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1 PROF. DR. THOMAS RUSTER Basiswissen Dogmatik Stand: Oktober 2005 1. Basisinformationen zu Theologie Dogma Quellen der Dogmatik Lehramt Grundlagenliteratur 2 2. Das Apostelkonzil (ca. 48/49) Kirche aus Juden und Heiden – mit oder ohne Tora? 5 3. Die Konzilien von Nizäa (325), Konstantinopel (381), Ephesus (431) und Chalcedon (451) Trinitätslehre und Christologie in der Alten Kirche 7 4. Die zweite Synode von Orange (529) Natur und Gnade 14 5. Das vierte Konzil im Lateran (1215) Päpstliche Universalgewalt und Umgang mit abweichenden Auffassungen 17 6. Das Konzil von Florenz (1439-1445) Der Konziliarismus 21 7. Das Konzil von Trient (1545-1563), 1. Teil Verständnis der Eucharistie 23 8. Das Konzil von Trient, 2. Teil Die Reform der Kirche 27 9. Das Erste Vatikanische Konzil (1869/79) Jurisdiktionsprimat und Unfehlbarkeit des Papstes 31 10. Die marianischen Dogmen von 1854 und 1950 Unbefleckte Empfängnis Mariens (Immaculata conceptio, 1854) und Leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel (Assumpta, 1950) 35 11. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965), 1. Teil Verständnis von Kirche und von Offenbarung 38 12. Das Zweite Vatikanische Konzil, 2. Teil Kirche und nichtchristliche Religionen/Die Kirche in der Welt von heute 41

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PROF. DR. THOMAS RUSTER

Basiswissen Dogmatik Stand: Oktober 2005 1. Basisinformationen zu Theologie – Dogma – Quellen der Dogmatik – Lehramt

Grundlagenliteratur 2 2. Das Apostelkonzil (ca. 48/49)

Kirche aus Juden und Heiden – mit oder ohne Tora? 5 3. Die Konzilien von Nizäa (325), Konstantinopel (381), Ephesus (431)

und Chalcedon (451) Trinitätslehre und Christologie in der Alten Kirche 7

4. Die zweite Synode von Orange (529)

Natur und Gnade 14 5. Das vierte Konzil im Lateran (1215) Päpstliche Universalgewalt und Umgang mit abweichenden Auffassungen 17 6. Das Konzil von Florenz (1439-1445)

Der Konziliarismus 21 7. Das Konzil von Trient (1545-1563), 1. Teil

Verständnis der Eucharistie 23 8. Das Konzil von Trient, 2. Teil

Die Reform der Kirche 27 9. Das Erste Vatikanische Konzil (1869/79)

Jurisdiktionsprimat und Unfehlbarkeit des Papstes 31 10. Die marianischen Dogmen von 1854 und 1950

Unbefleckte Empfängnis Mariens (Immaculata conceptio, 1854) und Leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel (Assumpta, 1950) 35

11. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965), 1. Teil

Verständnis von Kirche und von Offenbarung 38 12. Das Zweite Vatikanische Konzil, 2. Teil

Kirche und nichtchristliche Religionen/Die Kirche in der Welt von heute 41

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1. Basisinformationen zu Theologie – Dogma – Quellen der Dogmatik –

Lehramt – Grundlagenliteratur a) Theologie Etymologisch ist die Theologie die Lehre von Gott. In christlicher Sicht ist Theologie die wissenschaftliche Durchdringung der Offenbarung. Hans Jorissen definiert: „Die Theologie ist die Reflexion auf den Glauben der Kirche aus dem Glauben der Kirche.“ Voraussetzung der Theologie ist die Offenbarung Gottes im Alten und Neuen Bund. Ihr Gegenstand ist Gott, insofern er sich offenbart hat, damit aber auch die ganze Welt, die von Gott geschaffen ist. Die Theologie ist die einzige Wissenschaft, die in der Welt auf die Welt als Ganze reflektiert; früher wurde sie deshalb die „höchste Wissenschaft“ genannt. Theologie ist eine Wissenschaft, d.h. sie löst Probleme mit wissenschaftlichen Methoden. Theologie ist eine einheitliche Wissenschaft, da sie nur einen Gegenstand hat. Von ihren Arbeitsgebieten hat unterteilt sie sich in Biblische – Historische – Systematische und Praktische Theologie. Die Systematische Theologie ist in die Fächer Dogmatik, Fundamentaltheologie und Moraltheologie (Ethik) unterteilt. Unter Dogmatik ist die systematische Darstellung der gesamten Offenbarungswahrheiten zu verstehen. In der katholischen Kirche sind die Offenbarungswahrheiten in Form von Dogmen formuliert. b) Dogma Dogmen bezeichnen im Allgemeinen Beschlüsse, Lehrsätze oder Verordnungen. Die katholische Kirche versteht unter einem Dogma eine von Gott geoffenbarte Wahrheit, die durch das kirchliche Lehramt ausdrücklich als Gegenstand des katholischen Glaubens verkündigt worden ist. Merkmale eines Dogmas sind somit die Herkunft aus der Offenbarung Gottes und die ausdrückliche Verkündigung durch die Kirche. Ein Dogma muss also stehen – in Übereinstimmung mit der Hl. Schrift (norma normans non normata) – in Übereinstimmung mit der Überlieferung/der Tradition der Kirche (norma normans

normata). Das Lehramt stellt diese Übereinstimmung ausdrücklich fest. – Um in der Kirche als Wahrheit anerkannt zu werden, bedarf ein Dogma der Rezeption

durch die Gläubigen. Hier kommt der Glaubenssinn der Gläubigen (sensus fidelium) zur Wirkung.

Es gibt verschiedene Einteilungen unter den Dogmen, je nach dem ob sie direkt oder indirekt in der Offenbarung enthalten sind, ob sie explizit oder implizit vom Lehramt verkündet worden sind, ob sie ganz oder teilweise dem natürlichen Verstand erreichbar sind. Dogmen können inhaltlich nicht über das hinausgehen, was in der Hl. Schrift enthalten ist. Die Annahme einer Offenbarung außer der Schrift definiert eine Sekte. Es gibt aber eine Dogmenentwicklung in dem Sinne, dass das Verständnis der in der Schrift enthaltenen Wahrheiten fortschreitet, sei es durch positive Vertiefung, sei es durch die Abgrenzung zu Irrlehren. Dogmen sind verbindlich für den Glauben der Kirche. Dagegen sind theologische Schlussfolgerungen nicht glaubensverbindlich, es sei denn, sie werden durch das Lehramt der Kirche autoritativ verkündet. c) Die Quellen der Dogmatik Die Heilige Schrift und die Überlieferung sind die Quellen der Dogmatik. Aus diesen bezieht sie ihre Beweisgründe. Die Hl. Schrift gilt nach katholischer Lehre als inspiriert. Ihre Bücher sind unter der Eingebung des Hl. Geistes geschrieben und haben Gott zum Urheber. Inspiration ist eine

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Einwirkung des Hl. Geistes auf Menschen, die diese bewegt, bestimmte Dinge so aufzuschreiben, wie Gott es will. Inspiration schließt die schöpferische Eigentätigkeit der Verfasser nicht aus. Die Inspiration erstreckt sich nach kath. Lehre auf alle Teile der Schrift und alle darin enthaltenen Tatsachen und Gedanken. Die Hl. Schrift ist frei von jedem Irrtum. Unter den Buchstaben der Schrift können mehrfache Wahrheiten enthalten sein. Welche Auslegung der Schrift in der Kirche als verbindlich gilt, entscheidet das kirchliche Lehramt. Überlieferung (traditio in seinem Doppelsinn: Weitergabe-Weitergegebenes) bezeichnet die auf die mündliche Predigt der Apostel zurückgehende Weitergabe des Glaubens in der Kirche. Nach kath. Lehre tritt die Überlieferung als selbstständige Quelle des Glaubens neben die Hl. Schrift. Das kirchliche Lehramt entscheidet, was zur apostolischen Überlieferung gehört. d) Das kirchliche Lehramt Die kirchliche Lehrverkündigung ist die nächste und unmittelbare Richtschnur des Glaubens. Das kirchliche Lehramt ist unfehlbar, wenn es „in Ausübung seines Amtes als Hirt und Lehrer aller Christen kraft seiner höchsten apostolischen Autorität eine den Glauben oder die Sitten betreffende Lehre als eine von der ganzen Kirche festzuhaltende entscheidet“ (1. Vatikanisches Konzil). Träger der unfehlbaren Lehrgewalt ist der Papst allein („wenn er ex cathedra spricht“, ebd.) und ein allgemeines (ökumenisches) Konzil in Verbindung mit dem Papst. Die Bischöfe als Nachfolger der Apostel gehören ebenfalls dem kirchlichen Lehramt an. Ihre Lehrvollmacht ist auf ihre Diözese beschränkt und muss in Übereinstimmung mit der Gesamtkirche vollzogen werden. Auch der über den Erdkreis verstreute Episkopat ist in Verbindung mit dem Papst bei einer einmütigen Verkündigung des Glaubens unfehlbar. Abweichung von der mit unfehlbarer Autorität verkündigten Lehre der Kirche schließt aus der Kirche aus. Dagegen sollen nicht definitive Entscheide des Lehramts von den Gläubigen zwar mit innerer religiöser Zustimmung aufgenommen werden; die Gläubigen können nach gewissenhafter Prüfung aber zu der Überzeugung kommen, dass die Entscheidung auf einem Irrtum beruht. Die Form der kirchlichen Lehrurteile ist entweder die ausdrücklich verpflichtende Darlegung verbunden mit einem lehramtlichen Urteil in Form eines Anathematismus oder eines Kanons, oder ein allgemeines Glaubensbekenntnis (Apostolicum; Nicäno-Konstantinopolitanum) oder eine Glaubenserklärung (professio fidei), die von einer Person zu bekennen ist.

Grundlagenliteratur zur dogmatischen Theologie ♦ Sammlung der kirchlichen Lehrentscheide – Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen

Lehrentscheidungen, herausgegeben von Peter Hünermann, Freiburg-Basel-Wien 402005 (DH)

♦ Dekrete der Konzilien – Dekrete der ökumenischen Konzilien, herausgegeben von Josef Wohlmuth, 3 Bde.,

Paderborn ♦ Katechismus – Katechismus der Katholischen Kirche [1997]. Neuübersetzung aufgrund der Editio typica

Latina, München 2003 ♦ Lehrbuch zur Theologie- und Dogmengeschichte

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– Wolf-Dieter Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, 2 Bde., Gütersloh 1995/1999

♦ Ausgaben von Quellentexten aus Altertum und Mittelalter: – Bibliothek der Kirchenväter, München 1911ff – Fontes christiani. Zweisprachige Neuausgabe christlicher Quellentexte aus Altertum und

Mittelalter, hg. von Norbert Brox u.a., Freiburg-Basel-Wien/Turnhout 1990ff ♦ Text- und Quellensammlungen – Texte zur Theologie, hg. von W. Beinert u.a., 15 Bde., Graz-Wien-Köln 1989ff (tzt) – Kirchen und Theologiegeschichte in Quellen, hg. von H. A. Oberman, A. M. Ritter und

H.-W. Krumwiede, 5 Bde., Neukirchen-Vluyn 1977ff ♦ Dogmatische Handbücher – Wagner, Harald: Dogmatik (Kohlhammer Studienbücher Theologie Bd. 18), Stuttgart

2003 – Beinert, Wolfgang (Hg.): Glaubenszugänge. Lehrbuch der Katholischen Dogmatik, 3

Bde., Paderborn u.a., 1995 – Schneider, Theodor (Hg.): Handbuch der Dogmatik, 2 Bde., Düsseldorf 1992 – Müller, Gerhard Ludwig: Katholische Dogmatik für Studium und Praxis der Theologie,

Freiburg-Basel-Wien ²1996 ♦ Lexika, Nachschlagewerke – Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflage, Freiburg-Basel-Wien 1993ff (LThK³)

[kath.] – Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, Tübingen 1998 [bisher 7 Bde.]

(RGG4) [ev.] – Theologische Realenzyklopedie, 36 Bde., Berlin-New York 1977ff (TRE) – Beinert, Wolfgang: Lexikon der Dogmatik, Freiburg-Basel-Wien 1987 – Neues Handbuch Theologischer Grundbegriffe, hg. von Wolfgang Eicher, 4 Bde.,

München 2005 ♦ Fachzeitschriften – Zeitschrift für Katholische Theologie, Innsbruck (ZKTh) – Theologie und Glaube, Paderborn (ThGl) – Theologische Quartalschrift, Tübingen (ThQ) – Theologische Revue, Münster (Buchbesprechungen) (ThRv) – Concilium. Internationale Zeitschrift für Theologie, Mainz (Conc) – Salzburger Theologische Zeitschrift, Salzburg (SaThZ) Abkürzungsverzeichnis − Schwertner, Siegfried: Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin-New York ²1992 (IATG²)

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2. Das Apostelkonzil (ca. 48/49)

Textgrundlage: Apg 15, 1-29

Der Streitfall und sein historischer Kontext: Kirche aus Juden und Heiden – mit oder ohne Tora?

Jesus wusste sich gesandt zu den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (Mt 15,24 par). Seine Sendung war es, das Haus Israel wieder zu sammeln (analog zu Josua). Dazu gehörte das Programm der Tora-Entschärfung nach innen (Mk 7,14-23) und Tora-Verschärfung nach außen (Mt 5,13ff). Bereits zu seinen Lebzeiten gab es vereinzelt Kontakte mit heidnischen Menschen (Mt 15,21-28 u.ö.). Seine Jünger verstanden die Auferstehung als Aufforderung zur Heidenmission (Mt 28,16-20). Was bedeutete das aber für die Bindung des Volkes Gottes an die Tora? Kann es eine Bundesbeziehung ohne Bundesgesetz geben? Nach der Apg erkannten die Apostel in Jerusalem schon bald, dass zumindest die Reinheitsvorschriften der Tora, vor allem insoweit sie auf die Abgrenzung zu den Heiden gerichtet waren, für Christen keine Gültigkeit mehr haben (Apg 10: Taufe des Kornelius). Gilt das aber für alle Tora-Gebote? Und gleichermaßen für Judenchristen wie für Heidenchristen? Das Neue Testament hat zu dieser Frage sehr viele Positionen. Durchgesetzt hat sich schließlich Paulus, der erklärte, „dass der Mensch nicht durch Werke des Gesetzes gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus“ (Gal 2,16). Im sog. „antiochenischen Zwischenfall“ kam es über die Gesetzesfrage zum Konflikt zwischen Paulus und Petrus (Gal 2,11-21): Petrus hielt mit den Judenchristen zusammen die jüdischen Speisegesetze ein, mit den Heidenchristen nicht. Paulus warf ihm deshalb Heuchelei vor. Im Zusammenhang mit dem Zwischenfall in Antiochien (vorher oder nachher?) reisten Paulus und Barnabas nach Jerusalem, um die Frage der Gesetzesverpflichtung der Heidenchristen zu klären. Es kommt zum sog. Apostelkonzil (oder – konvent), das in Apg 15 beschrieben wird. Die „Apostel und die Ältesten“, unter denen Petrus und Jakobus namentlich genannt werden, kommen zu der Entscheidung von Apg 15,20.29.

Die Positionen „Einige Leute von Judäa“: „Wenn ihr euch nicht nach dem Brauch des Mose beschneiden lasst, könnt ihr nicht gerettet werden“ (Apg 15,1). Paulus: „Käme die Gerechtigkeit durch das Gesetz, so wäre Christus vergeblich gestorben“ (Gal 2,21). Petrus: „Er [Gott] machte keinerlei Unterschied zwischen uns [Juden] und ihnen [Heiden], denn er hat ihre Herzen durch den Glauben gereinigt. Warum stellt ihr also jetzt Gott auf die Probe und legt den Jüngern ein Joch auf den Nacken, das weder unsere Väter noch wir tragen konnten?“ (Apg 15,9).

Die Personen Paulus ist „nicht durch Menschen zum Apostel berufen, sondern durch Jesus Christus und Gott“ (Gal 1,1). Auch sein „Evangelium hat er nicht durch Menschen gelernt, sondern durch die Offenbarung Jesu Christi“ (Gal 1,12). Obwohl durch Gott „vom Mutterleib auserwählt“ (Gal 1,15), hat er doch „als gesetzestreuer Jude die Gemeinde Gottes maßlos verfolgt“ (Gal 1,13), bis ihm Gott (um 31/32) „seinen Sohn offenbarte“ (Gal 1,16). Darauf sofort Mission und erst „nach drei Jahren“ Kontakt mit Petrus und dem Herrenbruder Jakobus in Jerusalem (Gal 1,17-19). Petrus hat vor allem im Mk-Ev eine herausgehobene Rolle (Mk 1,36; 10,28; 11,21). Er gehört zu der Dreiergruppe mit Jakobus und Johannes (Mk 9,2-10; 14,32-42 u.ö.). Lt. Mt 16,16-19 wollte Jesus auf ihn seine „Kirche bauen“. Nach 1Kor 15,5 erschien der

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Auferstandene „dem Kefas“ als erstem. In der Apg gehört er durchgängig zu den führenden Männern der Gemeinde. – Paulus und Petrus: Amtsautorität vs. persönliches Charisma?

Die Entscheidung des Konzils Die Entscheidung, den Heidenchristen „keine andere Last aufzuerlegen als diese notwendigen Dinge: Götzenopferfleisch, Blut, Ersticktes, und Unzucht zu meiden“ (Apg 15,29) steht in sachlicher Kontinuität mit dem sog. „noachidischen Geboten“, die nach jüdischer Überlieferung für alle Menschen gelten (vgl. Gen 9,4-7). Diese noachidischen Gebote lauten: 1. Rechtspflege, 2. Unterlassung von Götzendienst und 3. Gotteslästerung, 4. Unzucht, 5. Blutvergießen, 6. Raub und 7. Genuss von Blut eines lebenden Tieres. Für Juden ist dies das heidnische Minimum für die Gemeinschaft mit Gott. Die Bestimmungen des Apostelkonzils sind im Sinne der priesterlichen Tradition Israels als Reinheitsgebote aufzufassen. Reinheitsgebote formulieren Fehlverhalten in Probleme der Berührung um und regulieren auf diese Weise Sünde und abweichendes Verhalten.

Fragen Das Apostelkonzil steht mitten im Prozess der Entfremdung zwischen Juden und Christen, der schon bald nach Jesu Auferstehung begonnen hat. Die „Kompromissformel“ des Aposteldekrets ist, soweit wir wissen, kaum wirksam geworden. Der Siegeszug der Kirche hat sich auf der paulinischen Linie vollzogen, durch das „gesetzesfreie Evangelium“. Ist aber die von Paulus formulierte Alternative – Rechtfertigung durch Werke des Gesetzes oder durch Glauben? – überhaupt richtig? Ist es nicht vielmehr so: Als Gerechter tut man das Gesetz! Die Frage ist dann aber: Wie wird man ein/e Gerechte/r? Die jüdische Antwort ist: Die Gabe des Gesetzes macht gerecht. Indem Gott Israel sein Gesetz gibt, erwählt er es als sein Volk und macht es gerecht. Christus antworten hier mit Paulus anders: Gerecht wird man, indem man an Christus glaubt. Dann aber gilt: „Beschnitten sein ist nichts, und unbeschnitten sein ist nichts, sondern: Gottes Gebote halten“ (1Kor 7,19). Wie sähe es um das Christentum aus, und wie um seine Beziehung zum Judentum, wäre das Aposteldekret als eine Art „Mischna“ für Christen aufgefasst worden und wäre Gesetzesgehorsam in der Kirche weiter geübt worden?

Leseempfehlungen o Hermann Josef Sieben, Vom Apostelkonzil zum Ersten Vatikanum, Paderborn 1996,

S. 3-8 o Friedrich Wilhelm Marquardt, Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürfen? Eine

Eschatologie, Bd. 1, Gütersloh 1993, S. 200-335 (zu den noachidischen Geboten)

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3. Die Konzilien von Nizäa (325), Konstantinopel (381), Ephesus (431) und Chalcedon (451) (Diese wichtigen Konzilien werden hier in sehr gedrängter Form behandelt, da sie ausführlich in der Veranstaltung „Einführung in die Systematische Theologie“ besprochen werden.)

Textgrundlage: Nizänisches Glaubensbekenntnis, DH 125; Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis, DH 150; Brief Cyrills an Nestorius, DH 250; Glaubensbekenntnis von Chalcedon, DH 301, 302 (Textauszüge im Skript enthalten)

Der Streitfall und sein historischer Kontext: Trinitätslehre und Christologie in der

Alten Kirche „Gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker...“ Wie sollte aber den Menschen aus den Völkern verständlich gemacht werden, was Jesus Christus für Juden bedeutet, die an ihn als den Herrn, den Messias, den neuen Mose, den Menschensohn, den „Sohn Gottes“ (im biblischen Sinn) glauben? Der Übergang des Christentums vom jüdischen in den hellenistischen Raum (der bereits im NT anhebt) stellt den vielleicht größten kulturellen Transformationsprozess der Weltgeschichte dar. In den großen Konzilien der Alten Kirche hat dieser Prozess einen gewissen Abschluss gefunden. Indem (fast) alle Kirchen sich diese Konzilien zu Eigen machen, erklären sie, dass sie die Transformation für gelungen halten: Der Christus der konziliaren Entscheidungen ist kein anderer als der Jesus Christus des Neuen Testaments. Unter den geistigen Voraussetzungen der Antike musste Jesus göttlich sein, um die Heilsbedeutung haben zu können, die ihm der christliche Glaube zuerkannte. Christen bekannten, dass Jesus Christus sie von der Macht des Todes erlöst hatte; dies bedeutete nach dem Weltbild der hellenistisch geprägten Antike: dass er sie aus dem Bereich der Vergänglichkeit in den Bereich der Unvergänglichkeit führt. Irenäus von Lyon (+202) formuliert: „Dazu nämlich ist Gottes Wort Mensch geworden und der Sohn Gottes zum Menschensohne, damit der Mensch das Wort in sich aufnehme und , an Kindes statt angenommen, zu Sohne Gottes werde. Denn anders konnten wir nicht die Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit empfangen, als indem wir mit der Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit vereint würden. Wie hätten wir aber mit der Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit vereint werden können, wenn nicht die Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit vorher das geworden wäre, was wir sind, damit der Vergängliche vom Unvergänglichen und das Sterbliche vom Unsterblichen verschlungen werde und wir die Annahme an Kindes statt empfingen“ (Adversus Haereses, III,18,6) Das Erlösungsmodell hieß also „Vergöttlichung des Menschen“, und deshalb musste Jesus Christus Gott sein, um erlösen zu können. Indem nun die Entwicklung auf ein klares Bekenntnis zur Göttlichkeit Jesu hindrängte, stellte sich das Problem der Einzigkeit Gottes. Verschiedene theologische Versuche des zweiten und dritten Jahrhunderts, die unter der Bezeichnung „Monarchianismus“ zusammenfasst werden, suchten eine Lösung, die Einzigkeit Gottes mit einer göttlichen Funktion oder Rolle Jesu zusammendenken, ohne zur Annahme mehrerer Götter oder göttlicher Personen genötigt zu sein (Adoptianismus, Modalismus). Doch konnte keiner dieser Versuche ganz überzeugen. Durch die Lehre des Arius (+334), eines Presbyters aus Alexandrien, der just in der Zeit des christlichen Kaisers Konstantin auftrat, wurde eine Entscheidung unausweichlich. Arius lehre, auf Vorarbeiten von Origenes (+254) aufbauend, dass Christus das erste und vollkommenste Geschöpf des Vaters ist, erschaffen vor aller Zeit und selber der Schöpfer der ganzen Welt. Aus der Perspektive der Welt nimmt er sich also wie Gott aus, von Gott aus gesehen ist er aber nur Geschöpf und insofern keine Bedrohung der Einzigkeit Gottes („Subordinatianismus“). Kaiser Konstantin und sein Berater Eusebius schienen zu dieser Lösung zu neigen, denn sie war ganz nach dem Modell der kaiserlichen Herrschaft gedacht.

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Im Jahre 325 trat auf Einladung des Kaisers das Erste Ökumenische Konzil in Nizäa (Nikaia) zusammen, um – neben anderen Fragen – das Problem zu klären, ob Jesus wahrer Gott ist oder nur ein Geschöpf. Die Entscheidung des Konzils, das die Wesenseinheit des Sohnes mit dem Vater erklärte, bildet den ersten Teil des kirchlichen großen Glaubensbekenntnisses. Mit dem Konzil von Nizäa war die Lage keineswegs beruhigt. Jahrzehntelang wurden um die Frage weiter gerungen, zumal die Autorität eines Konzils in der Kirche noch nicht durchgesetzt war. Zusammen mit der Gottheit des Sohnes stand bald auch die des Hl. Geistes in Frage. Sie wurde auf dem Konzil von Konstantinopel in der Formulierung des Glaubensbekenntnisses (Nicäno-Konstantinopolitanum) geklärt. Die Frage, wie die Einheit Gottes mit der Dreiheit der göttlichen Personen zusammengeht, war Gegenstand der Trinitätstheologie des 4. und 5. Jahrhunderts. In irgendeiner Weise war die Einheit von „einem Wesen“ und „drei Personen“, also die Einheit von Einheit und Differenz zugleich, zu klären. Eine besonders wichtige Rolle hatten dafür im Osten die drei Kappadozier Basilius der Große (+379), Gregor von Nyssa (+394) und Gregor von Nazianz (+390), im Westen Augustinus (+430) mit seinem großen Werk „De Trinitate“. Nach der Ausbildung des trinitarischen Dogmas und dem Bekenntnis zur Göttlichkeit Jesu Christi stand das Problem der Christologie an: Wie kann eine Person zugleich Gott und Mensch sein? Auch hier ging es also um die Einheit von Einheit und Differenz, nur war das Problem ganz anders gelagert (Trinität: ein Wesen – drei Personen; Christologie: eine Person – zwei Wesenheiten). Eine erste konziliare Klärung dieser erregenden Debatte erfolgte auf dem Konzil von Ephesus (431). Die Fragestellung machte sich an Maria fest: War sie die Mutter Gottes oder die Mutter eines Menschen? Das Konzil entschied im Sinne der Zwei-Naturen-Lehre, dass das Kind der Jungfrau von der Empfängnis an durch den Heiligen Geist Sohn Gottes war. Die christologischen Schulen von Alexandrien und Antiochien boten je verschiedene Problemlösungen. In Alexandrien drohte stets der „Monophysitismus“: Christus hat nur eine Natur, die göttliche, die seine Menschheit gänzlich in sich aufgesogen hat. Antiochien betonte die bleibende Unterscheidung der göttlichen und menschlichen Natur Jesu, hatte aber Schwierigkeiten, die Einheit seiner Person zu denken. Das Konzil von Chalcedon fand – unter maßgeblichem Einfluss des Papstes Leo dem Großen (440-460) − zu einer Formel, die die Vorteile beider Lösungen verband und deren Schwächen vermied: Jesus ist eine Person in zwei Naturen, die sich ungetrennt und unvermischt zueinander verhalten.

Positionen, Personen und die Entscheidungen der Konzilien Folgende Übersicht aus meiner Christologie-Vorlesung aus dem WS 2003/04 soll helfen, den komplexen Prozess der altkirchlichen Dogmenbildung zu verdeutlichen: Arius und der Subordinatianismus: Der alexandrinische Presbyter Arius (+334) wurde durch den biblischen Glauben an einen Gott, mehr aber noch durch den Platonismus (→ Origenes) zu folgendem trinitarischen Modell gedrängt: Gott ist einzig, ungeworden, ewig, unveränderlich. Der Sohn ist sein erstes Geschöpf, in allem ihm gleich außer dem Ungewordensein (an-arche), er erschafft die Welt und geht in den Leib Jesu ein. Eusebius, der Hoftheologe Konstantins, hielt es mit ihm, aber Arius' Bischof Alexander von Alexandrien bekämpfte ihn. Der Kaiser verfolgte ihn als Unruhestifter. Schließlich berief dieser das Erste Ökumenische Konzil von Nizäa (325) ein. Die Konzilsväter verurteilten die arianische Lehre und formulierten folgendes Symbolon:

WIR GLAUBEN AN DEN EINEN HERRN JESUS CHRISTUS, DEN SOHN GOTTES, ALS EINZIGGEBORENER AUS DEM VATER GEZEUGT, DAS HEIßT AUS DEM WESEN (ousia) DES VATERS, GOTT AUS GOTT, LICHT AUS LICHT, WAHRER GOTT AUS WAHREM GOTT, GEZEUGT, NICHT GESCHAFFEN,

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WESENSGLEICH (homo-ousios) DEM VATER, DURCH DEN ALLES GEWORDEN IST,

WAS IM HIMMEL UND WAS AUF DER ERDE IST, DER WEGEN UNS MENSCHEN...DH 125

Obwohl sich das Konzil bemühte, im Ganzen den biblischen Duktus beizubehalten, brachte es mit dem Begriff Ousia (Wesen) einen philosophischen Terminus in das Glaubensbekenntnis ein und veränderte damit den theologischen Diskurs tiefgreifend. Alle folgende Christologie hatte zu erklären, in welcher Weise es sein kann, dass der Mensch Jesus göttlichen Wesens ist. Nach Nizäa entbrannte der trinitarische Kampf erst richtig. Verschiedenste Richtungen bildeten sich (Homoier, Homoiousianer, Anhomoier), Synoden verurteilten einander, die (Ost- und West-) Kaiser griffen mehrmals ein usw. Erst das Zweite Ökumenische Konzil von Konstantinopel (381) setzte das Symbol von Nizäa in der Kirche durch und erweiterte es um die Passagen über den Hl. Geist und die Kirche (Glaubensbekenntnis 'Nicäo-Constantinopolitanum')

„... UND AN DEN HEILIGEN GEIST, DEN HERRN UND LEBENSSPENDER, DER AUS DEM VATER HERVORGEHT, DER MIT DEM VATER UND DEM SOHNE MITANGEBETET UND MITVERHERRLICHT WIRD, DER DURCH DIE PROPHETEN GESPROCHEN HAT. AN DIE EINE HEILIGE KATHOLISCHE UND APOSTOLISCHE KIRCHE...“ DH 150

Die christologischen Schulen des 4. und 5. Jahrhunderts: Unter der Voraussetzung des Dogmas von Nizäa rangen über zwei Jahrhunderte lang (und letztlich bis heute!) zwei christologische Richtungen um die Erklärung der Vereinbarkeit von göttlicher und menschlicher Natur in Christus. Die Schule von Alexandrien war platonisch (und unter Voraussetzung des altägyptischen Götterkults) auf ein Denken von oben nach unten ausgerichtet, die antiochenische Schule dachte (eher biblisch) von unten nach oben. Als grobe Vereinfachung die folgende Gegenüberstellung: Alexandrien Logos

Antiochien Logos

↓ ↑ Sarx Das Wort wird Fleisch (Joh 1,14): der präexistente göttliche Logos steigt in den Leib des Menschen Jesus schon bei der Empfängnis hinein und vereinigt sich mit ihm. (Dabei wurde 'Leib' allzu leicht nur im Sinne von 'Fleisch' verstanden). Das ist: - Vereinigungschristologie - Inkarnationschristologie - dezidiert antiarianisch - platonisch-origenistisch - entsprach dem Heilsinteresse und dem Glauben des Volkes Aus diesem Ansatz wurde später die sog. die Idiomenkommunikation gefolgert: Was von der einen Natur ausgesagt werden kann, kann auch von der anderen ausgesagt werden (der göttliche Logos leidet; die menschliche Natur wirkt unsere Erlösung. Dass aber wirklich die göttliche Natur leidet, wollte man lange nicht zugeben).

Anthropos Der Mensch Jesus, ein Mensch mit Leib und Seele, nähert sich in seinem Leben der Einheit mit dem Logos immer mehr an, bis dahin, dass er sich das 'prosopon' der göttlichen Natur zu eigen macht. Die beiden Naturen bleiben aber immer unterscheidbar. Das ist: - Unterscheidungschristologie - bibelnah, am Leben Jesu abgelesen - Tendenz zur Rede von "zwei Söhnen" - Einheit der Naturen nur moralisch oder im Akt der Verehrung durch die Gläubigen Die Idiomenkommunikation ließ sich damit schwer vereinbaren. Die beiden Naturen gehen ja keine wesentliche Verbindung miteinander ein, die Unterscheidung bleibt gewahrt.

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Die alexandrinische Christologie triumphierte auf dem Konzil von Ephesus und Konstantinopel II. Sie ist im Osten bis heute das leitende Modell. Sie findet die Heilsbedeutung Jesu allein in seiner Inkarnation. Wichtigste Vertreter: Athanasius (+ 373), entschiedenster Kämpfer für Nizäa; Cyrill (+444), großer Vereinfacher, brachte die problematische Formel von der "Vereinigung gemäß der Natur" auf. Häretische Formen: Apollinaris von Laodicäa (+ 395): Jesus als Mensch steuert nur den Leib und die Seele (als Lebensprinzip) zur Vereinigung bei, die vernunftbegabte Seele (= Geist) wird durch den göttlichen Logos ersetzt: Die volle Menschheit Jesu ist nicht gewahrt. Gegen ihn vor allem Gregor von Nyssa: "Was nicht angenommen ist, ist auch nicht gerettet". Eutyches (+ 454): Die göttliche Natur saugt bei der Vereinigung die menschliche in sich auf ("wie ein Tropfen Wasser im Meer"); es bleibt nur noch eine Natur zurück (→ Monophysitismus: die allergewöhnlichste Häresie). Er wurde in Chalcedon verurteilt.

Die antiochenische Christologie hatte die Unterstützung der "großen Kappadozier" (Basilius, Gr. v. Nyssa, Gr. v. Nazianz) und die Sympathien der westlichen Theologie. Auf dem Konzil von Chalcedon setzte sich sich mit Hilfe Papst Leos des Großen (440-460) durch, vgl. dessen "Tomus ad Flavianum", das bedeutendste Dokument zu diesem Streit aus dem Westen. Wichtige Vertreter: Diodor von Tarsus (+394), dem die Theorie von den Zwei Söhnen angelastet wird; Theodor von Mopsuestia (+428), der tief biblisch auf die Annahme der ganzen Menschheit inkl. der sündigen Seele reflektierte; Theodoret von Kyros (+466) Häretische Form: Nestorius (+451): zwei vollkommene Naturen (Menschheit und Gottheit) können keine Einheit bilden, denn jede hat ihr eigenes 'prosopon' (Erscheinungsform). N. nahm darum ein drittes Prosopon an, das ständig die Vereinigung zwischen den Naturen vermittelte. Damit war die Einheit sehr schwach gedacht: der Mensch Jesus ist nicht das göttliche Wort, sondern steht nur in intensiver Verbindung; keine Rede von Idiomenkommunikation. Gegen Cyrill: Maria nicht Gottesgebärerin, sondern "Christusgebärerin". Das Konzil von Ephesus hat ihn verurteilt.

Das Dritte Ökumenische Konzil von Ephesus (431) verurteilte Nestorius. Ein eigener Text wurde nicht verfasst, nur ein Brief Cyrills gegen Nestorius bestätigt. Darin heißt es:

DENN ES IST NICHT SO, DASS ZUERST EIN GEWÖHNLICHER MENSCH AUS DER HEILIGEN JUNGFRAU GEBOREN WURDE UND ERST DANN DAS WORT AUF IHN HERABSTIEG; VIELMEHR WIRD VON IHM GESAGT, DAß ES SCHON VOM MUTTERSCHOß HER DIE FLEISCHLICHE GEBURT AUF SICH GENOMMEN HAT, DA ES SICH DIE GEBURT SEINES EIGENEN FLEISCHES ZU EIGEN MACHTE. ... UND SO HABEN SIE [die Heiligen Väter] ES GETROST UNTERNOMMEN, DIE HEILGE JUNGFRAU GOTTESGEBÄRERIN ZU NENNEN, NICHT ETWA WEIL DIE NATUR DES WORTES BZW. SEINE GOTTHEIT DEN ANFANG DES SEINS AUS DER HEILIGEN JUNGFRAU GENOMMEN HÄTTE, SONDERN WEIL DER VERNÜNFTIG BESEELTE HEILIGE LEIB AUS IHR GEBOREN WURDE; MIT IHM HAT SICH DAS WORT DER HYPOSTASE [Person] NACH GEEINT, UND DESHALB WIRD VON IHM GESAGT, ES SEI DEM FLEISCHE NACH GEBOREN WORDEN. DH 250

Nestorius hatte u.a. gesagt: "Da er [Paulus, Phil 2,5f] nämlich an den Tod erinnern wollte, setzt er, damit keiner aufgrund dessen vermute, Gott, das Wort, sei leidensfähig, das Wort 'Christus' als die das leidensunfähige und das leidensfähige Wesen in einer einzige Person kennzeichnende Bestimmung, damit Christus gefahrlos sowohl leidensfähig als auch leidensunfähig genannt werden könne, leidensunfähig in der Gottheit, leidensfähig aber in der Natur des Leibes." DH 251b

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Das Vierte Ökumenische Konzil von Chalcedon (451) Im Gegensatz zum Konzil von Ephesus erarbeitete das Konzil von Chalcedon eine eigene theologische Formel, die einerseits präzise sein und andererseits genug Platz für die verschiedenen Positionen lassen wollte. Man beteuerte, nichts anderes lehren zu wollen als die Väter (Nizäa), sah sich aber wegen der neuen Kontroversen gezwungen, diese zu vervollständigen. Die Streitfrage war so zugespitzt: Soll man von "einer Natur" (Jesu Christi) oder von "zwei Naturen" sprechen? Oder noch genauer: Ist Jesus eine Person aus (ek) zwei Naturen – das war alexandrinisch – oder in (en) zwei Naturen – das war antiochenisch. Man verurteilte zunächst einhellig die beiden häretischen Extrempositionen: Nestorius, der die Naturen trennt, und Eutyches, der sie zusammenfallen lässt. Die antiochenische Linie konnte sich durchsetzen mit der Aussage: Es gibt zwei Naturen in Jesus Christus; es wurde also gegen den Monophysitismus der Dyophysitismus definiert. Die alexandrinische Linie setzte sich durch mit: Diese beiden Naturen begegnen sich in einer und derselben Person. Die Formel von Chalcedon

IN DER NACHFOLGE DER HEILIGEN VÄTER LEHREN WIR ALLE ÜBEREINSTIMMEND ZU BEKENNEN

I. EINEN UND DENSELBEN SOHN

UNSEREN HERRN JESUS CHRISTUS DERSELBE IST

1)VOLLKOMMEN IN DER GOTTHEIT VOLLKOMMEN IN DER MENSCHHEIT

2) WAHRER GOTT

UND WAHRER MENSCH AUS VERNUNFTBEGABTER SEELE UND LEIB

3) DER GOTTHEIT NACH DEM VATER WESENSGLEICH DER MENSCHHEIT NACH UNS WESENSGLEICH,

[ES WIRD ALSO EINE ZWEIFACHE KONSUBSTANTIALITÄT ERKLÄRT!] IN ALLEM UNS GLEICH AUßER DER SÜNDE (HEBR 4,15)

4) DERSELBE WURDE EINERSEITS DER GOTTHEIT NACH VOR DEN ZEITEN AUS DEM VATER GEZEUGT

ANDERERSEITS DER MENSCHHEIT NACH IN DEN LETZTEN TAGEN UNSRETWEGEN UND UM UNSERES HEILS WILLEN

AUS MARIA, DER JUNGFRAU UND GOTTESGEBÄRERIN [Ephesus!], GEBOREN [ES GIBT ALSO EINEN ZWEIFACHEN HERVORGANG JESU!]

DER IN ZWEI NATUREN

UNVERMISCHT, UNVERÄNDERLICH , [gegen Eutyches] UNGETRENNT UND UNTEILBAR, [gegen Nestorius]

ERKANNT WIRD II.

WOBEI NIRGENDS WEGEN DER EINUNG DER UNTERSCHIED DER NATUREN AUFGEHOBEN IST

VIELMEHR DIE EIGENTÜMLICHKEITEN JEDER DER BEIDEN NATUREN GEWAHRT BLEIBT [antiochenisch]

UND SICH IN EINER PERSON UND EINER HYPOSTASE VEREINIGT NICHT IN ZWEI PERSONEN GETEILT UND GETRENNT, SONDERN IST EIN UND DERSELBE [alexandrinisch]

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DER EINZIGGEBORENE SOHN, GOTT, DAS WORT, DER HERR JESUS CHRISTUS,

WIE ES FRÜHER DIE PROPHETEN ÜBER IHN

UND JESUS CHRISTUS SELBST ES UNS GELEHRT UND DAS BEKENNTNIS DER VÄTER ÜBERLIEFERT HAT.

DA DIES ALSO VON UNS IN JEGLICHER HINSICHT MIT ALLER SORGFALT UND GEWISSENHAFTIGKEIT FESTGESETZT WURDE, BESCHLOSS DAS HEILIGE UND

ÖKUMENISCHE KONZIL , DASS KEINER EINEN ANDEREN GLAUBEN VORTRAGEN, NIEDERSCHREIBEN, VERFASSEN ODER ANDERS DENKEN UND LEHREN DARF.

DH 301, 302

Das Konzil suchte einen Kompromiss. Es hat die Zwei-Naturen-Lehre dogmatisiert (Dyophysitismus) und damit den Monophysitismus zurückgewiesen. Dafür war auch der Einfluss des Papstes Leo d.Gr. verantwortlich, der in seinem "Tomus ad Flavianum" die westliche Theologie mit ihrer Betonung der ungeschmälerten Menschheit Christi (und der Demut Gottes, der Mensch wird, um die Menschen von ihren Sünden zu erlösen – dieses Motiv war dem Osten fremd) vorgetragen hatte. Das Konzil bestätigte diese Position des Papstes. Die Monophysiten konnten sich mit der Formel des Chalcedonense nicht abfinden. Große Teile der Christenheit trennten sich von der Kirche des Konzils: die Kopten in Ägypten (d.h. die ganze ägyptische Kirche – hier spielte u.a. der kirchenpolitische Gegensatz von Alexandrien und Konstantinopel hinein), die Jakobiten in Ostsyrien und die ganze armenische Kirche. Das fünfte Ökumenische Konzil von Konstantinopel (553, 2. Konzil von Konstantinopel) wiederholte die Formel von Chalcedon in einer extrem alexandrinischen Lesart. Die Einheit der Natur in Jesus Christus wurde so betont, dass der Monophysitismus nur so eben vermieden wurde. Mit dieser monophysitischen Schlagseite ist dann die altkirchliche Christologie vor allem in der orthodoxen Kirche rezipiert worden.

Fragen Die Diskussion um zwei Fragen wird in der Theologie wohl nie zu einem Ende kommen. Die eine Frage ist: Was ist bei dem Prozess der Transformation zwischen Neuem Testament und altkirchlichem Dogma auf der Strecke geblieben, und was ist gewonnen worden? Ist der Glaube „hellenisiert“ worden, in dem Sinne, dass ein letztlich unbiblisches Gottes- und Weltverständnis auf Gott, Christus und den Geist projiziert und seine eigentliche Botschaft und Bedeutung verfälscht worden ist? Ist der inkarnierte Gott Christus noch der jüdische Mensch Jesus, oder ist hier der christliche Glaube in einen Mythos verwandelt worden? – Auf der anderen Seite: Wenn es denn schon Transformation geben muss – ist nicht in diesem Prozess das antike Gottes- und Wirklichkeitsverständnis gründlich verändert und verchristlicht worden? Stellen nicht gerade das Bekenntnis von Nizäa-Konstantinopel und die Formel von Chalcedon in ihrer Paradoxiehaltigkeit eine Infragestellung jedes geschlossenen Weltverständnisses dar, ist hier nicht von einer gelungenen Inkulturation des Glaubens zu reden? Die andere Frage ist: Inwieweit verpflichten eine spätere Zeit dogmatische Lösungen, die in früherer Zeit für Probleme entwickelt wurden, die es später so nicht mehr gibt? Anders gefragt: Müssen Christen heute an der altkirchlichen Trinitätslehre und der Zwei-Naturenlehre festhalten, auch wenn sie sie nicht mehr als Antworten auf ihre Frage erkennen können, sondern vielmehr selbst als ein Problem? Die Konzilsentscheidungen der alten Kirche haben uns Jesus als eine „unmögliche“ Person vor Augen gestellt: eine Person in zwei Naturen, die sich gegenseitig ausschließen. Muss es

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dabei bleiben? Hat das nicht zu einer dogmatisch bedingten Jesusferne in der Vergangenheit und auch noch in der Gegenwart geführt? Vielleicht könnte man sagen: Die Differenzierungen, die Unterscheidungen, die der vergangene theologische Disput gefunden hat, dürfen nicht verloren gehen, sie müssen vielmehr Gegenstand der heutigen theologischen Reflexion sein (dies lässt sich an der Unterscheidung immanente/ökonomische Trinitätslehre verdeutlichen).

Leseempfehlungen o Wolf-Dieter Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 1,

Gütersloh 1995, S. 25-31; S. 44-46; S. 283-310.

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4. Die zweite Synode von Orange (529)

Textgrundlage: Kapitel der zweiten Synode von Orange, DH 373-377, 388-395,197

Der Streitfall und sein historischer Kontext: Natur und Gnade Wir befinden uns im Westen, in Süd-Gallien, wohin sich in diesen Zeiten des zerfallenden römischen Reiches und der Völkerwanderung der Schwerpunkt der Kirche und der Theologie vorübergehend verlagert hat. Am Ausgang der Antike, am Beginn des Frühmittelalters, im Übergang der Kirche zu den Germanen, müssen wichtige Glaubensfragen neu geklärt werden. Auf der einen Seite gibt die Christologie genügend Konfliktstoff: Die Germanenvölker bekehren sich zunächst alle zum Arianismus. Auf der anderen Seite steht eine Klärung des Gnadenstreits an. Hier geht es grundlegend um das Verhältnis von menschlichem Tun, Wollen und Erkennen aus eigener Kraft („Natur“) zum Wirken der Gnade. Cäsarius, Bischof von Arles (470-542), beruft um 529 eine Synode nach Orange, die den Streit zwischen Augustinus und Pelagius über Gnade und Natur wieder aufnimmt und im Sinne eines leicht abgeschwächten Augustinismus entscheidet. Die regionale Synode wurde später von Papst Bonifatius II. (530-532) bestätigt, ohne dadurch den Rang eines ökumenischen Konzils zu erlangen. Im Mittelalter war sie so gut wie vergessen. Erst im Zusammenhang des Konzils von Trient wurde sie wieder in der Erinnerung gerufen und in der Theologie breit rezipiert. Ihre Bedeutung hat sie vor allem durch ihre Aussagen. Die letzten Lebensjahre des Augustinus standen im Zeichen der Auseinandersetzung mit Pelagius. In den Streit hineingezogen waren die Themen Erbsünde, Willensfreiheit, Vorherbestimmung, Bedeutung Christi für das Tun des Guten und Kindertaufe. Die Auseinandersetzung erfasste bald die ganze Kirche von Palästina bis Gallien. Im Jahre 415 erklärte eine palästinische Provinzsynode in Diospolis (Lydda) die Lehre des Pelagius für rechtmäßig. Augustinus und seine Anhänger erreichten auf der Synode von Karthago 418 eine Verurteilung des Pelagius, für die sogar die wenn auch zögerliche Zustimmung des Papstes Zosimus erfolgte. Doch ging der Kampf weiter. Wortführer der pelagianischen Partei wurde Julian von Aeclanum (+nach 454). Er fand vor allem bei den östlichen Theologen der antiochenischen Richtung (Theodor von Mopsuestia u.a.) viel Zustimmung. Widerstand gegen Augustins Lehre erwuchs auch von Seiten der Mönche, deren asketisches Vollkommenheitsideal durch die Gnadenlehre Augustins an Sinn verlor. . Die Wiederaufnahme des Streits im Gallien des 6. Jahrhunderts erklärt sich u.a. durch das Aufblühen des Mönchtums. Cäsarius von Arles selbst hatte ein Frauen- und ein Männerkloster gegründet und dafür Regeln verfasst. Der Möchtums-Theoretiker Johannes Cassianus (ca. 360-430) suchte eine synergistische Mittelposition (Gnade und Natur ergänzen sich) zwischen Augustin und den Pelagianern. Gegen die Prädestination betonte er die Universalität des göttlichen Heilswillens. Dagegen profilierte sich Prosper Tiro (390-455) als Vertreter eines strengen Augustinismus. Der Streit um die Gnadenlehre wird in drei Phasen unterteilt (429-440; um 470; 519-529). Die von Cäsarius einberufene Synode von Orange (529) verurteilte den Synergismus und bekräftigte die augustinische Gnadenlehre in den Grundzügen, ohne die Prädestination zu erwähnen.

Personen und Positionen Aurelius Augustinus (354-430): Durch die Sünde Adams, die sich durch Vererbung an die ganze Menschheit fortpflanzt, sind die Menschen unfähig, nicht zu sündigen (non posse non peccare). Ja sie sind sogar unfähig, das Gute zu wollen. All ihr Tun, Denken und Wollen steht unter den Vorzeichen der Selbstliebe und der Begehrlichkeit (concupiscentia). Die Gnade, die

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bei der Taufe gegeben wird, bewirkt eine Wiederherstellung der menschlichen Natur. Sie ist nun wieder fähig, das Gute zu wollen und zu vollbringen, aber nur aus der Kraft der Gnade (posse non peccare). Auch gegen die weiterhin bestehende Begierde kann sie nur mit Hilfe der Gnade ankommen. Da alles an der Gnade liegt, gelangte A. zur Lehre von der Prädestination bzw. Erwählung: Allein Gottes Erwählung entscheidet, ob Menschen gerettet oder verworfen werden. Falls sie zu den Verworfenen gehören, ist dies nicht ungerecht, weil vor Gott alle Menschen die Verwerfung verdient haben. Pelagius (ca. 350-418): aus Britannien stammend, Theologe aber kein Kleriker, Asket aber kein Mönch, setzte sich für die Reform der Kirche und für soziales Handeln der Christen ein. Er kritisierte den Reichtum am Maßstab des biblischen Gesetzes. Dem Menschen sprach er Vernunft und Willensfreiheit zu. In der Sünde dokumentiert sich die Schwäche des Fleisches, die aber durch Tun nach dem Gesetz überwunden werden kann. Christus ist dabei wirkmächtiges Vor- und Leitbild. Johannes Cassianus (ca 360-430): Er hatte das östliche Mönchtum auf mehreren Reisen kennen gelernt und vermittelte dessen Geist in den Westen. Die mönchische Existenz ist eine Schule der Vollkommenheit, in dem Sünden und Laster (die acht Hauptlaster: Völlerei, Unzucht, Habgier, Zorn, Schwermut, Trägheit, Eitelkeit und Hochmut) durch Entsagung und Schriftstudium überwunden werden können. Die Prädestinationslehre lehnte er als Neuerung und Fatalismus ab und setzte auf die Universalität des göttlichen Heilswillens: Allen Menschen werden das Heil angeboten, und Gottes gütige Fürsorge wirke auch bei dessen Realisierung mit. Diese Position wird „Synergismus“ oder auch „Semipelagianismus“ genannt. Vinzenz von Lerin (+vor 450): Dieser wichtige Gegner der augustinischen Prädestinationslehre kritisierte sie aus dem Geist der Tradition: Kirchliche Lehre könne nur sein, quod ubique, quod semper, quod ab omnibus geglaubt werde; dies träfe auf die Prädestination nicht zu.

Die Entscheidung der Synode Die Synode verabschiedet acht canones (die immer mit si quis/wer sagt beginnen) sowie unter den Nummern 9-25 ausgewählte Zitate aus Werken des Augustinus. Die Erbsündenlehre Augustins wird in ihrem vollen Umfang – auf der Linie von Röm 5,12 – bestätigt: durch einen Menschen ist die Sünde in die Welt gekommen, sie hat den Tod des Leibes und der Seele zur Folge. Die strenge Gnadenlehre Augustins wird ebenfalls umfassend und anschaulich bestätigt: Ohne Gnade kann der Mensch nicht nur nichts Gutes tun, er kann das Gute noch nicht einmal wollen oder wünschen. Die Gnade wirkt sowohl das Sehnen nach dem Glauben wie auch seinen Anfang und auch den Fortgang (bzw. die Beharrlichkeit) des Glaubens. Auch die Getauften sind dauerhaft auf die Hilfe der Gnade angewiesen. Eine Möglichkeit des Glaubens aufgrund der „Natur“ (natura) wird ausdrücklich abgewiesen; dies würde ja auf eine Art Christentum außerhalb der Kirche hinauslaufen (can. 5). Zum Thema Prädestination sagt die Synode dagegen nichts. Diese fatale Konsequenz des Augustinismus wird gar nicht angesprochen. Das Nachwort des Bischofs Cäsarius (DH 396/397) schließt die Vorherbestimmung zum Bösen ausdrücklich aus und gibt der Gnadenlehre eine Wendung ins Praktisch-Kirchliche: „Wir glauben gemäß dem katholischen Glauben auch dies, daß alle Getauften nach dem Empfang der Taufgnade mit Christi Hilfe und Mitwirkung erfüllen können und müssen [!], was zum Seelenheil gehört, wenn sie sich gläubig bemühen wollen.“ Aus der Gnadenlehre soll keine Passivität im Glauben folgen.

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Fragen Hier stehen alle Fragen an, die sich zur Thema Natur/Gnade und insbesondere zur Lehre von der Prädestination stellen. Mit der augustinischen Gnadenlehre hat die Kirche in der Synode von Orange eine pessimistische Anthropologie aufgenommen, die sich im Lehrgebäude der katholischen Kirche ziemlich fremd ausnimmt. Der abendländische Menschentyp wird geboren, der über die Frage der Heilsgewissheit nie zur Ruhe kommt und daher zu nicht enden wollenden Aktivitäten bereit ist. Die Reformation deutet sich schon von ferne an. Die Wiederaufnahme der Prädestinationslehre im Calvinismus zeigt, wie nah diese Lehre der ruhelosen Weltumgestaltung im Kapitalismus steht. Zugleich ist von daher bemerkenswert, dass die Synode die Gnadenlehre ohne die Prädestination definiert. Im Blick auf die Zurückweisung des Pelagianismus (mit seiner großen Nähe zur Tora!) stellen sich einige Fragen: Wie steht die augustinische Lehre zum biblischen Gesetz? Ist nicht die spätere Lehre Luthers, dass das Gesetz nur gegeben worden ist, um dem Menschen seine Unfähigkeit zu beweisen, vor Gott aus eigener Kraft gerecht zu sein, nicht schon in Orange impliziert? Oder lässt sich auch auf der Grundlage eines recht verstandenen Augustinismus die Freude am Gesetz Gottes noch aufrechterhalten? Ist nicht das ganze Mittelalter ein einziger Abfall von den Lehren von Orange? Hat hier nicht doch die Verdienstlehre (die Gnade kann durch gute Werke verdient werden) auf der ganzen Linie triumphiert – und wäre eine Kirche auf dem Boden des Augustinismus überhaupt möglich? Wie nimmt sich die damalige Kontroverse vor dem Hintergrund von Aufklärung und gegenwärtiger Kultur aus? Aufklärung und Neuzeit haben 500 Jahre Zeit gehabt, die Konsequenzen eines optimistischen Menschenbilds durchzuexerzieren, das auf Freiheit, Selbstbestimmung und den natürlichen Willen zum Guten setzt (dies zum Schiller-Jahr!). Gibt das Ergebnis dieses geschichtlichen Großversuchs nicht Augustinus auf der ganzen Linie Recht? Wie wäre es denn sonst zu erklären, dass, obwohl alle immer nur das Gute wollen, etwas so Miserables dabei herausgekommen ist? Leseempfehlungen

o Wolf-Dieter Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, 2 Bde., Gütersloh 1995/1999, Band 1, S. 220-236

o Otto Hermann Pesch, Frei sein aus Gnade - theologische Anthropologie, Freiburg 1983, S. 128-133.

o Kurt Flasch, Logik des Schreckens, Mainz 1995

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5. Das vierte Konzil im Lateran (1215)

Textgrundlage: Dekret „Der katholische Glaube“, DH 800 – 806 Der Streitfall und sein historischer Kontext: Päpstliche Universalgewalt und

Umgang mit abweichenden Auffassungen Unter Innozenz III. (1198-1216; Lothar Segni, geb. ca. 1160) erreichte das Papsttum den Höhepunkt seiner Macht. Die durch Gregor VII. im Dictatus papae (1075) proklamierten Rechte des Papstes (Jurisdiktionsgewalt gegenüber den Bischöfen, Unfehlbarkeit der römischen Kirche, Superiorität über die weltliche Gewalt) konnten aufgrund günstiger politischer Bedingungen und im Zuge der Ausbildung einer entsprechenden Theorie des Papsttums unter Innozenz weitgehend umgesetzt werden. Auf dem Boden einer universalistischen Ekklesiologie (Einheit von Kirche, Christenheit und Weltordnung) begriff der Papst die Kirche insgesamt als den Leib Christi mit ihrem Haupt, Christus; das Papstamt aber reklamierte für sich nun erstmals offiziell den Titel vicarius Christi (Stellvertreter Christi) und nahm damit die Stelle des Hauptes ein. Der Papst beanspruchte die plenitudo potestatis auch im rechtlichen Sinne für sich; ein entsprechendes Kirchenrecht, das die Vollmachten des Papstes über die der Bischöfe stellte, wurde ausgebildet. Rom behielt sich die Übertragung wichtiger kirchlicher Ämter vor und wurde in allen Fragen der Rechtsprechung die letzte Appellationsinstanz. Zugleich begründete Innozenz mit der Okkupation von Territorien auch den Kirchenstaat als einem weltlichen Machtgebilde, das direkt vom Papst beherrscht wurde. Weite Teile Europas vergab der Papst als Lehen. Im 13. Jahrhundert, einem Zeitalter allgemeiner Prosperität, blühten vor allem in Oberitalien und Südfrankreich die Städte zu Zentren des Handels, der Kultur und der Wissenschaft auf. Ein selbstbewusstes Bürgertum entstand, das sich von den Ansprüchen klerikaler Herrschaft emanzipieren wollte. Die päpstliche Machtentfaltung, der Reichtum und die Verweltlichung der Kirche riefen vielfach Kritik hervor. Von der Großkirche abweichende Bewegungen, die es immer schon gegeben hatte, formierten sich unter diesen Bedingungen neu. Einige dieser Bewegungen, zu denen auch die neuen Bettelorden gehörten, zielten auf die Kritik der Institution Kirche und die Rückkehr zum einfachen Evangelium, zur Armut und zur direkten Nachfolge Christi; hier sind besonders die Waldenser zu nennen. Andere Bewegungen, die mit dem Sammelnamen Katharer bezeichnet werden, griffen auf gnostisch-dualistische Konzepte der Erklärung des Bösen zurück und stellten sich in Gegensatz zur christlich-katholischen Lehre. Es kam zur Gründung von Gegenkirchen. Das von Innozenz III. einberufene vierte Konzil im Lateran, das im November 1215 tagte, widmete sich den Aufgaben der Kirchenreform, der Ketzerbekämpfung und der Kreuzzugsplanung. Über 70 Dekrete, die überwiegend vom Papst vorbereitet worden waren und denen das Konzil fast ohne Diskussion zustimmte, wurden von den über 800 Konzilsteilnehmern verabschiedet. Zu den Projekten der Kirchenreform gehörte eine strengere Ausbildung und Disziplinierung der Kleriker, Verbot des Ämterkaufs, Verbesserung des Schulwesens, das Verbot heimlicher Ehen, die Verpflichtung auf die jährliche Beichte und (Oster-)Kommunion aller Gläubigen und Sanktionen gegen die Juden (Einschränkung des Zinswuchers, Verpflichtung zum Tragen einer bestimmten Kleidung). Gegen Albigenser und Katharer wurde das Dekret De fide catholica erlassen, das den katholischen Glauben definierte und somit als Grundlage der Feststellung der Rechtgläubigkeit dienen konnte. Ferner wurde ein Dekret gegen die trinitarischen Thesen des Joachim von Fiore (1135-1202) formuliert. Es bezieht sich auf eine frühe Phase im Denken dieses kalabrischen Abtes, der später mit seiner trinitarischen Geschichtstheologie noch viel Furore machen sollte.

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Personen und Positionen Unter Innozenz III. vollendete sich, wie im Text bereits erwähnt, die römische Papstkirche. Als vicarius Christi ist der Papst zugleich caput ecclesiae (Haupt der Kirche) und damit der höchste Machthaber auf Erden, denn in der Kirche realisiert sich die rechte Schöpfungsordnung. Zusammen mit der Zentralisierung der Kirche auf Rom wird auch der Jurisdiktionsprimat (Papst höchste Instanz der Rechtsprechung) ausgebaut. Mit dem Kirchenstaat bekommt das Papsttum eine unmittelbar politisch-weltliche Komponente. – Mit dem Tod des Papstes Innozenz III. war der Höhepunkt des päpstlichen Machtentfaltung auch schon wieder überschritten. Bonifaz VIII. erneuerte in der Bulle Unam Sanctam (1302) zwar noch einmal die theoretischen Ansprüche des Papsttums (heilsnotwendige Unterordnung aller Menschen unter den Papst), doch de facto geriet der Papst in immer größere Abhängigkeit von Frankreich; die Autorität Roms verfiel mehr und mehr. Petrus Waldes (ca. 1140-1206), ein reicher Kaufmann aus Südfrankreich, wollte mit der um 1176 gegründeten Laienbewegung der Armen Christi die Kirche reformieren. Er predigte ein Leben nach dem Evangelium in Armut und Sorglosigkeit. Seine Predigt in der Diözese Lyon gewann zahlreiche Anhänger, fand aber nicht die Billigung des Bischofs. Dies lag vielleicht daran, dass er die Laienpredigt forderte. Die Anerkennung als Orden – wie später bei Franziskus – blieb Petrus Waldes versagt. 1184 wurde die Bewegung auf der Synode von Verona förmlich verurteilt. Sie teilte sich daraufhin in zwei Gruppen, von denen die eine sich Rom unterordnete und als Orden anerkannt wurde, während die andere (wiederum aufgespalten in die gemäßigten Armen von Lyon die und radikalen Lombardischen Armen) von der Inquisition verfolgt wurde. Waldenser lehnen die Fegefeuer- und Ablaßlehre ab (und bedrohen damit die Haupteinnahmequelle der Kirche). Die Lombardischen Armen vertreten eine donatistische Position: Die Kirche könne nur von ‚reinen‘ Amtsträgern, die im Sinne des Armutsideals leben, geleitet werden. – Unter dem Einfluss der Genfer Reformation gibt es bis heute kleine waldensische Gemeinden in Italien und Piemont. Die Katharer stellen eine seit dem 11. Jahrhundert greifbare Bewegung dar, die über Verbindungen in den östlichen Raum (Vorgänger waren u.a. die aus Bulgarien stammenden Bogumilen) gnostisch-dualistisches Gedankengut aktualisierten. Nach ihrem Hauptverbreitungsort Albi (Südfrankreich) wurden sie auch Albigenser genannt. Kennzeichnend für sie ist die Lehre von dem Kampf der beiden Prinzipien: dem Prinzip des Geistes und dem Prinzip der Materie. Ihr Programm war Entweltlichung, welches sie durch radikale Askese, Fasten, Verzicht auf Sexualität (und z.T. auf alle Produkte, die aus Sexualität hervorgehen, wie Eier etc.) lebten. Als Sakrament galt ihnen nur eine Geisttaufe (consolamentum), das die Zugehörigkeit zur wahren Kirche konstituierte. Ihre Gemeinden wurden von den perfecti (Vollkommenen) geleitet, diese Aufgabe konnten auch Frauen übernehmen. – Die Katharer wurden zusammen mit den Waldensern und Albigensern im ganzen 13. und 14. Jahrhundert durch Ketzerkreuzzüge und die – 1231 eingerichtete – päpstliche Inquisition bekämpft. Von ihnen leitet sich unser Ausdruck Ketzer her. Joachim von Fiore (ca. 1135-1202) war Abt eines kalabrischen Reformklosters. Er vertrat eine trinitarische Geschichtstheologie bzw. Eschatologie: Den drei Personen Gottes entsprechen drei Zeitalter der Geschichte. Der Alte Bund war die Zeit des Vaters, der Neue Bund die Zeit des Sohnes, mit dem (Ordensgründer) Benedikt aber begann das Zeitalter des Hl. Geistes. In ihm bildet sich die bis zum Ende der Zeiten bestehende Mönchskirche, die auf monastisch-asketischen Idealen beruht und die Institution Kirche überflüssig macht: Nach der Petrus-Kirche kommt die mystische Johannes-Kirche. Die neuzeitliche Eschatologie, d.h. die Erwartung einer innerweltlichen Vollendung der Geschichte (K. Marx u.a.), leitet sich von Joachim her.

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Die Entscheidungen des Konzils In dem Dekret „de fide catholica“ (Über den katholischen Glauben, DH 800-802) hebt das Konzil gegen die Katharer und Albigenser hervor,

dass Gott der Schöpfer und Herr der sichtbaren und der unsichtbaren Mächte ist und das Teufel und Engel ursprünglich gut geschaffen wurden und erst durch die eigene Sünde böse wurden. Hier ist also der Sündenfall der Engel definiert und zugleich der Dualismus abgewehrt.

Für das Böse ist die Sünde verantwortlich, nicht ein böses Prinzip. Der Mensch sündigte aber aufgrund der Eingebung des Teufels. Damit ist Verantwortlichkeit und Entlastung des Menschen zugleich ausgesagt.

Der Mensch ist besteht aus Geist und Körper – gegen die dualistische Anthropologie Schon durch Moses und die Propheten hat sich Gott mitgeteilt – gegen die gnostische

Tendenz, das Christentum von seinen jüdischen Wurzeln abzuschneiden. Die wirkliche Fleisch-Werdung Christi wird mehrmals hervorgehoben. Mit der Nennung des jüngsten Gerichts ist implizit auch die Fegefeuerlehre verteidigt,

auf jeden Fall dem voreiligen Urteil über die Vollkommenheit eines Christen gewehrt. Es wird betont, dass es nur eine wahre Kirche gibt und dass es – nach einem Satz des

Cyprian von Carthago – kein Heil außerhalb dieser wahren Kirche gibt („extra ecclesiam nulla salus“).

Für die rechte Spendung der Sakramente (Taufe) ist keine sittliche Vollkommenheit, sondern nur die Einhaltung der von der Kirche vorgeschriebenen Weise notwendig.

Wichtig ist die Möglichkeit, auch nach der Taufe begangene Sünden durch die Buße vergeben zu bekommen.

Nicht nur Jungfrauen und Enthaltsame, sondern auch Verheiratete können zur Seligkeit gelangen.

Ferner wird in diesem Text auch die Transsubstantiationslehre (Wesensverwandlung von Brot und Wein in den Leib Christi) erstmals dogmatisch definiert. Insgesamt dient der Text als Index für die Feststellung der Rechtgläubigkeit. Gegen Joachim von Fiore und dessen Kritik an der kirchlichen Trinitätslehre wird das Zugleich von Einheit und Differenz in Gott festgehalten: eine göttliche Substanz in drei Personen. Diese Art der Einheit in der Verschiedenheit ist von der Einheit unter Menschen zu unterscheiden. In diesem Zusammenhang kommt es zur berühmten Definition der Analogie: bei aller Ähnlichkeit zwischen Schöpfer und Geschöpf je größere Unähnlichkeit!

Fragen Mit der Transformation in ein weltliches Machtgebilde scheint die Kirche sich endgültig von Evangelium verabschiedet zu haben. Notwendige und hilfreiche Kritik wie die der Waldenser wird mit Feuer und Schwert verfolgt. Ist sie noch die Kirche Christi? Andererseits: War die klare und unwiderrufliche Abgrenzung von den Katharern nicht unerlässlich? Und hat sich die Kirche nicht in den Definitionen zur Trinität (gegen Joachim) und auch in der Analogieformel nicht selbst theologisch so korrigiert, dass auch ihre Anweichung vom Evangelium noch in ihr selbst kommuniziert werden konnte?

Leseempfehlungen o Wolf-Dieter Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd1,

Gütersloh 1995, S. 311-313; S.425-433; S437-444 o Hubert Jedin, Handbuch der Kirchengeschichte, Freiburg 1968, Band III/2, S. 206-213

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6. Das Konzil von Florenz (1439-1445)

Textgrundlage: Dekret „Moyses vir Dei“, DH 1309

Der Streitfall und sein historischer Kontext: Der Konziliarismus Von 1309 an residierten die Päpste in Avignon; übrigens freiwillig und aus eigener Entscheidung, da das städtebaulich verfallene und politisch instabile Rom ihrer Amtsführung keine Basis mehr bot. In Avignon baute die päpstliche Kurie ein höchst effizientes System der Abgaben – und Finanzverwaltung auf. Die Päpste wurden reich, sie wurden die erste Finanzmacht Europas. 1377 zog Gregor XI. wegen der Gefahr des Zerfalls des Kirchenstaates und wegen zunehmender Schwierigkeiten in Avignon wieder nach Rom zurück. Sein Nachfolger Urban VI. wurde nicht von allen anerkannt, und das Kardinalskollegium installierte mit Clemens V. einen anderen Papst, der wiederum in Avignon residierte. Folge war das große Papstschisma von 1378ff, das ganz Europa in zwei Obödienzen (Gefolgschaften) sich gegenseitig exkommunizierender Päpste teilte und zerriss. 1409 versuchte das Konzil von Pisa das Schisma zu beheben. Es setzte beide Päpste ab und wählte einen neuen. Doch die residierenden Päpste erkannten ihre Absetzung nicht an, deshalb gab es nun bis 1419 drei Päpste. Das Konzil von Konstanz (1414-1418), das unter maßgeblichem Einsatz des deutschen Kaisers Sigismund zustande kam und an dem außer Kirchenvertretern auch zahlreiche Vertreter der weltlichen Macht teilnahmen – nicht der Papst hatte dieses Konzil einberufen, sondern die Nationen hatten es beschickt – nahm sich der anstehenden Fragen an: der causa unionis (Beilegung des Schismas), der causa reformationis (Reform der Kirche, die vor allem wegen des zunehmenden Reichtums und der Verweltlichung der Kirche notwendig war), und der causa fidei (neue Häresien, vor allem die des John Wyclif (ca. 1330-1384) und des Jan Hus (ca. 1370-1415)). In der causa unionis erreichte man den Rücktritt bzw. die Absetzung aller drei Päpste (Johannes XXIII., Gregor XII., Benedikt XIII.) und die Neuwahl des Papstes Martin V., der nunmehr von dem Konsens aller getragen wurde. Die Erfahrung war gemacht worden: Das Konzil steht über dem Papst! Die Lehre von der Konzilsautorität wurde denn auch in dem Dekret Haec sancta 1415 niedergelegt: Das Konzil ist die Vertretung der Kirche auf Erden und es hat seine Autorität unmittelbar von Gott. Doch hatte dieses Dekret nur eine auf den augenblicklichen Notfall bezogene und keine allgemeine dogmatische Bedeutung. Im (wegen allgemeiner Konzilsmüdigkeit zunächst schwach besuchten) Konzil von Basel (1431-1449) stand nun der Konziliarismus zur Diskussion. Papst Eugen IV. versuchte das Konzil aufzulösen, doch daraufhin strömten zahlreiche Vertreter der Universitäten (überwiegend Theologen und Juristen) und der weltlichen Herrschaft nach Basel. Als der Papst das Konzil nach Ferrara verlegen wollte, folgte ihm dieses nicht, sondern definierte schließlich 1439 in einer eigenen Erklärung die Oberhoheit des Konzils über den Papst. Nun kam es zum Schisma, das sich im Nebeneinander des Papstes und des bis 1449 weiter in Basel-Lausanne tagenden Konzils mit eigenem Papst (de facto eine Art dauernden Kirchenparlaments) manifestierte. Doch fand die Position des Konzils zunehmende weniger Zustimmung in der Kirche; 1449 dankte der Papst des Konzils ab und das Konzil löste sich auf. Das von Papst Eugen IV. nach Ferrara und schließlich nach Florenz verlegte Konzil von Florenz (1439-1445) – sein Hauptthema war die Union mit den Griechen und de Armeniern, die beschlossen wurde, aber nicht verwirklicht werden konnte – verwarf und verurteilte in dem Dekret Moyses vir Dei die konziliaristische Proklamation des Konzils von Basel.

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Personen und Positionen

Der Konziliarismus ist maßgeblich von Marisilius von Padua, Wilhelm von Ockham und Johannes Gerson beeinflusst worden. Marsilius von Padua (ca. 1280/90-1342/43), Jurist und seit 1313 Rektor der Pariser Universität, sah in der Rivalität zwischen Papst und Kaiser ein ständiges Moment des Unfriedens. In seiner Schrift Defensor Pacis/Verteidiger des Friedens (1324) bekämpfte er die päpstliche Lehre von den zwei Gewalten, dergemäß der Papst als Inhaber der geistlichen Gewalt zugleich die Oberhoheit über die weltliche Gewalt hat. In seiner Zuordnung von geistlicher und weltlicher Gewalt kommt er zu durchaus neuzeitlich anmutenden Lösungen, nach denen sich die Rolle von Politik und Kirche nach der Funktion für die Gesellschaft bemisst. Als höchster Souverän galt ihm das christliche Volk, dessen Repräsentant der Kaiser ist. Wegen dieser Lehren wurde Marsilius als Ketzer verurteilt, er konnte aber ungehindert an den Münchener Hof fliehen und dort als Berater wirken. Am Münchner Hof traf er Wilhelm von Ockham (1285/90-1348), der als Papstkritiker und moderner, auf den Nominalismus vorausweisender Theologe seine englische Heimat ebenfalls hatte verlassen müssen. In seine kirchenpolitischen Schriften begrenzte er sowohl die Macht des Papstes wie die des Kaisers. Beide haben sich am Wohl des Individuums und der Gemeinschaft auszurichten. Die Berufung des Papstes auf göttliche Autorität hielt er für Häresie. Kirche ist für Ockham die Gemeinschaft der Gläubigen und nicht eine überindividuelle Rechtsperson, die der Papst repräsentiert. Johannes (Jean) Gerson (1363-1429), Professor und Kanzler der Universität Paris, hochgebildeter Spätscholastiker mit Nähe zur Mystik, vertrat auf dem Konzil von Konstanz den Vorrang der Konzilien gegenüber dem Papst mit der Argument, dass nach dem bestehenden Kirchenrecht ein Konzil einen Papst absetzen kann, der der Häresie verfallen ist. In diesem Zusammenhang sind auch die wichtigsten Kritiker des Reichtums der Kirche zu nennen. Da ist zuerst John Wyclif (ca. 1330-1384), ein englischer Theologe, der aufgrund einer sehr großen Nähe zur Bibel Macht und Reichtum der Kirche radikal verwarf und eine Rückkehr zu den einfachen apostolischen Ursprüngen verlangte. In der Abendmahlslehre lehnte er aufgrund seiner Ansicht über die Unzerstörbarkeit der eucharistischen Substanzen die Transsubstantiationslehre ab, weswegen ihn das Konzil von Konstanz verurteilte. Wyclif wurde der Ketzerei beschuldigt, doch hatte dies für ihn keine Konsequenzen. Er hat große Bedeutung gehabt für die Bewegung der Lollarden, die als eine Art Untergrundbewegung bis etwa 1450 eine radikale Kirchenkritik propagierten. Johannes Hus (ca. 1370-1415), ein aus einfachsten Verhältnissen (Fuhrmannssohn) stammender böhmischer Volksprediger mit eigentlich eher konservativer Einstellung, fand mit seinen Predigten beim Volk viel Anklang. Indem er die Anliegen des Volkes aufnahm und formulierte, nahm er z.T. Elemente der Kirchenkritik Wyclifs auf. Die daraufhin ab 1407 ausbrechenden Unruhen hatten auch etwas mit den Spannungen zwischen Tschechen und Deutschen zu tun. Hus wurde auf dem Konzil von Konstanz vorgeladen und, trotz einer Garantieerklärung Kaiser Sigismunds, wegen dem Festhalten an Lehren Wyclifs als Ketzer verbrannt. Erst dadurch erreichte er in Böhmen nachhaltige Bedeutung. Wyclif und Hus stehen bereits im Vorfeld der Reformation.

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Die Entscheidungen des Konzils Das Dekret des Konzils von Florenz verwirft schlicht und einfach die folgenden Aussagen des Konzils von Basel: - dass ein rechtmäßig versammeltes allgemeines Konzil die gesamte Kirche repräsentiert

und somit die höchste Gewalt in der Kirche ist; - dass der Papst ein solches Konzil ohne dessen Zustimmung weder auflösen noch

verschieben noch verlegen kann; - dass der Widerspruch gegen diese Sätze Häresie – also Leugnung des wahren

katholischen Glaubens – ist. Das Dekret verurteilte damit Theorie und Praxis (nämlich die Absetzung des Papstes und eigenmächtige Wahl eines neuen Papstes) des Konzils von Basel. Es definiert jedoch nicht die gegenteilige, „richtige“ Position. De facto wurde durch das Dekret der Jurisdiktionsprimat des Papstes geschützt, ohne dass er noch eine eindeutige dogmatische Erklärung gefunden hätte. Dies blieb dann dem I. Vaticanum vorbehalten.

Fragen Eine erste Frage ist, ob nicht die Reformation mit ihrer Folge, der Spaltung der Kirchen, hätte vermieden werden können, wenn die Reformbestrebungen des 15. Jahrhunderts in der Kirche mehr Resonanz gefunden hätten. Damit ist aber generell die Frage gestellt, was es bedeutet, wenn die Selbsterhaltung der Institution Kirche eine Erneuerung aus dem Geist des Evangeliums verhindert. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Papsttum bei der Abwehr des Konziliarismus wie auch der Reichtumskritik als ein (Macht-)System agierte, dem es ausschließlich um die eigene Selbsterhaltung zu tun war. War nicht das sachliche, das theologische Recht meistens auf Seiten der verurteilten Positionen? Hätte nicht die „falsche“ Unangepasstheit der Kirche in der Neuzeit, die sich daraus ergab, dass sie sich mit der Ausschaltung des Konziliarismus faktisch auf eine monarchisch-papalistische-absolutistische Struktur festgelegt hatte, vermieden werden können zugunsten der „wahren“ Unangepasstheit, die in der radikalen macht- und reichtumskritischen Position des Evangeliums besteht? Aber kann man nicht auch dagegen fragen: Hätte sich die Kirche in der Weise „demokratisiert“, wie das der Konziliarismus wollte, was hätte es verhindert, dass sie den vielen je um ihre Durchsetzung kämpfenden Gruppen und Parteien zum Opfer gefallen wäre, wie es der modernen Demokratie tatsächlich geschehen ist? Die Auseinandersetzung um den Konziliarismus führt auf die Frage: Welche Leitungsgestalt ist einer Gemeinschaft angemessen, die nicht aus dem Willen der Beteiligten „von unten“, sondern aus Gottes Wort „von oben“ lebt? Diese Frage ist noch nicht geklärt und steht weiter auf der Tagesordnung!

Leseempfehlungen o Wolf-Dieter Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 1,

Gütersloh 1995, S.450-445; S. 468-474 o Handbuch der Kirchengeschichte, hg. von H. Jedin, Band III/2, Freiburg 1968, S. 589-

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7. Das Konzil von Trient (1545-1563), 1. Teil

Textgrundlage: Dekret über das Sakrament der Eucharistie, DH 1651-1661, Lehre über das Messopfer, DH 1751-1759

Der Streitfall und sein historischer Kontext: Verständnis der Eucharistie

Luther und seine Anhänger forderten schon Anfang der zwanziger Jahre ein „gemein, frei, christlich Konzil in deutschen Landen“. Die Päpste, namentlich Papst Clemens VII. (1523-1534), standen jedoch diesem Ansinnen – nach den Erfahrungen mit dem Konziliarismus! – skeptisch gegenüber. Denn „frei“ bedeutete „papstfrei“, „christlich“ aber, dass nicht nur Kleriker sondern auch Laien daran teilnehmen sollten und dass streng nach dem Maßstab der Heiligen Schrift zu entscheiden sei. Ein Konzil in deutschen Landen hätte überdies dem Kaiser einen zu großen Einfluss eingeräumt. Ferner erklärte Luther, dass er sich auch einem allgemeinen Konzil nicht unterwerfen würde, denn auch ein Konzil könnte irren. Er verwies auf die falsche und ungerechte Verurteilung von Jan Hus in Konstanz. Kaiser Karl V. aber drängte die Päpste immer wieder zu einem Konzil, denn er vermochte der Glaubensspaltung allein nicht Herr zu werden (Versöhnungsversuche auf dem Augsburger Reichstag 1530 und dem Regensburger Reichstag 1541 waren gescheitert). Paul III. (1534-1549) konnte sich seinen Argumenten nicht länger verschließen. Er berief für 1537 ein Konzil nach Mantua ein. Doch kam dieses aus verschiedenen Gründen nicht zustande: Die Stadt Mantua stellte unerfüllbare finanzielle Forderungen; die Protestanten und auch der englische König Heinrich VIII., der sich mittlerweile von der Kirche losgelöst hatte, verweigerten ihre Teilnahme; nur wenige katholische Bischöfe erschienen. Eine zweite Einberufung 1542 nach Trient scheiterte wegen des Krieges zwischen Karl V. und Franz I., dem König von Frankreich. 1. Sitzungsperiode: 1545 kam das Konzil schließlich unter der Beteiligung von nur 31 zumeist italienischen Bischöfen in Gang. Unterdessen tobte im Reich der Schmalkaldische Krieg, und die Protestanten blieben dem Konzil wiederum fern. Das Konzil nahm sich vor, die Feststellung des katholischen Dogmas und die Kirchenreform parallel zu betreiben. In der ersten Sitzungsperiode bis 1548 wurden die Vulgata, die lateinische Bibelübersetzung, für authentisch (d.h. für den dogmatischen Beweis ausreichend) erklärt, der biblische Kanon endgültig definiert und die Verfahrensweise des Konzils festgelegt. Es wurden Dekrete über das Verhältnis von Schrift und Tradition, die Erbsünde und die Rechtfertigung verabschiedet. Sehr kontrovers wurde über die Frage der Residenzpflicht der Bischöfe gehandelt (Problem der Pfründenhäufung!). Wegen einiger Fälle von Typhus verlegten die päpstlichen Legaten das Konzil 1548 nach Bologna, doch die Mehrheit des Konzils folgte dieser Verlegung nicht, und der Kaiser protestierte dagegen. In Bologna wurde weiterverhandelt, doch konnten keine Beschlüsse gefasst werden. 1549 stellte der Papst das Konzil ein. 2. Sitzungsperiode: 1551 wurde das Konzil wiedereröffnet, diesmal unter stärkerer Beteiligung deutscher Bischöfe, während die Franzosen sich fernhielten. Es wurde nun die Lehre von der Eucharistie definiert (13. Sitzung), dazu die über die Buße und die Krankensalbung. Die kontroverse Frage über die Kommunion unter beiderlei Gestalten (Laienkelch) wurde offen gelassen. Die Reformdebatten verliefen zäh, da die Bischöfe tiefe Eingriffe in die römische Kurie verlangten. Auf dem Konzil erschien auch eine protestantische Delegation, sie machte jedoch ihre Beteiligung von unerfüllbaren Bedingungen abhängig (keine Leitung durch den Papst, Befreiung der Bischöfe vom Treueid gegen den Papst, Unterwerfung des Papstes unter das Konzil). Ein neuer Krieg in Deutschland führte 1552 zum Abbruch des unvollendeten Konzils. 3. Sitzungsperiode: Das rasche Vordringen des Calvinismus in Frankreich erforderte die Wiederaufnahme des Konzils. Unter vielen Krisen konnte in der letzten Sitzungsperiode dank

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des energischen und klugen Vorgehens des päpstlichen Legaten G. Morone das Konzil zu Ende geführt werden. In dogmatischer Hinsicht ist vor allem das Dekret über das Messopfer bemerkenswert (22. Sitzung). Weiterhin wurden zahlreiche Reformdekrete verabschiedet (s. dazu Teil 2). Zur Frage der Eucharistie: Das Dekret über das Sakrament der Eucharistie (DH 1635-1661) ist vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen über das Abendmahl mit den Reformatoren zu verstehen. Luther hielt zwar an der Realpräsenz Jesu Christi im Abendmahl fest, verwarf jedoch die Lehre von der Transsubstantiation. Für ihn war die Gegenwart Christi an den Stiftungsauftrag im Abendmahlssaal gebunden, sie war deshalb nur während der gottesdienstlichen Feier selbst gegeben (non extra usum). Von der Allgegenwart Gottes unterscheidet sich die eucharistische Gegenwart Christi dadurch, dass sie im Wort der Verkündigung zur Gegenwart für mich wird; dieses Wort bewirkt Vergebung der Sünden. Im eigentlichen Sinne ist das Abendmahl für Luther ein Verkündigungsgeschehen und deshalb auch der Wortverkündigung zugeordnet. Lutherische Gemeinden können deshalb auf die regelmäßige Abendmahlsfeier verzichten. Eine außereucharistische Verehrung der konsekrierten Gestalten war für Luther ein schwerwiegender Missbrauch, ja Götzendienst. Der Reformator Huldrych Zwingli stellt die wirkliche Gegenwart Christi ganz in Abrede, für ihn war das Abendmahl nur eine tröstliche Erinnerungsfeier an Jesus. Bei den Auseinandersetzungen über das Abendmahl ging es auch immer grundlegend um das Verhältnis von Kirche bzw. Reich Gottes und Welt! Zur Frage des Messopfers: Hier steht Luthers scharfe Ablehnung der Messopferlehre im Hintergrund. Luther hatte in seiner Schrift De abroganda missa privata (1522) geschrieben:

„Sagt uns, ihr Pfaffen Baals: Wo steht geschrieben, dass die Messe ein Opfer ist, oder wo hat Christus gelehrt, dass man gesegnet Brot und Wein opfern soll? Hört ihr nicht? Christus hat einst sich selbst geopfert, er will von keinem anderen hinfort geopfert werden. Er will, dass man seines Opferns gedenken soll. Wie seid ihr denn so kühn, dass ihr aus dem Gedächtnis ein Opfer macht?“

Und in den Schmalkaldischen Artikeln (1537, in Vorbereitung auf ein Konzil) sagt er: „Dieser Artikel von der Messe wird’s ganz und gar sein im Konzil; denn wenn es möglich wäre, dass sie [die Katholischen] alle anderen Artikel nachgeben, so können sie doch diesen Artikel nicht nachgeben. ... Also sind und bleiben wir ewig geschieden und widereinander.“

Die sachliche Frage war: Bringen die Menschen Gott etwas dar, wenn sie Gott ein Opfer bringen, wirken sie also selbst ihr Heil? Das wäre nach Luther schlimmste Werkgerechtigkeit, aber dies war auch nicht die katholische Auffassung. Vielmehr vollzieht sich nach Auffassung der Kirche in der Messe das Opfer Christi am Kreuz erneut, dargebracht durch die Kirche. Dann aber ist die Frage: Wie verhalten sich das Opfer Christi und das Opfer der Kirche zueinander? Wie können sie dasselbe und doch verschieden sein? Das Konzil hat im Dekret über das Messopfer (DH 1738-1759) an dieser Frage gearbeitet, ohne eine restlos befriedigende Lösung zu finden. Der weitere Hintergrund der Messopferfrage ist die allmähliche Bedeutungsverlagerung der Eucharistiefeier im Mittelalter in Richtung auf eine Opfer- und Votivfeier, die für bestimmte Anliegen und dabei vor allem für die Anliegen Verstorbener (die im Fegefeuer sind) dargebracht wird.

Personen und Positionen Insgesamt kann man sagen, dass trotz aller Wirrnisse auf dem Konzil ausgezeichnete theologische Arbeit geleistet wurde. Doch treten die einzelnen Konzilstheologen nicht so deutlich hervor. Mindestens zwei von ihnen sollen erwähnt werden: der Dominikaner

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Dominikus Soto und der Franziskaner Alfons de Castro. Ferner soll der Legat Morone nicht ungewürdigt bleiben. Dominikus Soto stammte aus einfachen Verhältnissen, arbeitete als Sakristan und studierte dann Theologie und Philosophie, erst in Alcalà, dann in Paris. 1524 trat in Burgos in den Dominikanerorden ein und lehrte an der dominikanischen Hochschule in Segovia Philosophie und später an der Universität von Salamanca Theologie, wobei er die Summa theologiae von Thomas von Aquin kommentierte. 1545 bis 1547 war er als Theologe Karls V. und Vertreter des Dominikanerordens am Konzil von Trient, wo er die Rechtfertigungslehre von Thomas von Aquin vertrat und bezüglich der Beziehung von göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit weiterentwickelte. Er wurde Beichtvater des Kaisers, lehnte jedoch eine Ernennung zum Bischof von Segovia ab und kehrte stattdessen in sein Kloster zurück, zu dessen Prior er 1550 gewählt wurde. Von 1552 bis zu seinem Tod 1560, lehrte er wieder an der Universität von Salamanca. Alfons de Castro 1495 in Zamora geboren, 3.2.1558 als designierter Bischof von Santiago gestorben; 30 Jahre gefeierter Lehrer der Theologie am Ordensstudium in Salamanca; Theologe auf der 1. und 2. Tagung des Trienter Konzils. Berühmter Prediger, Ratgeber Karls V und Philipps II, den er 1554 nach England begeleitete. Eifriger Bekämpfer der Häresie, bes. in der Schrift Adversus omnes haereses libri 14 (enzyklopäd. Behandlung der Häresien). Auch als exeget. Schriftsteller tätig. Sein Werk De potestate legis poenalis ist für die Entwicklung des Straf- u. Völkerrechts von Bedeutung. Kardinal Giovanni Morone – (1509-1580) italienischer Kardinalbischof und Kirchenpolitiker, Konzilslegat und -präsident, – 1542 geht Morone behutsam gegen das sich in seinem Bistum ausbreitende Luthertum vor und verlangt von den Kryptoprotestanten die Zustimmung zu den »Articuli orthodoxae professionis«, welche die strittige Rechtfertigungsfrage ausklammerten. Am 6.12.1563 verließ Morone Trient und kehrte nach Rom zurück, wo er die päpstliche Bestätigung der Konzilsbeschlüsse vorantrieb und die Drucklegung der Konzilsdekrete überwachte. Morone gilt als der begabteste Kuriendiplomat des 16. Jahrhunderts; allerdings ist seine Kirchenreformpraxis aus Gründen der eigenen Lebensführung nicht unumstritten, da Morone (obwohl Befürworter derselben) sich über die Residenzpflicht hinwegsetzte. Morones theologisches Profil ist, nicht zuletzt aufgrund eigener Erfahrungen mit der Inquisition, unscharf.

Die Entscheidungen des Konzils Im Dekret über das Sakrament der Eucharistie wird die wirkliche Gegenwart Jesu Christi (Realpräsenz) im Sakrament der Eucharistie gemäß der Einsetzung beim Abendmahl gelehrt. Christus ist in jeder der beiden Gestalten ganz mit Gottheit und Menschheit gegenwärtig (Konkomitanz). Zurückgewiesen wird sowohl die Lehre Zwinglis von einer bloß zeichenhaften oder virtuellen Gegenwart wie auch die lutherische Lehre von der Konsubstantiation (Brot und Wein bleiben bestehen, „in, mit und unter“ den Gestalten von Brot und Wein ereignet sich die Gegenwart Christi). Die Eucharistie steht über allen anderen Sakramenten. Die Weise der Verwandlung wird „treffend und im eigentlichen Sinne [convenienter et proprie] Wesensverwandlung [transsubstantiatio]“ genannt. Damit ist gesagt, dass die Weise der Verwandlung nicht Glaubensgegenstand ist; über Theorien der Beziehung zwischen den eucharistischen Elementen und dem Leib Christi kann weiter theologisch nachgedacht werden (wenn auch die lutherische Konsubstantiation ausdrücklich

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ausgeschlossen ist). Weil diese Gegenwart auch nach der Feier fortbesteht, ist dem Sakrament der Eucharistie besondere Verehrung zu erweisen. Sie ist an einem besonderen Ort (Tabernakel) aufzubewahren. Prozessionen mit dem Altarssakrament sind dogmatisch gesichert. Vor dem Empfang der Eucharistie ist die Beichte notwendig. Die Eucharistie kann geistlich oder sakramental (=durch Kommunion der Gestalten) empfangen werden, wobei es in der kath. Kirche Brauch ist, dass die Laien das Brot von den Priestern gereicht bekommen, während die Priester sich selbst die Kommunion unter beiderlei Gestalten reichen. Im Dekret über das Messopfer haben die Konzilsväter gegen die reformatorische Bestreitung formuliert: Die Messe ist ein „wahres und eigentliches Opfer“, und zwar als repraesentatio (Darstellung), memoria (Gedächtnis) und applicatio (Zueignung) des Kreuzesopfers Christi. Die Einheit von Kreuzesopfer und Messopfer kommt in der Identität von Opferndem und Opfergabe zum Ausdruck. Der Unterschied besteht in der „ratio offerendi“: Das Meßopfer ist das Opfer Christi als das Opfer der Kirche durch die Hand des Priesters, und insofern kann man sagen: „Die Kirche opfert Jesus Christus bzw. das Opfer Jesu Christi, um die Heilsfrucht des Kreuzesopfers zu empfangen“

Fragen Die Themen Realpräsenz und Opfercharakter stehen immer noch zwischen den Konfessionen, trotz vieler in den ökumenischen Dialogen erreichter Klärungen. Unterdessen scheinen aber beide Themen auch in der katholischen Kirche immer mehr an Bedeutung einzubüßen und zugleich ihr Verständnis immer undeutlicher zu werden. Die Frage ist: Inwiefern bleibt die Kirche an die mittelalterliche Ausformung des Eucharistieverständnisses, wie es dann in Trient seinen Niederschlag gefunden hat gebunden – und dies auch noch in einer uns heute fremd gewordenen (aristotelisch-philosophischen) Begrifflichkeit? Können wir nicht wieder direkt an das neutestamentliche oder altkirchliche Eucharistieverständnis anschließen? Andererseits: Welche unaufgebbaren Wahrheitsgehalte sind auch in der mittelalterlich-tridentischen „Verengung“ und Konzentration auf Transsubstantiation und Messopfer enthalten? Nimmt man Brot und Wein als Ausdruck für das, wovon wir leben, also heute: für das Wirtschaftssystem, dann wird man dieser Frage einige Bedeutung abgewinnen.

Leseempfehlungen o Wolf-Dieter Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 2,

Gütersloh 1999, S. 493-506 o H. Jorissen, Das Verhältnis von Kreuzesopfer und Messopfer auf dem Konzil von

Trient, in: A. Gerhards/A. Budde (Hg.), Das Opfer – Biblischer Anspruch und liturgische Gestalt, Freiburg 2000, S. 92-99

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8. Das Konzil von Trient, 2. Teil

Textgrundlage: Dekret “Tametsi“ über eine Reform der Ehe, DH 1813-1814; Kanon 11 und Kanon 17 aus dem Reformdekret vom 11.11.1563 (J. Wohlmuth, Dekret der ök. Konzilien Bd. 3, S. 764 u. 769f)

Der Streitfall und sein historischer Kontext: Die Reform der Kirche

Der Ruf nach einer Reform der Kirche „an Haupt und Gliedern“ war seit Anfang des 14. Jahrhunderts nicht mehr verstummt. Die Reformation verdankt ihre Ausbreitung wesentlich dem Reformstau in der Kirche. Tatsächlich hatten sich schwerwiegende Missstände ausgebreitet. In der Hauptsache handelte es sich um eine Verselbständigung des klerikalen Systems von den Aufgaben der Kirche bzw. der Seelsorge. Pfründen/Benefizien wurden erstrebt, verliehen, gehandelt oder angehäuft, ohne dass die Inhaber auch nur die Absicht, in den meisten Fällen auch nicht die Fähigkeit gehabt hätten, die damit verbundenen kirchlichen Aufgaben zu erfüllen. Ämterkauf („Simonie“) war an der Tagesordnung, wie überhaupt eine problematische Verbindung von Gnaden- und Geldökonomie um sich gegriffen hatte (so beim Ablasshandel). Bischöfe und hohe kirchliche Würdenträger residierten sehr oft nicht an ihren Amtssitzen. Die römische Kurie selbst, aber auch zahlreiche Bischofssitze hatten sich in lebenslustige Vergnügungsstätten nach Art der Fürstenhöfe in der Renaissance verwandelt. Die höheren kirchlichen Ämter waren fast ausschließlich im Besitz des Hochadels. Beim Kampf um Ämter und Benefizien schreckte man auch vor Mord und Gewalt nicht zurück. Die Rechtssituation in der Kirche war verworren und unsicher. Zahlreiche Einrichtungen (Klöster, Kanonikerstifte) waren „exemt“, d. h. der Rechtsprechung des Ortsbischofs entzogen. In den Klöstern waren die Sitten oft verwildert; viele Ordensleute dachten nicht daran, ihre Gelübde und Versprechen einzuhalten. Klostereinkommen wurden oft an dritte Personen verkauft, verliehen oder verpachtet („Kommendationen“). Die Pfarrseelsorge lag danieder. Da es als der Hauptzweck der Kirche angesehen wurde, für das Seelenheil der Verstorbenen Messopfer darzubringen, begnügte sich eine schlecht ausgebildete Priesterschaft damit, massenhaft Messen gegen Geld zu lesen. Eine Beteiligung des Volkes schien dabei verzichtbar zu sein. Das Glaubenswissen der einfachen Christen war oftmals sehr gering und von abergläubischen Vorstellungen durchsetzt. Die Päpste und die römische Kurie hatten sich den Reformanliegen lange widersetzt. Mit der Ausbreitung der Reformation aber erkannten sie, dass die Reform der Kirche nun zu einer Überlebensfrage geworden war. Schon das für 1537 nach Mantua einberufene, dann gescheiterte Konzil war ganz der Kirchenreform verschrieben gewesen. In Trient trieben die päpstlichen Legaten die Reformprojekte (oft gegen den Widerstand der Kurie) energisch voran. Wichtiger aber noch war: Nach dem Konzil machte das Papsttum die tridentinische Kirchenreform zur „Chefsache“ und sicherte damit ihre umfassende Durchführung. Sicher war die tridentinische Reform eine der größten „Reformen von oben“ in der ganzen Geschichte. Zur Frage der Ehe: Da sich die Partner das Sakrament der Ehe gegenseitig spenden, eine gültige Ehe zwischen Getauften also auch ohne Beteiligung eines Vertreters der Kirche zustande kommt, und da es im Mittelalter keine Verpflichtung zur öffentlichen, regelgerechten Eheschließung („Formpflicht“) gegeben hatte, hatten die sog. Klandestinehen um sich gegriffen, d.h. heimlich geschlossene Ehen ohne Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit. Oft spielten dabei finanzielle Interessen der beteiligten Familien eine Rolle. Manchmal haben sich die Eheleute niemals persönlich kennen gelernt, eine Person hatte mehrere Ehen zur gleichen Zeit, Blutsverwandte heirateten einander, Eheleute unterhielten ein ständiges Konkubinat, Bräute wurden entführt und andere Missstände mehr. Das Konzil führte die

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Formpflicht für kirchliche Ehen ein und definierte Zulassungsbedingungen und Ehehindernisse.

Personen und Positionen An dieser Stelle soll nur des hl. Carlo Borromeo (1538-1584) gedacht werden, der als Bischof von Mailand die tridentinische Reform in vorbildlicher Weise umgesetzt hat. Aus adeliger, dem Papsttum nahe stehender Familie stammend, erhielt Carlo Borromeo schon mit sieben Jahren die Tonsur (Eingliederung in den Klerikerstand), bald darauf zahlreiche Kommenden und Pfründen, die ihn zu einem der reichsten Männer der Kirche machten. 1552-1559 Studium der Rechtswissenschaft in Padua. 1559 wurde sein Onkel zum Papst gewählt (Pius IV.), B. wurde daraufhin mit 22 Jahren zum Kardinal ernannt, er hatte eine hohe Stellung in der Gesamtkirche inne. Mit seinem Jahresgehalt unterhielt der etwa 150 Familienangehörige. Nach dem plötzlichen Tod des Bruders erfolgte 1562/63 eine religiöse Wende. B. übte sich in Askese und geistlicher Lektüre, hatte Kontakt mit Jesuiten und Theatinern. 1563 erfolgte schließlich die Priesterweihe. B. stellte sich in den Dienst der Reform und bejahte die Residenzpflicht der Bischöfe. Schon lange war ihm die große Erzdiözese Mailand als Benefizium zugefallen, aber erst 1563 wurde er zum Bischof konsekriert. Er residiert fortan in der Stadt, in der schon über 50 Jahren keine Bischöfe mehr residiert hatten. Durch die Verfügung über die Pfründen sicherte er sich einen ergebenen Klerus, der der Reform verpflichtet war. 1565 hält er eine erste Provinzialsynode aller Suffraganbistümer des Erzbistums Mailand – die erste seit 1311 – im Sinne der tridentinischen Reform. Ganz Europa schaut nach Mailand. Die Beschlüsse der Synode werden 6000 Mal gedruckt und in alle Teile Europas verschickt. B. veranstaltet jährlich Diözesansynoden, regelt die Lebensweise des Klerus, ordnet die Liturgie, die Verwaltung der irdischen Güter und das Leben in den Klöstern, auch in den exemten. Während der Pest 1576 organisiert der Bischof Hilfsdienste unter starkem persönlichem Einsatz; dies sichert ihm einen lebenslangen Ruf als heiligmäßiger Mann. Er errichtet ein Priesterseminar, dazu ein spezielles Seminar für die Schweiz und ein Seminar für Spätberufene. Durch Provinzialsynoden sucht er die Autorität der Erzbischöfe zu stärken, scheitert damit aber sowohl am Widerstand der Bischöfe wie auch Roms. B. führte stets zahlreiche Visitationen durch und erfuhr nicht nur deshalb viel Widerstand von Seiten der in ihrer Immunität unangefochtenen geistlichen Zentren (Klöster, Kanonikate). Ein Kollegiatskapitel ging mit Soldaten gegen die Visitation vor; von B. abgesetzte Ordensobere protestierten; es gab sogar ein Attentat. Auch mit den weltlichen Machthabern geriet B. in Konflikt wegen der eigenen kirchlichen Gerichtsbarkeit, der Einrichtung einer kirchlichen Miliz (um Laien dem kirchlichen Gericht vorzuführen), und wegen des Verbots von Markt, Turnieren und Ritterspielen auf dem Domplatz. Gesamtkirchlich kämpfte B. gegen die spanische Inquisition. Mit Rom hatte er Auseinandersetzungen wegen der Approbation der Synodalbeschlüsse und der Wiedereinführung der ambrosianischen Liturgie. Sein Einfluss auf die Papstwahlen zu seinen Lebzeiten war gleichwohl groß. Sein stark asketischer Lebensstil führte bis zur Gefährdung seiner Gesundheit. B. hatte Freude an katholischen Übungen wie Wallfahrten, Prozessionen, Heiligenverehrung. Seine Bildung bezog er aus der Bibel, den Kirchenvätern und klassisch-humanistischer Literatur; die mittelalterliche Scholastik bedeutete ihm wenig. Schon zu Lebzeiten erfuhr er eine starke Verehrung. Seine Kanonisation erfolgte 1611.

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Die Entscheidungen des Konzils Nur stichwortartig kann das äußerst umfangreiche Reformprogramm des Konzils hier wiedergegeben werden. Sein Schwerpunkt lag in der dritten Sitzungsperiode (1562/63). 21. Sessio, 16. Juli 1562:

- Kommunion unter beiderlei Gestalten, Kommunion von Kindern - Erteilung der Weihen, Errichtung neuer Pfarreien, jährliche Visitation aller Pfründen

durch den Bischof - Ablass, der ohne Entgelt erteilt werden soll

23. Sessio, 15. Juli 1563: - Residenzpflicht der Bischöfe - Zulassung zu den Weihen, Mindestalter für geistliche Ämter - Beichtvollmacht - Priesterseminare in jeder Diözese

24. Sessio, 11.11.63: - Ehe als Sakrament, Unauflöslichkeit, Formpflicht, Ehehindernisse (DH 1813-1816) - jährliche Diözesansynoden - alle drei Jahre Provinzialsynoden für die Erzbistümer - Visitationen - Befugnisse des Bischofs gegenüber Exemten - Volksseelsorge - Disziplinargewalt der Bischöfe - Verbot der Simonie - Verbot der Pfründenhäufung - Kirchliches Prozesswesen

25. Sessio, 3.4.12.63: - Verehrung der Heiligen, der Reliquien und der heiligen Bilder (DH 1821-1825) - Verbot der Duelle (DH 1830) - Ablässe (DH 1835) - Ordensleute und Klosterfrauen: Besitzfragen, Klausur, Wahl der Oberen etc. - Rechte und Pflichten der Kardinäle und Bischöfe - Finanzfragen

Das Konzil hat darüber hinaus einige Projekte begonnen, aber nicht mehr zu Ende führen können und diese dann dem Papst übertragen, nämlich

- den Index „verdächtiger und gefährlicher Bücher“ (DH 1851-1861) - die Anfertigung eines normativen Katechismus (der dann 1566 als „Catechismus

Romanus“ erschienen ist) - die Reform des Messbuchs - die Reform des Breviers

Papst Pius IV. bestätigte alle Beschlüsse des Konzils in der Bulle Benedictus Deus (26. Jan. 1564, DH 1847-1850) und behielt sich die Auslegung strittiger Stellen vor. Er setzte eine Kardinalsdeputation zur Durchführung der Konzilsbeschlüsse ein. Somit kommt es erstmals in der Kirchengeschichte zur Durchführung aller Beschlüsse eines Konzils. 1564 wird ein –gegenüber den Vorgaben des Konzils – erheblich erweitertes „Tridentisches Glaubensbekenntnis“ vom Papst festgelegt (DH 1862-1870). Pius IV. und vor allem Sixtus V. treiben die Reform der römischen Kurie energisch voran.

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Fragen Das Konzil von Trient hatte der Glaubenseinheit dienen wollen, dieses Ziel jedoch nicht erreicht. Stattdessen wurde die nachtridentinische Kirche zu einem straff organisierten, höchst effizienten konfessionellen Verband mit dem Papst an der Spitze. Das Konzil arbeitet dem Zeitalter der Konfessionalisierung entscheidend zu. Die Einheitlichkeit und Geschlossenheit, die der römisch-katholischen Kirche oft nachgerühmt wurden und die in der Bedeutung des Papsttums ihren bündigen Ausdruck finden, sind erst ein Ergebnis dieser Reform. So konnte die katholische Kirche die Gegenreformation auf den Weg bringen und ihren Weg durch die Neuzeit antreten – in tiefer Ambivalenz zugleich Antipode der modernen Entwicklung und dieser selbst verhaftet (Antimodernismus mit den Mitteln der Moderne). Zweifellos wäre die Kirche nicht bestehen geblieben, hätte sie sich der „Radikalkur“ dieser Reform nicht unterzogen. Der Preis dafür war ich ihre Veränderung hin zu einer Organisation. Die niemals verstummte Frage ist, ob der christliche Glaube sich mit der Form einer (hierarchischen) Organisation verträgt. Noch etwas anderes ist zu sagen: Die zahlreichen Reformdekrete zeigen, wie tief das kirchliche Leben in Fragen der Lebens- und Alltagsgestaltung eingriff. Darin liegt etwas „Jüdisches“ (bezogen auf die Alltagsnähe der Torapraxis), aber eben in einer typisch katholischen Gestalt, nämlich als autoritativ-amtliche Anweisung von oben. Die Kirche unserer Tage hat diese Alltagsrelevanz weitgehend verloren. Ist sie damit noch die Sachwalterin der göttlichen Gebote, die doch im Alltag getan werden wollen?

Leseempfehlungen o Wolf-Dieter Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 1,

Gütersloh 1999, S. 507-526 o Handbuch der Kirchengeschichte, hg. von Hubert Jedin: Bd. IV, Freiburg 1967, S.

487-520

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9. Das Erste Vatikanische Konzil (1869/79)

Textgrundlage: Dogmatische Konstitution “Pastor aeternus“, DH 3060-3061, 3070-3074

Der Streitfall und sein historischer Kontext: Jurisdiktionsprimat und Unfehlbarkeit

des Papstes Das Papsttum hatte sich an die Spitze der tridentinischen Reform gesetzt und die katholische Kirche zu einem geschlossenen, gut organisierten konfessionellen Verband gemacht. Die Kirche wurde zu einer Art Papstmonarchie mit absolutistischem Charakter, durchaus in Einklang mit dem politischen Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass über 300 Jahre kein Konzil mehr stattfindet. Eine vorsichtige Öffnung der Kirche zur Aufklärung war, wie bei den absolutistischen Monarchen auch, unter diesen Umständen möglich. Die Französische Revolution aber ließ die päpstliche Alleinregierung zum Politikum werden. Fortan stand der päpstliche Absolutismus den liberalen, bürgerlichen Freiheitsbewegungen gegenüber. Energische Verteidiger der päpstlichen Souveränität wie der französische Philosoph Joseph de Maistre (+1821) erblickten im Prinzip der Autorität die eigentliche Gabe, die die Kirche einer Zeit zu geben habe, in der jegliche Ordnung in Auflösung begriffen sei. De Maistres Schriften (du pape, 1819) haben ebenso wie die des spanischen Diplomaten Donoso Cortes im Vorfeld der Unfehlbarkeitsdebatte eine große Rolle gespielt. Sie beflügelten den sog. Ultramontanismus, der in klarer Wendung gegen den liberalen Geist die primäre Bindung der Katholiken an den Papst in Rom (=jenseits der Berge) verfocht und mit den feudalen Adelsherrschaften (u.a. Metternich in Österreich-Ungarn, Bourbonen in Frankreich) in enger Verbindung stand. Demgegenüber suchte der sog. Liberale Katholizismus, dem es nicht weniger als dem Ultramontanismus um eine starke Position der Kirche in der Gesellschaft ging, die Fühlung mit dem „Volk“, d.h. mit dem aufstrebenden Bürgertum. Hier setzte man sich für bürgerliche Freiheitsrechte wie die Religionsfreiheit, die Meinungs- und die Pressefreiheit ein und unterstützte die republikanische Bewegung. Ein wichtiger Wortführer der Liberalen war der französische Publizist Félicité de Lammenais (+1860), der die Lösung der Allianz zwischen Thron und Altar betrieb. Die von ihm herausgegebene Zeitschrift L’avenir stand unter dem Motto „Dieu et liberté“. In Rom ging der seit 1831 amtierende Papst Gregor XVI. aufgrund der politisch sehr instabilen Lage im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts auf Distanz zu allen politischen Umwälzungen oder Revolutionen und damit auch zum liberalen Bürgertum. Die Zeitschrift L’avenir wurde 1832 in der Enzyklika Mirari vos wegen ihres „Indifferentismus“, d.h. der Leugnung letztgültiger Wahrheit, verurteilt. Auf der anderen Seite bekam der liberale Katholizismus mindestens in Deutschland durch das sog. Kölner Ereignis von 1837 – der Kölner Erzbischof Klemens August Droste zu Vischerung wurde durch die preußischen Behörden verhaftet, weil er sich der staatlichen Mischehenregelung widersetzte – großen Auftrieb, denn nun schien es klar zu sein, dass auf den Bund von Thron und Altar nicht mehr zu hoffen war. Diese Haltung wurde durch entsprechende Erfahrungen eines staatsunabhängigen Katholizismus in Irland, Polen und Belgien bestärkt. Als Papst Pius IX. 1846 sein Pontifikat antrat, stand er zunächst der liberalen Seite nahe. Doch u.a. durch die Erfahrungen mit der Revolution von 1848 in Italien, die schließlich zum Verlust des Kirchenstaates (1870) führten, wandte er sich der konservativ-reaktionären Position zu. Im Syllabus errorum von 1864, verbunden mit der Enzyklika Quanta cura, verurteilte er liberale, sozialistische, rationalistische, naturalistische und atheistisch-agnostische Ansichten in pauschaler Weise.

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Als Papst Pius IX. im Juni 1867 das Konzil im Vatikan ankündigte, stand zunächst die Unfehlbarkeitsfrage gar nicht oben auf der Tagesordnung. Man wollte sich allgemein mit den „Übeln der modernen Welt“ auseinandersetzen. Doch war es nach allem nicht verwunderlich, dass die Presse und das Agieren der rivalisierenden Parteien in der Kirche die Problematik des Verhältnisses der Kirche zur Gesellschaft auf die Unfehlbarkeitsfrage zuspitzten. Dem Papst wurde klar, dass er einer Entscheidung in dieser Frage nicht ausweichen konnte. Einflussreiche „Infallibilisten“ wie Bischof Senestrey von Regensburg und Erzbischof Manning von Westminster verschworen sich, das Konzil nicht zu verlassen, ohne die Unfehlbarkeitsdoktrin durchgesetzt zu haben. Dies wiederum mobilisierte die liberale Seite, die etwa in der Gestalt von Ignaz Döllinger heftig gegen die Definition der Unfehlbarkeit des Papstes agierte. Das Konzil begann am 8. Dez. 1969. Von den zahlreichen vorbereiteten Dekreten wurde zunächst nur die Konstitution „Dei filius“ beraten und beschlossen, die das Verhältnis von Glauben und Wissen zum Gegenstand hat (Verurteilung des Rationalismus, zugleich aber Bejahung der Möglichkeit natürlicher Gotteserkenntnis und Abweisung von Fideismus – nur der Glaube führt zu Gott – und des Traditionalismus – Wahrheit nur aus der Tradition, nicht aus eigener Einsicht). Da das italienische Risorgimento (Bewegung zu nationaler Einheit und Unabhängigkeit) das Konzil bedrohte (tatsächlich musste es dann wegen des Einmarschs italienischer Verbände in den Kirchenstaat im Oktober 1870 vorzeitig beendet werden), sorgten sich die Infallibilisten um die rechtzeitige Behandlung des Unfehlbarkeitsthemas. Sie erreichten mit Unterstützung des Papstes, dass dieses Thema aus der geplanten Kirchenkonstitution herausgelöst und als eigenes Thema behandelt wurde. Doch gab es bei etwa 20% der etwa 700 Konzilsväter erhebliche Widerstände gegen das Dogma; dieser kam vor allem aus den bildungsmäßig und gesellschaftlich entwickelteren Ländern wie Österreich-Ungarn, Deutschland, Frankreich und Nordamerika. Eine Abstimmung am 13.7.1870 ergab 451 Ja-Stimmen und immerhin 88 Gegenstimmen sowie 62 Stimmen mit Änderungswünschen. Erst nachdem an die 200 Konzilsteilnehmer unter Protest abgereist waren, konnte die Definition der Unfehlbar und des päpstlichen Jurisdiktionsprimats mit nur 2 Gegenstimmen beschlossen werden.

Personen und Positionen Die Auseinandersetzungen um das Dogma sollen exemplarisch an dem „Unfehlbarkeitspapst“ Pius IX. selbst und an seinem härtesten Kontrahenten, dem Theologen Ignaz Döllinger, aufgezeigt werden. Pius IX. (Giovanni Maria Mastai-Ferretti), geb. 1792 in Senigallia, war von 1846 bis 1878 Papst und hatte damit bis heute das längste Pontifikat überhaupt inne. Nach diplomatischem Dienst in Chile und Bischofsamt in Spoleto und Imola wurde er nach nur zweitägigem Konklave zum Papst gewählt. Eine politische Amnestie und praktische Reformen im Kirchenstaat brachten ihm den Ruf eines liberalen Reformers ein. Doch geriet er bald in Konflikt mit der italienischen Einigungsbewegung; 1848 musste er vor der Revolution zwei Jahre nach Gaeta (Neapel) fliehen. Er kehrte mit einer konservativen Gesinnung zurück. Seine Politik führte zu schweren Konflikten mit mehreren südamerikanischen und europäischen Staaten. Im Syllabus errorum von 1864 erteilte er der Moderne eine grundsätzliche Absage. Unter anderem verurteilte er das Prinzip der Religionsfreiheit. Den italienischen Katholiken verbot er die Teilnahme an politischen Wahlen. 1860 konnte der Kirchenstaat nur noch mit Hilfe französischer Truppen vor dem Untergang bewahrt werden. Der Papst exkommunizierte den italienischen König Vittorio Emmanuele. 1870 ging der Kirchenstaat endgültig unter. 1854 verkündigte Papst Pius IX. das Dogma von der unbefleckten Empfängnis Mariens. Auf dem von ihm einberufenen Ersten Vatikanischen Konzil setzte er den Jurisdiktionsprimat des Papstes und das Dogma von der Unfehlbarkeit mit allen Mitteln gegen eine nicht unerhebliche

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Minderheit von Bischöfen durch. Selten hat es eine umstrittenere Entscheidung in der Kirchengeschichte gegeben. Große Verehrung – u.a. in den deutschen Pius-Vereinen – und erbitterte Gegnerschaft begleiteten den Papst immer. 1907 wurde der Prozess der Heiligsprechung eingeleitet. Am 3. Sept. 2000 wurde er zusammen mit Papst Johannes XXIII. auf dem Petersplatzselig gesprochen, nicht ohne heftige Proteste, die u.a. seinen starken Antijudaismus in Erinnerung riefen. Johann Joseph Iganz von Döllinger, 1799-1890, aus akademischem Elternhaus in Würzburg stammend, studierte Geschichte, Philologie, Naturwissenschaften und Theologie und wurde 1822 zum Priester geweiht. Er vertrat zunächst eine streng kirchliche und antiprotestantische Richtung. Als Mitglied des Frankfurter Parlaments kämpfte er 1848/49 für die Freiheit und Autonomie der Kirche. Ab Mitte der 60er Jahre vollzog sich allmählich ein Umschwung. Immer stärker kam er in Gegensatz zur ultramontanen und jesuitischen Richtung. Das Dogma von der unbefleckten Empfängnis verwarf er ebenso entschieden wie den Syllabus. 1863 setzte er sich auf dem berühmten Münchener Gelehrtenkongress in einen klaren Gegensatz zur herrschenden neuscholastischen kirchlichen Wissenschaft. Das Konzil begleitete er von seiner Ankündigung an mit vielbeachteten kritischen Beiträgen in der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Döllinger verweigerte schließlich die Anerkennung des Unfehlbarkeitsdogmas und wurde daraufhin am 17. April 1871 vom Münchener Erzbischof exkommuniziert. Er betrachtete sich und die anderen Gegner des Dogmas jedoch weiterhin als rechtmäßige Glieder der Kirche. An der Entstehung der auf ihn sich berufenden alt- oder christkatholischen Kirche nahm er regen Anteil, ohne ihr jemals formell beizutreten. Von Döllinger mit Eifer betriebene Unionskonferenzen, die zur Wiedervereinigung mit der katholischen Kirche führen sollten, scheiterten. Döllinger starb unversöhnt mit der Kirche und wurde nach altkatholischem Ritus beerdigt.

Die Entscheidungen des Konzils Bezüglich des Jurisdiktionsprimats legt das Konzil fest, dass der Papst die volle, oberste, ordentliche und unmittelbare Gewalt über die ganze Kirche hat, dass er also die oberste rechtliche Instanz ist, gegen die kein juristischer Widerstand mehr möglich ist. Damit ist das jahrhunderte lange Ringen um die oberste Gewalt in der Kirche in einem dogmatisch eindeutigen Sinn entschieden. Allerdings fügt das Konzil hinzu, dass die Vollmacht des Papstes die der Bischöfe nicht einschränkt, sondern diese vielmehr bejaht, stärkt und schützt. Die Festlegung des Jurisdiktionsprimats ist vielleicht die gegenüber der Unfehlbarkeit wichtigere weil folgenreichere Entscheidung. Was die Unfehlbarkeit betrifft, so wird dem Papst in Glaubens- und Sittenfrage die Unfehlbarkeit zugesprochen, mit der Christus seine Kirche ausgerüstet hat. Diese Unfehlbarkeit hat der Papst inne, wenn er „ex cathedra“ (von seinem Bischofssitz) spricht, also in Ausübung seines Amtes als Hirte und Lehrer aller Christen. Die Definitionen des Papstes sind aus sich heraus unabänderlich, nicht aufgrund der Zustimmung der Kirche („ex sese, non ex consensu ecclesiae“). Diese gegen französische Wünsche in letzter Minute eingefügte Formulierung besagt nicht, dass der Papst unabhängig von der Kirche Wahrheiten definieren kann, sondern dass zur Anerkennung seiner Definitionen ein förmliches Anerkennungsverfahren durch die Kirche nicht nötig ist. Die Befürworter dieser Formulierung verwiesen vor allem auf pragmatische Gründe (Schwierigkeit, diesen Konsens einzuholen; Langwierigkeit eines solchen Verfahrens).

Fragen Die Probleme mit Jurisdiktionsprimat und Unfehlbarkeit liegen auf der Hand. Die katholische Kirche scheint mit diesem Dogma auf immer an eine unter bestimmten Bedingungen

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gewachsene Struktur gebunden zu sein, deren Berechtigung aus Schrift und Tradition durchaus zweifelhaft zu sein scheint. Ist mit diesem Dogma eine Art Glaubensdiktatur in der Kirche errichtet? Oft hat man dieses Dogma so verstanden. Und werden die Wahrheitsansprüche der Vernunft und des Glaubenssinnes der Gläubigen („sensus fidelium“) zugunsten einer autoritären Lösung definitiv zurückgewiesen? Zum Jurisdiktionsprimat: Die Bestimmung des Verhältnisses zwischen päpstlicher und bischöflicher Amtsvollmacht ist durchaus aporetisch. Zum einen wird die Vollmacht des Papstes als eine „wahrhaft bischöfliche“ bezeichnet, was bedeutet, dass die gesamte Kirche gewissermaßen die Gemeinde des Papstes wäre. Dann aber gäbe es für jeden Christen zwei Kirchen: die Bischofskirche, in die hinein er getauft worden ist, und die päpstliche; er wäre zwei Bischöfen untergeben. Zum anderen wird die päpstliche Vollmacht an die Bejahung, Anerkennung und Stärkung der bischöfliche Vollmachten gebunden (die ihrerseits unmittelbar vom Heiligen Geist kommen und sich nicht dem Papst verdanken), so dass also der Papst niemals gegen die Bischöfe, sondern immer nur mit ihnen seine Vollmacht ihnen gegenüber ausüben kann. Dies kann man einen utopischen Verfassungsentwurf nennen. Zur päpstlichen Unfehlbarkeit: Gegenüber allen möglichen Interpretationen ist zu sagen, dass das Konzil eigentlich nur eine Verfahrensfrage regelt. Die Frage ist: Wie kann die Wahrheit des christlichen Glaubens, so wie die Kirche sie versteht, in der Kirche verbindlich ausgesagt werden? Dass eine solche verbindliche Aussage des Glaubens zuweilen erforderlich ist, hat die Geschichte von den Auseinandersetzungen mit dem Gnostikern an zu Genüge gezeigt. Kann nun nur ein Konzil – und falls ja, unter welchen Bedingungen – eine solche Entscheidung treffen? Und warum sollte die Gemeinschaft der (zufällig versammelten) Bischöfe über eine größere Autorität in Glaubensfragen verfügen als der Papst allein? Das Konzil beruft sich auf die biblisch zweifellos gegebene besondere Position des Petrus und sagt: Die Entscheidung über die überlieferte Offenbarung – und nur darüber, nicht über irgendwelche Fragen – kommt dem Nachfolger des Hl. Petrus zu, wenn er in seinem Amt – und das heißt immer: im Zusammenhang der kirchlichen Gemeinschaft – handelt. Man stößt sich heute sehr an dem Autoritäts- und Vollmachtsparadigma, das in den Texten des Konzils begegnet und das einfach Relikt eines monarchisch-vormodernen Denkens zu sein scheint. Zu fragen ist, ob es möglich ist, diese damalige Betonung des Autoritätsgedankens als Ausdruck für die Freiheit der Kirche von außerkirchlicher, staatlicher oder sonst wie gesellschaftliche Beeinflussung zu verstehen. Sollte dies möglich sein, dann hätte auch dieser anstößige Autoritätsgedanke noch ein – in den damaligen Vorstellungswelten formuliertes – biblisches Fundament.

Leseempfehlungen o Wolf-Dieter Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd.1,

Gütersloh 1995, S. 554-560 o Klaus Schatz, Kirchengeschichte der Neuzeit II, Düsseldorf 1989, S. 85-95 o Klaus Schatz, Das Erste Vatikanische Konzil 1869-1879, Bd 3, Paderborn 1994,

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10. Die marianischen Dogmen von 1854 und 1950

Textgrundlage: Bulle “Ineffabilis Deus“ vom 8. Dez. 1854, DH 2800-2804; Apost. Konstitution “ Munificentissimus Deus“ vom 1. Nov. 1950, DH 3900-3904

Der Streitfall und sein historischer Kontext: Unbefleckte Empfängnis Mariens

(Immaculata conceptio, 1854) und Leibliche Aufnahme Marien in den Himmel (Assumpta, 1950)

Das Spätmittelalter erlebte ein enormes Aufblühen der Marienverehrung; die Frömmigkeit bekam ein stark weibliches Gepräge (vgl. die Anna-Selbdritt-Darstellungen aus dieser Zeit). Die Reformation schnitt die Marienfrömmigkeit radikal zurück, sie erblickte darin eine Beeinträchtigung des solus Christus (Erlösung durch Christus allein). Umso mehr bildete die Marienverehrung und volkstümliche Marienfrömmigkeit ein Merkmal der Katholischen Kirche im konfessionellen Zeitalter. Die im Barock stark ausgeweitete Verehrung der Gottesmutter (Rosenkranz, Wallfahrten, Marienfeste, marianische Bruderschaften/ Kongregationen etc.) wurde durch die Aufklärung nur leicht zurückgedrängt und lebte dann im 19. Jahrhundert wieder sehr auf. Nun bemächtigte sich auch verstärkt der Klerus dieses Ausdrucks der Volksfrömmigkeit. Marienverehrung schien geeignet zu sein, das katholische Profil gerade auch in seiner modernitätskritischen Grundhaltung zu auszudrücken. Marienerscheinungen nehmen nun in allen katholischen Ländern sprunghaft zu. Heilungen durch Maria – wie vor allem seit 1858 in Lourdes – düpieren den Rationalitätsanspruch der Wissenschaft. Die Äußerungen der erscheinenden Gottesmutter bringen fast sämtlich apokalyptische Befürchtungen zum Ausdruck. In diese Situation fallen die beiden marianischen Dogmen der Neuzeit. Sie stellen in drei Hinsichten etwas ganz Neues in der Dogmengeschichte dar:

1. Sie betreffen nicht Gott bzw. Christus und den Geist, sondern eine bestimmte Person der Heilsgeschichte. Das war noch bei den anderen marianischen Dogmen (Jungfräulichkeit, Gottesmutterschaft) anders gewesen; sie hatte eine christologische Aussage.

2. Beide Dogmen haben keine ausdrückliche Grundlage in der Hl. Schrift. Zu ihrer Dogmatisierung war es notwendig ausdrücklich zu erklären, dass auch aufgrund von Aussagen der Tradition allein eine geoffenbarte Wahrheit definiert werden kann.

3. Sie werden allein vom Papst ohne Zustimmung durch ein Konzil erlassen. Ohne Zweifel steht zumindest das Dogma von 1854 im Vorfeld des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes.

Zur Dogma von der Unbefleckten Empfängnis: Seit dem 14./15. Jahrhundert war diese Problematik in der Theologie umstritten: ob Maria als Mutter des sündlosen Christus und aufgrund ihrer Beteiligung am Heilswerk selbst ohne den Makel der Erbsünde empfangen worden sei. Makulistische Positionen (Maria wie alle Menschen von der Erbsünde betroffen; so vor allem die thomistisch-dominikanische Richtung) standen jahrhundertelang gegen die Vertreter der Immaculata conceptio (vor allem Franziskaner). Die Päpste wollten sich lange Zeit nicht festlegen, hielten beide Ansichten für vertretbar oder verboten sogar eine Diskussion darüber. Ab 1840 häuften sich nun Anträge an den Papst, er möge die inzwischen in der Theologie mehrheitlich vertretene immakulistische Position dogmatisieren. Eine vom Papst einberufene Theologenkommission und eine von ihm veranstaltete Umfrage unter allen Bischöfen kamen zum gleichen Ergebnis. Papst Pius IX. erklärte diese Lehre schließlich am 8.12.1854 in der Bulle Ineffabilis Deus zum Dogma.

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Das Dogma wurde von der katholischen Bevölkerung weltweit begeistert aufgenommen. 1858 hörte das Bauernmädchen Bernadette Soubirous die Gottesmutter in der Grotte von Lourdes sagen: Je suis l’immaculée conception. Bald darauf setzten die Lourdes-Wallfahrten ein. Zum Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel: Schon seit dem 8. Jahrhundert wurde das Assumptio-Fest in einigen Teilen der Kirche gefeiert. Für die Volksfrömmigkeit spielte es immer eine große Rolle, es war verbunden mit der Verehrung Mariens als Himmelskönigin. Doch war eine dogmatische Klärung bisher nicht erfolgt. Das Dogma von der Immaculata bedeutete eine dogmatische Vorentscheidung: Wenn Maria von der Erbsünde und von allen Sünden frei war, warum sollte sie dann bis zum Jüngsten Tage auf das Gericht und die Auferstehung des Leibes warten? Schon beim 1. Vaticanum sollte die Frage entschieden werden, doch dazu kam es nicht mehr. Als Papst Pius XII. am 1. Nov. 1950 in der Apostolischen Konstitution Munificentissimus Deus die leibliche Aufnahme Marien unmittelbar nach Vollendung ihres Lebensweges in de Himmel verkündete, war wiederum eine einhellig positive Befragung der Bischöfe vorausgegangen. Über 5 Mill. Gläubige hatten zuvor entsprechende Petitionen an den Papst gerichtet. 1954 führte der Papst das Fest Maria Königin ein, eine unmittelbare Konsequenz des Dogmas.

Personen und Positionen Zu den entschiedenen Befürwortern des Immaculata-Dogmas gehörte der römische Theologe Giovanni Perrone (1794-1876), der auch die theologischen Vorarbeiten für die Dogmatisierung leistete. Er war einer der großen Theologen der Neuscholastik, jener im 19. Jahrhundert führenden theologischen Richtung, die in großer Treue zur Kirche und in deutlicher Abgrenzung zum modernen Denken (Subjektivismus, Liberalismus, Indifferentismus) die Theologie der Scholastik erneuerte. Perrone war ein Freund des großen englischen Konvertiten John Henry Newman. Seine Praelectiones theologicae (Dogmatische Vorlesungen, 9 Bde., 1835-1842) und sein Compendium erreichten unzählige Auflagen und prägten Generationen von Theologen. Perrone vertrat einen theologisch konservativen Objektivismus (Kirche ist Glaubensinstanz kraft ihrer Verbindung mit den Aposteln, Papst ist unfehlbar), zeigte aber auch Offenheit gegenüber neuen Entwürfen seiner Zeit (v.a. Joh. Adam Möhler). Bernadette Soubirous (1844-1879), in einfachsten Verhältnissen und ohne Schulbildung aufgewachsen, hatte vom 11. Febr. bis zum 18. Juli 1858 19 Marienerscheinungen in der Grotte Masabielle bei Lourdes (Pyrenäen). Trotz vieler Anfeindungen und Widerstände hielt sie an ihrer Mission fest. Die Marienerscheinungen wurden schließlich anerkannt, Lourdes entwickelte sich zum größten Wallfahrtsort der Geschichte. 1866 trat sie bei den Soeurs de la Charité ein, erlitt auch dort viel Unverständnis, da sie es als ihre Aufgabe ansah, krank zu sein. Sie wurde 1933 heilig gesprochen. – Über sie das wunderbare Buch von Franz Werfel!

Die dogmatischen Definitionen Immaculata: Die Bulle Ineffabilis Deus erklärt die Lehre, „dass die seligste Jungfrau Maria im ersten Augenblick ihrer Empfängnis durch die einzigartige Gnade und Bevorzugung des allmächtigen Gottes im Hinblick auf die Verdienste Christi Jesu, des Erlösers des Menschengeschlechts, von jeglichem Makel der Urschuld unversehrt bewahrt wurde.“ Das biblische Fundament liegt in der Kombination mehrer Glaubenswahrheiten: Wenn Christus in allem uns gleich ist außer der Sünde (Hebr), die Sünde aber von Adam auf das ganze Menschengeschlecht übergegangen ist (Röm 5), dann muss bei Christus diese Übertragung unterbrochen gewesen sein, und das lässt darauf schließen, dass bereits seine menschliche Mutter von der Erbsünde frei war.

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Assumpta: Es wird erklärt, dass „die Unbefleckte Gottesgebärerin und immerwährende Jungfrau Maria nach Vollendung des irdischen Lebenslaufes mit Leib und Seele in die himmlische Herrlichkeit aufgenommen wurde“, dass sie „vor der Verwesung des Grabes unversehrt bewahrt wurde“ und nunmehr „zur Rechten ihres Sohnes, des unsterblichen Königs der Zeiten, als Königin“ erstrahlt. Es wird offen gelassen, ob sie gestorben ist oder nicht.

Fragen Um diese marianischen Dogmen eröffnet sich ein weiter Interpretationsraum:

o In ihrer religiösen Bedeutung: Ob dies nicht die Wiederkehr der Göttinnen ist: Maria, die geheime Göttin in Christentum

o In ihrem zeitlichen Kontext: Das Immaculata-Dogma könnte als Antwort der Kirche auf die schmutzige Industrialisierung, Kolonisierung, Pauperisierung des 19. Jhds. verstanden werden: Es gibt ein wahres Leben im falschen! Das Assumpta-Dogma könnte als Antwort auf den Krieg und seine ungeheuren Zerstörungen verstanden werden: Diese Welt ist noch einer leiblichen Auferstehung fähig, sie ist nicht ganz von Gott verworfen.

o In Bezug auf die Frage nach der Bedeutung von Volksfrömmigkeit: Diese Dogmen wachsen noch ganz aus der Volksfrömmigkeit hervor. Das II. Vatikanum hat die Mariologie der Lehre der Kirche untergeordnet und stark theologisiert. Die Volksfrömmigkeit ist damit zum Erliegen gekommen, die Verbindung von Volksfrömmigkeit, Theologie und kirchlicher Lehre unterbrochen. Ein zweifelhafter Sieg der Theologie über den einfachen Glauben!

o In Bezug auf die Haltung der Kirche zum Judentum: Ist in diesen Dogmen, die das jüdische Mädchen Mirjam betreffen, nicht auch das Volk Jesu geehrt worden? Und zusammen mit Maria die Frauen des Alten Bundes?

Leseempfehlungen o Wolf-Dieter Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 2.,

Gütersloh 1999, S. 548-553 o Franz Courth, Mariologie – Maria, die Mutter des Herrn, in: W. Beinert (Hg.),

Glaubenszugänge. Lehrbuch der Dogmatik, Bd. 2, Paderborn u.a. 1995, S. 357-388

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11. Das 2. Vatikanische Konzil (1962-1965), 1. Teil

Textgrundlage: Dogmatische Konstitution über die Kirche “Lumen Gentium“, DH 4101; 4118; 4122; Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung “Dei Verbum“, DH 4202-4206

Der Streitfall und sein historischer Kontext: Verständnis von Kirche und von

Offenbarung Das zweite Vatikanische Konzil, von Papst Johannes XXIII. am 25.Januar 1959 einberufen, sollte sich nach dem Willen des Papstes nicht zuerst um Lehre und Disziplin, sondern um das Zeugnis der Kirche in der Welt kümmern. Es sollte ein pastorales, ein seelsorgliches, kein dogmatisches Konzil sein. Es reagierte, vereinfacht gesagt, auf den Problemstau, der sich in der Kirche seit dem unvollendeten I. Vatikanum ergeben hatte. Vor allem die Stellung der Kirche in der Welt stand zur Diskussion. War das Verhältnis von Kirche und (liberalem) Staat im 19. Jahrhundert noch von Ablehnung und Kampf geprägt gewesen, so musste es sich gegenüber den demokratischen Nachkriegsregierungen sicherlich wandeln. Ingesamt machte die katholische Kirche in diesem Konzil ihren Frieden mit der Moderne. Nach den Worten des Papstes sollten die Fenster der Kirche zur Welt weit geöffnet werden. Dabei konnte selbst der – persönlich eher konservative, jedenfalls ganz traditionsverbundene Papst – nicht ahnen, welchen Verlauf dieses Konzil nehmen und wie sehr es die Kirche verändern sollte. Was sich bereits beim ersten dem Konzil vorgelegten Dokument ereignete (dem Schema für die Liturgiekonstitution), wiederholte sich bei den meisten der im folgenden Vorlagen: Die in Rom erarbeiteten Texte wurden in der Konzilsaula heftig diskutiert und hart kritisiert, häufig kam am Ende etwas ganz anderes heraus als die römischen Autoren geplant hatten. Dabei spielten die Konzilstheologen eine bedeutende Rolle; mehr als irgendein Konzil zuvor war das Vaticanum II. ein Konzil der Theologen. Zum Thema Kirche: Das 2. Vatikanische Konzil war vor allem ein Konzil der Kirche über die Kirche. Die Frage, was die Kirche ist und wie sie zur Welt steht, d.h. die Selbstunterscheidung der Kirche zur Gesellschaft war fraglich geworden und bedurfte einer neuen Klärung. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde die Kirche sich selbst zum Thema. Dabei kann man an der Differenz zwischen dem von der römischen Glaubenskongregation vorgelegten Schema für die Kirchenkonstitution und dem schließlich in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche LUMEN GENTIUM verabschiedeten Text ermessen, welcher Weg auf dem Konzil zurückgelegt wurde. Dieses Schema hatte in etwa folgende Gliederung:

Das Wesen der streitenden Kirche Die Glieder der Kirche und die Heilsnotwendigkeit der Kirche Der Episkopat und das Priestertum Dei Bischöfe Die Stände der evangelischen Vollkommenheit Die Laien Das Lehramt der Kirche Autorität und Gehorsam in der Kirche

Weiter ging es noch um das Verhältnis der Kirche zum Staat (Forderung religiöser Toleranz), die Verkündigung des Evangeliums in der ganzen Welt und den Ökumenismus. Man sieht, wie hier die Kirche ganz als hierarchische Institution von oben nach unten gezeichnet wird. Dieses Schema ging in der Diskussion praktisch völlig unter. Man stellte Gemeinschaft gegen Institution, die Gesamtheit der Bischöfe gegen die Überbetonung des Papstes, das Volk Gottes gegen die Hierarchie, die Abschließung der Kirche zur Welt gegen ihre Offenheit, das Heilsgeschichtliche und Pastorale gegen das bloß Juridische. Der Text der schließlich

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verabschiedeten Kirchenkonstitution denkt biblisch-heilsgeschichtlich, er bietet verschiedene biblische Metaphern für die Kirche an und bevorzugt den Ausdruck „Volk Gottes“. Doch lassen sich auch noch Elemente des früheren Kirchenverständnisses in der Konstitution finden. Zum Thema Offenbarung: Die Brisanz dieses Themas ergab sich vor allem aus der Tatsache, dass man die historisch-kritische Bibelauslegung nicht länger übergehen konnte und damit ein Schriftverständnis, nach dem die Schrift als ein für allemal gültige Offenbarung zu gelten hat, das dem kirchlichen Lehramt zur verbindlichen Auslegung übergeben worden ist, in die Krise geriet. Das Verhältnis von Schrift, Tradition und Lehramt stand insgesamt zur Disposition. Es musste neu bestimmt werden, was unter Inspiration zu verstehen ist. Die katholische Bibelbewegung hatte schon in der Zeit zwischen den Konzilien die Bedeutung der Schrift wiederentdeckt; es war nicht mehr möglich, die Schrift nur als Steinbruch für den Beleg kirchlicher Lehren zu nutzen. Die theologische Forschung hatte das Gewordensein und damit überhaupt die Geschichtlichkeit der Bibel neu entdeckt, dem musste Rechnung getragen werden. Was bedeutete dies für die „Irrtumslosigkeit“ der heiligen Schrift? Viel diskutiert wurde die „Suffizienz“ der Schrift: ob und in welchem Sinne alles, was in der Kirche gelehrt und geglaubt wird, in der Heiligen Schrift enthalten sein muss. Die Konzilskonstitution über die göttliche Offenbarung DEI VERBUM berücksichtige insgesamt den (heils-)geschichtlichen Charakter der Schrift und fand in allen wichtigen Fragen Kompromissformeln, die in der weiteren Diskussion entfaltet werden konnten.

Personen und Positionen Johannes XXIII. (1881-1963) Nach dem Tod von Papst Pius XII. wurde Kardinal Angelo Giuseppe Roncalli am 28. Oktober 1958 zum Papst gewählt. Er nannte sich Johannes zu Ehren seines Vaters Giovanni (zu deutsch: Johannes) und des Patrons der Kirche, in der er getauft worden war. Nach seiner Wahl wurde er wegen seines hohen Alters in der Presse als Übergangspapst und Kompromisslösung bezeichnet, erwies sich jedoch bald als einer, der Mut zu historischen Veränderungen hatte. Er berief zum Staunen der Welt das Zweite Vatikanische Konzil ein, das am 11. Oktober 1962 feierlich eröffnet wurde. Historische Verdienste erwarb er sich in der Kubakrise und durch zahlreiche Friedensinitiativen, zum Beispiel durch seine Enzyklika „Pacem in terris“. Doch er konnte den Abschluss des Konzils nicht erleben, denn am 3. Juni 1963 erlag er einem Krebsleiden. Er starb um 19.50 Uhr im apostolischen Palast. Sein Nachfolger Paul VI. führte das Konzil zu Ende. Von Papst Johannes Paul II. wurde er im Jahr 2000 am 3. September zusammen mit Papst Pius IX. selig gesprochen. Karl Rahner (1904-1984) war einer der einflussreichsten Theologen des 20. Jahrhunderts, dessen Theologie das 2. Vatikanische Konzil maßgeblich beeinflusste. Er versuchte moderne menschliche Erfahrungen und neuzeitliches Denken mit dem christlichen Glauben zu verbinden. Seine 16-bändigen Schriften zur Theologie aus den Jahren 1954 bis 1984 wurden zur Grundlage einer Neuorientierung der Katholischen Kirche. Zu seinen Hauptwerken zählen „Grundkurs des Glaubens“, sowie seine acht Thesen zum Thema Ökumene „Einigung der Kirche - reale Möglichkeiten“ von 1983. Rahner und seiner Theologie kommt eine Symbolfunktion in der Kirche nach dem 2. Vatikanischen Konzil zu. Kritik an ihm wird vor allem mit dem Wunsch nach einer Rückkehr zu vorkonziliarer Praxis und neoscholastischem Denken verbunden. Rahners Ansatz steht für eine "anthropologische Wende" in der (katholischen) Theologie. In allen Stadien seines Denkens interpretiert er die Lehren des Christentums vom Menschsein her, das er zutiefst in die Wirklichkeit Gottes eingebettet

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begreift. In der Katholischen Theologie wird dieser Ansatz beim Menschen später vor allem durch seine Gnadenlehre wirksam. Gegenüber dem zu seiner Zeit herrschenden neuscholastischen Diskurs, der die Gnade durch die Kirche vermittelt begreift, bringt Rahner die Gnade als eine dem Menschen unmittelbare Selbstmitteilung Gottes zur Geltung. In letzter Zeit verschärft sich der Ton der Rahner-Diskussion. Einige Theologen glauben, in Karl Rahners Theorien häretische Positionen zu erkennen.

Die dogmatischen Positionen LUMEN GENTIUM 1 leitet die Universalität der Kirche aus der Widerspiegelung des Lichts für die Völker, das Christus ist, auf dem Antlitz der Kirche ab. Das ist eine gelungene biblische Selbstvorstellung der Kirche, die zugleich die Frage nach dem Verhältnis Israel/Kirche aufwirft, denn der Titel „Licht für die Völker“ wird in der Bibel in erster Linie für Israel gebraucht. Sodann wird gesagt: Die Kirche ist Zeichen und Werkzeug für die Vereinigung mit Gott und (daraus folgend) für die Einheit des ganzen Menschengeschlechtes – Zeichen, insoweit sie in ihr schon gegeben ist, Werkzeug, insoweit es ihre Aufgabe an der Menschheit ist, diese Einheit zu erreichen. Die Kombination von Zeichen und Werkzeug ist charakteristisch für die Wirklichkeit des Sakramentalen, was zu der Aussage führt: Die Kirche ist gleichsam selbst ein Sakrament. Kap. 8 zeigt Ansätze einer anderen Ekklesiologie. Die Kirche gleichsam als die Fortsetzung der Inkarnation, wie Christus aus göttlichem und menschlichem Element bestehend, verstanden. Das ist vorkonziliarer Geist (was kein Werturteil bedeutet); dies zeigt aber, dass in den Texten des Konzils verschiedene Ansätze durchaus miteinander bestehen und konkurrieren können. Die kontroverse Auslegungsgeschichte des Konzils ist hier schon angelegt. LUMEN GENTIUM hat insgesamt eine stark heilsgeschichtlich bestimmte Sicht auf die Kirche. Die bevorzugte Metapher für die Kirche ist – gut biblisch – Volk Gottes. Damit ist das alte hierarchisch-klerikale Modell der „perfekten Gesellschaft“ (societas perfecta) sachlich überwunden. Die Konstitution DEI VERBUM stößt gleich ins Zentrum des Offenbarungsverständnisses vor, wenn als Inhalt der Offenbarung Gott selbst verstanden wird. Offenbarung ist Selbstmitteilung Gottes; damit lässt das Konzil die Vorstellung, Gott habe einzelne Wahrheiten, die es auf seine Autorität hin zu glauben gälte, hinter sich gelassen. Die Selbstmitteilung Gottes ereignet sich unüberbietbar in Jesus Christus. Mit dem Hebräerbrief – überhaupt ist das ganze Dokument stark biblisch geprägt – wird eine Kontinuität der Offenbarung in Jesus Christus zur Offenbarungsgeschichte des Alten Bundes dargelegt. Nach Christus ist keine neue Offenbarung mehr zu erwarten, nicht weil Gott das Offenbaren aufgegeben hätte, sondern weil mehr als die Selbstoffenbarung Gottes nicht möglich ist (hier verläuft die Grenzlinie zwischen der Kirche und allen Sekten, die behaupten, weitere Offenbarungen über die Hl. Schrift hinaus zu besitzen). Vom Gehorsam des Glaubens wird weiterhin geredet, doch wird die Vorstellung abgewehrt, Christen hätten einzelne Offenbarungssätze oder – lehren gehorsam anzunehmen, weil sie ihnen von der Kirche als Offenbarung vorgelegt worden sind. Abschnitt 6 greift auf das 1. Vatikanum zurück. Es wird die Lehre bekräftigt, dass Gott und die „göttlichen Dinge“ der menschlichen Vernunft an sich nicht unzugänglich sind. In diesem Abschnitt ist ein anderes, mehr satzhaftes und intellektuelles Offenbarungsverständnis am Werk, das sich von dem eher personalen Verständnis des übrigen Dokuments unterscheidet –

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noch einmal ein Beleg dafür, dass im 2. Vatikanum unterschiedliche Konzeptionen zusammengeführt worden sind.

Fragen 40 Jahre nach dem Konzil ist festzustellen, dass weder über das Selbstverständnis von Kirche noch über das Verständnis von Offenbarung und Heiliger Schrift unter katholischen Christen Einigkeit besteht. Das 2. Vatikanum hat eine fest gefügte Dogmatik gelockert und Abgrenzungen überwunden, es ist ihm aber nicht gelungen, neue, sinnvolle Selbstunterscheidungen der Kirche zur Gesellschaft bzw. zum säkularen Wissen dauerhaft zu installieren. Dabei ist nicht zu bestreiten, dass die mit dem Konzil geschehende Öffnung unvermeidlich, ja notwendig war; das vorkonziliare Selbstverständnis der Kirche entsprach offensichtlich nicht mehr ihrer Position in der Gesellschaft. Doch befindet sich die Kirche seit dem Konzil in einer Art Dauerkrise. Zu fragen ist, welchen Anteil das Konzil daran hat. Ist ein „pastorales Konzil“, das sich nicht auf die Klärung strittiger Fragen beschränkt, sondern der Kirche insgesamt Richtung und Weg zeigen will, überhaupt möglich? Gerät hier nicht die Kirche unter das Regiment von Amtsträgern und Theologen, wird sie vielleicht insgesamt viel zu sehr zu einer Theologenkirche? Man kann wohl kaum bestreiten, dass (wie oben beim Thema Marienfrömmigkeit gesagt wurde) die Volksfrömmigkeit auf diesem Konzil kaum eine Stimme gehabt hat. Andererseits: Wie ist in Zeiten einer unaufhaltsamen Pluralisierung gerade auch den Glaubenslebens ein Konzil überhaupt noch möglich, wenn nicht in der Gestalt des 2. Vatikanums? Soll und kann es ein Zurück zur vorkonziliaren Einheitlichkeit geben? Diese Frage wird man verneinen müssen. Dann aber entsteht die Frage, wie christliche und im Besonderen konfessionell-katholische Identität noch bestimmt werden kann? Und wie ein Konzil, eine Kirchenspitze, aussehen müsste, die dieser Aufgabe gerecht wird?

Leseempfehlungen - Otto-Hermann Pesch, Das Zweite Vatikanische Konzil, Würzburg 1993, S. 50-64; S.132-147; S. 271-290

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12. Das 2. Vatikanische Konzil, 2. Teil

Textgrundlage: Erklärung der Kirche über das Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen “Nostra Aetate“, DH 4196; 4198; Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes“, DH 4301, 4304; 4311

Der Streitfall und sein historischer Kontext: Kirche und nichtchristliche

Religionen/Die Kirche in der Welt von heute Das zweite Vatikanische Konzil brachte die Klärung der Beziehung der katholischen Kirche zur modernen Welt und damit zugleich eine Modernisierung der Kirche selbst. Die Kirche sah sich genötigt, die Beziehungen zu ihrer Umwelt neu zu bedenken. Zum einen bedeutete das eine Klärung in Bezug auf die nichtchristlichen Religionen, denn der religiöse Pluralismus war unübersehbar geworden, zum anderen war eine grundlegende Verhältnisbestimmung zur modernen Gesellschaft und ihren Institutionen fällig. Die beiden hier zu behandelnden Konzilsdokumente, die aus der letzten Phase des Konzils (1964/65) stammen, nehmen sich der beiden Problembereiche an. Zu NOSTRA AETATE Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen. Die am 28. Oktober 1965 veröffentlichte Erklärung war ursprünglich nur als Erklärung für die Juden konzipiert. Papst Johannes XXIII, der während des Krieges in Bulgarien und der Türkei tätig gewesen war und tatkräftig bei der Rettung von Juden vor der Deportation mitgeholfen hatte, hatte selbst den Anstoß zu dieser Erklärung gegeben. Das Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum war durch die lange Tradition des christlichen Antijudaismus sehr belastet. Auch in der Theologie wurde den Juden Schuld an dem Tod Jesu gegeben, die bleibende Auserwähltheit Israels wurde in Frage gestellt und die Zerstreuung Israels über die Völker als göttliche Strafe für ihren Unglauben angesehen. Volkstümlich wurde von den Juden als Gottesmördern gesprochen, zahlreiche Verbrechen wurden ihnen ungerechtfertigter Weise zur Last gelegt. Seinen liturgischen Ausdruck fand dieser katholische Antijudaismus in den Fürbitten am Karfreitag, in denen für die „untreuen/treulosen Juden“ (pro perfidis Judaeis) gebetet wurde. Dem Konzil und dem Papst war es darum zu tun, das Verhältnis der Kirche zu Israel grundlegend zu klären. Doch fiel die Suche nach Klärung in die Zeit des jungen Staates Israel und war deshalb erheblichen politischen Pressionen ausgesetzt. Die arabischen Staaten suchten eine Erklärung zu verhindern, die als völkerrechtliche Anerkennung des Staates Israel durch den Vatikan verstanden werden konnte. Auch auf dem Konzil gab es Widerstände verschiedenster Art gegen die Judenerklärung, denn theologisch war das Verhältnis der Kirche zu Israel noch längst nicht geklärt. Der heftig umkämpfte Text der Erklärung sollte zunächst eigenständig, dann als Teil des Ökumenismusdekrets, schließlich als Teil einer Erklärung über die nichtchristlichen Religionen überhaupt platziert werden. Die verabschiedete Text enthält einen Passus über die nichtchristlichen Religionen im Allgemeinen – hier sind besonders Buddhismus und Hinduismus, nicht aber etwa Konfuzianismus und Taoismus im Blick – sodann einen Passus über den Islam und über das Judentum. Zur Pastoralkonstitution GAUDIUM UND SPES über die Kirche in der Welt von heute. Die am 7. Dezember 1965 veröffentlichte und mit Abstand umfangreichste (und zugleich letzte) Konstitution des Konzils bewegt sich in vielfältigen Spannungsverhältnissen. Dass das Verhältnis der Kirche zur modernen Welt dringend klärungsbedürftig war, stand außer Frage. Doch gab es Kräfte im Konzil, die von ihm in erster Linie eine Bearbeitung innerchristlicher bzw. ökumenischer Probleme erwarteten, keine direkte Auseinandersetzung mit der Welt.

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Wenn aber Letzteres, in welcher Weise sollte sich die Kirche der Welt annähern, wie sollte sie sie anreden? Wie sollte sie ihr Verhältnis zur Welt bestimmen, von der sie doch selbst ein Teil ist und der sie zugleich gegenübersteht? In der Tradition katholischer Soziallehre, wie sie in den Enzykliken Rerum novarum (Leo XIII, 1891), Quadragesimo anno (Pius XI, 1931) Pacem in terris (Johannes XXIII, 1963, also während des Konzils) zum Ausdruck kommt, hatte sich die Kirche in der Regel auf das sog. Naturrecht bezogen, um auf dieser allgemeinen Basis die Gesellschaft über ihre sozialen Pflichten zu belehren. In dieser Weise wollte das Konzil nicht fortfahren. Dazu lagen nicht zu allen in dem Dokument erwähnten Themen kirchliche Lehren vor, die einfach verkündigt werden könnten. Die Kirche hatte vielmehr selbst noch viel zu lernen, die stand allen Beteiligten vor Augen. Die Konstitution vollzieht diesen Lernprozess und steht damit selber exemplarisch für die Öffnung der Kirche zur Welt, der sie dienen will. In GAUDIUM ET SPES spricht das Konzil nicht nur zu den katholischen Christen, sondern zu allen Menschen der Welt. Nach einer Einleitung, die die Verbundenheit der Kirche mit den Menschen der ganzen Welt zum Ausdruck bringt, wird zunächst die Situation des Menschen in der heutigen Welt in ihren Chancen und Risiken beschrieben. In dieser Situation versucht die Kirche die „Zeichen der Zeit“ zu erkennen und im Lichte des Glaubens zu deuten, um ihre Aufgabe in der Welt konkretisieren und erfüllen zu können. Behandelt werden der Mensch als Person (hier findet eine Auseinandersetzung mit dem Atheismus statt) und die Institutionen der menschlichen Gemeinschaft (Ehe und Familie, Wirtschaft, Staat, Krieg und Frieden).

Personen und Positionen Kardinal Augustin Bea (1881-1968) war der Beichtvater Papst Pius XII. Darüber hinaus wurde Bea Präsident der von Johannes XXIII. in dem Motu proprio »Superno Dei nutu« vom 5. Juni 1960 eingesetzten »Sekretariats für die Förderung der Einheit der Christen«. Am 19. April 1962 wurde Bea durch Papst Johannes XXIII. zum Bischof geweiht. 1963 wurde er Mitglied der Päpstlichen Kommission für die Reform des Kirchenrechts und 1964 in den Rat für die Ausführung der liturgischen Reform berufen. Er nahm am Zweiten Vatikanischen Konzil teil. 1968 wurde er zudem als Mitglied der Kongregation für die Evangelisierung der Völker berufen. Hans Küng (1928 geboren, Schweitzer Theologe und Autor) war Professor für Katholische Theologie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und einer der von Papst Johannes XXIII. berufenen Berater des Zweiten Vatikanischen Konzils. Küng ist der erste bedeutende römisch-katholische Theologe seit dem Schisma der alt-katholischen Kirche im späten 19. Jahrhundert, der die Unfehlbarkeit des Papstes in Frage stellt. Insbesondere tat er dies im Buch „Unfehlbar?“, welches er 1970 veröffentlichte. Daraufhin stellte der Vatikan im Dezember 1979 fest, Küng könne nicht mehr als katholischer Theologe gelten, woraufhin die Deutsche Bischofskonferenz am 18. Dezember ankündigte, Küng werde die kirchliche Lehrerlaubnis (Missio canonica) entzogen. Der Entzug der Lehrerlaubnis erfolgte Anfang 1980. Bis zu seiner Emeritierung 1996 blieb er weiterhin Professor an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und ist weiterhin katholischer Priester. Er ist Initiator und Präsident der Stiftung Weltethos. Das Projekt Weltethos ist ein Versuch, die Gemeinsamkeiten von Weltreligionen zu beschreiben und ein minimales Regelwerk aufzustellen, welches von allen akzeptiert ist. Man kann den Weltethos als Grundkonsens der ethischen Vorstellungen der Weltreligionen bezeichnen. Die Ziele des Weltethos sind die Umsetzung der Menschenrechte, Freiheit der Menschen vor Unterdrückung, Freiheit als solche, Beseitigung des Welthungers, Umsetzung einer gerechten Wirtschaftsordnung, Solidarität zwischen den Menschen, Nachhaltigkeit zum Schutze des Ökosystem und Frieden auf der Erde. Dies soll durch ein allgemeines Bewusstsein für Ethik ermöglicht werden, insbesondere durch die Bioethik und

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die Wirtschaftsethik. Hans Küng steht dogmatischen Lehrmeinungen der katholischen Kirche kritisch gegenüber und hinterfragt die Legitimation von den in der katholischen Kirche als gottgegeben geltenden Lehrmeinungen.

Die Entscheidungen des Konzils Bezüglich des Verhältnisses zu den nichtchristlichen Religionen spricht das Konzil von der „Wahrnehmung einer verborgenen Kraft, die dem Lauf der Dinge und den Ereignissen des menschlichen Lebens gegenwärtig ist“ und die sich von alters her bei allen Völkern gefunden habe. Hier hängt nun alles davon ab, ob man diese verborgene Kraft mit dem Gott des christlichen Glaubens in Zusammenhang bringt (dann hat man eine Offenbarung außerhalb der Hl. Schrift) oder ob man sie auf himmlische, dem Bereich der Schöpfung zugehörige Kräfte bezieht, die die Bibel auch Götter nennt. Im Blick auf den Islam hebt des Konzil die Gemeinsamkeit im Glauben an den einen Gott, den abrahamitischen Ursprung und die Erwartung eines Jüngsten Gerichts hervor, mahnt jedoch auch im Hinblick auf die historisch tief eingewurzelte Feindschaft zwischen Christentum und Islam weitere Bemühungen um gegenseitiges Verstehen an. Die entscheidende Passage über das Judentum betont die geistliche Verbundenheit der Kirche mit dem „Stamm Abrahams“. Mit Röm 11 betrachtet sich die Kirche als die „Zweige des wilden Ölbaums“, die in den guten Ölbaum (Israel) eingepfropft sind und von dessen Wurzel (also dauerhaft!) genährt werden. Mit Eph 2 und etlichen Propheten wird die Hoffnung ausgedrückt, dass Kirche und Israel einmal zusammen Gott mit einer Stimme anrufen können. Ausdrücklich werden die Juden im Allgemeinen und auch die damals lebenden Juden von der Verantwortung für den Tod Christi freigesprochen. Die Kirche wendet sich grundsätzlich gegen Diskriminierung und Verfolgung von Menschen aufgrund von Rasse oder Religion und im Besonderen gegen den Antisemitismus. In der Pastoralkonstitution GAUDIUM ET SPES finden sich zahlreiche Beiträge zu einzelnen Fragen – mehr als an dieser Stelle aufgeführt werden können. Grundlegend ist aber die Art, wie die Beobachtung der Gesellschaft durch die Kirche vorgenommen wird. Das Konzil bemüht sich um differenzierte Wahrnehmung der einzelnen gesellschaftlichen Bereiche und listet jeweils Stärken und Schwächen bzw. Risiken auf. Damit ist weder eine Fundamentalopposition der Kirche gegen die Gesellschaft noch ein kritikloses Befürworten des gesellschaftlichen Status quo vom Konzil gedeckt. Es ist nicht immer ganz deutlich, in welcher Weise der Glaube besondere Wahrnehmungen gesellschaftlicher Zustände ermöglicht, die über mehr als allgemein ethische oder humanitäre Maßstäbe verfügt.

Fragen Die Frage, die bereits zur letzten Sitzung geäußert wurden, können an dieser Stelle wiederholt werden. Darüber hinaus ist zu sagen: Die Erklärung über die Religionen hat zu einer dankenswerten und wichtigen Klärung des Verhältnisses gegenüber dem Judentum geführt. Die Beziehung zum Islam, noch mehr aber die zu den Religionen überhaupt und zum Phänomen des Religiösen im Allgemeinen ist durch das Konzil nicht vorangebracht worden. Eine durchgeklärte Theologie, die hier hätte einfließen können, lag damals nicht vor. Was DIE KIRCHE IN DER WELT VON HEUTE betrifft, so ist zu fragen, ob die damalige Beurteilung der modernen Gesellschaft nach dem Schema einerseits - andererseits noch ausreicht. Weit mehr als damals in den 60er Jahren absehbar hat die moderne Konsum- und Marktgesellschaft ihre schöpfungsfeindlichen Züge gezeigt. Die Frage ist, ob sich die Kirche

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heute nicht viel stärker als Gegengesellschaft profilieren müsste. Dies würde voraussetzen, die eigene Sichtweise des Glaubens gegenüber allgemeiner Sittlichkeit und Humanität deutlicher herauszuarbeiten.

Leseempfehlungen - Otto-Hermann Pesch, Das Zweite Vatikanische Konzil, Würzburg 1993, S. 291-350