau im Jahr 2020

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Abb. 14

46 Vgl. auch United Nations Conference on Trade andDeveloment, World Investment Report 2004: The ShiftTowards Services, a.a.O.

47 Im Jahr 1985 (Beitritt 1986) lag der Stundenlohn vonIndustriearbeitern in Portugal bei 21% des west-deutschen Niveaus und in Spanien bei 60%, was ei-nem gewogenen Mittel von 48% entspricht. ILO, Da-tenbank Laborsta und Deutsche Bundesbank, Zeit-reihendatenbank.

48 H.-W. Sinn und W. Ochel, »Social Union, Convergenceand Migration«, Journal of Common Market Studies41, 2003, S. 869–896; hier S. 871. Vgl. auch P. Eg-ger und M. Pfaffermayr, »Spatial β and σ Convergence:Theoretical Foundation, Econometric Estimation andan Application to the Growth of European Regions«,mimeo, erscheint als CESifo Working Paper, 2005.Vgl. EU-Kommission, Economic Forecasts, Herbst2004, http://europa.eu.int/comm/economy_finan-ce/publications/european_economy/forecasts_en.htm. Als Gewichte wurden BIP-Werte und Wechsel-kurse aus dem statistischen Anhang verwendet.

49 R. Barro und X. Sala-i-Martin, Economic Growth, 2.Aufl. MIT Press, Cambridge, Mass. 2004.

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bei 34% und im Jahr 2030 bei 46% der westdeutschenLohnkosten liegen. Bei 50% werden sie im Jahr 2034 an-gekommen sein.

2% Konvergenzgeschwindigkeit klingt gering, ist aber viel.Eine ein-prozentige Konvergenz entspricht in Osteuropa ge-genwärtig einer Wachstumsrate von 5,5%, und eine zwei-prozentige Konvergenz entspricht gegenwärtig einer Wachs-tumsrate von 11%. Der gewogene Durchschnitt der Wachs-tumsraten der neuen EU-Beitrittsländer wird nach einer Prog-nose der EU in den Jahren 2004, 2005 und 2006 etwa 4,9%,4,5% und 4,4% betragen. Insofern gibt es gegenwärtig kei-ne Anhaltspunkte dafür, dass die Lohnkonvergenz so raschvonstatten gehen könnte, wie es oben unterstellt wurde.

Obwohl der Prozess des Faktorpreisausgleichs nur langsamabläuft, hat er eine große Persistenz und Beharrlichkeit.Das einzelne Industrieland verfügt nur um den Preis extremhoher innerer Schäden über die Möglichkeit, ihn aufzuhal-ten.50 Die für Handelsgewinne notwendigen Sektorwande-rungen innerhalb der westlichen Länder funktionieren näm-lich nur dann, wenn dieser Faktorpreisausgleich nicht be-hindert wird.

Während des Prozesses des Faktorpreisausgleichs gebendie Industrieländer sukzessive arbeitsintensive Sektoren undFertigungsprozesse auf, die dem internationalen Lohndrucknicht mehr standhalten und retten sich in die kapitalintensi-ven Sektoren. Das vermindert den Lohndruck, hebt ihn abernicht auf. Damit die kapitalintensiven Sektoren in der Lagesind, für die im Rest der Wirtschaft wegfallenden Stellen Er-satz zu schaffen, müssen sie nicht nur umfangreicher, son-dern zudem auch weniger kapitalintensiv werden, als es oh-ne die Globalisierung der Fall gewesen wäre, und genau daswird durch Löhne veranlasst, die wenigstens gegen denTrend weiter absinken.

In Deutschland sind Tendenzen zur Lohnsenkung noch nichtwirklich sichtbar. Die Löhne sind vielmehr in den letzten dreiJahrzehnten besonders rasch gestiegen. Unser Land leidetunter einer chronisch zunehmenden Arbeitslosigkeit, die mitt-lerweile dramatische Ausmaße erreicht hat. Wie im vorigenAbschnitt nachgewiesen wurde, kann nicht die Rede da-von sein, dass unsere Arbeitsmärkte flexibel auf die Kräfteder Globalisierung reagieren und die nötigen Faktorwande-rungen zwischen den Sektoren reibungslos ermöglichen.

Die Arbeitslosigkeit zeigt, dass der Arbeitsmarkt nicht ge-räumt ist, dass das Angebot an Arbeitskräften die Nachfra-ge übersteigt. Sie ist ein untrügliches Zeichen, dass inDeutschland zumindest die Löhne für die einfache Arbeit hö-her sind, als es mit einem Marktgleichgewicht vereinbarwäre.

Die hohen Löhne sind nicht nur ein Problem, weil sichDeutschland einer internationalen Standortkonkurrenz aus-gesetzt sieht. Auch in einer Wirtschaft ohne Außenhandelgibt es ein natürliches Lohnniveau, dessen Überschreitungzur Arbeitslosigkeit führt. Insbesondere verlangt ein gesun-der Arbeitsmarkt eine natürliche Spreizung der Löhne, diesicherstellt, dass alle Berufskategorien voll beschäftigt sind.Indes verschärft die Offenheit der Wirtschaft das Probleminsofern, als eine Überschreitung des zum internationalenWettbewerb passenden Lohnniveaus sogleich zu massen-haften Arbeitsplatzverlusten führt. Zum einen schrumpfendie arbeitsintensiven Sektoren der Wirtschaft sehr rasch,weil es ihnen nicht gelingt, die überhöhten Löhne auf die Gü-terpreise zu überwälzen. Zum anderen kommt es bei über-höhten Löhnen zu einer Kapitalflucht, die die Arbeitspro-duktivität vermindert.

Eine unmittelbare Konsequenz überhöhter Löhne in der of-fenen Wirtschaft ist die Tendenz zum Outsourcing und Off-shoring, der Verlagerung von Produktionsteilen zugunstenvon Standorten in Niedriglohnländern. Wegen der über-höhten Löhne gehen in der Industrie viele Arbeitsplätze ver-loren, und zugleich entstehen an anderer Stelle der Wirt-schaft zu wenig neue. Eine Entwicklung, die prinzipiell sinn-voll ist und Handelsgewinne verspricht, ist wegen der ho-hen und starren Löhne, insbesondere der hohen Löhne füreinfache Arbeit, übertrieben. Das ist die etwas komplizierteWahrheit zu Deutschlands Versuch, mit den Kräften der Glo-balisierung fertig zu werden. Wer meint, es ginge um die Fra-ge, ob Outsourcing gut oder schlecht für die deutsche Wirt-schaft sei, hat nichts wirklich verstanden.

Mit den erwähnten 27 Euro sind die westdeutschen Stun-denlohnkosten für Industriearbeiter mit Ausnahme von Nor-wegen die höchsten der Welt. Selbst schwedische Arbeiterarbeiten für 4 bis 5 Euro weniger. Die britischen arbeitenfür 8, die französischen für 7 und die österreichischen für6 Euro weniger, von den Iren ganz zu schweigen, die um9 Euro billiger sind.51

Es half wenig, dass die Gewerkschaften in den letzten Jah-ren bei den Steigerungen etwas vorsichtiger waren als frü-her. Dreißig Jahre aggressiver Lohnpolitik können nicht durchdrei bescheidenere Jahre kompensiert werden. Schließlich istes ja nicht die jährliche Steigerung der Löhne, sondern ihrNiveau selbst, welches über die Arbeitsplätze entscheidet.

Die hohen deutschen Lohnkosten passen nicht mehr in deneuropäischen Markt, nachdem die vom Euro bewirkte Zins-konvergenz die Kräfteverhältnisse zugunsten jener Euro-Län-der verändert hat, die ehemals nicht zur DM-Schlange ge-hörten, und der Binnenmarkt die Wettbewerbsposition der

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50 Man vergleiche den Kasten in Abschnitt 7.

51 Siehe Ch. Schröder, »Industrielle Arbeitskosten im internationalen Ver-gleich«, iw-trends 31, 3, Institut der deutschen Wirtschaft, Köln 2004, S. 34–40.

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kleinen europäischen Länder gegenüber den großen Län-dern dramatisch verbessert hat. Die Lohnkosten passen auchnicht mehr, seit sich China, Polen und so viele andere Nied-riglohngebiete der Welt am Handel beteiligen und das Kapi-tal der Welt anlocken. Alles ist relativ, und das gilt insbeson-dere bezüglich der Frage, mit welchen Löhnen die deutschenArbeitnehmer international wettbewerbsfähig sind. Die Ant-wort auf diese Frage kann nicht unabhängig von den Mas-sen an Niedriglöhnern gegeben werden, die nun ebenfallsin das Welthandelssystem integriert sind und mit extrem nied-rigen Löhnen um das international mobile Kapital buhlen.

Manchmal wird behauptet, es komme nicht auf die Löhne,sondern die Lohnstückkosten an. Es reiche, wenn sie deminternationalen Vergleich standhalten, und bei diesem Ver-gleich sehe Deutschland nicht schlecht aus. Aber so ist esleider nicht. Die Lohnstückkosten eignen sich grundsätzlichnicht für die Beurteilung der Wettbewerbsfähigkeit, weil sieals Quotient aus Lohnsatz und durchschnittlicher Arbeits-produktivität definiert sind, weil die durchschnittliche Ar-beitsproduktivität der Mittelwert der Produktivitäten der rea-lisierten Arbeitsplätze ist und weil die Produktivität des letz-ten gerade noch rentablen Arbeitsplatzes dem Lohnsatzgleicht. Produktivitäten unterhalb des Lohnsatzes machenbei der Durchschnittsbildung nicht mit, wie hoch auch im-mer der Lohnsatz ist. Man teilt also die Produktivität des letz-ten gerade noch rentablen Arbeitsplatzes durch die Pro-duktivität aller rentablen Arbeitsplätze, wenn man die Lohn-stückkosten berechnet. Kein Wunder, dass internationaleLohnstückostenvergleiche stets sehr ähnliche Werte brin-gen, wie groß auch immer die Lohnunterschiede sind.52

Der Fehler, den man bei Lohnstückkostenrechnungen macht,liegt darin, dass man die Nullproduktivität jener, die wegender möglicherweise überhöhten Löhne keine Stelle mehrfinden, aus der Berechnung herauslässt. In einem unter ei-ner Massenarbeitslosigkeit leidenden Land wie Deutsch-land ist die Arbeitsproduktivität, die in die Berechnung ein-geht, die Produktivität jener Arbeitsplätze, die trotz der ho-hen Löhne für die Unternehmen noch rentabel sind. Die Pro-duktivität der wegen der Löhne unrentabel gewordenen Ar-beitsplätze wird nicht erfasst. Die bei den Beschäftigten ge-messene Arbeitsproduktivität und die Lohnstückkosten sa-gen deshalb nichts, aber auch gar nichts, darüber aus, obdie Löhne wettbewerbsgerecht sind.53

Die deutsche Lohnpolitik ist, wie der Sachverständigenratund die Institute seit Jahrzehnten bemängelt haben, immerwieder über das sinnvolle Maß hinausgegangen. Dadurchhat sie die minder produktiven Arbeitsplätze vernichtet undaus der Statistik entfernt, mit der Folge, dass die gemes-sene Arbeitsproduktivität stieg und der lohnbedingte Anstiegder Lohnstückkosten großenteils wieder kompensiert wur-de. Bei der nächsten Lohnrunde gab dies den Gewerk-schaften von neuem Anlass, höhere Löhne zu fordern undso weiter. Die Arbeitsproduktivität stieg und stieg auf einerimmer kleiner werdenden Menge an Arbeitsplätzen, die inder Lage waren, dieser Politik standzuhalten. Die tatsächli-che Zunahme der Lohnstückkosten, die unter Berücksich-tigung der Nullproduktivität der Entlassenen zu berechnenwäre, ist auf diese Weise in den Jahren von 1982 bis 2002jährlich um ca. 0,9 Prozentpunkte unterschätzt worden.54

Aber der Flächentarifvertrag und der bei den Lohnstückkos-tenrechnungen gemachte Fehler erschöpfen die Gründe fürdie Lohnstarrheit in Deutschland nicht. Noch wichtiger ist ver-mutlich der Sozialstaat, der sich mit seinen Lohnersatzein-kommen in Form der Arbeitslosenunterstützung, der Früh-renten und der Sozialhilfe zu einem großen Konkurrenten derprivaten Wirtschaft auf den Arbeitsmärkten entwickelt hat. DieLohnkonkurrenz des Sozialstaates erklärt, warum sich die deut-sche Arbeitslosigkeit auf die gering Qualifizierten konzentriert.

Besonders problematisch ist die Sozialhilfe bzw. das heutigeArbeitslosengeld II, denn sie zieht eine absolute Untergrenzein das Tarifgefüge ein, die unabhängig von der nachgewiese-nen Produktivität der Betroffenen ist. Sie schiebt die Lohnskalawie eine Ziehharmonika von unten her zusammen und hebtdie Löhne im unteren bis mittleren Lohnbereich über das markt-räumende Niveau, so dass dort Arbeitslosigkeit entsteht.55

40% der deutschen Arbeitslosen sind gering qualifiziert, ob-wohl der Anteil der gering Qualifizierten an der Gesamtheit al-ler Erwerbspersonen nur 16% beträgt. Und wenn man dieLangzeitarbeitslosen, die einer regulären Arbeit schon langeentwöhnt sind, hinzurechnet, sind wahrscheinlich deutlich mehrals die Hälfte der Arbeitslosen gering qualifiziert.

Dass die Sozialhilfe tatsächlich eine bindende untere Schran-ke für die Lohnverteilung ist, belegen einige erhellende In-dizien:

Erstens. Für eine vierköpfige Familie liegt die Sozialhilfe heu-te in Westdeutschland bei 1 560 Euro und in Ostdeutsch-land bei 1 421 Euro, was unter Berücksichtigung der Re-

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52 Vgl. D. Marin, »A Nation of Poets and Thinkers- Less so with Eastern En-largement? Austria and Germany«, Munich Economics Discussion Paper2004-06. Marin berechnet firmenspezifische Lohnstückkosten und fin-det, dass auch sie im Vergleich zwischen Deutschland und Osteuropa ähn-lich sind. Lohnstückkostenvorteile identifiziert sie noch für Standorte in Ru-mänien und Bulgarien sowie für die Staaten der ehemaligen Sowjetunion.

53 Man vergleiche dazu auch M. Hellwig und M. Neumann, »Economic Policy in Germany: Was there a Turnaround?«, Economic Policy 5, 1987, S. 105–145, bes. S. 123–125. Die Autoren zeigen, dass ein erheblicherTeil der Produktivitätssteigerung der deutschen Wirtschaft in den siebzi-ger und achtziger Jahren auf eine Erhöhung der Kapitalintensität derProduktion zurückzuführen war, die selbst wiederum das Ergebnis über-höhter Lohnsteigerungen war.

54 Vgl. H.-W. Sinn, Ist Deutschland noch zu retten?, a.a.O., Kap. 2. Die Zahldeckt sich mit einer älteren OECD-Schätzung in Höhe von 1% pro Jahrfür den Messfehler, die Hellwig und Neumann, a.a.O., 1987, S. 125 zitie-ren.

55 Vgl. H.-W. Sinn, Ist Deutschland noch zu retten?, a.a.O., Kap. 4, Ab-schnitte: »Gering Qualifizierte im Abseits: der Ziehharmonika-Effekt“ und»Die deutsche Krankheit: Warum den Deutschen die Arbeit ausgeht«.

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gionalverteilung der Bedarfsgemeinschaften einem ge-samtdeutschen Mittelwert von 1 539 Euro entspricht.56 Dasist etwas mehr als das durchschnittliche, auch unter Be-rücksichtigung von Teilzeitstellen entstandene Nettolohn-und -gehaltseinkommen, das 2004 in Gesamtdeutschlandbei 1 470 Euro lag.57

Zweitens: Damit ein verheirateter Alleinverdiener mit zweiKindern auf einer Vollzeitstelle mit 155 Stunden im Monatnur 5 Euro pro Stunde mehr als beim Nichtstun bekommt,braucht er im derzeitigen Fördersystem (Arbeitslosengeld II,Kindergeld etc.) in Westdeutschland einen Bruttolohn von18,42 Euro, was dem Arbeitgeber (ohne Mehrwertsteuer)Lohnkosten von 22,28 Euro verschafft.58 So gesehen liegt

die Mindestlohnschranke, die durch dasdeutsche Sozialsystem hervorgerufen wird,für einen solchen Arbeitnehmertyp bereitsin der Gegend des schwedischen Lohn-kostenniveaus. Der durchschnittliche Lohnmuss entsprechend höher sein. Es wundertnicht, dass er in Westdeutschland gut27 Euro beträgt.

Drittens: Vor drei Jahrzehnten lag die Sozi-alhilfe noch wesentlich weiter vom Durch-schnittslohn entfernt, als das heute der Fallist. So stieg die durchschnittliche Sozialhil-fe von 1970 bis 2000 ziemlich genau umdas Vierfache, während die durchschnittli-che Nettolohn- und Gehaltssumme nur umdas Dreifache stieg.59 Sie hat sich damit imLaufe der Zeit immer weiter von unten heran das durchschnittliche Lohnniveau her-angerobbt.

Viele Gewerkschaftler und Sozialpolitiker empfinden esbereits als Provokation, wenn man diese Fakten unge-schminkt darstellt. Sie pflegen zu argumentieren, die ho-he Arbeitslosigkeit der gering Qualifizierten sei einem exo-genen, von ökonomischen Rahmenbedingungen unbe-einflussten technischen Fortschritt zuzuschreiben, der Ro-boter an die Stelle der menschlichen Arbeitskraft setzt.Mit ökonomischen Anreizen habe das alles nichts zu tun.Das klingt zunächst einleuchtend, stimmt aber nicht. Wennes stimmen würde, müsste das Phänomen überall in denwestlichen Industrieländern zu beobachten sein, nicht nurin Deutschland, denn schließlich findet der technischeFortschritt nicht nur bei uns statt. In Wahrheit ist die Mas-senarbeitslosigkeit der gering Qualifizierten ein spezielldeutsches Problem, der Kern der deutschen Krankheitsozusagen. Wie Abbildung 15 zeigt, ist die Arbeitslosen-quote der gering Qualifizierten in keinem anderen OECD-Land so hoch wie in Deutschland. Da die Erweiterung destechnischen Wissens nicht, das deutsche Sozialsystemaber sehr wohl, auf Deutschland beschränkt ist, liegt dieErklärung auf der Hand. Die Roboter ersetzen die mensch-liche Arbeitskraft nicht überall in gleichem Maße, sondernspeziell in Deutschland, weil der Sozialstaat den Men-schen hier zu Lande die Möglichkeit bietet, ein erwerbs-loses Einkommen zu beziehen, anstatt sich auf die Nied-riglohnkonkurrenz der Roboter einzulassen. Der Zieh-harmonika-Effekt der Sozialhilfe war offenkundig mit imSpiel.

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Abb. 15

56 Regelsätze für die Hilfe zum Lebensunterhalt vgl. Bundesministerium fürGesundheit und soziale Sicherung, http://www.bmgs.bund.de/down-loads/regelsaetze.pdf. Kosten für Wohnung und Heizung vgl. W. Breuerund D. Engels, Grundinformationen und Daten zur Sozialhilfe, Informati-onsschrift des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik, 1999.Die Kosten wurden anhand der Preisentwicklung von Mitte 1999 auf An-fang 2005 fortgeschrieben. Bedarfsgemeinschaften nach Bundesländernvgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 13, Reihe 2.1, Sozialhilfe – Hilfezum Lebensunterhalt 2003, Tabelle A3; sämtliche Bedarfsgemeinschaf-ten von Berlin wurden zu Westdeutschland gerechnet, weil in Berlin derwestdeutsche Regelsatz gilt.

57 Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 18, Reihe 3, 4. Vierteljahr 2004.58 Bei einem Bruttolohn von 2855,10 Euro (= 155*18,42 Euro) betragen die

Abzüge in Lohnsteuerklasse III mit 2,0 Kinderfreibeträgen und einem in-dividuellen Beitragssatz zur Gesetzlichen Krankenversicherung von 14,2%(das entspricht dem durchschnittlichen KV-Beitragssatz Anfang 2005):Lohnsteuer 228,33 Euro, Kirchensteuer (Bayern) 1,74 Euro, Sozialversi-cherungsbeiträge 598,14 Euro (vgl. Steuerberechnungsprogramm desBundesministeriums der Finanzen, http://egov.bundesfinanzministeri-um.de/Steuerrechner/start.jsp). Somit beträgt das verfügbare Haus-haltseinkommen einschließlich Kindergeld (308 Euro) 2 334,89 Euro.Das sind 774,89 Euro oder 5,00 Euro pro Arbeitsstunde mehr als derGrundbedarf für die Hilfe zum Lebensunterhalt. Lohnkosten des Arbeit-gebers: Die Summe aus dem Bruttolohn von 2 855,10 Euro und den Ar-beitgeberbeiträgen zur Sozialversicherung in Höhe von 598,14 Euro sind3 453,24 Euro, also 22,28 Euro pro Stunde.

59 Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie K, Reihe 1, 1970; Fachserie 13,Reihe 2.1, 2000; Fachserie 18, Reihe S. 21. Die Zahl der Empfänger lau-fender Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen wurde beidieser Rechnung durch den Mittelwert der jeweiligen Jahresanfangs- und-endwerte approximiert.

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Einen Beleg für den Ziehharmonika-Effekt liefert auch die Ab-bildung 16. Sie zeigt, dass die Lohnspreizung zwischen demneunten und ersten Zehntel der Lohnverteilung in Deutsch-land während der letzten 20 Jahre leicht zurückgegangen ist,während sie in den angelsächsischen Ländern, die keinenentwickelten Sozialstaat haben, deutlich auseinander drifte-te. Die deutsche Lohnskala wurde gestaucht, während siesich angesichts der Niedriglohnkonkurrenz aus aller Welt ei-gentlich nach unten hin hätte ausdehnen müssen, um die Ar-beitsplätze der gering Qualifizierten zu halten.

Früher, als die Wirtschaft noch stürmisch voranschritt, folgteder Sozialstaat im Schlepptau der Löhne und stand der Wirt-schaft nicht als Konkurrent im Wege. Der Sozialstaat hielt sichin gebührendem Abstand zurück. Seit dem Fall des Eiser-nen Vorhangs, der die Osterweiterung der EUund die Beteiligung Chinas am Welthandel er-möglichte, werden die Löhne nun aber durchdie Kräfte der Globalisierung in die andereRichtung gedrängt. Die aus besseren Zeitenstammenden Leistungen des Sozialstaateswerden in dieser Situation zu einer Barrierefür die notwendigen Lohnanpassungen, undzwar insbesondere bei der einfachen Indus-triearbeit. Deutschland wird zum OECD-Spit-zenreiter bei der Arbeitslosigkeit der geringQualifizierten und verstrickt sich bei dem Ver-such, die daraus resultierenden Soziallastenohne Systemänderungen in den Griff zu be-kommen.60 Der Wettkampf zwischen dem

deutschen Sozialstaat und China ist viel-leicht schon entschieden, bevor er über-haupt begonnen hat.

Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschenUnternehmen als Rechtspersonen und Trä-ger der Marken bleibt trotz dieser Proble-me gesichert. Man sage deshalb nicht, diedeutsche Wirtschaft als solche sei nichtmehr wettbewerbsfähig. Gerade durch dasOffshoring und Outsourcing nach Osteuro-pa können sich nun auch viele kleinere Mit-telständler vor den Problemen in Deutsch-land retten. Gefährdet ist jedoch die Wett-bewerbsfähigkeit der deutschen Arbeit-nehmer. Mehr als 4,5 Millionen Arbeitneh-mer sind arbeitslos. Mehr als 4,5 MillionenArbeitnehmer sind bei den Löhnen, die fürsie gezahlt werden müssen, schon heutenicht mehr wettbewerbsfähig.

7. Die stolze Exportstatistik der Basar-Ökonomie

Die Gegner der deutschen Reformen wollen von all diesenArgumenten nichts wissen. Sie verweisen auf die hohen deut-schen Exporte und sehen die Probleme des deutschen Ar-beitsmarktes als vom Außenwirtschaftsgeschehen unab-hängige Phänomene, die sie auf die fehlende deutsche Bin-nennachfrage zurückführen. In der Tat sind die deutschen Ex-porte beachtlich, wie der Vergleich der zehn exportstärkstenLänder der Welt beweist, der in Abbildung 17 angestellt wird.

Allerdings ist die deutsche Exportstatistik nicht gar so glo-rios, wie es die Reformgegner immer wieder behaupten.

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Abb. 16

Abb. 17

60 H. Hesse hat darauf hingewiesen, dass die Globali-sierung eine Herausforderung im Sinne Toynbees ist,die zu bestehen über Aufstieg und Niedergang derNationen entscheidet. H. Hesse, Globalisierung:Chance oder Niedergang?, Kieler Vorträge NF. 129,Institut für Weltwirtschaft 2004.

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Basar-Ökonomie

Wieder und wieder schallt es aus den Medien, Deutsch-land sei Exportweltmeister, und alsbald pflegt dann die Er-kenntnis zu folgen, dass Deutschland kein Wettbewerbs-problem habe und deshalb auch keine Reformen brauche.Doch machen ständige Wiederholungen die Information nichtrichtig. Im Jahr 2003 war Deutschland hinter den USA mitdeutlichem Abstand die Nummer Zwei beim Export- und Im-portvolumen. Daran hat sich, wie neueste Zahlen zeigen,im Jahr 2004 nichts Wesentliches geändert.61 Auch im Jahr2004 lag Deutschland noch um 9% hinter den USA.

Nur wenn man von den Exporten die Dienstleistungen ab-zieht (die in der Abbildung gelb gekennzeichneten Säulen-stücke), war Deutschland mit einer Nasenlänge Vorsprungdie Nummer Eins, und selbst dieser Vorsprung ist nur aufden derzeit überhöhten Eurowert zurückzuführen, der selbstdie innereuropäischen Exporte Deutschlands nach einer Um-rechnung in Dollar aufgebläht hat. Aber Dienstleistungenkann man nicht sinnvoll herausrechnen, weil sie einen im-mer größeren Teil des Welthandelsvolumens umfassen. Da-zu gehören nicht nur touristische Dienstleistungen, son-dern vor allem auch komplexe industrielle Dienstleistungenim Bereich des Großanlagenbaus, die gerade von Deutsch-land aus zunehmend erbracht werden, sowie der Export vonSoftware. Zu den weltweit erfolgreichsten Firmen überhauptgehört die amerikanische Sofwarefirma Microsoft, und zuden erfolgreichsten deutschen Firmen gehört die Firma SAP,die Verwaltungssoftware für Unternehmen herstellt und da-bei eine Weltspitzenposition einnimmt. SAP hatte AnfangMärz 2004 einen höheren Börsenwert als die Firma Siemens.Die Exporte solcher Firmen aus der Exportstatistik zu ent-fernen, bringt keinen Erkenntnisgewinn.62

Aber die Exportstatistik ist im Grunde ein irrelevanter Ne-benkriegsschauplatz. Selbst wenn nämlich DeutschlandExportweltmeister wäre, würde dies nicht belegen, dasswir mit der Globalisierung gut zu Recht kommen. Wie er-läutert, kommt es für die Beurteilung dieser Frage auf dieFaktormärkte an, denn sie müssen die Last des Struktur-wandels tragen, der die Grundvoraussetzung dafür ist, dassDeutschland Handelsgewinne erzielt. Insbesondere mussder Arbeitsmarkt in der Lage sein, die durch Outsourcingund Offshoring entfallenden Arbeitsplätze anderswo neuzu schaffen. Wie Tabelle 2 gezeigt hat, ist dies leider nichtder Fall. Zum Ausgleich der seit 1995 in der Industrie weg-

gefallenen knapp 1,3 Millionen vollzeitäquivalenten Stellensind per saldo im Rest der Wirtschaft keine neue Stellenentstanden.

Die Verlagerung der Arbeitsplätze ins Ausland und die Ver-ringerung der Fertigungstiefe der deutschen Industrie sindein Problem für den Arbeitsmarkt, aber sie beeinträchtigenweder die Exporte noch die Wettbewerbsfähigkeit der Fir-men. Im Gegenteil: Gerade auch wegen dieser Verlagerunggelingt es den deutschen Firmen, die Exporte weiter zusteigern und immer besser ins Geschäft zu kommen. Dererwähnte Porsche Cayenne, der von Leipzig nach Amerikaexportiert wird, könnte nicht in der deutschen Exportstatis-tik erscheinen, wenn nicht 88% seines Wertes zuvor aus derSlowakei importiert worden wären, und die Gewinne, diePorsche seinen Aktionären auszahlt, wären ohne die Pro-duktionsverlagerung nicht auf dem Rekordniveau, das vonden Finanzanalysten bejubelt wird. Eine Basar-Ökonomiehat florierende Firmen und trotz aller internen Probleme ho-he Exporte.

Wie kann man feststellen, ob nicht nur die Eigentümer derFirmen, sondern die deutsche Volkswirtschaft als Ganze vonder Produktionsverlagerung profitiert? Viele akzeptieren, dassdie bloßen Exportziffern wegen des Basar-Effektes nicht vielhergeben, meinen aber, die Frage könne durch einen Blickauf die exportinduzierte Wertschöpfung entschieden wer-den. Steige sie in Relation zum Bruttoinlandsprodukt, alsoin Relation zur gesamten Wertschöpfung der Wirtschaft,sei Deutschland wettbewerbsfähig.

Wie oben erläutert wurde, hatte das Statistische Bundes-amt herausgefunden, dass sich die exportinduzierten Im-porte pro Exporteinheit seit 1991 stark vergrößert haben,die inländische Wertschöpfung pro Exporteinheit sich alsostark vermindert hat, wie es der Basar-Hypothese entspricht.Das Amt hat darüber hinaus aber gezeigt, dass dennoch dieinländische exportinduzierte Wertschöpfung in Relation zumBruttoinlandsprodukt stieg. Die Exporte wuchsen so vielschneller als das Bruttoinlandsprodukt, dass die Abnahmeder inländischen Wertschöpfung pro Exporteinheit über-kompensiert wurde. So stellt das Amt fest:

»Im Zeitraum 1995 bis 2002 zeigte die in den Exporten ent-haltene inländische Bruttowertschöpfung (jahresdurch-schnittlich + 6,1%) ein wesentlich höheres nominales Wachs-tum als das Bruttoinlandsprodukt.«

Nach seinen Angaben stieg der Anteil der exportinduzier-ten Bruttowertschöpfung am Bruttoinlandsprodukt von17,9% im Jahr 1991 auf 20,8% im Jahr 2002. Insofernscheint nun der Beweis erbracht zu sein, dass Deutsch-land von der Globalisierung profitiert und der Basar-Effektnicht überzogen ist.

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61 Nach der Zahlungsbilanzstatistik des Jahres 2004 betrug der deut-sche Export (umgerechnet mit dem durchschnittlichen Wechsel-kurs des Jahres 2004) 1 046,4 Milliarden Dollar, und der deutscheImport betrug 898,2 Milliarden Dollar. Vgl. Deutsche Bundesbank,Zeitreihendatenbank. Demgegenüber lag der US-amerikanische Ex-port im Jahr 2004 bei 1 146,1 Milliarden Dollar und der Import bei1 763,9 Milliarden Dollar. Vgl. Bureau of Economic Analysis, pressrelease, February 10, 2005.

62 Vgl. P. Bofinger, Wir sind besser als wir glauben, a.a.O., S. 31 f. Bofin-gers undifferenzierte Behauptung, Deutschland sei Exportweltmeister,kontrastiert ein wenig mit seiner intensiven Kritik an Datenfehlern ande-rer Autoren.

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Basar-Ökonomie

Das Amt selbst zieht diesen Schluss zwar nicht. Es nimmtnur ganz allgemein in der Einleitung zur Basar-HypotheseStellung, und vor allem enthält es sich einer ökonomischenBewertung des Sachverhalts.63 Dennoch haben viele Leserden Bericht als Widerlegung dieser Hypothese interpretiert,wobei sie sogleich eine Uminterpretation dieser Hypothesevornehmen. So betitelte die Financial Times Deutschlandam 18. August 2004 einen Kommentar mit dem Satz:64

»Statistikamt widerlegt Sinns These von der Basar-Ökono-mie«,

und im Text heißt es:

»Seit 1991 produzierten deutsche Firmen immer mehr Ex-portgüter unter Verwendung von Produkten, die ihrerseitsimportiert worden sind. Dennoch profitiert Deutschland über-durchschnittlich von der internationalen Arbeitsteilung. …Die durch die Exporttätigkeit angeregte Produktion inDeutschland legte zwischen 1995 und 2002 um 51 Pro-zent zu. Die Produktion insgesamt stieg um lediglich 17 Pro-zent. Würde Sinns These zutreffen, hätte die durch den Ex-port verursachte Bruttowertschöpfung in Deutschland lang-samer als die Wertschöpfung steigen müssen.«

Ähnlich heißt es in einem Bericht des Bundesministeriumsfür Wirtschaft und Arbeit:65

»Demnach kann die Schlussfolgerung der »Basar-Hypothe-se«, die besagt, dass schon der zunehmende Bezug von Vor-leistungen aus dem Ausland ein Indiz für die mangelnde Leis-tungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft sei, so nicht gestütztwerden. Im Gegenteil hat die seit Mitte der 90er Jahre ver-stärkt zunehmende Einbindung Deutschlands in die interna-tionale Arbeitsteilung insgesamt gesehen einen positiven Bei-trag zur wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland geleis-tet. Die Exportzuwächse der deutschen Wirtschaft haben un-ter dem Strich den dämpfenden Effekt, der sich für die inlän-dische Wertschöpfung im Exportsektor aus dem steigendenAnteil importierter Vorleistungen ergibt, überkompensiert.«

Zuvor hatte sich schon das Bundesministerium der Finan-zen in seinem Monatsbericht vom August 2004 so ge-äußert:66

»Alles in allem ist festzuhalten, dass die deutsche Wirtschaftbislang per saldo von der Globalisierung profitiert hat.«

Der Sachverständigenrat, der sich in seinem neuesten Gut-achten mit der Problematik beschäftigt, äußert sich eben-falls vorsichtig optimistisch. Er berichtet, dass der vom Sta-tistischen Bundesamt für die gesamte Exportwirtschaft be-obachtete Effekt auch für die exportinduzierte Bruttowert-schöpfung innerhalb des verarbeitenden Gewerbes gilt. Auchdiese Wertschöpfung stieg schneller als die Wertschöp-fung des gesamten verarbeitenden Gewerbes, obwohl, wieerwähnt, erneut eine Verringerung der Fertigungstiefe durchProduktionsverlagerung ins Ausland gegengerechnet wor-den war.67 Der Rat enthält sich zwar einer expliziten Be-wertung der Entwicklung, doch zwischen den Zeilen findetman viel Lob für Deutschlands Fähigkeit, mit den Kräften derGlobalisierung fertig zu werden.

Dies alles geht schon insofern an der Sache vorbei, als ichdie Basar-Hypothese niemals so dargestellt habe, dass sichdie exportinduzierte Wertschöpfung der deutschen Wirt-schaft langsamer als das Bruttoinlandsprodukt entwickelt.68

Aber es geht nicht um die Frage, was ich zu dem Themagesagt habe. Das ist eine Nebensache.

Es geht vielmehr um die Frage der ökonomischen Bewer-tung und Interpretation dieser Entwicklung. Die im Vergleichzu den anderen Sektoren überdurchschnittliche Entwicklungder Wertschöpfung in den Exportsektoren, die das Statisti-sche Bundesamt herausgefunden hat, ist für sich genom-men sicherlich keine relevante Information zu der Frage,wie gut oder wie schlecht Deutschland mit der Globalisie-rung fertig wird. Der Nachweis von Handelsgewinnen kannanhand einer solchen Kenngröße nicht geführt werden.

Dass die exportinduzierte Wertschöpfung in der Zeit der Glo-balisierung schneller wächst als der Durchschnitt, wie er imBruttoinlandsprodukt gemessen wird, ist eine Selbstver-ständlichkeit, ja fast schon eine Tautologie. Es ist eine Be-schreibung der zunehmenden Spezialisierung, mehr nicht,übrigens eine, die auf praktisch alle Länder des internatio-nalen Handelsverbundes zutrifft. Es dürfte schwer fallen, ir-gendein Land zu finden, das am Welthandel partizipiert undbei dem dieser Zusammenhang mittel- und längerfristig nichtbesteht.

Die internationale Spezialisierung, die durch den Handel zwi-schen den Ländern ermöglicht wird, bedeutet, dass einigeSektoren der Wirtschaft relativ zum Durchschnitt wachsenund andere relativ schrumpfen. Die relativ schrumpfendenSektoren geben Produktionsfaktoren an die relativ wach-

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63 Allerdings wird die Autorin des Berichts, Liane Ritter, in der Financial Times mit der Aussage zitiert »Per saldo hat der Außenhandel einen po-sitiven Wachstumsbeitrag geleistet.« Vgl. Ch. Karweil, »Statistikamt wi-derlegt Sinns These von der Basar-Ökonomie«, Financial Times Deutsch-land, 18. August 2004, S. 14.

64 Ebenda.65 B. Diekmann, M. Meurers und N. Felgentreu, a.a.O., S. 6 f. 66 Bundesministerium der Finanzen, Monatsbericht 08.2004, Arbeitsplatz-

effekte der Globalisierung.

67 Sachverständigenrat, ebenda, S. 477–482. 68 Auch R. Hickel und P. Bofinger unterstellen mir explizit die umdefinierte

Basar-Hypothese der Financial Times Deutschland, um dann zu schluss-folgern, diese Hypothese sei nun widerlegt worden. Siehe R. Hickel,»Deutschland ist noch zu retten«, Frankfurter Rundschau, 23. November2004, S. 7, und P. Bofinger, Wir sind besser, als wir glauben, PearsonStudium, München 2005, S. 32–34.

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senden Sektoren ab, und folglich verlagert sich die Wert-schöpfung, die ja der Summe der verdienten Faktorein-kommen entspricht, zwischen den Sektoren. Die Produkti-onsfaktoren sind im Wesentlichen Arbeit und Kapital, dochauch der Boden gehört dazu. Sektoren, bei denen ein Landkomparative Nachteile hat, fallen zurück; sie produzieren im-mer weniger von den mit den Importen konkurrierenden Gü-tern. Und Sektoren, bei denen das Land komparative Vor-teile hat, eilen voraus; sie produzieren die Exportgüter. Des-halb gilt für jedes normale Land, das an der Handelserwei-terung beteiligt ist, die wir Globalisierung nennen, dass dieexportinduzierte Wertschöpfung schneller als die durch-schnittliche Wertschöpfung, also schneller als das Brutto-inlandsprodukt, wächst. Herauszufinden, dass die export-induzierte Wertschöpfung schneller als der Durchschnittwächst, heißt herauszufinden, dass das, was schneller alsder Durchschnitt wächst, schneller als der Durchschnittwächst. Der Erkenntnisgewinn ist nahe null.

Das alles gilt auch dann, wenn es sich bei den Sektoren nichtum die Sektoren in der Abgrenzung der Volkswirtschaftli-chen Gesamtrechnung, sondern um Sektoren im Sinne vonGliedern in vertikal integrierten Produktionsketten handelt.Auch wenn sich das Land auf bestimmte Glieder der Ket-ten spezialisiert und dann die entsprechenden Produkteexportiert, steigt die exportinduzierte Wertschöpfung schnel-ler als die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung. Speziali-sierung heißt stets, dass Faktoren und damit Faktorein-kommen in die Exportsektoren wandern, dass also die ex-portinduzierte Wertschöpfung relativ zum Bruttoinlandspro-dukt steigt.

Insbesondere muss natürlich eine Spezialisierung Deutsch-lands auf Basar-Tätigkeiten eine Faktorwanderung in die Ba-sare und damit eine Ausweitung der dortigen Wertschöp-fung bedeuten, so dass die exportierten Wertschöpfungs-anteile der Basarleistungen relativ zum Bruttoinlandsproduktzunehmen. Es ist schon eine arge Verballhornung meinerBasar-Hypothese, wenn man sie als Behauptung eines fal-lenden Anteils der exportinduzierten Wertschöpfung am Brut-toinlandsprodukt uminterpretiert.

Die Basar-Hypothese impliziert, es sei hier wiederholt, nicht,dass die exportinduzierte Wertschöpfung relativ zur ge-samten Wertschöpfung der Wirtschaft fällt, sondern dassdie exportinduzierte Wertschöpfung langsamer als der Ex-port wächst, oder umgekehrt, dass der Export schnellerals die exportinduzierte Wertschöpfung wächst. Die obenin Abschnitt 2 aus den Zahlen des Statistischen Bundes-amtes ermittelte Elastizität des Exportsvolumens bezüglichder Wertschöpfung in den Exportsektoren in Höhe von 1,36verdeutlicht den Basar-Effekt in aller Klarheit. Wenn sichDeutschland stärker spezialisiert, weil es stärker in den in-ternationalen Handel eingebunden ist, wandern Produk-tionsfaktoren in den Export, und folglich wächst die Wert-

schöpfung in den Exportsektoren. Doch für jedes Prozent,um das dort die Wertschöpfung wächst, nimmt der Exportum 1,36% zu.

Die Zunahme der exportinduzierten Wertschöpfung ist keinBeleg für Handelsgewinne, denn dahinter steht eine inter-ne Faktorwanderung aus anderen Sektoren, deren Wert-schöpfung langsamer als der Durchschnitt wächst. Die zu-sätzliche Arbeit und das zusätzliche Kapital, die die Wert-schöpfung im Exportsektor erzeugen und entsprechendesEinkommen verdienen, werden anderen Sektoren entzogen.Es ist völlig unmöglich, aus der Bruttozunahme der Wert-schöpfung eines Sektors volkswirtschaftliche Wohlfahrts-gewinne im Sinne einer Verbesserung der internationalenArbeitsteilung herauszulesen. Das ist ungefähr dasselbe, wieeinem Bauern Einkommenszuwächse zu bescheinigen, weiler mehr Gerste produziert, ohne zu berücksichtigen, dasser nur deshalb mehr Gerste produziert, weil er das dafürbenötigte Land der Roggenproduktion entzieht.

Dass die Zunahme der exportinduzierten Wertschöpfungkeine Handelsgewinne beweist, scheint im Widerspruch zudem oben zitierten Konjunktureffekt zu stehen, nach demsich die 8,2% Exportwachstum des Jahres 2004 unter Be-rücksichtigung einer Exportquote am Bruttoinlandsproduktvon 36% und einer marginalen Quote der exportinduzier-ten Vorleistungsimporte von 55% in einen Wachstumsef-fekt von immerhin 1,3% übertrugen. Bei der Konjunktur-analyse wird die Zunahme der exportinduzierten Wert-schöpfung offenbar doch als Wachstumsbeitrag gerechnetund ist insofern, wenn auch mit gewissen Abstrichen, schonmit einem volkswirtschaftlichen Gewinn gleichzusetzen!

Der Widerspruch besteht indes nicht wirklich, denn die Kon-junkturanalyse beschäftigt sich mit den kurzfristigen Schwan-kungen um den Trend statt mit dem Trend selbst. DieseSchwankungen werden von den Unternehmen stets inner-halb ihrer Produktionskapazität bedient, weil es technischkaum möglich und ökonomisch wenig sinnvoll ist, die Pro-duktionskapazitäten im schnellen Rhythmus der Schwan-kungen zu ändern. Die Umrüstkosten sind viel zu groß.

Bei dauerhaften Änderungen der Sektorstruktur, wie sie auf-grund einer längerfristigen Erhöhung der exportbedingtenWertschöpfung zu konstatieren ist, reicht freilich eine bloßeVerbesserung der Kapazitätsauslastung existierender Be-triebsstätten nicht aus. Die Unternehmen ziehen es in die-sem Fall vor zu investieren, um mehr Produktionskapazitätzur Verfügung zu stellen und mehr Arbeiter zu beschäfti-gen, und damit muss der Entzug von Investitionskapitalund Arbeit aus anderen Verwendungen mit in den Blick ge-nommen werden.

Nun kann es zwar theoretisch sein, dass die Produktions-faktoren auch langfristig keinen anderen Verwendungen

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entzogen werden, weil sie bislang nicht genutzt wurden.Wenn der Bauer ein zuvor brachliegendes Feld beackert,um mehr Gerste zu produzieren, kann er das tun, ohne sei-nen Roggenanbau zu verringern. Das unterstellt die key-nesianische Wirtschaftsanalyse. Sie geht davon aus, dasses wegen eines Nachfragedefizits brachliegende Produk-tionsfaktoren gibt, die man durch eine Nachfragesteige-rung aktivieren kann. Angesichts der Massenarbeitslosig-keit in Deutschland mag man diesen Fall auf den erstenBlick für relevant halten.

Indes kann die Arbeitslosigkeit auch, wie ich oben argu-mentiert habe, an den im internationalen Vergleich nicht mehrwettbewerbsfähigen Löhnen liegen, was dem Fall der so ge-nannten klassischen Arbeitslosigkeit entspricht. Firmen, diebereits dicht gemacht haben, kann man durch einen Nach-frageschub nicht wieder beleben, und neue Kapazitäten wer-den nur dann aufgebaut, wenn sich das für die Unterneh-men im Vergleich zu alternativen Standorten lohnt. Bei ei-ner klassischen Arbeitslosigkeit sind die Löhne für die Er-füllung dieser Bedingung zu hoch. Es laufen ganz andereProzesse ab als jene, die von der keynesianischen Theoriebeschrieben werden. Ihnen wendet sich der nächste Ab-schnitt zu.

8. Pathologischer Exportboom bei klassischer Arbeitslosigkeit

Eine klassische Arbeitslosigkeit ist ebenso wie die keynesia-nische Arbeitslosigkeit unfreiwillig: Mehr Menschen wollen ar-beiten, als Stellen vorhanden sind. Aber der Grund dafür, dassnicht genug Stellen vorhanden sind, liegt nicht in der fehlen-den gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und einer Unteraus-lastung der Kapazitäten, sondern darin, dass die Arbeit zuteuer ist, als dass die Unternehmen bereit wären, neue Ka-pazitäten zu schaffen oder ihre Produktionsverfahren ar-beitsintensiver zu gestalten. Stattdessen produzieren sie lie-ber mit einem Übermaß an Maschinen oder, und das ist derBasar-Effekt, mit einem Übermaß an ausländischen Vorleis-tungen. Die Dichotomie zwischen der hohen Wettbewerbs-fähigkeit der deutschen Unternehmen und der schwinden-den Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Arbeitnehmer, vonder oben schon die Rede war, passt in dieses Bild.

Im Falle einer klassischen Arbeitslosigkeit hilft es nicht, dieGüternachfrage durch eine staatliche Verschuldungspolitikzu erhöhen, denn der Zusammenhang zwischen einer zu-sätzlichen staatlichen Nachfrage nach den Produkten derUnternehmen und der Nachfrage der Unternehmen nachzusätzlichen Arbeitnehmern ist nur noch konjunkturell, nichtaber mittel- und langfristig vorhanden.

Ein krasses Beispiel für eine klassische Arbeitslosigkeit lie-fern die neuen Bundesländer. Dort übersteigt die gesamt-

wirtschaftliche Nachfrage dank der umfangreichen Geld-transfers und Kapitalströme aus dem Westen die eigene Er-zeugung um circa 45%, was ein im internationalen undhistorischen Vergleich geradezu astronomisch hoher Über-schuss ist. Mehr relativen Nachfrageüberhang hat es nochnie irgendwo gegeben, auch nicht nach dem umfangrei-chen keynesianischen Konjunkturprogramm von PräsidentBush während der letzten Jahre in Amerika. Dennoch ver-schwindet die Massenarbeitslosigkeit nicht. Die Nachfrageschwappt an den ostdeutschen Arbeitnehmern vorbei. Sierichtet sich auf Videorecorder aus Korea und Dienstleis-tungen der spanischen Tourismusindustrie, und soweit sieüberhaupt ostdeutsche Produkte erreicht, wird sie bei denProduzenten großenteils in Käufe von Industrierobotern undWerkzeugmaschinen aus Westdeutschland sowie von Vor-leistungen aus der Slowakei und anderen Niedriglohnge-bieten umgesetzt. Für Käufe der Arbeitsleistungen, die dieostdeutschen Arbeitnehmer anbieten, wird ein immer klei-nerer Teil der gewaltigen Kaufkraft verwendet, die die west-deutschen Steuerzahler und Kapitalgeber zur Verfügungstellen.

Das Thema betrifft nicht nur Ostdeutschland. Die Indiziendafür, dass ganz Deutschland heute unter einer klassischenstatt einer keynesianischen Arbeitslosigkeit leidet, sind über-wältigend. Hier ist erstens die internationale Spitzenpositi-on bei den Löhnen zu erwähnen, die durch das Tarifrechtund die Rückwirkungen des Sozialstaates erklärt wird undseit dem Wegfall einiger Privilegien, die die deutsche Wirt-schaft früher in Europa hatte, ihre Basis verloren hat. Zwei-tens ist darauf zu verweisen, dass die deutsche Arbeitslo-sigkeit seit 1970 allmählich, einem linearen Trend folgend,aufgebaut wurde und kein kurzfristiges Phänomen ist. Key-nesianische Arbeitslosigkeit kann sich nicht so lange hal-ten. Sie ist nur im Konjunkturverlauf relevant. Drittens zeigtdie extrem niedrige deutsche Investitionsquote (vgl. Abb. 10),dass die Unternehmen zunehmend darauf verzichten, dieeuropäische und außereuropäische Nachfrage nach ihrenProdukten von Deutschland aus zu bedienen, weil sich dieProduktion in Deutschland immer weniger lohnt.69

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69 Der Mainstream der deutschen Professoren der Volkswirtschaftslehrestimmt heute der so genannten neoklassischen Synthese zu, nach der es,je nach Wirtschaftslage, klassische und keynesianisch verursachte Ar-beitslosigkeit geben kann, und die weitaus überwiegende Mehrheit siehtsicherlich den Löwenanteil der aktuellen deutschen Arbeitslosigkeit alsklassisch an. Dessen ungeachtet neigen die Medien dazu, die kleine Grup-pe der Keynesianer so zu präsentieren, dass die Öffentlichkeit den Ein-druck der Gleichgewichtigkeit haben muss. So ist es zum Beispiel ein Fak-tum, dass bis auf eines alle Mitglieder des Sachverständigenrates undwohl alle Mitglieder des großen wissenschaftlichen Beirates beim Bun-desministerium für Wirtschaft und Arbeit nicht keynesianisch orientiert sind.Auf internationaler Ebene sind die Verhältnisse noch eindeutiger. Nur einwinziger Teil der Fachökonomen der Welt käme auf die Idee, die deut-schen Probleme keynesianisch zu erklären. Mit dem dogmatischen Key-nesianismus, der in Deutschland von interessierter politischer Seite ge-pflegt wird, macht sich das Land in den Augen der internationalen Fach-öffentlichkeit lächerlich. Vgl. L. Siegele, »Four Wise Men and a Woman –The Modernization of a Feudal Profession,« The Economist; 20. Januar2005, S. 32 f.

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Im Falle einer klassischen Arbeitslosigkeit ist ein Exportboom,auch wenn er zu mehr inländischer Wertschöpfung führt,kein Indikator für Handels- oder Globalisierungsgewinne.Das Gegenteil ist der Fall.

Für das Verständnis der recht komplizierten Zusammen-hänge ist es nützlich, zwischen kapitalintensiv und arbeits-intensiv produzierenden Sektoren zu unterscheiden. Kapi-tal und Arbeit sind die wesentlichen Produktionsfaktoren derWirtschaft. Da die verschiedenen Sektoren der Wirtschaftganz unterschiedliche Produktionsverfahren nutzen, gibtes im Hinblick auf die Kapitalintensität der Produktion, alsodas Einsatzverhältnis von Kapital und Arbeit, in der Regelerhebliche Sektorunterschiede. So ist zum Beispiel die Au-tomobilindustrie relativ kapitalintensiv, während die Textilin-dustrie eher arbeitsintensiv produziert.

Statt an Realkapital im engeren Sinne kann man bei der ka-pitalintensiven Produktion auch an Humankapital im Sinnevon Menschen mit einem hohen Ausbildungsstand den-ken, die mit ungelernten Arbeitern kooperieren. In der Pra-xis geht Kapitalreichtum im engeren Sinne mit dem Vor-handensein einer Elite gut ausgebildeter Fachkräfte einher,so dass der Kapitalbegriff in einem das Sach- und Human-kapital umfassenden Sinne verstanden werden kann undmit dem Begriff Arbeit entsprechend nur die einfache Arbeitgemeint ist.

Nach dem Lehrbuchmodell der Außenhandeltheorie veran-lasst die Integration zwischen den kapitalreichen Länderndes Westens und den kapitalarmen, aber reichlich mit Ar-beit ausgestatteten Ländern der ehemals kommunistischenHemisphäre die Länder des Westens, sich auf die kapital-intensiven Wirtschaftssektoren zu spezialisieren und die ar-beitsintensiven Sektoren zurückzunehmen. Zusätzlichkommt es zu Wanderungen von Arbeitskräften und Kapital.Davon sei aber im Moment noch abstrahiert; die Abstrakti-on wird weiter unten aufgehoben.

Der Mechanismus, durch den die Integration und Handels-öffnung die kapitalintensiven Sektoren des Westens ex-pandieren lässt, läuft über die Angleichung der relativen Prei-se der kapital- und arbeitsintensiv produzierten Güter aufdem Wege des internationalen Handels. Vor der Handels-öffnung waren die relative Preise der kapitalintensiven Gü-ter im kapitalreichen Land klein, und im kapitalarmen Landgroß. Durch die Öffnung des Handels werden die relativenPreise der kapitalintensiv produzierten Güter in die Richtungdes höheren Niveaus gezogen, das in den kapitalarmen Län-dern vor der Handelsöffnung bestand. Durch die Preiser-höhung bei den kapitalintensiv produzierten Gütern wird esim kapitalreichen Land lohnend, die Produktionsfaktoren Ar-beit und Kapital aus den arbeitsintensiven in die kapitalin-tensiven Branchen zu transferieren. Die arbeitsintensivenSektoren schrumpfen, weil sie einerseits durch die Niedrig-

lohnkonkurrenz aus dem Ausland und andererseits durchdie zu Hause wachsende Kapitalnachfrage und die des-halb steigende Kapitalentlohnung bedrängt werden. Die ka-pitalintensiven Sektoren hingegen kommen bei steigendenPreisen international gut ins Geschäft, weil sich die arbeits-reichen Länder auf die arbeitsintensiv produzierten Güterspezialisieren und diese Güter auf den Weltmärkten anbie-ten, um damit die kapitalintensiven Güter zu kaufen. DieArbeitslöhne des kapitalreichen Landes sinken bei diesemProzess, denn die kapitalintensiven Sektoren würden rela-tiv zu dem Kapital, das ihnen zuströmt, bei konstanten Löh-nen nicht so viel Arbeit aufsaugen, wie die arbeitsintensivenSektoren freisetzen. Nur bei fallenden Löhnen und einer ent-sprechenden Senkung der Kapitalintensität aller Sektorengelingt es, das Beschäftigungsniveau konstant zu halten,obwohl die arbeitsintensiven Sektoren sukzessive durchdie kapitalintensiven Sektoren ersetzt werden.

Die Lohnsenkung ermöglicht es den arbeitsintensiven Sek-toren, ihre Position trotz der Niedriglohnkonkurrenz aus demAusland leidlich zu verteidigen. Bei niedrigeren Löhnen undkleinerem Produktionsniveau bleiben sie auf den inländi-schen Faktormärkten wettbewerbsfähig und können demKapital, von dem sie ja nicht so viel benötigen, eine im In-land konkurrenzfähige Entlohnung bieten. Da die kapitalin-tensiven Sektoren von der Senkung der Arbeitslöhne weni-ger stark profitieren als die arbeitsintensiven Sektoren, blei-ben die arbeitsintensiven Sektoren trotz der Senkung ihrerrelativen Preise in der Regel im Geschäft. Soweit die Lehr-buchtheorie für eine Welt mit flexiblen Arbeitsmärkten, dieArbeitslohnsenkungen zulassen, bis die Arbeitsmärkte ge-räumt sind.

Wenn die Arbeitslöhne freilich nicht flexibel sind, weil dieLohnersatzleistungen des Sozialstaates das alte Lohnniveauzementieren, werden die arbeitsintensiven Sektoren von derausländischen Niedriglohnkonkurrenz voll getroffen. Sieschrumpfen sehr stark und geben sehr viel Kapital und sehrviele Arbeitskräfte für die kapitalintensiven Sektoren frei, dieumso schneller expandieren. Da der Arbeitslohn konstantist, können die arbeitsintensiven Sektoren keine höheren Ka-pitalrenditen bieten und sind auf dem heimischen Kapital-markt gegenüber den kapitalintensiven Sektoren, deren Ab-satzpreise wegen der Handelsöffnung steigen, nicht mehrwettbewerbsfähig.

Die kapitalintensiven Sektoren, denen nun Kapital und Ar-beit reichlich zur Verfügung stehen, produzieren verstärktfür den Export, und die im Inland fehlenden arbeitsintensivproduzierten Güter werden verstärkt importiert. In den ka-pitalintensiven Sektoren entstehen freilich nicht genug Ar-beitsplätze, eben weil sie kapitalintensiv sind. Außerdementfällt der Anreiz, bei fallenden Arbeitslöhnen arbeitsin-tensiver zu produzieren und auf diese Weise Arbeitsplätzezu schaffen.

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Im Lichte der engeren Interpretation des Kapitalbegriffs wirddie Ökonomie zu einer nur noch dünn mit Menschen besetztenIndustrielandschaft, die mit Werkhallen gefüllt ist, in denenRoboter ihr Werk verrichten und werthaltige Aggregate end-montiert werden. Arbeitsintensive Verrichtungen und mensch-liche Dienstleistungen werden relativ zum Kapitaleinsatz fürMaschinen und Vorprodukte in den Hintergrund gedrängt.Die Arbeitslosigkeit steigt, und der aufgrund der Globalisie-rung ermöglichte Handelsgewinn verringert sich, weil ein Teilder vorhandenen Produktionsfaktoren ungenutzt bleibt.

Im Lichte der um Humankapital erweiterten Interpretation blei-ben in den Ländern des Westens vor allem jene Produktions-prozesse übrig, die relativ viele höherwertige, ingenieur- unddesignintensive Tätigkeiten implizieren, während diejenigen Pro-zesse, die vor allem einfache, mechanische Arbeit benötigen,sehr stark zurückgedrängt werden. Auch bei dieser Interpre-tation gibt es Arbeitslosigkeit. Allerdings handelt es sich dabeispeziell um eine Arbeitslosigkeit der einfachen Arbeiter. In je-dem Fall fällt auch jetzt der Handelsgewinn kleiner aus, als esim Falle flexibler Löhne für einfache Arbeit der Fall wäre.

Möglicherweise schlägt der Handelsgewinn sogar in einenHandelsverlust um. Das ist dann der Fall, wenn die kapital-reichen Länder groß genug sind, um trotz der starren Ar-beitslöhne einer vollständigen Spezialisierung auf kapitalin-tensive Wertschöpfung zu entgehen. Damit ihnen das ge-lingt, müssen sie diese Wertschöpfung so weit ausdehnen,dass sie auf den Weltmärkten das relative Preisniveau derentsprechenden kapitalintensiven Produktion trotz der ho-hen Nachfrage seitens der kapitalarmen Länder auf das Ni-veau drücken, auf dem es bei ihnen vor der Handelsöff-nung lag. Die kapitalarmen, neu am Handel beteiligten Län-der sehen sich dann im Vergleich zur Autarkielage einer ex-trem großen Änderung der relativen Preise gegenüber underzielen sehr hohe Handelsgewinne.

Die kapitalreichen Länder erzielen stattdessen überhaupt kei-ne Gewinne mehr. Im Gegenteil. Sie machen Verluste, weil ei-nerseits Handelsgewinne stets mit Preisänderungen einher-gehen müssten und sie andererseits einen Teil ihrer Arbeits-kräfte nicht mehr beschäftigen. Handelsgewinne kann mannur erzielen, wenn man Importe im Ausland billiger kaufenkann, als man sie selbst produzieren könnte. Wenn die kapi-talreichen Länder so massiv in den Export gehen, dass sietrotz der Nachfrage aus den kapitalarmen Ländern eine Er-höhung der relativen Preise der Exportleistungen verhindern,können sie am Handel nicht mehr gewinnen, und wenn siedas tun, indem sie einen Teil der in den arbeitsintensiven Sek-toren freigesetzten Menschen nicht mehr beschäftigen, dannmüssen sie sogar Handelsverluste in Kauf nehmen.

Diese Schlussfolgerungen sind fundamental für die Funkti-onsweise von Marktwirtschaften, die durch starre Arbeits-löhne am Faktorpreisausgleich gehindert werden. Sie folgen

aus harten ökonomischen Gesetzen, denen die politischeMacht nicht viel entgegensetzen kann (vgl. Kasten).

Die beschriebenen Effekte unterstellen, dass die westlichenLänder sich gemeinsam gegen den Faktorpreisausgleichstemmen. Wie weit diese Effekte auf ein einzelnes Land über-tragbar sind, dessen Arbeitslöhne noch starrer als die deranderen sind, ist im Endeffekt schwierig zu beurteilen. Eskommt aber auf jeden Fall auch aus der Sicht eines einzel-nen Landes zu einem Übermaß an Spezialisierung und in-ternationalem Handel, weil überhöhte und starre Arbeits-löhne die arbeitsintensiven Branchen zu stark zurückdrän-gen und zu viel Kapital in die kapitalintensiven Sektorenvertreiben. Auch der Handelsgewinn ist für dieses Land klei-ner, als es bei flexiblen Löhnen der Fall wäre.

Bei den betrachteten Sektoren kann es sich um vertikal in-tegrierte Produktionsketten handeln, wie sie von der amtli-chen Statistik definiert werden. Die Sektorbegriffe Automo-bilindustrie oder Textilindustrie kennzeichnen zum Beispielsolche Ketten. Es kann sich aber auch um die verschiede-nen Glieder dieser Ketten selbst handeln. Diese Interpreta-tion ist im Lichte der Basar-Hypothese von besonderem In-teresse. Es liegen zwar keine statistischen Informationendarüber vor, wie sich die Kapitalintensität der Produktion mitder Kundennähe ändert, eben weil die amtliche Statistikanders gliedert. Dennoch sprechen die Berichte über kon-krete Outsourcing-Aktivitäten von Firmen in diesem Punkteeine klare Sprache. Stets geht es um die Aufgabe beson-ders arbeitsintensiver Produktionsprozesse und ihren Ersatzdurch Ankauf von Vorleistungen bei Zulieferern, die in Nied-riglohnlohnländern produzieren. Im Verein mit der Beob-achtung, dass das Exportvolumen schneller als die Wert-schöpfung im Export wächst, lässt dies keinen anderenSchluss zu, als dass es sich bei den kundennahen Down-stream-Aktivitäten um kapitalintensivere Aktivitäten handelt.

Es gibt auch theoretische Gründe für die Vermutung, dassdie kundennahen Glieder vertikaler Produktionsketten kapi-talintensiver als die kundenferneren Glieder arbeiten. MehrNähe zum Endkunden bedeutet nämlich mehr in Vorleistun-gen gebundene Wertschöpfung, die Huckepack mit der lau-fenden Wertschöpfung in Richtung Endkunden transpor-tiert werden muss. Die Vorleistungen sind zwar nur ein Stromvon Waren, aber sie werden in den Zwischenlägern der Fir-men zu Beständen, die erhebliches Vorratskapital binden,bisweilen sogar mehr, als in den Ausrüstungen enthalten ist.Bei gleicher durchschnittlicher Verweildauer in den Lägernder Produktionsstufen folgt, dass der auf einen Arbeiter ent-fallende Wert des Vorratskapitals umso höher ist, je näherein Glied der Wertschöpfungskette beim Endkunden liegt.Basar-ähnliche Produktion ist deshalb besonders kapitalin-tensiv. Obwohl dieser Zusammenhang nicht zwingend ist,weil sich ja pro Arbeiter das in Maschinen gebundene Kapi-tal mit wachsender Kundennähe verringern könnte, ist er

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Warum die Globalisierung bei klassischer Arbeitslosigkeit in einem kapitalreichen Land zu einem Exportboom, Arbeitslosigkeit und Handelsverlusten führt: Eine modelltechnische Erläuterung (für Ökonomen)

Zur formalen Begründung des im Text gebrachten Arguments betrachte man ein Zwei-Länder-Heckscher-Ohlin-Modell, das Grundmodell der reinen Außenhandelstheorie: Beide Länder verfügen über das gleiche technologische Wissen, doch das eine Land ist kapitalreich und das andere kapitalarm, wobei der Begriff Kapital im Sinne von Sach- und Humankapital interpretiert werden kann und der Begriff Arbeit dementsprechend als einfache Arbeit zu verstehen ist. Die Faktorbestände beider Länder sind gegeben.Vor der Handelsöffnung war der Arbeitslohn im kapitalreichen Land höher als im kapitalarmen Land, und die Entlohnung des Kapitals war im kapitalarmen Land höher als im kapitalreichen Land. Bei flexiblen Arbeitslöhnen erhöht die Eröffnung des internationalen Handels im kapitalreichen Land den relativen Preis des kapitalintensiven Gutes, erhöht dessen Produktion und senkt die Produktion des arbeitsintensiven Gutes. Im kapitalreichen Hochlohnland wandern Kapital und Arbeit vom arbeitsintensiven in den kapitalintensiven Sektor. Das Verhältnis von Arbeitslohn und Kapitalentlohnung fällt. Außerdem fällt der reale Arbeitslohn in Einheiten beider Güter, was beide Sektoren des kapitalreichen Landes veranlasst, weniger kapitalintensiv zu produzieren. Im kapitalarmen Land ist es umgekehrt. Kapital und Arbeit wandern von den kapitalintensiven in die arbeitsintensiven Sektoren. DasVerhältnis von Arbeits- und Kapitalentlohnung sowie der reale Arbeitslohn (in Einheiten beider Güter) steigen, was beide Sektorenveranlasst, kapitalintensiver zu produzieren. Im Handelsgleichgewicht ist das Güterpreisverhältnis in beiden Ländern gleich, unddamit sind auch die realen Faktorpreise in den Ländern gleich. Beide Länder erzielen durch die Öffnung der Grenzen Handelsgewinne, weil sich das Preisverhältnis der Güter im Vergleich zur Autarkielage ändert. Beide Länder können nämlich deshalb einen Teil ihres Warenverbrauchs durch Importe billiger als durch Eigenproduktion befriedigen.

Wenn demgegenüber der Arbeitslohn und damit implizit auch die Kapitalentlohnung (feste Faktorpreisgrenze) im kapitalreichen Hochlohnland festgezurrt ist, kommt es zu einer ganz anderen Entwicklung. Wie Richard A. Brecher im Quarterly Journal of Economics und Donald R. Davis im American Economic Review gezeigt haben, wird das kapitalreiche Land in die Arbeitslosigkeit getrieben.1 Außerdem ergeben sich für den Fall einer inneren Lösung, bei der beide Länder nach wie vor beide Güter produzieren, eine Reihe weiterer Implikationen.

Da die Arbeitslöhne wegen des Faktorpreisausgleichs in beiden Ländern angeglichen werden, der Arbeitslohn im kapitalreichen Land aber fixiert ist, muss in diesem Land soviel Arbeit in die Arbeitslosigkeit abgedrängt werden, dass das durchschnittliche Faktoreinsatzverhältnis beider Länder nun flächendeckend den hohen Arbeitslohn des kapitalreichen Landes rechtfertigt. Der relative Preis des kapitalintensiv produzierten Gutes bleibt dann so niedrig, wie er es im kapitalreichen Land vor Öffnung der Grenzen war.

Das hat Implikationen, die in der Literatur so bislang nicht hergeleitet worden sind, die aber auf der Basis der zitierten Modelle auf der Hand liegen. Da der relative Preis des kapitalintensiv produzierten Gutes niedriger ist als bei Freihandel mit flexiblen Arbeitslöhnen, spezialisiert sich das kapitalarme Land noch stärker auf die Produktion des arbeitsintensiven Gutes, als es bei flexiblen Arbeitslöhnen der Fall wäre, und folglich ist sowohl das Handelsvolumen als auch der Handelsgewinn des kapitalarmen Landes größer. Damit der sich so ergebende Tauschwunsch vom kapitalreichen Land befriedigt werden kann, muss dort im Verhältnis zur Lösung mit flexiblen Arbeitslöhnen noch mehr von dem kapitalintensiven und noch weniger von dem arbeitsintensiven Gut produziert werden. Es gibt also dort einen Exportboom, der durch die Starrheit der Arbeitslöhne hervorgerufen ist. Der Exportboom kommt bei konstanten Faktorpreis-, Faktoreinsatz- und Güterpreisverhältnissen durch eine entsprechende Anpassung der Arbeitslosigkeit zustande, denn nach dem Rybczynski-Theorem lässt sich durch die Verringerung des Beschäftigungsstandes eine hinreichende Schrumpfung des arbeitsintensiven, importierenden Sektors und ein hinreichendes Wachstum des kapitalintensiven, exportierenden Sektors erreichen. Im Vergleich zur Lohnflexibilität bei Freihandel bringt dieseLösung also Arbeitslosigkeit und mehr Exporte des kapitalreichen Landes sowie größere Handelsgewinne für das kapitalarme Land hervor. Die Wohlfahrt des kapitalreichen Landes ist freilich kleiner als ohne den Handel, weil sich das Güterpreisverhältnis nicht ändert, die Transformationskurve aber wegen der Arbeitslosigkeit nach innen rutscht. Der Exportboom des kapitalreichen Landes und seine Arbeitslosigkeit sind gemeinsame Kennzeichen des Wohlfahrtsverlustes, den dieses Land bei der Eröffnung des internationalen Handels erleidet, wenn es seinen hohen Arbeitslohn gegen die Kräfte des Faktorpreisausgleichs verteidigt.

An dieser Interpretation ändert sich aus theoretischer Sicht nichts Wesentliches, wenn die Sektoren, die das Heckscher-Ohlin-Modell unterscheidet, in Form zweier vertikal verketteter Produktionsstufen angeordnet sind, die ihre Wertschöpfung jeweils mitHilfe von Arbeit und Kapital erbringen. Allerdings ergeben sich dann wichtige empirische Implikationen zum Thema Exportweltmeisterschaft und Basar-Effekt. Es sei angenommen, dass die kundenfernere (upstream) Produktionsstufe industrielle Vorleistungen produziert, die auch importiert werden können. Da sie selbst ohne Vorleistungen arbeitet, benötigt sie kein Vorratskapital und arbeitet weniger kapitalintensiv als die kundennähere (downstream) Stufe, der Basar, der die industriellen Endprodukte herstellt und die Vorleistungen der Vorstufe auf Lager halten muss. (Alternativ kann man annehmen, dass die kundenfernere Produktionsstufe mit weniger Humankapital arbeitet.) Man kann das Heckscher-Ohlin-Modell ohne weitere Veränderungen für die Beschreibung einer solchen Ökonomie verwenden, wenn man an die Stelle der Güter die Wertschöpfungsbeträge der Stufen setzt. Der Umstand, dass die Wertschöpfungsbeträge dann Kuppelprodukte sind, entspricht im Heckscher-Ohlin-Modell einer besonderen Präferenzstruktur mit Leontief-Präferenzen, die durch feste Kombinationen der nachgefragten Güter gekennzeichnet sind. Eine solche Präferenzstruktur ist mit dem Modell vollauf kompatibel. Ex- und Importe des Heckscher-Ohlin-Modells müssen in diesem Fall freilich als Wertschöpfungsbeträge statt als Güterströme interpretiert werden. Dadie Basarstufe kapitalintensiver als die Vorleistungsstufe arbeitet, spezialisiert sich das kapitalreichere Land auf diese Stufe, setzt dort mehr Produktionsfaktoren ein und erzeugt dort auch mehr Wertschöpfung. Wegen des Huckepack-Effektes, der weiter unten im Text noch erläutert wird, wächst das Exportvolumen noch schneller als die exportinduzierte Wertschöpfung. Die Lohnstarrheit führt zu einem pathologischen Anstieg der Wertschöpfung im Basar und einem ebenfalls pathologischen, freilich noch stärkeren Anstieg des Exportvolumens.

1) R. A. Brecher, “Minimum Wage Rates and the Pure Theory of International Trade”, The Quarterly Journal of Economics 88, 1974, S. 98–116; D. R. Davis, ”Does European Unemployment Prop up American Wages? National Labor Markets and Global Trade”, American Economic Review 88, 1998, S. 478–494.

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Basar-Ökonomie

doch eines der fundamentalen Ergebnisse der so genann-ten temporalen Kapitaltheorie Eugen von Böhm-Bawerks,die dogmengeschichtlich am Beginn der Kapitaltheorie standund später unter anderem durch die Arbeiten des Nobel-preisträgers Maurice Allais wieder aufgegriffen wurde.70

Es ist zudem nicht unplausibel zu unterstellen, dass in den ba-sar-ähnlichen Endstufen der Produktion auch mehr Human-kapital in Relation zu einfacher Arbeit gebunden ist. Die End-stufen verlangen in der Regel mehr dispositive Tätigkeiten so-wie Tätigkeiten, die mit dem Design und dem technischen Ent-wurf der Produktion zu tun haben. Erfahrungsgemäß bleibendiese Tätigkeiten in Deutschland, während die einfacheren, ehermechanischen Tätigkeiten in das Ausland verlagert werden.

Insofern folgt aus der dargestellten Theorie des Sektor-wandels tatsächlich, dass sich die kapitalreichen Länder aufdie kundennahen Downstream-Aktivitäten spezialisieren unddass diese Spezialisierung bei starren Arbeitslöhnen pa-thologische Ausmaße in dem Sinne annimmt, dass die ex-portinduzierte Wertschöpfung zu schnell steigt. Außerdemfolgt aus der simplen Mechanik des Basar-Effekts, dass mitder wachsenden Wertschöpfung in den Basaren Huckepackimmer mehr Waren durch das Land geschleust werden, dassalso das Exportvolumen selbst noch viel rascher wächst.

Es ist nun an der Zeit, den Abstraktionsgrad der Analyse zureduzieren und die Annahme fester nationaler Faktorbe-stände aufzugeben, also die internationale Wanderung vonKapital und/oder Arbeit zuzulassen. Leider führt diese Lo-ckerung der Annahmen nicht zu einer Entwarnung. Bei star-ren Arbeitslöhnen werden die pathologischen Reaktionender Ökonomie eher größer.

Zum einen kann man davon ausgehen, dass in den Län-den des Westens wegen der hohen und unflexiblen Ar-beitslöhne viel geringere Renditen auf Sach- und Human-kapital verdient werden können als in den ex-kommunisti-schen Ländern Europas und Asiens. Dies führt zu einem Ka-pitalexport, der zusätzliche Arbeitslosigkeit impliziert.71

Zum anderen locken die im Vergleich zum Ausland künst-lich hoch gehaltenen Löhne für einfache Arbeit Immigranten

an, während für diese Immigranten wegen der starren Löh-ne keine zusätzlichen Arbeitsplätze bereitgestellt werden kön-nen. Es kommt zu einer Immigration in die Arbeitslosigkeit.Sofern die Lohnersatzleistungen des Sozialstaates, die derGrund für die Lohnstarrheit sind, nur den Einheimischen ge-währt werden, handelt es sich dabei allerdings nicht um ei-ne direkte Immigration in die Arbeitslosigkeit. Vielmehr neh-men die Migranten die Jobs und drängen die Einheimischen,die sich wegen der Lohnersatzleistungen nicht auf eine Nied-riglohnkonkurrenz einlassen, in die Arbeitslosigkeit.72

Inwieweit diese Mechanismen in Deutschland tatsächlich ab-laufen, ist debattierbar. Um hierzu endgültige Klarheit zu ge-winnen, wird mehr empirische und theoretische Forschungnotwendig sein. Die Überlegungen machen aber zumindesteines klar: Die These, Deutschland profitiere von der Globali-sierung, weil seine exportinduzierte Wertschöpfung beson-ders schnell steigt, ist ökonomisch sinnlos. Diese These ent-springt einer allzu primitiven Sicht des marktwirtschaftlichenGeschehens, die keynesianische Nachfrageeffekte unbese-hen von der kurzen auf die lange Frist überträgt. Gerade weilstarre Löhne die arbeitsintensiven Sektoren zu stark zurück-drängen und Kapital und Arbeit in die kapitalintensiven Sek-toren vertreiben, wächst die exportinduzierte Wertschöpfungbesonders stark, während gleichzeitig Arbeitslosigkeit undWohlfahrtsverluste entstehen. Arbeitslosigkeit, wachsendeWertschöpfung im Außenhandel, Basar-Effekt und Exportre-korde sind die gemeinsamen Kennzeichen einer pathologi-schen Reaktion auf die Kräfte der Globalisierung, die durchdie Starrheit der Löhne hervorgerufen wird.

Natürlich folgt daraus nicht im Umkehrschluss, dass wach-sende Wertschöpfung im Außenhandel, Basar-Effekt und Ex-portrekord selbst eine pathologische Reaktion beweisen. Einsolcher Zusammenhang ist schon deshalb nicht möglich, weilalle drei Phänomene als solche auch bei einer gesunden Spe-zialisierung der Wirtschaft zu beobachten wären. Es folgt aber,dass diese Phänomene nicht zur Unterscheidung zwischenpathologischen und gesunden Reaktionen taugen. Das ent-scheidende Kriterium hierfür, es sei wiederholt, sind die Fak-tormärkte selbst, und sie geben leider, wie in Abschnitt 3 ge-zeigt wurde, derzeit nicht den geringsten Anlass zum Opti-mismus. Die deutsche Massenarbeitslosigkeit und die Wachs-tumsschwäche passen nicht zu einer günstigen Interpretationder deutschen Reaktion auf die Kräfte der Globalisierung.

Es folgt aus der Analyse auch nicht, dass Deutschland bis-lang keine Vorteile aus der Globalisierung gezogen hätte. Die-ser Schluss ist nicht zulässig, weil Deutschland früher keinHochlohnland, sondern ein Niedriglohnland war. Als wir uns

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70 Vgl. E. von Böhm-Bawerk, Kapital und Kapitalzins, 2 Bände, Verlag derWagner’schen Universitätsbuchhandlung, Innsbruck 1889; M. Allais, In-fluence du coefficient capitalistic sur le revenue national réel par tête, ISI-doc. 61, Tokio 1960; ders., »The Influence of the Capital Output Ratio onReal National Income«, Econometrica 30, 1962, S. 700 ff.; sowie E. Helm-städter, Der Kapitalkoeffizient. Eine kapitaltheoretische Untersuchung,Gustav Fischer, Stuttgart 1969.

71 Ohne die Zunahme der Arbeitslosigkeit käme es zu einer Verringerung deskapitalintensiven Sektors, einer Verringerung des Exportvolumens, einerErhöhung des Weltmarktpreises für die kapitalintensiven Güter und einerSenkung der Arbeitslöhne. Da letzteres ausgeschlossen ist, kann die An-passung nur so geschehen, dass das Beschäftigungsvolumen noch wei-ter fällt. Dadurch werden das Schrumpfen des kapitalintensiven Sektorsund der Anstieg des Weltmarktpreises für das kapitalintensive Gut ver-hindert, was das alte Lohnniveau rechtfertigt.

72 Vgl. H.-W. Sinn, »Migration, Social Standards and Replacement Incomes.How to Protect Low-income Workers in the Industrialized Countries againstthe Forces of Globalization and Market Integration«, CESifo Working Paper No. 1265, August 2004; NBER Working Paper No. 10798, Sep-tember 2004.

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nach dem Krieg wieder in das Welthandelssystem integrie-ren durften, taten wir das zu extrem niedrigen Löhnen. DieAnsprüche der Deutschen waren nach dem verlorenen Kriegminimal, und der Tendenz zum Faktorpreisausgleich standbei uns nichts entgegen, weil sie ja bei den Löhnen damalsfür uns nach oben gerichtet war, nämlich in die Richtung derLöhne der vom Krieg verschonten Länder, insbesondere derUSA. Deutschland hatte deshalb flexible Löhne und konntedie möglichen Gewinne aus einer Verbesserung des interna-tionalen Handels vollständig ausschöpfen. Die Erfolge wa-ren so groß, dass man von einem Wirtschaftswunder sprach.

Heute befinden sich die osteuropäischen Länder und Chi-na in einer ähnlichen Situation, wie sie damals für Deutsch-land bestand. Und bei uns geht der Faktorpreisausgleich beiden Löhnen heute nach unten statt nach oben. Da wir ihnnicht zulassen, wird der Kuchen nun nicht mehr größer, son-dern wieder kleiner.

Noch schlimmer würde die Lage, wenn wir uns entschlös-sen, zur Verteidigung unserer Löhne gegen die Niedrig-lohnkonkurrenz die Grenzen dicht zu machen und protek-tionistische Maßnahmen einzuführen. Dann würde der Ku-chen erst recht verkleinert. Wir würden dann nämlich auchdie Handelsvorteile vernichten, die wir in der Nachkriegs-zeit bereits aufgebaut haben und die unseren Wohlstand biszum heutigen Tag maßgeblich erklären.

9. Eine Bemerkung zum Argument Samuelsons

Die Skepsis bezüglich der Frage, ob ein Industrieland wieDeutschland heute zu den Globalisierungsgewinnern gehört,wird auch von Paul Samuelson geteilt, Nobelpreisträger undBegründer der modernen Volkswirtschaftslehre, aber doch mitganz anderen Argumenten.73 In einem viel beachteten Artikelim Journal of Economic Perspectives hat er im letzten Jahrdarauf hingewiesen, dass die Länder der Dritten Welt durchtechnischen Fortschritt bei der Produktion von Industriegü-tern in die Lage versetzt werden könnten, den Industrieländerndes Westens bei den von ihnen exportierten Industriegüternmehr Konkurrenz zu machen, so dass die Preise der Indus-triegüter sich relativ zu den Preisen anderer Güter, vornehm-lich Agrarprodukte und Rohstoffe, verringern. Bisher habe derHandel zwischen den Industrieländern und den Ländern derDritten Welt die Preise der Industriegüter in Relation zu denPreisen von Agrarprodukten und Rohstoffen in der westlichenWelt erhöht und in der Dritten Welt gesenkt. Dies habe beidenRegionen Spezialisierungsgewinne gebracht. Doch nun gehedie Reise in dem Sinne rückwärts, dass die Länder der DrittenWelt, bedingt durch einen einseitig auf Industriegüter konzen-trierten technischen Fortschritt, in die Lage versetzt werden,

ebenfalls mehr Industriegüter zu produzieren. Das drücke diePreise der Industriegüter und vernichte die Handelsgewinnedes Westens, während die Länder der Dritten Welt natürlichvom Produktivitätsfortschritt profitierten.74

Der Kern des Arguments ist, dass die bislang unterentwi-ckelten Länder den Industrieländern ähnlicher werden unddass insofern die Voreile aus dem Handel dahin schmel-zen. Handel schafft Handelsgewinne, wenn die Länder sichstark unterscheiden, konkret: wenn sie bei Autarkie, also oh-ne Handel, sehr unterschiedliche Güterpreisrelationen hät-ten. Wenn die Länder der Dritten Welt ihre Produktivität nichtin allen Sektoren gleichmäßig steigern, sondern speziell beiden von ihnen bislang importierten Industriegütern, dannwerden die Autarkiepreisrelationen einander ähnlicher, unddie Vorteile aus dem Handel schwinden.

Das Samuelson-Argument ähnelt dem hier gebrachten inso-fern, als es ebenfalls auf der Erkenntnis aufbaut, dass die Han-delsgewinne umso kleiner sind, je weniger der Handel in der La-ge ist, die Güterpreisrelationen eines Landes von seinen Au-tarkiepreisrelationen fortzubewegen. Dennoch ist es im Kernganz anders. Einerseits gibt es bei Samuelson keine Lohn-starrheit und keine Arbeitslosigkeit, was bei seiner amerikani-schen Sicht ja verständlich ist. Andererseits impliziert das Samu-elson-Argument statt einer Erhöhung eine Verminderung desinternationalen Handels. Weil die Länder der Dritten Welt demWesten wegen des asymmetrisch wirkenden technischen Fort-schritts ähnlicher werden, fällt der Handel in sich zusammen,und bei geringerem Handel gibt es geringere Handelsgewinne.

Dieser von Samuelson nicht betonte Aspekt des Argumentsist befremdlich, denn er passt ja nun überhaupt nicht zu demsich stürmisch entwickelnden Handelsvolumen der Welt.Praktisch überall nimmt der Handel in Relation zum Sozial-produkt zu statt ab. Unter Samuelsons Annahme flexiblerPreise und Löhne kann man die dramatische Ausweitungdes Welthandels nur so interpretieren, dass sich die Preis-relationen aller beteiligten Länder immer weiter von den Au-tarkiepreisrelationen entfernen, so dass bei den beteiligtenLändern im Gegensatz zu Samuelsons Behauptung zu-sätzliche Handelsgewinne entstehen.

Bei Samuelson werden die Preisrelationen bei bereits beste-hendem Handel durch asymmetrischen technischen Fort-schritt in der Dritten Welt wieder in Richtung des Autarkie-preisniveaus zurückgedrückt, und deshalb schrumpfen dieExporte der entwickelten Länder. Bei dem hier stattdessenunterbreiteten Argument können sich die Preisrelationen trotzeiner weiteren Handelsöffnung kaum weiter von den Autar-

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73 P. Samuelson, »Where Ricardo and Mill Rebut and Confirm Argumentsof Mainstream Economists Supporting Globalization«, Journal of Econo-mic Perspectives 18, S. 135–146.

74 Avinash Dixit und Gene Grossman haben in einem Kommentar zu Samu-elson darauf hingewiesen, dass die Annahme sich verschlechternder Termsof Trade für Amerika empirisch nicht stimmt: A. Dixit and G. Grossman,»Samuelson Says Nothing about Trade Policy«, mimeo, Princeton Uni-versity 2004.

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kiepreisrelationen entfernen, als bislang schon, weil die Löh-ne starr sind. Deshalb schrumpfen die arbeitsintensiven Sek-toren zu schnell, und die kapitalintensiven Sektoren wach-sen zu rasch, ohne dass sie in der Lage wären, alle freige-setzten Arbeiter zu absorbieren. Das rasche Wachstum derkapitalintensiven Sektoren geht mit einer übermäßig raschenZunahme des Exports von Industriegütern und wachsenderArbeitslosigkeit einher. Das Industrieland reagiert übermäßigpreiselastisch auf die wegen der Handelsöffnung zunehmendeNachfrage nach seinen Produkten und bremst so den Preis-anstieg der exportierten Industriegüter. Da die Preisrelationensich nicht oder nur wenig ändern, doch ein wachsender Teildes Arbeitskräftepotentials ungenutzt bleibt, fällt die nationaleWohlfahrt. Der Exportboom ist pathologischer Natur.

Prima Facie passt nur diese Erklärung zu Deutschlands Prob-lemen. Deutschland zieht sich nicht aus dem internationa-len Handel zurück, wie es der Fall sein müsste, wenn dasSamuelson-Argument auf unser Land anwendbar wäre, son-dern es ist mit Abstrichen Vizeweltmeister beim Export. Au-ßerdem leidet es unter einer immer weiter steigenden Ar-beitslosigkeit. Ja es ist, wie gezeigt, OECD-Weltmeister beider Arbeitslosigkeit der gering Qualifizierten, weil es einedurch das Sozialsystem von unten her dicht zusammenge-stauchte, starre Lohnstruktur hat. Und es ist Schlusslichtbeim Wachstum. Das alles passt haargenau zusammen.

10. Warum der wachsende Außenbeitrag kein Indikator für Handelsgewinne ist

Reformgegner, die sich mit dem Basar-Effekt konfrontiert se-hen, haben schlichtere Argumente. Sie pflegen auf den wach-senden deutschen Außenbeitrag hinweisen, den sie als Zei-chen der Wettbewerbsstärke Deutschlands interpretieren. DerAußenbeitrag ist die Differenz zwischen den Exporten und denImporten. Zu beiden Größen gehören Waren und Dienstleis-tungen gleichermaßen, und zu den Importen gehören nichtnur die oben betrachteten importierten Vorleistungen, sondernauch die Importe von Fertigwaren. Da die Wertschöpfung imExport auch dann steige, wenn man sie um alle Importe be-reinige, so das Argument der Reformgegner, sei klar, dassDeutschland international wettbewerbsfähig sei und seine Ge-winne aus dem internationalen Handels weiter vergrößere.Zwar sei es richtig, dass immer größere Teile des Exportes vor-her aus dem Ausland importiert werden, doch auch, wennman die Importe abziehe, verbleibe noch ein positiver Effektauf das deutsche Wirtschaftswachstum, und dieser Effekt wer-de durch den Anstieg des Außenbeitrags gemessen. Die Ver-treter dieses Arguments sind so zahlreich, dass es müßig ist,sie hier im Einzelnen aufzuführen. Unter ihnen, man muss esgestehen, gibt es auch Ökonomen.

Das Wort Außenbeitrag entstammt der keynesianischen Ana-lyse, aus der auf der Basis der Arbeiten von Richard Stone

(Nobelpreis 1984) seinerzeit das Rechenwerk der volks-wirtschaftlichen Gesamtrechnung entstanden ist. Es sug-geriert etwas positives, einen Beitrag zum Wachstum derVolkswirtschaft. Und in der Tat ist die Meinung verbreitet,dass ein hoher Außenbeitrag gut für Deutschland ist und Ar-beitsplätze schafft. Die Wahrheit ist aber doch eine andere.

Richtig ist, dass kurzfristige Schwankungen des Außenbei-trags, die durch Änderungen der ausländischen Konjunk-turlage verursacht sind, Nachfrageschwankungen für deut-sche Waren bedeuten, die entsprechende Schwankungendes Auslastungsgrades der deutschen Produktionskapazi-tät mit gleichgerichteten Änderungen der Beschäftigungnach sich ziehen. Der Außenbeitrag hat deshalb in der Kon-junkturanalyse seinen Platz. Kurzfristige Wachstumsprog-nosen, bei denen es um Änderungen des Auslastungsgra-des der Produktionskapazität geht, benötigen stets eine Hy-pothese zur Entwicklung des Außenbeitrags. Im Jahr 2004lag der konjunkturelle Impuls, der vom Außenbeitrag aus-geht, zum Beispiel bei 1,1%.75 Er war in diesem Jahr dereinzige wirkliche konjunkturelle Impuls der Wirtschaft.

Es ist auch richtig, dass eine kurzfristige Zunahme des Au-ßenbeitrags im Rahmen der verfügbaren Produktionskapa-zität eine Erhöhung des Sozialprodukts und der Beschäfti-gung zur Folge hat.

Aber das sind keine dauerhaften, sondern nur konjunkturelleEffekte. Dauerhaftes Wachstum im Inland wird nicht durchdie Verbesserung des Auslastungsgrades der Produktions-kapazität, sondern nur durch die Erhöhung dieser Kapazitätselbst erzeugt. Und in dieser Hinsicht ist ein positiver Außen-beitrag eher problematisch. Er verringert das Wachstum derProduktionskapazität, weil er einen Kapitalexport in das Aus-land sowie Geschenke des Inlandes an das Ausland misst.Wenn ein Land mehr Waren und Leistungen an das Auslandliefert, als es von dort bekommt, muss es den Überschuss anWaren und Leistungen entweder verschenken oder gegen Ver-mögenstitel eintauschen. Der geschenkte Teil, die so ge-nannten Transfers, umfasst die Heimatüberweisungen derGastarbeiter, die Entwicklungshilfe, Nettozahlungen an die EUund Ähnliches. Der gegen Vermögenstitel eingetauschte Teilumfasst Kredite, die bei Inländern Forderungen gegen Aus-länder begründen, sowie Vermögenskäufe im Ausland, wiezum Beispiel den Erwerb von Schuldverschreibungen, Real-kapital, Firmen, Aktien, Devisen und dergleichen. Wenn alsozum Beispiel Amerikaner mehr deutsche Waren kaufen, alssie uns amerikanische Waren verkaufen, dann geben sie unsdafür Geld, und wir verwenden dieses Geld, um Geschenkean Ausländer zu machen oder ausländische Vermögenstitelzu erwerben, deren Verkäufer dadurch in die Lage versetzt

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75 Dieser Wert liegt um 0,3 Prozentpunkte unter dem oben erwähnten Wachs-tumseffekt, der sich unter Berücksichtigung des Basar-Effektes ergibt, weildie Importe nicht nur exportinduziert anzogen, sondern auch noch ausanderen Gründen.

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werden, mehr zu konsumieren oder zu inves-tieren. Auf jeden Fall verlieren wir im Umfangdes Außenbeitrags Kapital an das Ausland.

Zieht man vom Außenbeitrag die laufendenTransfers an das Ausland ab, erhält man denso genannten Leistungsbilanzüberschuss,und zieht man hiervon die Zunahme der De-visenbestände der Bundesbank ab, erhältman eine Größe, die offiziell Nettokapitalex-port genannt wird. Alle drei Größen hängenin der Praxis, wie Abbildung 18 zeigt, engmiteinander zusammen.

Dabei ist die Zunahme der Devisenbestän-de der Bundesbank, auch wenn die offiziel-le Statistik diese Bezeichnung nicht wählt,ebenfalls ein Kapitalexport. Einerseits kön-nen nämlich ausländische Notenbanken ih-re Geldmenge inflationsfrei erhöhen, indemsie Wertpapiere ankaufen, die private Inves-toren ausgegeben haben, um damit Investi-tionen zu finanzieren. Die Zunahme des De-visenbestandes bei der Bundesbank ist dannaus ökonomischer Sicht ein zinslos an dasAusland vergebener Kredit und damit einökonomischer Kapitalexport.

Andererseits legt die Bundesbank ihre Devisenbestände zu-meist selbst wiederum in kurzfristigen verzinslichen Anla-geformen wie z.B. Treasury Bills an, ohne dass dies in derZahlungsbilanz als Umbuchung erscheint. Insofern steht hin-ter dem Devisenimport in aller Regel sogar ein verzinslicherKapitalexport.

Im Übrigen stellen auch die Transfers an das Ausland einenKapitalabfluss dar, weil es sich bei diesen Transfers um Ver-mögensansprüche handelt, die dem Ausland geschenkt wer-den. Man nennt diesen Abfluss zwar nicht Kapitalexport,weil ihm später keine Rückflüsse gegenüberstehen. Aberdennoch misst er den Verlust an Kapital, das im Inland hät-te investiert werden können.

Zusammenfassend kann man deshalb feststellen, dass derdeutsche Außenbeitrag den Nettokapitalabfluss vonDeutschland in das Ausland misst, wobei ein Teil des Kapi-tals verzinslich angelegt, ein Teil zinslos verliehen und ein an-derer Teil verschenkt wird. Der Außenbeitrag misst die Fi-nanzierungsmittel, die vom inländischen Kapitalmarkt in aus-ländische Verwendungen fließen und für inländische Inves-titionen nicht mehr zur Verfügung stehen.

Abbildung 18 illustriert den Verlauf des deutschen Außen-beitrages und des Leistungsbilanzüberschusses seit 1980,wobei vor der Vereinigung nur Westdeutschland dargestelltist. Man sieht, dass beide Größen sich sehr ähnlich entwi-

ckeln, weil die laufenden Übertragungen an das Ausland inder Zeit wenig schwanken, wenngleich sie trendmäßig zu-nehmen. Während der Außenbeitrag fast durchweg positivwar, hatte die Leistungsbilanz in den Jahren nach der Ver-einigung negative Werte angenommen. Im Jahr 2003 lagder Leistungsbilanzsaldo bei 2,2% des deutschen Brutto-inlandsproduktes und im Jahr 2004 bei 3,6%.

Die Aussage, dass der Außenbeitrag den deutschen Ka-pitalabfluss misst, ist rein definitorischer Natur. Sie hatnichts mit der Frage zu tun, durch welche Kräfte der Au-ßenbeitrag bestimmt wurde, ob also die Nachfrage nachdeutschen Gütern, die verringerte Importlust der Konsu-menten oder der autonome Wunsch, Kapital in das Aus-land zu exportieren, dahinter steht. Definitorisch gilt, dassdie Ersparnis einer Volkswirtschaft der Summe aus ihrenNettoinvestitionen und ihrem Außenbeitrag abzüglich derTransfers an das Ausland entspricht, egal ob Außenbei-trag und Nettoinvestitionen die Ersparnis bestimmen, wiees bei kurzfristigen Konjunktureffekten der Fall ist, oder obdie Ersparnis auf dem Wege über den Kapitalmarkt dieNettoinvestitionen und den Außenbeitrag treibt, was län-gerfristig der relevantere Zusammenhang ist. Der Hinweisdarauf, dass der Außenbeitrag den Kapitalabfluss misst,besagt deshalb nicht, dass der autonome Wunsch, Kapi-tal zu exportieren, für die Höhe dieses Außenbeitrags maß-geblich ist.

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Abb. 18

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Ein Kapitalabfluss ins Ausland kann gut, und er kannschlecht für die Deutschland sein. Die Antwort auf dieseFrage hängt von den im Ausland und Inland erzielbaren Ka-pitalrenditen und den Gründen für mögliche Abweichun-gen in den Renditen ab. Auf jeden Fall ist er schlecht fürdie deutschen Arbeitnehmer, denn die Arbeit ist das Kom-plement des Kapitals.76 Arbeitsproduktivität und Lohn ste-hen in einer engen Beziehung zum Kapitaleinsatz eines Lan-des. Je weniger Kapital auf dem Wege über einen positi-ven Außenbeitrag ins Ausland abfließt, desto besser ist dasunter sonst gleichen Voraussetzungen für die deutschenArbeitskräfte.

Zu den sonst gleichen Voraussetzungen gehört ein gege-benes Niveau der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Manstelle sich zum Beispiel vor, Gildemeister würde eine Werk-zeugmaschine an einen deutschen statt an einen amerika-nischen Kunden liefern, und die Deutschen Bank würde dasbei deutschen Sparern eingesammelte Geld dem deutschenstatt dem amerikanischen Kunden zur Finanzierung der Ma-schine zur Verfügung stellen. Das würde den Außenbeitragbei unveränderter Nachfrage nach den Produkten der deut-schen Wirtschaft senken, aber das deutsche Wachstumnähme zu, weil die Produktionskapazität in Deutschland stattim Ausland ausgebaut wird. Durch die damit verbundeneSchaffung neuer Stellen wüchse der Verteilungsspielraumfür die deutschen Arbeitnehmer, und der Lohndruck wäregeringer.

Ob der Ersatz einer Auslands- durch eine Inlandsinvesti-tion gut oder schlecht für Deutschland als Ganzes ist, istdamit noch nicht gesagt. Es gibt Konstellationen, bei de-nen die Rückverlagerung der Auslandsinvestition ins In-land aus gesamtwirtschaftlicher Sicht nicht erwünscht ist,obwohl die Arbeitnehmer profitieren würden. Zum Bei-spiel kann es sein, dass ein Land so übersättigt mit Ka-pital ist, dass es sein neues Sparkapital besser im Aus-land anlegt, weil dort viel höhere Erträge verdient wer-den können, als es im Inland möglich wäre. Dieser Fallpasst indes nicht auf Deutschland, denn die Kapitaler-träge sind nicht deshalb so niedrig, weil dieses Land über-mäßig mit Kapital ausgestattet ist, sondern weil die Löh-ne künstlich durch marktfremde Kräfte hochgetriebensind. Das Kapital wandert ins Ausland, obwohl es beimarkträumenden, also die Arbeitslosigkeit vermeidendenLöhnen noch rentable Investitionsprojekte in Deutschlandgäbe.

Wie Abbildungen 10 und 11 gezeigt haben, fällt die deut-sche Nettoinvestitionsquote trendmäßig seit 30 Jahren undist insbesondere in den letzten Jahren unter das Niveauvergleichbarer Länder abgetaucht. Sie lag in den Jahren2001 bis 2004 auf dem zweitniedrigsten Wert aller OECD-Länder. Die geringen Investitionen rufen verschiedene, gleich-zeitig wirkende Nachfrage- und Angebotseffekte hervor, vondenen Deutschland heute nachteilig betroffen ist.

1. Wegen der niedrigen Investitionen fehlt es an konjunk-turell relevanter Binnennachfrage nach den Produktender Investitionsgüterindustrie. Wegen der schwachenBinnennachfrage der Investoren sind auch die einkom-mensabhängigen Importe niedrig, was einen hohen Au-ßenbeitrag schafft.

2. Die verringerten Investitionen implizieren eine ver-langsamte Entwicklung der Produktionskapazitäten beiden Käufern der Investitionsgüter. Das Trendwachstumfällt.

3. Wegen der geringen Investitionen und der Lohnstarr-heit entstehen zu wenig neue Arbeitsplätze. Die Ar-beitslosigkeit steigt. Die Angst um den Arbeitsplatzwächst. Der Konsum geht zurück, und die Ersparnisnimmt zu.

4. Die Schere zwischen den Finanzierungsmitteln, die dieSparer auf dem Wege über das Bankensystem zur Ver-fügung stellen, und den Mitteln, die die Investoren ab-rufen, wird immer größer. Die nicht benötigten Finan-zierungsmittel fließen auf dem Wege über die Finanz-kapitalmärkte ins Ausland. Sie sind gerade so groß,dass das Finanzierungsdefizit der Ausländer beim Kaufdeutscher Waren und Dienstleistungen, also der deut-sche Außenbeitrag oder Exportüberschuss, dadurchgedeckt wird.

Kurzum: Wenn die Investitionen schrumpfen und das Ka-pital ins Ausland flieht, wie es in Deutschland in den letz-ten Jahren auf geradezu alarmierende Weise der Fall war,erlahmt das inländische Wachstum nachfrage- und an-gebotsseitig, steigt die Arbeitslosigkeit und vergrößertsich der Außenbeitrag. Die Interpretation des steigendenAußenbeitrags als Indikator einer steigenden Wettbe-werbsfähigkeit des Industriestandorts Deutschland istabwegig.

Abbildung 19 illustriert die quantitative Bedeutung dieser Zu-sammenhänge in einem Diagramm, das die Nettoinvesti-tionsquote bezüglich des Nettosozialprodukts, den auf dasNettosozialprodukt bezogenen Außenbeitrag sowie die ge-samtwirtschaftliche Sparquote bezüglich des Nettosozial-produkts darstellt. Es ist deutlich zu sehen, wie sich seit demJahr 2001 die Schere zwischen Ersparnissen und Investi-tionen, die den Kapitalexport aus Deutschland und damitzugleich den Leistungsbilanzüberschuss angibt, immer wei-ter geöffnet hat.

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76 Wenn die Produktionsfaktoren in die Faktoren Arbeit und Kapital grup-piert werden, folgt die Komplementaritätseigenschaft aus einfachen An-nahmen über die Mischbarkeit elementarer Produktionsprozesse. Sie isteine fundamentale Erkenntnis der volkswirtschaftlichen Produktionstheorie,die unter anderem erklären kann, warum die deutschen Arbeitnehmer ander gewaltigen Kapitalakkumulation, die seit dem 19. Jahrhundert statt-fand, haben partizipieren können. Dessen ungeachtet kann es innerhalbder Gruppen der Produktionsfaktoren, die Ökonomen zum Faktor Kapi-tal und zum Faktor Arbeit rechnen, Substitutionsbeziehungen geben.

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Der in der Abbildung dargestellte Zuwachs an Ersparnis re-sultiert vermutlich aus der wachsenden Angst der Verbrau-cher vor der Zukunft, die selbst wiederum durch die über-höhten Löhne und die zunehmende Arbeitslosigkeit verur-sacht ist. Wäre Deutschland eine geschlossene Wirtschaftund würden die Löhne über das dann mit Vollbeschäfti-gung vereinbare Niveau getrieben, käme es zu einer Zins-senkung, die die Investitionen ebenfalls vergrößert. So ge-sehen hätte eine Lohnerhöhung dann möglicherweise statteiner Verminderung eine Erhöhung der Investitionen zur Fol-ge.77 In der offenen Wirtschaft, die Deutschland nun einmalist, wird der Zins aber vom Ausland her vorgegeben, und einMehr an Ersparnis überträgt sich stattdessen in eine Ver-größerung des Außenbeitrags, während überhöhte Löhneeine Senkung der Investitionen zur Folge haben.

Die so gegebene Erklärung für den hohen deutschen Au-ßenbeitrag fußt auf der Annahme starrer Löhne. Wären dieLöhne flexibel und gäben sie dem Lohndruck nach, der durchdie Arbeitslosigkeit entstanden ist, so verliefe die Entwick-lung ganz anders.

Erstens stiege das Volumen der Investitionen. Dadurch kä-me es schon kurzfristig zu positiven Multiplikatoreffekten

auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, dieden Auslastungsgrad des Produktionspo-tentials erhöhen. Volkseinkommen und Im-porte stiegen. Wegen der steigenden Im-porte fiele der Außenbeitrag, und automa-tisch stünde auch das Finanzkapital, dasderzeit ins Ausland wandert, für die Finan-zierung der zusätzlichen Investitionen zurVerfügung. Ein kleinerer Außenbeitrag gin-ge mit einer nachfragebedingten Zunahmedes Bruttoinlandsproduktes einher. Außer-dem, und das ist langfristig von größerer Be-deutung, würden die Investitionen die Pro-duktionskapazität erweitern und neue Ar-beitsplätze schaffen. Dies würden die Ar-beitnehmer schon frühzeitig bemerken undwieder neue Hoffnung schöpfen. Ihre Angstum die Zukunft schwände, und sie wärenwieder bereit, langlebige Konsumgüter zu

kaufen. Das würde den Konjunkturaufschwung nachfra-geseitig weiter beflügeln.

Zweitens würden die Unternehmen ihre Investitionen wegender niedrigeren Löhen weniger kapitalintensiv gestalten. In-sofern wäre über den Effekt der Kapazitätserweiterung hin-aus mit der Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze zu rech-nen, was die Produktionskapazität zusätzlich ansteigen lie-ße und die Zuversicht der Bevölkerung noch weiter stei-gern würde. Selbst wenn nun noch ein positiver Außenbei-trag und somit ein Kapitalabfluss verbliebe, wäre das keingrundsätzliches Problem für den Arbeitsmarkt. Schon dieRücknahme der Kapitalintensität der Produktion wäre in derLage, Deutschland allmählich wieder zur Vollbeschäftigungzurückzuführen.

Das alles gilt leider nur im Konjunktiv. Die Realität unsererArbeitsmärkte ist wegen des Tarifrechts und des Sozial-staates ganz anders. Bei starren Löhnen bleibt es bei dementtäuschenden Szenarium der Punkte 1 bis 4, das wir wäh-rend der letzten Jahre beobachten konnten.

Bei diesem Szenarium ist der Kapitalverlust groß, unddie Abfederung des Kapitalverlustes durch die Wahl weniger kapitalintensiver Technologien wird verhindert, sodass Arbeitslosigkeit entsteht. Der durch den Außen-beitrag gemessene Kapitalabfluss ins Ausland kann beistarren Löhnen und folglich festen technischen Einsatz-verhältnissen der Produktionsfaktoren als unmittelbaresMaß für den Verlust heimischer Arbeitsplätze interpre-tiert werden. Als der SPIEGEL ironisch titelte Deutschland:Exportweltmeister (von Arbeitsplätzen), hatte er gar nichtso Unrecht.78

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Abb. 19

77 Vgl. M. Hellwig, »The Relation between Real Wage Rates and Employ-ment: An Intertemporal General-Equilibrium Analysis«, German EconomicReview 5, 2004, S. 263–295. Hellwig untersucht zusätzlich die Möglich-keit, dass der in der geschlossenen Wirtschaft fallende Zins die Erspar-nis verringert, und entwickelt Bedingungen, unter denen eine Lohnerhö-hung Ersparnis und Kapitalakkumulation gleichwohl vergrößert. Sinddiese Bedingungen erfüllt, dann reagiert die Arbeitsnachfrage der Unter-nehmen weniger stark negativ auf eine Lohnerhöhung, als es bei gege-benem Kapitalstock der Fall wäre. In einer kleinen offenen Wirtschaft miteinem von außen gegebenen Zins reagiert die Arbeitsnachfrage aber inder Regel stärker negativ auf eine Lohnerhöhung, weil Ersparnis und In-vestitionen über den Außenbeitrag entkoppelt sind und die Lohnerhöhungeinen Teil des Kapitals aus dem Lande treibt (vgl. die vorige Fußnote zurKomplementarität). 78 Der Spiegel Nr. 44/2004.

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Soviel zu jenen, die glauben, der positive Außenbeitrag seiein Maß für die Wettbewerbsstärke unseres Landes, weil dieImporte von den Exporten ja schon abgezogen seien.

Nun wird im Hinblick auf den internationalen Kapitalverkehrmanchmal auf die Statistik der Direktinvestitionen zwischenDeutschland und dem Ausland verwiesen. Diese Statistikzeigt, dass Deutschland in den Jahren 2002 und 2003 einNettoimporteur von direkt investiertem Unternehmenskapi-tal war.79 Widerspricht dies nicht der Aussage, dass Deutsch-land derzeit sehr viel Kapital an das Ausland abgibt?

Die Antwort ist nein. Die Direktinvestitionen sind nur einsehr kleiner Teil der Kapitalströme. Das weitaus meiste Ka-pital überquert die Ländergrenzen auf dem Wege über dieFinanzkapitalmärkte. Der Außenbeitrag misst den Nettoab-fluss an Kapital ins Ausland, wie er sich unter Einschlussder Direktinvestitionsströme ergibt, und dieser Nettoab-fluss findet statt, wie es oben gezeigt wurde.

Darüber hinaus muss man bedenken, dass Direktinvesti-tionen nicht das messen, was man landläufig meint, näm-lich dass Ausländer im Inland neue Fabriken auf der grünenWiese bauen und dadurch Arbeitsplätze schaffen. Direktin-vestitionen in Deutschland sind überwiegend etwas ganzanderes, nämlich einerseits Käufe von existierenden Fir-men durch Ausländer und andererseits Gewinneinbehal-tungen von Firmen, die sich bereits im ausländischen Ei-gentum befinden, welchem Zweck auch immer diese Ge-winneinbehaltungen dienen.

So war zum Beispiel der Ausverkauf der deutschen Phar-maindustrie an die Franzosen eine Direktinvestition inDeutschland. Diese Direktinvestition hat nicht notwendi-gerweise einen Kapitalfluss nach Deutschland bedeutet,denn die deutschen Aktionäre haben ihre Verkaufserlösewieder am Kapitalmarkt angelegt, wodurch der Löwenan-teil der Finanzmittel postwendend als Portfolioinvestitionenins Ausland zurückgeflossen sein dürfte. Durch diesen Aus-verkauf sind ganz bestimmt keine Arbeitsplätze in Deutsch-land entstanden.

Und wenn IBM Deutschland Gewinne macht und diese Ge-winne am internationalen Finanzkapitalmarkt anlegt, weil sichdas Investieren in Deutschland nicht mehr lohnt, dann zähltdies in der Direktinvestitionsstatistik als Import von Kapitalnach Deutschland, obwohl doch in Wahrheit Finanzmittelvon Deutschland ins Ausland fließen und dort Arbeitsplätzeschaffen.

Nein, Direktinvestitionen haben wirklich nicht viel mit derSchaffung von Arbeitsplätzen in Deutschland zu tun. Die se-mantische Anmutung dieses Wortes und das, was in der

Statistik der Direktinvestitionen wirklich gemessen wird, lie-gen meilenweit auseinander. Nur der Außenbeitrag, alsodie Differenz zwischen Exporten und Importen, misst, wieviel Kapital das Land per saldo wirklich verlässt.

11. Realer Außenbeitrag und Kapitalexport: Ein Eigentor

Nachdem ich schon in meinem Buch Ist Deutschland nochzu retten? klargelegt hatte, dass der Leistungsbilanzüber-schuss den Kapitalexport misst, hat das DIW geantwortet,dass man statt des Leistungsbilanzüberschusses den rea-len, also preisbereinigten Außenbeitrag betrachten müsse,um Aufschluss über die Wettbewerbsfähigkeit eines Landeszu erhalten. Zwar sei der Leistungsbilanzüberschuss demKapitalexport gleich, doch sei der Außenbeitrag etwas an-deres als der Leistungsbilanzüberschuss. Er messe die Vor-teile eines Landes aus der Globalisierung. Insbesondere derreale, preisbereinigte Außenbeitrag sei relevant, denn im Ge-gensatz zum nominalen Außenbeitrag sei er nicht durch blo-ße Umbewertungseffekte aufgrund von Änderungen desWechselkurses verzerrt. Er sei das richtige Maß zur Ermitt-lung der Wettbewerbsfähigkeit eines Lands. So schreibendie DIW-Autoren:80

»Eine bloße Aufwertung der Währung führt bei unveränder-tem Export- und Importvolumen zu einem steigenden no-minalen Außenbeitrag, da der Wert der Exporte zunimmt undder Wert der Importe fällt. Der reale Außenbeitrag aber ver-ändert sich erst dann, wenn eine solche Aufwertung Men-geneffekte nach sich zieht, die allein für die Beschäfti-gungsausweitung relevant sind.«

In einem Artikel im Handelsblatt fügt einer der Autoren hin-zu:81

»Ob eine Volkswirtschaft durch Außenhandel an Wert-schöpfung gewinnt oder verliert, lässt sich nur an dem ge-samtwirtschaftlichen Außenbeitrag ablesen.«

Des Weiteren verschaffen sich die Autoren eine zur Wider-legung geeignete Definition des Basar-Effektes, indem sieschreiben:82

»Eine Tendenz zu einer Basarökonomie müsste sich in ei-nem fallenden Trend des (realen) Außenbeitrags zeigen.«

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79 P. Bofinger, Wir sind besser, als wir glauben, a.a.O., S. 35.

80 G. Horn und St. Behncke, »Deutschland ist keine Basarökonomie«, Wo-chenbericht, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, 71, Nr. 40, 30.September 2004, S. 588. Der erste der genannten Autoren ist mittler-weile nicht mehr am DIW beschäftigt und leitet ein neu gegründetes Ge-werkschaftsinstitut.

81 G. Horn, »Deutschland ist keine Basarökonomie«, Handelsblatt, 4. Okto-ber 2004, S. 9.

82 Ebenda.

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Basar-Ökonomie

Nach dem Aufbau dieses gedanklichen Buhmanns zeigendie Autoren, dass sich der reale Außenbeitrag in den neun-ziger Jahren bis in die Gegenwart hinein erhöht, und sieschließen daraus, dass sich die WettbewerbsfähigkeitDeutschlands verbessert hat, dass Deutschland durch dieGlobalisierung gewinnt und dass keine Tendenz zur Basar-Ökonomie bestehe. Die Financial Times Deutschland kom-mentiert dies mit den Worten:83

»Bereits in der Vergangenheit hatten Kritiker Sinns auf dieenormen deutschen Leistungsbilanzüberschüsse verwie-sen. Sinn hatte erwidert, der Leistungsbilanzsaldo bilde ein-zig Kapitalflüsse aus Deutschland ab und sei deshalb keinIndiz für Wettbewerbsfähigkeit.84 Anders als in früheren Stu-dien benutzen die DIW-Ökonomen deshalb nun für die Be-rechnung des Außenhandelssaldos preisbereinigte Datender Ein- und Ausfuhren. Weil damit die Preise der Exporteund Importe um Veränderungen bereinigt seien, die von Ka-pitalströmen verursacht würden, entgehe man Sinns Argu-ment gegen die Betrachtung der Leistungsbilanz«.

Diese Argumentation klingt zunächst überzeugend. Stattdes Leistungsbilanzüberschusses wird der Außenbeitrag be-trachtet, und dieser Außenbeitrag wird zudem real berech-net, um den Einfluss von Kapitalbewegungen herauszu-rechnen. Da der reale Außenbeitrag positiv ist und wächst,wird Deutschland in der Tat immer wettbewerbsfähiger underzielt immer größere Vorteile aus der Globalisierung!

Dennoch ist die Argumentation nicht haltbar. Erstens istder Unterschied zwischen Außenbeitrag und Leistungsbi-lanzüberschuss im vorliegenden Zusammenhang unerheb-lich. Er besteht, wie im vorigen Abschnitt dargelegt wurde,aus den Transfers des Inlands an das Ausland. Der Außen-beitrag misst, wie viel Kapital von Deutschland durch Ge-schenke, Vermögenserwerb, Kredite und Ähnliches an dasAusland transferiert wird.

Zweitens stellt die Suggestion, die Betrachtung des realenAußenbeitrags eliminiere die Gefahr, statt der Wettbe-werbsfähigkeit die Kapitalflucht aus Deutschland heraus zumessen, die Wahrheit auf den Kopf.

Um einzusehen, warum das so ist, muss man sich vor Au-gen führen, dass der Außenbeitrag wegen des auch von denDIW-Autoren angesprochenen Umbewertungseffektes kurz-fristig stets anomal auf Wechselkursänderungen reagiert. So

führt mehr Nachfrage nach Euros auf den Devisenmärktenzu einer Aufwertung des Euro. Eine solche Aufwertung ver-ringert zwar langfristig den Außenbeitrag, weil den deutschenFirmen das Auslandsgeschäft schwerer fällt. Aber kurzfris-tig, bei zunächst noch gegebenen Lieferkontrakten der Im-und Exporteure, ist es umgekehrt. Die Aufwertung des Euromacht die Importe, die großenteils in Dollar fakturiert sind,nach einer Umrechnung in Eurowerte billiger, ohne dass sicham Eurowert der Exporte etwas ändert. Es entstehen einpositiver Außenbeitrag und ein Überschuss in der Leis-tungsbilanz, der definitionsgemäß ein Kapitalexport ist.

Die Nachfrage nach Euros kann viele Gründe haben. Dazugehören spekulative Erwartungen der Devisenhändler, dieZinspolitiken der Zentralbanken, der Run Osteuropas aufdas für Transaktionszwecke begehrte Euro-Bargeld und vorallem auch der kurzfristige Kapitalverkehr. Letzterer ist einebesonders wichtige Möglichkeit, die von der monetären Au-ßenwirtschaftslehre stets betont wird. Danach könnte derEuro so stark sein, weil die internationalen Kapitalanlegerihr Vermögen in Europa, ja auch in Deutschland anlegen wol-len. Der Wunsch, Kapital nach Deutschland zu exportieren,triebe den Eurokurs in die Höhe, erzeugte kurzfristig einenpositiven Außenbeitrag und erzwänge deshalb einen Kapi-talexport aus Deutschland heraus, also genau in die demWunsch entgegengesetzte Richtung. Dieser scheinbar pa-radoxe Zusammenhang ist in der monetären Außenhan-delstheorie als J-Kurven-Effekt bekannt und nimmt eine zent-rale Rolle bei den theoretischen Erklärungen für das Über-schießen der Wechselkurse und die hohe Volatilität von fle-xiblen Wechselkurssystemen ein.85

Wenn man zeigen will, dass Deutschland ein attraktiver In-vestitionsstandort ist, dann könnte man diesen J-Kurven-Effekt bemühen. Man könnte argumentieren, zwar expor-tiere Deutschland derzeit Kapital, aber dieser Kapitalexportlasse nicht auf einen autonomen Exportwunsch schließen,sondern sei ganz im Gegenteil das Ergebnis eines Kapital-importwunsches, der sich nur kurzfristig wegen der zunächstanomalen Reaktion des Außenbeitrags in einem erzwunge-nen Kapitalexport niederschlage.

Dagegen könnte ich freilich erwidern, dass diese Vermutungnicht stimme, weil auch der preisbereinigte Wert des Au-ßenbeitrages positiv sei, was eine stabile Tendenz zum Ka-pitalexport impliziere, die jenseits kurzfristiger Umbewer-tungseffekte liege. Dazu hätte ich genau die Preisbereini-gung vornehmen müssen, die die DIW-Autoren berechnethaben. Diese Mühe haben mir die Autoren erspart. Ihre Er-gebnisse zeigen zweifelsfrei, dass der positive Außenbeitrag

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83 S. Büning, »Berliner Institut kritisiert Ifo-Chef im Streit um Jobverlagerun-gen«, Financial Times Deutschland, 30. September 2004, S. 16.

84 Anmerkung: Darauf und auf den Zusammenhang mit den Kapitalexpor-ten hatte ich selbst schon in der ersten Auflage meines Buches »IstDeutschland noch zu retten?«, die im Oktober 2003 erschien, hingewie-sen, und zwar bevor irgendjemand zur Basar-These Stellung genommenhatte. Außerdem habe ich natürlich nie gesagt, der Leistungsbilanzsaldobilde »einzig« Kapitalabflüsse ab. Er bildet vielerlei ab, nur definitorisch ister mit dem Kapitalexport identisch.

85 Vgl. St. P. Magee, »Currency Contracts, Pass-through and Devaluation«,Brooking Papers on Economic Activity, 1973; R. Dornbusch, »ExchangeRates and Prices«, American Economic Review 77, 1987, S. 93–106; K.Rose und K. Sauernheimer, Theorie der Außenwirtschaft, 12. überarbei-tete Auflage, Vahlen, München 1995, S. 83 ff.

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Basar-Ökonomie

bzw. der Überschuss der Leistungsbilanz nicht nur ein durchdie kurzfristig anomale Reaktion der Leistungsbilanz her-vorgerufenes Phänomen ist, sondern tatsächlich eine sta-bile längerfristige Basis hat. Besser als durch dieses Eigen-tor hätte man kaum nachweisen können, dass Deutsch-land wegen der hier zu Lande schwindenden Investitions-chancen dazu übergegangen ist, sein Sparkapital im Aus-land anzulegen.

12. Schlussfolgerungen

Nach den vorliegenden empirischen Befunden des ifo Insti-tuts, des Sachverständigenrates und des Statistischen Bun-desamtes ist es zweifelsfrei, dass sich Deutschlands Industrieschleichend in die Richtung einer Basar-Ökonomie entwi-ckelt. Bei den Industrieprodukten, bei den Exporten insge-samt und bei den Exporten des verarbeitenden Gewerbeshat die Fertigungstiefe seit Mitte der neunziger Jahre sehrstark zu Gunsten ausländischer Vorleistungen abgenom-men. Von jedem zusätzlichen realen Euro Export flossen imDurchschnitt der Jahre 1991 bis 2002, über die das Statis-tische Bundesamt Daten geliefert hat, circa 55% direkt inden Kauf von Vorleistungen und Handelswaren aus demAusland.

Die Behauptung, die Verringerung der Fertigungstiefe seivornehmlich durch ein inländisches Outsourcing in denDienstleistungssektor zu erklären, ließ sich widerlegen.Vier Fünftel der Verringerung der Fertigungstiefe des ver-arbeitenden Gewerbes in der Zeit von 1995 bis 2003 sinddurch eine Verlagerung von Wertschöpfung ins Auslandzu erklären. Nur ein Fünftel entfällt auf inländisches Out-sourcing.

Deutschland ist vom Basar-Effekt wesentlich stärker be-troffen als andere Länder, was vermutlich an seiner kultu-rellen und geographischen Nähe zu den Niedriglohngebie-ten Osteuropas liegt. Zwar hat Deutschland wegen seinerGröße und traditionellen Stärke bei der Industrieproduktionnoch immer eine höhere Fertigungstiefe als der Durchschnittder alten EU-Länder. Doch hat sich der Abstand zu diesemDurchschnitt von 1991 bis 2001 nahezu halbiert. Außerdemist die Fertigungstiefe in der Zeitspanne von 1991 bis 2001unter das Niveau der vergleichbaren Länder Frankreich,Großbritannien, Japan und USA gefallen, obwohl sie ur-sprünglich deutlich darüber lag. Unter den Ländern, für dieEurostat Daten zur Verfügung stellt, war es Deutschland, wosich von 1995 bis 2000 der Anteil der importierten Vorleis-tungen an allen Vorleistungen der Wirtschaft am stärkstenvergrößert hat.

Schwierig ist die Frage zu beantworten, ob Deutschland vonder Globalisierung im Allgemeinen und vom Basar-Effektim Besonderen profitiert. Sicherlich profitieren Deutschlands

Exportfirmen und die Firmen des verarbeitenden Gewer-bes vom Basar-Effekt. Doch die Wettbewerbsfähigkeit derdeutschen Arbeiter ist wegen der hohen und starren Lohn-kosten gefährdet. Sie ist genau deshalb gefährdet, weil dieFirmen ihre Wettbewerbsfähigkeit durch Oursourcing undOffshoring in die Niedriglohngebiete erhalten können. Ge-schützt werden Arbeitsplätze durch das Outsourcing nur indem Sinne, dass das Schiff sinken würde, wenn es nichteinen Teil des Ballastes über Bord werfen würde.

Das heißt nicht, dass der Basar-Effekt grundsätzlich schlechtfür Deutschland wäre. Im Gegenteil, das Land hat die Mög-lichkeit, sich als Handelsdrehscheibe zwischen Ost und Westeine neue Basis für weiteres Wachstum zu verschaffen. DieVorstellung, dass unser Land seine reichhaltige Palette anIndustrieprodukten weiter ausbaut und die Deutschen ihrGeld zunehmend durch die Entwicklung und Endmontageder im Ausland vorfabrizierten Vorprodukte verdienen kön-nen, ist nicht irreal.

Ein Erfolgsmodell kann daraus freilich nur entstehen, wenndie deutschen Arbeitsmärkte hinreichend flexibel sind, umtrotz eines umfangreichen Wandels in der Sektorstruktur Voll-beschäftigung zu wahren. Insbesondere müssen die Ar-beitslöhne dem Globalisierungsdruck nachgeben können,wo es erforderlich ist. Im Ergebnis dürfen durch die Verrin-gerung der Fertigungstiefe nur so viele Stellen wegfallen, wiedurch eine Ausweitung der Stellen in den Basaren oder inanderen Sektoren der Wirtschaft neu geschaffen werden.Ist das der Fall, steht zu vermuten, dass unser Land die Spe-zialisierungsvorteile und Handelsgewinne, denen es den wirt-schaftlichen Erfolg der Nachkriegszeit verdankt, noch wei-ter vergrößern kann. Leider hat es aber nicht den Anschein,dass die nötige Flexibilität vorhanden ist.

Seitdem sich die ex-kommunistischen Länder von Osteu-ropa bis China, insgesamt ein Drittel der Menschheit, zu-sätzlich am Welthandel beteiligen und mit extrem niedrigenLöhnen und hohen Renditen um das international mobileKapital buhlen, passen die hohen Löhne und niedrigen Ka-pitalrenditen in unserem Land nicht mehr zur internationa-len Wettbewerbslage. Das System der kommunizierendenRöhren der Weltwirtschaft verlangt den tendenziellen Fak-torpreisausgleich zwischen den Ländern, also insbesonde-re die Annäherung der Löhne. Der Faktorpreisausgleich istein Prozess, der nicht von heute auf morgen passiert, son-dern sich über die nächsten Jahrzehnte erstrecken wird.Es wohnt ihm eine große Kraft und Beharrlichkeit inne, dieman nicht dauerhaft aufhalten kann.

Es ist zwar verständlich, dass sich in Deutschland die Ge-werkschaften und der Sozialstaat mit aller Macht gegen dieTendenzen zur Lohnnivellierung stemmen und die aus bes-seren Zeiten stammenden Lohnstrukturen verteidigen. DieFolge ist jedoch, dass zu viele Arbeitsplätze von Deutsch-

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land ins Ausland verlagert werden und zu wenig neue Ar-beitsplätze an anderen Stellen der deutschen Wirtschaft ent-stehen. Die Reise in Richtung Basar-Ökonomie geht zuschnell. Eine Entwicklung, die prinzipiell positiv ist und grund-sätzlich als Verbesserung der internationalen Arbeitsteilunginterpretiert werden kann, ist wegen der hohen und starrenLöhne in ihrem Ausmaß übertrieben.

Den massenhaften Arbeitsplatzverlusten im verarbeiten-den Gewerbe stand leider kein Aufbau neuer Arbeitsplät-ze an anderer Stelle gegenüber. Von 1995 bis 2004 sind,um Kalendereffekte bereinigt und in Vollzeitäquivalentengerechnet, 1,26 Millionen Arbeitsplätze in der Industrie (pro-duzierendes Gewerbe ohne Bau) verloren gegangen, dochim Rest der Wirtschaft hat sich das Beschäftigungsvolu-men nicht vermehrt, obwohl es dort umfangreiche interneVerschiebungen gab und die Teilzeitbeschäftigung zuge-nommen hat. Ja, die Zahl der vollzeitäquivalenten Arbeits-plätze nahm im Rest der Wirtschaft sogar etwas ab (– 30 000), so dass die gesamte deutsche Beschäftigungin Vollzeitäquivalenten von 1995 bis 2004 um 1,29 Millio-nen Personen sank. Die Faktorwanderung fand nicht zwi-schen den Sektoren der privaten Wirtschaft statt, wie esbei einem effizienten Outsourcing und Offshoring der Fallwäre, sondern ging zum allergrößten Teil von der Industriein den Sozialstaat.

Zu der Fehlentwicklung kam es, weil die Lage heute fun-damental anders ist als in der Nachkriegszeit. Handelsge-winne gehen immer mit einem tendenziellen Faktorpreis-ausgleich einher. Doch damals war dieser Ausgleich leichtfür Deutschland, weil die Löhne niedrig waren. Einer ra-schen Lohnerhöhung in die Richtung der Niveaus der Sie-germächte stellte sich in Deutschland niemand entgegen.Bis zum heutigen Tage erklären die damals begründetenHandelsgewinne den hohen Wohlstand der Deutschen. MitChina, Polen und Tschechien jedoch ist der Faktorpreis-ausgleich für uns Deutsche schwierig, weil der Lohndrucknach unten geht und eine weitere Zunahme der Handels-vorteile nur noch in dem Sinne zu haben ist, dass ein Teilder Lohnbezieher ein kleineres Stück von einem absolutgrößer werdenden Kuchen erhält. Je massiver die Wider-stände gegen eine solche Lösung sind, desto unwahr-scheinlicher ist es, dass es Deutschland gelingt, seine Han-delsgewinne durch die Beteiligung der ex-kommunistischenLänder am Welthandel noch weiter zu steigern. Wachs-tumsschwäche und Massenarbeitslosigkeit sprechen ei-ne deutliche Sprache.

Manche glauben, man könne den Beleg für eine erfolgrei-che Reaktion auf die Globalisierung in der Entwicklung derexportinduzierten Wertschöpfung sehen. Da das Statisti-sche Bundesamt gezeigt hat, dass diese Wertschöpfungschneller als das Bruttoinlandsprodukt gestiegen ist, folge,dass der Außenhandel den deutschen Wohlstand auch noch

in jüngster Zeit habe mehren können. Diese Argumentationsteht auf schwachen Füßen. Dass die exportinduzierte Wert-schöpfung schneller als das Bruttoinlandsprodukt steigt,ist nämlich fast schon eine Tautologie. Exportgüter sind die-jenigen Güter, auf die ein Land sich nach der Eröffnung desHandels spezialisiert. Spezialisierung heißt definitionsgemäß,dass Faktoren in die Exportproduktion wandern, so dassdas dort verdiente Faktoreinkommen, eben die Wert-schöpfung, überproportional steigt. Die Zunahme der ex-portorientierten Wertschöpfung ist eine normale Begleiter-scheinung der Handelsöffnung, die wir Globalisierung nen-nen, doch einen Beleg für Handelsgewinne liefert sie nicht.

Die exportinduzierte Wertschöpfung steigt auch, wenn sichein Land, wie Deutschland es tut, auf Basar-Tätigkeiten spe-zialisiert, also seine Produktion im kundennahen Down-stream-Bereich vertikaler Produktionsketten ausbaut. In die-sem Fall wandern die Produktionsfaktoren aus den arbeits-intensiven Upstream-Aktivitäten, bei denen komparativeHandelsnachteile bestehen, sowie aus anderen arbeitsin-tensiven Sektoren in die Basare. Dadurch steigt das in denBasaren verdiente Einkommen, also die Wertschöpfung,im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt. Da die Erhöhungder Wertschöpfung in den Basaren stets mit einer Zunah-me der exportierten Vorleistungen einhergeht, muss das Ex-portvolumen freilich noch schneller wachsen als die ex-portinduzierte Wertschöpfung. Die Elastizität des Export-volumens bezüglich der exportinduzierten Wertschöpfungliegt in Deutschland bei 1,36. Das bedeutet, dass eine Zu-nahme der exportinduzierten Wertschöpfung um 1% dasExportvolumen in Deutschland um 1,36% steigert.

Die relative Zunahme der exportinduzierten Wertschöp-fung lässt sich nicht als Handelsgewinn interpretieren, weilihr eine relative Abnahme in anderen, mit den Importenkonkurrierenden Sektoren gegenübersteht, bei denenDeutschland komparative Handelsnachteile hat. Ob persaldo Handelsgewinne entstehen, kann an der Bruttozu-nahme der Wertschöpfung nur eines Sektors nicht ab-gelesen werden.

Das ist insbesondere auch deshalb nicht möglich, weil dieZunahme der exportinduzierten Wertschöpfung pathologi-sche Ursachen haben kann. Ein Land, das seine Löhne überdem internationalen Wettbewerbsniveau festzurrt, ist zu ei-ner übermäßigen Spezialisierung auf kapitalintensive Gütergezwungen. Die starren Löhne vernichten zu viel arbeitsin-tensive Produktion und zwingen das Land, seine Bedürf-nisse durch wachsende Importe zu befriedigen, die selbstwiederum mit wachsenden Exporten bezahlt werden müs-sen. Diese Exporte werden unter Verwendung nur eines Teilsder im arbeitsintensiven Sektor freigesetzten Arbeitskräftesowie des gesamten dort freigesetzten Kapitals produziert.Bei starren Löhnen ist eine übermäßige Exportentwicklungim Verein mit einer zunehmenden Arbeitslosigkeit das nor-

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male Krankheitsbild eines Landes, das außerstande ist, dieGlobalisierung zum eigenen Vorteil zu nutzen.

Auch der positive Außenbeitrag Deutschlands lässt sich ent-gegen einer verbreiteten Auffassung nicht als Indikator fürdeutsche Globalisierungsgewinne interpretieren. Das gehtschon deshalb nicht, weil der Außenbeitrag definitionsge-mäß dem Kapitalabfluss von Deutschland ins Ausland gleicht.Bei starren Löhnen und deshalb festliegenden Faktorein-satzverhältnissen ist der Außenbeitrag als Maß für die Ver-lagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland zu interpretieren.Das gilt insbesondere dann, wenn, wie es der Fall ist, auchder reale und von kurzfristigen Umbewertungen durch Wech-selkurschwankungen befreite Außenbeitrag positiv ist.

Um es zusammenzufassen: Ob Deutschland Globalisie-rungsgewinner ist und den Basar-Effekt zum eigenen Vor-teil nutzen kann, lässt sich nicht am Außenhandel, sondernnur an den Faktormärkten erkennen. Sie müssen auf demWege entsprechender Faktorwanderungen die Hauptlastder Spezialisierung tragen, die die Voraussetzung jeglicherHandelsgewinne ist. Leider hat es nicht den Anschein, dassdie deutschen Faktormärkte gut funktionieren. DeutschlandsNettoinvestitionsquote ist seit der deutschen Vereinigungdramatisch gesunken und nimmt heute den zweitniedrigs-ten Wert aller OECD-Länder an. Und Deutschlands Ar-beitsmarkt erzeugt trotz der umfangreichen Versteckaktio-nen der Vergangenheit immer mehr Arbeitslosigkeit. Selbstim jetzigen Boom der Weltwirtschaft, der alles in den Schat-ten stellt, was während des letzten Vierteljahrhunderts be-obachtet werden konnte, werden weiterhin Arbeitsplätze inDeutschland abgebaut. Die offensichtlichen Defizite desArbeitsmarktes und die Investitionsschwäche sind nicht ir-gendwelche binnenwirtschaftlichen Probleme, die unab-hängig vom Außenwirtschaftsgeschehen bestehen, sondernder unmittelbare Reflex der Kräfte der Globalisierung. DassDeutschland dasjenige Land in West- und Mitteleuropa ist,das seit 1995 am langsamsten gewachsen ist, belegt, dassdieses Land die Kräfte der Globalisierung noch nicht zumeigenen Vorteil hat ummünzen können.

Es wäre fatal, wenn die Politik aus dieser Analyse den Schlusszöge, man müsse die Kräfte der Globalisierung durch einenneuen Handelprotektionismus abschwächen, um den Druckauf die deutschen Löhne auf diese Weise zu verringern. Ei-ne solche Politik würde auch die alten Handelgewinne aufsSpiel setzen, denen Deutschland seinen Wohlstand bis-lang maßgeblich verdankt. Wer diesen Beitrag als Globali-sierungskritik und Aufruf zum Protektionismus versteht, hatihn nicht verstanden. Gegen den Protektionismus kann mannicht intensiv genug angehen. Die richtige Politikreaktion liegtstattdessen in dem 6+1-Punkte-Programm, das ich in mei-nem Buch Ist Deutschland noch zu retten? vorgeschlagenhabe. Zu diesem Programm gehört vor allem die Flexibili-sierung der Arbeitsmärkte im Verein mit einer Politik der Ak-

tivierenden Sozialhilfe, die die Verlierer des Faktorpreisaus-gleichs kompensiert, ohne damit zugleich neue Lohnan-sprüche zu wecken.86 Deutschland kann seine Verteilungs-ziele immer nur mit, und nie gegen die Gesetze der Markt-wirtschaft erreichen. Politische Macht kann ökonomischeGesetze nicht aushebeln.

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86 In seiner Rede vom 15. März 2005 beim Arbeitgeberforum »Wirtschaftund Gesellschaft« in Berlin hat der deutsche Bundespräsident der Politikempfohlen, die Aktivierende Sozialhilfe in Deutschland einzuführen.