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64 Bastian Sick und die Grammatik. Ein ungleiches Duell Vilmos Ágel 1. Anlass zur Wortmeldung Im Wintersemester 2006/2007 fand am Institut für Germanistik der Universität Kassel ein Hauptseminar mit dem Titel »Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod« statt. Ziel des Seminars war es, ausgehend von den grammatikbezogenen Kolumnen von Bastian Sick »über aktuelle gramma- tische Phänomene des Deutschen nach- zudenken und dabei zu Beschreibungs- und evtl. auch zu Erklärungsvorschlägen zu kommen« (Seminarankündigung). 1 Die auf der Grundlage der einschlägigen grammatischen Fachliteratur erarbeite- ten und teilweise auf Korpusrecherchen basierenden Beschreibungs- und Erklä- rungsvorschläge der Studierenden wur- den dann mit Sicks Ratschlägen und Lö- sungsvorschlägen verglichen, um deren empirische Solidität und theoretische Ko- härenz beurteilen zu können. Unterhal- tungswert, Aspekte von Sprachkritik und -pflege, mögliche didaktische oder sozio- logische Implikationen bzw. Konsequen- zen standen nicht zur Diskussion. Die aktuelle Debatte in Info DaF (siehe Maitz/Elspaß 2007 und Roggausch 2007) und die Diskussionseinladung von Wer- ner Roggausch bieten mir die Möglich- keit, einige Ergebnisse unserer grammati- schen Analysen zu präsentieren und auf diese Weise einen kleinen Beitrag zur Debatte und eventuell auch zur öffentli- chen Meinungsbildung zu leisten. Da sich Bastian Sicks grammatische Rat- schläge und Lösungsvorschläge auf Feh- ler und Zweifelsfälle beziehen, bietet sich folgende Vorgehensweise an: Zuerst werden die Begriffe ›grammati- scher Fehler‹ und ›grammatischer Zwei- felsfall‹ erörtert, um Sicks Urteile und Analysen theoretisch verorten zu kön- nen. Anschließend werden zwei ausge- wählte Kolumnen aus Sick 2004 bzw. 2005 analysiert und auf diese Weise ei- nige theoretische und empirische Ergeb- nisse der Arbeit im Hauptseminar doku- mentiert. Abschließend wird der Versuch unternommen, den Stellenwert der Sick’schen Ratschläge und Lösungsvor- schläge zu bestimmen. 2. System und Norm: grammatische Fehler und Zweifelsfälle Um über grammatische Fehler und Zwei- felsfälle nachdenken zu können, muss man die Begriffe Sprachsystem und Sprachnorm klären. Um die Begriffe Sprachsystem und Sprachnorm klären zu können, müssen wir uns kurz den variab- len Aufbau menschlicher Sprachen vor Augen führen. Jede natürliche Sprache stellt ein Gefüge von regionalen, sozialen, stilistischen und medialen Varietäten dar, hat also eine ihr eigene »Architektur« (Coseriu 1988: 265) von Standard- und Substan- dardvarietäten, Dialekten, Sprachni- 1 Da der dritte Band von Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod damals noch nicht erschienen war, lagen unseren Analysen Sick 2004 und 2005 zugrunde. Info DaF 35, 1 (2008), 64–84

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Bastian Sick und die Grammatik. Ein ungleichesDuell

Vilmos Ágel

1. Anlass zur Wortmeldung Im Wintersemester 2006/2007 fand amInstitut für Germanistik der UniversitätKassel ein Hauptseminar mit dem Titel»Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod« statt.Ziel des Seminars war es, ausgehend vonden grammatikbezogenen Kolumnenvon Bastian Sick »über aktuelle gramma-tische Phänomene des Deutschen nach-zudenken und dabei zu Beschreibungs-und evtl. auch zu Erklärungsvorschlägenzu kommen« (Seminarankündigung).1

Die auf der Grundlage der einschlägigengrammatischen Fachliteratur erarbeite-ten und teilweise auf Korpusrecherchenbasierenden Beschreibungs- und Erklä-rungsvorschläge der Studierenden wur-den dann mit Sicks Ratschlägen und Lö-sungsvorschlägen verglichen, um derenempirische Solidität und theoretische Ko-härenz beurteilen zu können. Unterhal-tungswert, Aspekte von Sprachkritik und-pflege, mögliche didaktische oder sozio-logische Implikationen bzw. Konsequen-zen standen nicht zur Diskussion. Die aktuelle Debatte in Info DaF (sieheMaitz/Elspaß 2007 und Roggausch 2007)und die Diskussionseinladung von Wer-ner Roggausch bieten mir die Möglich-keit, einige Ergebnisse unserer grammati-schen Analysen zu präsentieren und aufdiese Weise einen kleinen Beitrag zurDebatte und eventuell auch zur öffentli-chen Meinungsbildung zu leisten.

Da sich Bastian Sicks grammatische Rat-schläge und Lösungsvorschläge auf Feh-ler und Zweifelsfälle beziehen, bietet sichfolgende Vorgehensweise an: Zuerst werden die Begriffe ›grammati-scher Fehler‹ und ›grammatischer Zwei-felsfall‹ erörtert, um Sicks Urteile undAnalysen theoretisch verorten zu kön-nen. Anschließend werden zwei ausge-wählte Kolumnen aus Sick 2004 bzw.2005 analysiert und auf diese Weise ei-nige theoretische und empirische Ergeb-nisse der Arbeit im Hauptseminar doku-mentiert. Abschließend wird der Versuchunternommen, den Stellenwert derSick’schen Ratschläge und Lösungsvor-schläge zu bestimmen.

2. System und Norm: grammatischeFehler und Zweifelsfälle Um über grammatische Fehler und Zwei-felsfälle nachdenken zu können, mussman die Begriffe Sprachsystem undSprachnorm klären. Um die BegriffeSprachsystem und Sprachnorm klären zukönnen, müssen wir uns kurz den variab-len Aufbau menschlicher Sprachen vorAugen führen. Jede natürliche Sprache stellt ein Gefügevon regionalen, sozialen, stilistischenund medialen Varietäten dar, hat alsoeine ihr eigene »Architektur« (Coseriu1988: 265) von Standard- und Substan-dardvarietäten, Dialekten, Sprachni-

1 Da der dritte Band von Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod damals noch nicht erschienenwar, lagen unseren Analysen Sick 2004 und 2005 zugrunde.

Info DaF 35, 1 (2008), 64–84

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veaus und Sprachstilen. Obwohl dieseVarietäten voneinander nicht unabhän-gig sind und obwohl die »Sprecher in derRegel gleichzeitig mehrere von diesenVarietäten beherrschen« (Maitz/Elspaß2007: 518), haben grammatische Untersu-chungen üblicherweise nur eine Varietät,eine »homogene funktionelle Sprache«(Coseriu 1988: 265), zum Gegenstand.1

Der Grund hierfür ist, dass jede funktio-nelle Sprache ihre eigene Struktur hat.Man kann also zwar die Frage etwa nachder Weglassung von Flexionsendungen›im Deutschen‹ stellen, eine adäquateAntwort setzt jedoch voraus, dass dieFrage auf die einzelnen funktionellenSprachen des Deutschen heruntergebro-chen wird. Erst nachdem varietätenbezo-gene Teilantworten vorliegen, kann manden Versuch unternehmen, die »Archi-tektur« der Weglassung von Flexionsen-dungen im Deutschen bzw. eventuelleDependenzen und Interdependenzenzwischen einzelnen funktionellen Spra-chen des Deutschen zu rekonstruieren. In der Saussure’schen Tradition wird dieStruktur einer funktionellen Sprache alseine einheitliche Gestaltungsebene(Sprachsystem, langue) aufgefasst. Cose-riu (1988: 266 ff.) präzisiert diese Auffas-sung dahingehend, dass er zwei zentraleGestaltungsebenen unterscheidet: Sys-tem und Norm (von der dritten Ebene,der des Sprachtypus (Coseriu 1988:272 ff.), können wir hier absehen.). Abstrahiert man »von der Subjektivität,Originalität und Kreativität des Individu-ums« (Coseriu 1988: 267), erhält man ein»Gefüge von normalen Realisierungen«(Coseriu 1988: 267). Dies ist die Gestal-tungsebene der Norm. Beispielsweise istein wichtiges Merkmal der Silbe in dergesprochenen deutschen Standardspra-

che die sogenannte Auslautverhärtung.Normalerweise gibt es also im Silbenend-rand keine stimmhaften Obstruenten (alsoetwa keine Laute [b], [d] und [g]), so dassetwa die Wörter Rad und Rat identischausgesprochen werden müssen. Abstrahiert man von denjenigen Merk-malen normaler Realisierungen, die bloßnormal, jedoch nicht funktional sind, d. h.keine distinktiven (unterscheidenden)Oppositionen begründen, erhält man einGefüge von möglichen Realisierungen.Dies ist die Gestaltungsebene des Sys-tems. Auf der Ebene des Systems ent-spricht dem Schlusskonsonanten in Raddas Phonem /d/ und dem Schlusskonso-nanten in Rat das Phonem /t/. Währendalso Rad und Rat als phonetische Wortfor-men auf der Gestaltungsebene der Normidentisch sind, stellen sie auf der Ebenedes Systems unterschiedliche phonologi-sche Wörter dar. Würde man Rad miteinem stimmhaften Schlusskonsonanten[d] aussprechen, wäre das folglich zwarein klarer Normverstoß, aber kein Sys-temfehler. Coserius Theorie basiert auf der geradezualltäglichen Beobachtung, dass die zahl-reichen (nicht nur sprachlichen) ›Normali-täten‹, die unser Leben begleiten, einer-seits ›bloße‹, andererseits jedoch ›funktio-nale‹ Traditionen darstellen. Erstere sindfür uns – aus welchen Gründen auchimmer – ›nur‹ wichtig, letztere lebensnot-wendig. Normal beim Hausbau ist z. B.,dass ein Fundament gelegt wird, dass dasHaus gedeckt wird oder dass die Wändegestrichen bzw. tapeziert werden. Wäh-rend Dach und Fundament funktionalsind, stellen jedoch Streichen und Tapezie-ren bloße Traditionen dar. Ohne Farbeoder Tapete stürzt das Haus weder ein,noch regnet es herein.

1 Im Folgenden werden die Begriffe ›Varietät‹ und ›funktionelle Sprache‹ synonymverwendet.

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Auf der Ebene der Sprachbetrachtung istdas Verhältnis von System und Normalles andere als einfach: 1. Sprachsystem und Sprachnorm sind

keine ›vorfindlichen‹ Phänomene, siestellen keine ›Realitäten‹ dar, sondernes ist die Aufgabe des Sprachwissen-schaftlers bzw. des Grammatikers, dasgrammatische System und die gram-matischen Normen einer Varietät zurekonstruieren.

2. Da das System einer funktionellen Spra-che hochkomplex und mehrdimensio-nal ist, kann es durchaus sein, dassetwas, was man in einer bestimmtenDimension der Norm zugeordnet hat, ineiner anderen Dimension funktional ist,also dem System zuzuordnen wäre.1

3. Da viele Teilsysteme einer funktionel-len Sprache prototypisch organisiertsind, also ein Zentrum und eine Peri-pherie haben, ist zu erwarten, dass beiperipheren Elementen Normverletzun-gen natürlich sind. Die Sprecher sindnämlich unbewusst bestrebt,

a) die Struktur des peripheren Ele-ments der des Zentrums anzunä-hern oder

b) sie in ein anderes benachbartes Teil-system zu integrieren.2

4. Da, wie erwähnt, die Sprecher in derRegel gleichzeitig mehrere Varietätenbeherrschen, ist die empirische Isolie-rung des Systems und der Normeneiner bestimmten funktionellen Spra-che mitunter sehr schwer.3

5. Da sich Sprachen und ihre Varietätenverändern, wandeln sich auch dieSysteme und Normen und derenVerhältnis zueinander. Es entstehenneue Systeme, Teilsysteme und Nor-men (und damit auch neue Konstel-lationen und Transferenzmöglichkei-ten in den Köpfen der Sprecher).Was früher funktional war, ist heutenur noch normal, was früher normalwar, ist heute funktional, was früherweder normal noch funktional war,ist heute normal und funktionalusw.4

1 Beispielsweise ist die erwähnte Auslautverhärtung segmentalphonologisch zwar ›bloß‹normal, silbenphonologisch könnte man jedoch argumentieren, dass stimmlose Obstru-enten eindeutig den Anfang oder das Ende einer Silbe markieren und daher wiederumfunktional sind. Wenn also der Hörer einen stimmlosen Obstruenten wie [t] wahrnimmt,weiß er sofort, dass es sich entweder um den ersten oder um den letzten Konsonanteneiner Silbe handelt (siehe etwa Tag und Rad/Rat).

2 Ein Beispiel für (a) sind z. B. die Versuche, das unflektierbare Adjektiv klasse zuflektieren: »Alles in allem erstellt die Maschine einen klassen Kaffee…« (Internetbeleg).Ein Beispiel für (b) sind die sogenannten Substantiv-Verb-Verbindungen wie radfahrenoder brustschwimmen, deren Erstglieder (rad-, brust-) keine substantivischen Eigenschaf-ten mehr haben (Fuhrhop 2005: 70 ff.). Sie sind nicht mehr im Teilsystem der Substantive,sondern im Teilsystem der verbalen Komposition zu analysieren.

3 Beispielsweise gehört eine Progressivkonstruktion wie Sie ist noch am schlafen in derSchweiz sowohl zum Standard als auch zum Substandard, während sie in Österreichoder im Osten Deutschlands eher nur standardsprachlich zu erwarten ist (siehe das vonStephan Elspaß und Robert Möller betreute Augsburger Projekt »Atlas zur deutschenAlltagssprache«).

4 Ein Beispiel: Während Goethe noch unentschlossen zwischen »Die Leiden des jungenWerthers« und »Die Leiden des jungen Werther« war, ist die heutige Standardnormeindeutig die letztere Form. Ob die heutige Norm gleichzeitig auch funktional ist, isteine komplizierte Frage. In Anlehnung an Nübling 2005 habe ich an anderer Stelle (Ágel2006) dafür argumentiert, dass sie funktional ist, da sie eine Unterscheidung dergrammatisch relevanten Substantivklassen ›Eigenname‹ und ›Gattungsname‹ ermög-licht (Die Leiden des jungen Werther versus Die Leiden des jungen Wärters).

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6. Die in 5 beschriebene natürliche Dyna-mik von Sprachen und Varietäten führtzu der logisch zwingenden Erkenntnis,dass am Anfang jedes/jeden Wandelsein Fehler steht, den man freilich inSprachwandeltheorien nicht als Fehler,sondern als Neuerung oder Innovationbezeichnet.1 Der Begriff der Innovationkann sich sowohl auf das Auftretenneuer Sprachfakten als auch auf dieVerwendung eines alten Sprachfak-tums in einer neuen Varietät beziehen(Koch 2005).

7. Dass Normfehler an der Wiege desSprachwandels stehen (müssen), stehtsomit außer Frage. Möglicherweisekönnen aber – gerade wegen der Mehr-dimensionalität des Systems – sogarSystemfehler einen Sprachwandel initi-ieren.2

Was also ist ein grammatischer Fehler? a) Ein grammatischer Fehler kann (ur-

sprünglich) ein reiner Systemfehlersein, der (mittlerweile) zur Normavanciert ist (Typ: eines Nachts).

b) Ein grammatischer Fehler kann einreiner Systemfehler sein, der nicht zurNorm avanciert ist, sich jedoch imSprachgebrauch hartnäckig hält (Typ:meines Erachtens nach).

c) Ein grammatischer Fehler kann (ur-sprünglich) ein Normfehler sein, des-sen Quelle konfligierende Teilsystemesind und der (mittlerweile) zur Normavanciert ist (Typ: frohen Mutes).

d) Ein grammatischer Fehler kann (ur-sprünglich) ein Normfehler sein, des-sen Quelle konfligierende Teilsystemesind und der (mittlerweile) die alteNorm streitig macht. Die alte Norm istnoch nicht verdrängt, die neue istnoch nicht voll etabliert. Es entstehteine Normvarianz (Typ: Du brauchstnicht zu kommen vs. Du brauchst nichtkommen oder Ich frage dir/dich die Voka-beln ab) (siehe hierzu Eisenberg/Voigt1990: 11 f.).

e) Ein grammatischer Fehler kann (ur-sprünglich) ein Normfehler sein, des-sen Quelle der periphere Systemsta-tus des Elements oder der Konstruk-tion ist und der (mittlerweile) zurNorm avanciert ist (Typ: bekommen-Passiv mit Verben des Nehmens) (vgl.»Dann bekommen die Eltern das Sor-gerecht entzogen«, Duden 2005: 557).

f) Ein grammatischer Fehler kann einNormfehler sein, dessen Quelle derperiphere Systemstatus des Elementsoder der Konstruktion ist, der nichtzur Norm avanciert ist, sich jedoch im

1 Der Erste, der im 17. Jh. statt des bis dahin üblichen frohes Mutes die Form frohen Mutesverwendete, hatte einen Normfehler begangen, den ein Sprachkritiker von damalsgewiss heftig kritisiert hätte. Hätte dieser Sprachkritiker 100 oder 120 Jahre lang gelebt,hätte er etwa um 1900, wo alle nur noch die Form frohen Mutes verwendeten, seinejugendliche Kritik eventuell nicht mehr nachvollziehen können. Oder er hätte umge-kehrt als einziger die Form frohes Mutes trotzig weiterverwendet und sich verbittert überden Verfall der Sprache beklagt.

2 Bekanntlich sind etwa die Formen des/eines Nachts oder nachts im Standarddeutschennormal, obwohl hier eine Systemverletzung vorliegt (feminine Gattungsnamen könnenim Genitiv des Singulars kein -s erhalten). Auch die (stark kritisierte) Form meinesErachtens nach hält sich hartnäckig im Sprachgebrauch, obwohl die Präposition nachkeinen Genitiv regiert. Beide Typen von Systemverletzungen sind wiederum ausanderen Systemperspektiven durchaus verständlich: des/eines Nachts und nachts stellenAnalogiebildungen zu des Tags, eines Tages und tags dar, und meines Erachtens nach fügtsich in die Reihe meiner Meinung/Auffassung/Ansicht nach, bei der der formale Zusam-menfall von Genitiv und Dativ die Diagnose der Kasusrektion der Präposition unsichermacht.

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Sprachgebrauch hartnäckig hält (Typ:einen klassen Kaffee oder ein lilanes/beiges Kleid).

Die Typen (a), (c) und (e) stellen ehema-lige Fehler dar, die heute keine mehr sind.Sie sind jedoch insofern aufschlussreich,als uns ihre frühere ›Fehler-Existenz‹ zurVorsicht mit dem Umgang von ›heutigenFehlern‹ mahnen kann. Auch BastianSick, der sich bekanntlich für den Erhaltdes Genitivs einsetzt, erwähnt, dass»einst sogar das Verb »vergessen« mitdem Genitiv gebildet (wurde)« (Sick2005: 21), schließt jedoch daraus nicht,dass eine Rückkehr zum alten Genitivangemessen wäre. Übrig bleiben die Typen (b), (d) und (f).Es sind diese ›Fehler‹, auf die sich derBegriff ›Zweifelsfall‹, der per definitio-nem auf die Konkurrenz von mindestenszwei Varianten rekurriert (Klein 2003 und2006), anwenden lässt. Klein (2003: 5 und8) bezieht den Begriff des Zweifelsfallszwar auf die Standardsprache, schließtjedoch die Möglichkeit nicht aus, dass als»Zielpunkte« des Zweifels andere funkti-onelle Sprachen in Betracht gezogen wer-den. Das Verfahren von Klein ist legitimund nachvollziehbar, da sein Begriff desZweifelfalls keine (Ab-) Wertung vonnicht standardsprachlichen Varietätenbeinhaltet oder impliziert. Gemeinsam ist diesen ›Fehlern‹, dass sichder Zweifel der Sprecher auf eine funkti-onelle Sprache beschränkt. Zweifelsfälle sind jedoch mehr als nur›Fehler‹ im Sinne der Typen (b), (d) und(f), die alle eine funktionelle Sprache be-treffen. Da Sprecher, wie erwähnt, in derRegel gleichzeitig mehrere Varietäten be-herrschen, kann es auch zu von Varietä-tenkonflikten generierten Zweifeln kom-men. Bekanntlich ist etwa der possessiveDativ (Typ: dem Vater sein Haus) im Sub-standard und in vielen Dialekten verbrei-tet und normal, man kann aber durchausdie Frage stellen, ob er auch standard-

sprachlich normal ist. Systemkonform ister allemal (Zifonun 2003). Zweifelsfälle können also auch Normun-sicherheiten sein, deren Quelle die gleich-zeitige Beherrschung von mehreren Nor-men ist, die in verschiedenen funktionellenSprachen verankert sind. Halten wir also fest, dass man grundsätz-lich zwei Typen von Zweifelsfällen unter-scheiden kann: (i) System- oder Normfehler, die eine

Varietät betreffen (die obigen Typen(b), (d) und (f));

(ii) Normunsicherheiten, deren Quelledie gleichzeitige Beherrschung vonmehreren Normen ist, die in verschie-denen Varietäten verankert sind.

Da sich unsere Analysen im Sick-Seminarauf die ›Fehler‹ im Sinne von (i) konzen-triert haben, möchte ich mich im vorlie-genden Beitrag auf diesen Typ beschrän-ken. Wie geht man also mit Zweifelsfäl-len der Gruppe (i) um? Allen drei Typen von Zweifelsfällen derGruppe (i) ist gemeinsam, dass 1. ihr Verständnis die Rekonstruktion von

isolierten oder von konfligierendenTeilsystemen voraussetzt und dass

2. sich die Rekonstruktion von diesenTeilsystemen in aktuelle Sprachwan-delprozesse fügen muss. Dies ist dassogenannte Prinzip der Viabilität (sieheausführlich Ágel 2001).

Will man diese Zweifelsfälle angemessenbeschreiben und erklären, ist es also not-wendig, 1. das oder die zugrunde liegenden Teil-

systeme (inklusive deren evtl. Zen-trum-Peripherie-Struktur) und

2. die diese Teilsysteme evtl. betreffendenSprachwandelprozesse zu rekonstruie-ren.

Die Rekonstruktionen setzen ihrerseits 1. eine adäquate Bestimmung des Unter-

suchungsgegenstandes voraus, 2. die ein adäquates und in sich kohären-

tes Begriffsinventar voraussetzt und

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3. eine Sprachgebrauchsanalyse erfor-dert.

3 und 4 bedeuten nichts anderes als dietheoretisch adäquate Formulierung desZweifelsfalls und dessen theoretisch adä-quate Zuordnung zu einem oder mehre-ren grammatischen Teilsystemen. Unter einer Sprachgebrauchsanalyse sol-len in Anlehnung an Klein (2003: 15 ff.und 2006: 586 ff.) zwei verschiedene Ty-pen von Analysen verstanden werden: – Untersuchung des grammatischen, se-

mantischen oder pragmatischen Ge-brauchskontextes und

– Analyse der Gebrauchsfrequenz derVarianten.

Als Fazit der kursorischen theoretischenErörterungen kann festgehalten werden,dass Vorschläge für die Klärung derZweifelsfälle der Gruppe (i) folgendesmethodisches Szenario voraussetzen:1 1. Gegenstandsrekonstruktion I: Formulie-

rung des Zweifelsfalls; 2. Gegenstandsrekonstruktion II: Zuord-

nung des Zweifelsfalls; 3. Sprachgebrauchsanalyse: Untersuchung

des Gebrauchskontextes und der Ge-brauchsfrequenz;

4. Systemrekonstruktion: Rekonstruktiondes oder der zugrunde liegenden Teil-systeme;

5. Viabilitätsprüfung: Rekonstruktion derzugrunde liegenden Sprachwandel-prozesse.

In den folgenden Abschnitten wird jeeine zentrale Kolumne aus Sick 2004 undSick 2005 vor dem Hintergrund diesesmethodischen Szenarios analysiert.

3. Die Kolumne »Der Dativ ist demGenitiv sein Tod« Um den Inhalt dieser Kolumne (Sick2004: 15 ff.) wiederzugeben und die Ana-lyse vorzubereiten, wird in einem erstenSchritt versucht, die von Sick behandel-ten Themen zu identifizieren. Diese ma-nifestieren sich in Beispielen oder in The-menangaben.2 Der Identifizierung der Themen folgt dererste eigentliche Analyseschritt, die Ge-genstandsrekonstruktion (I wie II): SicksThemenangaben und Beispielen werdengrammatische Gegenstände zugeordnet. Themenidentifikation und Gegenstands-rekonstruktion ergeben folgendes Bild:

1 In der Analysepraxis können – abgesehen von 5 – die einzelnen Schritte kaum sinnvollgetrennt werden.

2 Faktisch übernehme ich die Themenangaben von Sick mit dem Unterschied, dass ich fürseine ›laiengerechten‹ Formulierungen wie z. B. »wenn die Präposition vor einem»unbekleideten« Nomen steht…« fachsprachliche Formulierungen einsetze. So stehtetwa für die »Bekleidung« des Nomens das Fachwort ›Substantivbegleiter‹.

Nr. Thema

Themenangabe (Sick)

Beispiele (Sick)

Gegenstand (Rekonstruktion)

Nr. Gegenstand

– – der Dativ ist dem Ge-nitiv sein Tod

possessiver Dativ (Typ: dem Vater sein Haus)

1

2 Kasus nach Präpositionen (Dativ oder Genitiv) im Allgemeinen

wegen dir, laut ei-nem Bericht, gemäß des Protokolls

Dativ-Genitiv-Wechselprä-positionen (Variation in der Kasuskate-gorie)

2

2 Kasus nach Präpositionen (Dativ oder Genitiv) im Allgemeinen

aufgrund (von), in-folge (von)

komplexe Präpositionen, präpositionsartige Wortver-bindungen

3

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Ausgehend von dem Titel der Kolumneerwartet man, dass der possessive Dativ(dem Genitiv sein Tod) den zentralen Ge-genstand oder zumindest einen der zen-tralen Gegenstände der Kolumne dar-stellt. Dem ist jedoch nicht so. Gegen-stand Nr. 1 entspricht im Text keinThema. Er wird deshalb im Folgendennicht behandelt. Urteilt man nach Sicks Themenangaben,behandelt die Kolumne im Grunde nurdie Problematik der Kasusvergabe nachDativ-Genitiv-Wechselpräpositionen(Themennummer 2). Die Frage, wie manmit Nominalgruppen mit und ohne Sub-stantivbegleiter umgeht, stellt nach Sickoffensichtlich eine Variante dieses The-mas dar (Themennummer 2a). Rekonstruiert man die grammatischenGegenstände der Kolumne, so wird deut-lich, dass zwischen Sicks Vorstellungendavon, was er behandelt, und dem, wastatsächlich behandelt wird, erheblicheDiskrepanzen bestehen:1 a) Er macht keinen Unterschied zwi-

schen der Grammatik einfacher Prä-positionen (Gegenstandsnummer 2)und der von komplexen Präpositio-nen bzw. präpositionsartigen Wort-verbindungen (Gegenstandsnummer.3); (zu diesen Klassen siehe Duden2005: 607).

b) Die Beispiele unter Gegenstandsnum-mer 4 haben nur am Rande etwas mit

der Rektionsproblematik von Dativ-Genitiv-Wechselpräpositionen zu tun.Primär geht es da um etwas ganzanderes, nämlich um die Struktur derNominalflexion (völlig unabhängigvon Genitiv, Dativ oder Präpositio-nen).

ad a): Komplexe Präpositionen wie auf-grund, infolge, mithilfe, anstelle usw. gehenauf präpositionsartige Wortverbindun-gen wie auf Grund, in Folge, mit Hilfe, anStelle usw. zurück. Ihre Zweitglieder sindalso ehemalige Substantive (-grund, -folge,-hilfe, -stelle), die die typischen Rektions-eigenschaften von Substantiven bewahrthaben. Substantive regieren typischer-weise den Genitiv (das Haus des Vaters, dieEhre der Frau) oder die Präposition von,die ihrerseits den Dativ regiert (das Hausvon meinen Eltern, die Ehre von Frauen).Folglich regieren aufgrund, infolge, mit-hilfe, anstelle usw. den Genitiv (aufgrunddes Geschäfts) oder die Präposition von,die ihrerseits den Dativ regiert (aufgrundvon Geschäften). Wir sehen, dass das Rek-tionsverhalten dieser komplexen Präpo-sitionen mit dem der Dativ-Genitiv-Wechselpräpositionen, die alle einfachePräpositionen sind, nichts zu tun hat. Beiden komplexen Präpositionen wechselnja nicht Genitiv und Dativ, sondern derGenitiv und die Präposition von.2 Wäh-rend die einfachen Wechselpräpositionenhistorisch gesehen immer auf dem Weg

2a Kasus nach Präpositionen (Dativ oder Genitiv) in Abhängigkeit vom Vor-handensein eines Sub-stantivbegleiters

wegen Umbau, we-gen Umbaus, wegen kompletten Umbaus, wegen Geschäften

Struktur der Nominalfle-xion (Variation in der Kasus-form)

4

Nr. Thema

Themenangabe (Sick)

Beispiele (Sick)

Gegenstand (Rekonstruktion)

Nr. Gegenstand

1 Dies gilt auch dann, wenn man den Titel nur unter Unterhaltungsaspekten betrachtet. 2 In Sicks Tabelle der Wechselpräpositionen (Sick 2004: 17) werden eine Präposition

aufgrund von einer Präposition aufgrund von und eine Präposition infolge von einerPräposition infolge von unterschieden, um den Eindruck eines echten Genitiv-Dativ-Wechsels zu erwecken. Doch die jeweilige Verdopplung der Präpositionen hebt die

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von der Dominanz des Genitivs zu derdes Dativs sind oder umgekehrt, sind diekomplexen Präpositionen in dieser Hin-sicht stabil. Sie bauen weder den Genitivzugunsten der Präposition von ab nochumgekehrt. ad b): Befasst man sich mit Kasusproble-men, muss man Fragen, die die Kasuska-tegorie(n) betreffen, von denen, die dieKasusform(en) betreffen, unterscheidenkönnen (Dürscheid 2007).1 Während dieFrage, ob einfache Wechselpräpositionenin einem bestimmten grammatischenKontext den Genitiv oder den Dativ for-dern, die Kasuskategorien Genitiv undDativ betrifft, betreffen die Fragen, wa-rum wegen Urlaub statt wegen Urlaubs»erlaubt (ist)« (Sick 2004: 16) und warumder Genitiv bei wegen des Urlaubs undwegen kompletten Urlaubs »die bessereWahl (bleibt)« (Sick 2004: 16) primär nichtdie Kasuskategorien, sondern die Kasus-formen und die Struktur ihrer Realisie-rung. Entscheidend hinsichtlich einer ad-äquaten Gegenstandsrekonstruktion istdabei, dass hier kein spezifisches Geni-tivproblem vorliegt:

1) Japan versorgt Europa mit diesemStahl(e).

2) Japan versorgt Europa mit billigemStahl(e).

3) *Japan versorgt Europa mit Stahle. 4) Japan versorgt Europa mit Stahl.

Die Beispiele 1)–4) exemplifizieren dieGrundstruktur der Kasusrealisierung bei

Gattungs- und Stoffnamen im Singular.Diese unterscheidet sich sowohl von derGrundstruktur der Kasusrealisierungvon Gattungs- und Stoffnamen im Pluralals auch von der von Eigennamen imSingular wie im Plural (ausführlich siehedazu Ágel 2006). Die Grundregel ist, dass das Substantiv-flexiv im Singular das Begleiterflexiv,also die Endung am Artikel (siehe 1))oder am Adjektiv (siehe 2)), impliziert.M. a. W., das singularische Substantivfle-xiv kann nur realisiert werden, wennauch das Begleiterflexiv realisiert wird,weshalb 3) ungrammatisch ist. DieGrundregel wird in 4), wo weder dasSubstantiv- noch das Begleiterflexiv reali-siert werden, nicht verletzt, weshalb 4)grammatisch ist.2 Auch in den folgenden Beispielen gilt dieGrundregel:

5) Fahrkarten am Automat (Hinweisschilder der DB)

6) Als Mensch mag ich ihn nicht. (FAZ, zitiert nach Schmidt 2002: 325)

7) Ohne Mensch kein Hochwasser? (Internetbeleg)

8) ohne Wunsch und Wille (Ljungerud 1955: 120)

9) zwischen Herr und Sklave (Ljungerud 1955: 120)

Gemeinsam ist den Beispielen 1)–9), dassan ihnen nicht der Genitiv, sondern derDativ und Akkusativ beteiligt ist. Die

1 Gegenstandsdifferenz nur hervor, schließlich können einfache Präpositionen ihre Formnicht wechseln, wenn sie nicht den Genitiv, sondern den Dativ regieren: wegen desProblems, aber: *wegen von Problemen.

1 Z. B. regiert die Präposition auf in den Präpositionalgruppen auf dem Lande und auf demLand gleichermaßen den Dativ (Kategorie). Hinsichtlich der Realisierung des Dativs(Form) unterscheiden sich allerdings die beiden Präpositionalgruppen: In der erstenGruppe erscheint der Dativ sowohl als Dativ-m am Artikel wie auch als Dativ-e amSubstantiv. In der zweiten Gruppe nur als Dativ-m am Artikel.

2 Stoffnamen wie Stahl brauchen keinen Artikel (s. z. B. Stahl ist hart vs. *Stuhl ist hart),weshalb sie am besten geeignet sind, an ihnen die Grundstuktur der Kasusrealisierungzu exemplifizieren.

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Grundregel gilt aber auch für den Geni-tiv:

10) eine Tasse duftenden Kaffees 11) eine Tasse Kaffee 12) *eine Tasse Kaffees

In 10) wird sowohl das Begleiterflexiv(am Adjektiv) als auch das Substantivfle-xiv, in 11) keines von beidem realisiert.Beide Konstruktionen sind korrekt. 12)entspricht dagegen dem Typus 3), beidem das singularische Substantivflexivohne Begleiterflexiv realisiert wird, wes-halb die Konstruktion ungrammatischist. Jede Regel ist das Ergebnis einer langensprachhistorischen Entwicklung. ImZuge dieser Entwicklung kommt es zwarzu neuen Strukturen, was aber nichtheißt, dass die alten Strukturen restloseliminiert werden könnten oder würden.Eine einschlägige alte Struktur ist derpartitive Genitiv, der »noch bis ins 16. Jh.– in gehobener Sprache noch wesentlichlänger – durchaus gebräuchlich ist« (Gla-ser 1992: 122). Man vgl. etwa »Er sach souil gesteines« (Nibelungenlied, zitiertnach Glaser 1992: 120) oder »iss des brots«(Luther, zitiert nach Glaser 1992: 123).Wenn Reste einer alten Struktur in einerjüngeren Sprachstufe noch nachweisbarsind, spricht man in Grammatikalisie-rungstheorien von »persistence« (Hop-per 1991: 22). Auch im Bereich der Kasusrealisierunggibt es historische Residuen des Typs 3)(zu Hause, wegen Diebstahls/Umbaus/Re-gens, infolge Hochwassers usw.), die mitun-ter normativ unterstützt werden (Gall-mann 1996: 292). Wichtig ist nur, dassman diese ›Ausnahmen‹, die eine frühereRegel repräsentieren, nicht zur aktuellenRegel erhebt, sondern sie als Ergebniseiner Viabilitätsprüfung so behandelt,wie sie zu behandeln sind: als historischeResiduen. Ein Beispiel aus einem anderenBereich der Flexion: Der Genitiv des Per-

sonalpronomens ich lautet heute meiner.Im Substantiv Vergissmeinnicht kann manjedoch noch die alte Form mein erkennen.Hieraus ließe sich aber nicht der Schlussziehen, dass die korrekte aktuelle Kasus-form mein wäre. (Des Weiteren könnenwir in Vergissmeinnicht auch die alte Geni-tivrektion des Verbs beobachten, sieheauch Sick 2005: 21). Was Sicks Thema Nr. 2a anbelangt, kön-nen wir also festhalten, dass hier – offen-sichtlich unbewusst und ungewollt – einneuer grammatischer Gegenstand (Ge-genstandsnummer 4) eingeführt wurde,der mit Gegenstand Nr. 2 (Genitiv-Dativ-Wechselpräpositionen) nichts zu tun hat.Sicks Interpretation lautet: »›Wegen Um-bau geschlossen‹ – das ist erlaubt, esmuss nicht ›wegen Umbaus‹ heißen. Istdas Hauptwort jedoch ›bekleidet‹, bleibtder Genitiv die bessere Wahl: ›wegen desUmbaus‹, ›wegen kompletten Umbaus‹«(Sick 2004: 16). Während im Sinne dieser Interpretationdas Substantiv Umbau in der Konstruk-tion wegen Umbau im Dativ steht und mitdem Genitiv (wegen des Umbaus) wech-selt, geht es in Wirklichkeit weder um einProblem der Kasuskategorien noch umeins der Wechselpräpositionen. Die Kon-struktion wegen Umbau enthält ein un-flektiertes und begleiterloses Substantivund entspricht somit dem Typus 4) (mitStahl), der mit der Grundregel konformist. Die Konstruktionen wegen des Umbausund wegen kompletten Umbaus enthaltenein flektiertes Substantiv mit Begleiterund entsprechen somit den Typen 1) und2) (mit diesem/billigem Stahle), die dieGrundregel repräsentieren. Die Kon-struktion wegen Umbaus enthält ein flek-tiertes Substantiv ohne Begleiter und ent-spricht somit dem Typus 4) (*mit Stahle),der heute ein historisches Residuum dar-stellt. Dass wegen Umbau besser ist alswegen Umbaus, scheint auch Sick zu spü-ren, kann aber das Problem grammatisch

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nicht interpretieren (»›Wegen Umbau‹[…] ist erlaubt, es muss nicht ›wegenUmbaus‹ heißen […]«). Zu klären bleibt noch der Fall der Geni-tiv-Dativ-Wechselpräpositionen (The-men- und Gegenstandsnummer 2). Im Gegensatz zu den Gegenständen Nr. 3und 4, bei denen Bastian Sick die Pro-bleme nicht in den Griff bekommt, ist hierhervorzuheben, dass er erkennt, dassman unter Viabilitätsgesichtspunktenzwei Typen von Genitiv-Dativ-Wechsel-präpositionen unterscheiden muss (DiMeola 2000: 138 f.): i) Genitiv-Präpositionen mit Dativrek-

tion (im Folgenden: Genitiv-Dativ-Präpositionen) und

ii) Dativ-Präpositionen mit Genitivrek-tion (im Folgenden: Dativ-Genitiv-Präpositionen).

Gruppe (i) sind die ursprünglichen Geni-tivpräpositionen (darunter wegen), dieneben dem ursprünglichen Genitiv zu-sätzlich den Dativ regieren (siehe etwadie historischen Residuen stattdessen, des-wegen, meinetwegen, währenddessen usw.mit ursprünglichem Genitiv). Gruppe (ii) sind die ursprünglichen Da-tivpräpositionen wie ähnlich, außer, bin-nen, dank, entgegen, entsprechend, gegen-über, gemäß, gleich, inmitten, mitsamt, nahe,nebst, samt, seit, trotz (Di Meola 2000: 139;Schmidt 2002: 331 f.), die neben dem ur-sprünglichen Dativ zusätzlich den Geni-tiv regieren (siehe etwa die historischenResiduen außerdem, demgemäß, seitdem,trotzdem usw. mit ursprünglichem Dativ).Man vergleiche

13) entsprechend des Wiener-Doku-ments (Spiegel, zit. nach Schmidt 2002: 331)

Obwohl also Bastian Sick die beidenHauptgruppen durchaus erkennt, unter-zieht er das grammatische Verhalten we-der der Gruppen noch der einzelnenGruppenmitglieder einer weiteren Ana-

lyse. So bleiben seine tabellarischen Emp-fehlungen (Sick 2004: 17 f.) einerseits äu-ßerst lückenhaft, andererseits vermittelnsie ein sehr statisches Bild von einem sehrdynamischen System. Dies lässt sich an-hand einer (partiellen) Sprachgebrauchs-analyse nachweisen: Eine Sprachgebrauchsanalyse im Sinneeiner statistischen Dokumentation derRektionsalternation (Di Meola 2000:207 ff.) ergibt sowohl bei den Genitiv-Dativ-Präpositionen als auch bei den Da-tiv-Genitiv-Präpositionen ein sehr ein-deutiges Bild mit jeweils zwei Unter-gruppen:

Genitiv-Dativ-Präpositionen: (i)-a Die ursprünglich reinen Genitivprä-positionen zwecks, voll, voller und zuzüg-lich regieren heute statistisch in über 60 %der Fälle den Dativ. (i)-b Alle anderen ursprünglichen Geni-tivpräpositionen (inkl. wegen und wäh-rend) regieren heute in immer noch min-destens 60 % der Fälle den Genitiv (beiwegen und während beträgt der Dativan-teil 16 bzw. lediglich 2 %). Dabei ist einenormative Diskreditierung des Dativsnicht unproblematisch, schließlich sindlaut DWB Dativbelege mit wegen bereitsbei Goethe, Schiller, Stifter oder Haupt-mann zu finden. In den Schriften ›einfa-cher Leute‹ (Substandard) waren die Da-tivbelege bereits im 19. Jahrhundert inÜberzahl (Elspaß 2005: 321 ff.).

Dativ-Genitiv-Präpositionen: (ii)-a Die ursprünglich reinen Dativprä-positionen binnen, entlang, dank, trotz, in-mitten regieren heute statistisch in über50 % der Fälle den Genitiv (bei trotz undinmitten sind es über 90 %). (ii)-b Alle anderen ursprünglichen Dativ-präpositionen regieren heute in immernoch mindestens 75 % der Fälle den Da-tiv. Am fortgeschrittensten ist die Ent-wicklung bei gemäß mit einem Genitivan-teil von 25 %.

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Vergleicht man dieses Ergebnis mit dentabellarischen Empfehlungen von Bas-tian Sick, so kann Folgendes zu den ein-zelnen Untergruppen festgehalten wer-den: (i)-a: Die Präpositionen dieser Gruppekommen in Sicks Tabelle nicht vor. Dabeisind diese die ›heißesten‹ Fälle auf demWege zum Rektionswechsel. Die Präposi-tion laut, die von Bastian Sick in einereigenen Kolumne (2005: 221–223) behan-delt wird, gehört nach Di Meola (2000:139) nicht mehr zu den Genitiv-Dativ-Präpositionen, sondern ist mittlerweilezur Dativpräposition geworden. Auchwenn dieses Urteil vielleicht vorschnellist, ist es erstaunlich, dass Sick (2004: 18)laut vor Substantiven mit Begleiter nurim Genitiv zulässt. Ein Jahr später (2005:221) scheint er allerdings – mit Verweisauf die Zulassung des Dativs durch denDuden – seine Ansicht revidiert zu ha-ben. (i)-b: Die Empfehlungen bei wegen, inner-halb, einschließlich, kraft, statt und währendkönnen akzeptiert werden. Die Präpositi-onen abzüglich, bezüglich, hinsichtlich undmangels, die ebenfalls dieser Gruppe an-gehören, kommen in Sicks Tabelle nichtvor. (ii)-a: Von den Präpositionen dieserGruppe kommen binnen, entlang und in-mitten nicht vor. Die Empfehlung bei trotzkann akzeptiert werden. Dagegen er-scheint die Empfehlung bei dank (nur mitGenitiv) angesichts eines statistischenDativanteils von 22 % verfrüht. Hierkönnte der Dativ noch als Nebenvariantegeführt werden. (ii)-b Die allermeisten Präpositionen die-ser Gruppe tauchen in der Tabelle nichtauf (gegenüber, gleich, mitsamt, samt, ähn-lich, binnen, entlang). Die Empfehlungen

bei entgegen, nahe und entsprechend (nurmit Dativ) können akzeptiert werden, dahier die Genitivanteile unter 10 % oderknapp über 10 % liegen. Folglich mussdie Rektion in Beleg 13) als ›Fehler‹ ein-geordnet werden. Allerdings handelt essich natürlich nicht um einen Systemfeh-ler, sondern nur um einen Normfehler,dessen Quelle konfligierende Teilsystemesind (siehe Abschnitt 2). Der Fall gemäßstellt gewissermaßen das ›dynamischeSpiegelbild‹ von dank dar. Der Genitivkönnte hier als Nebenvariante aufge-nommen werden. Zusammenfassend kann Folgendes fest-gehalten werden: – Durch Bastian Sicks Themenangaben

und Beispiele der Kolumne lassen sichvier verschiedene grammatische Ge-genstände rekonstruieren. Der Verfasserder Kolumne ist dagegen offensichtlichder Auffassung, dass er denselbengrammatischen Gegenstand behandelt.

– Besonders gravierend ist die Verwechs-lung von Problemen der Kasuskatego-rie mit denen der Kasusform.1

– Zwar wird der Unterschied zwischenGenitiv-Dativ- und Dativ-Genitiv-Prä-positionen reflektiert, Konsequenzen –etwa eine Zweiteilung der tabellari-schen Empfehlungen – werden hierausjedoch nicht gezogen.

– Es wird keine Sprachgebrauchsanalyseeingearbeitet.

– Es findet keine Rekonstruktion der zu-grunde liegenden Teilsysteme statt.

– Obwohl die Bedeutung einer Viabili-tätsprüfung intuitiv erkannt wird, wer-den die Möglichkeiten sprachhistori-scher Analysen nicht genutzt.

– Dadurch, dass die tabellarischen Emp-fehlungen auch komplexe Präpositio-nen enthalten, deren Rektionsverhalten

1 Wenn man keine dreibeinigen Stühle mehr herstellen würde, hätte man zwar eineStuhlform abgeschafft, aber nicht die Kategorie (den Stuhl als solchen).

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mit dem der einfachen Präpositionennichts zu tun hat, wird der Leser aufdie falsche Fährte geführt.

4. Die Kolumne »Wir gedenken demGenitiv« Diese Kolumne (Sick 2005: 19 ff.) behan-delt den Abbau der Genitivkategorie inder Objektfunktion, kurz: den Abbau desGenitivobjekts (= des adverbalen Geni-tivs):

14) Am Sonntag wird in Kampehl dem354. Geburtstag von Ritter Kahlbutzmit einem Konzert gedacht. (Sick 2005: 19)

Auch alle anderen Beispiele der Kolumnedeuten darauf hin, dass Bastian Sick an-nimmt, dass die Konkurrenzform, dieden Genitiv verdrängt, der Dativ ist. DieGegenstandsrekonstruktion ergibt fol-gendes Bild:

Was im Gegensatz zu der Kolumne »DerDativ ist dem Genitiv sein Tod« auffällt,ist, dass hier die Gegenstandsrekonstruk-tion (= die Schritte 1 und 2 des methodi-schen Szenarios in Abschnitt 2 oben) bes-ser gelungen ist, da es ein Thema gibt,das einem Gegenstand zugeordnet wer-den kann. Die Kolumne ist einheitlich,Bastian Sick unternimmt nicht den Ver-such, disparate Gegenstände in einer Ko-lumne zu erörtern. Wie wir noch sehenwerden, gibt es allerdings eine gravie-rende Diskrepanz zwischen Thema undGegenstand. Sicks Thema erfasst ledig-lich eine unbedeutende Teilmenge desGegenstandes.1 Was sind die Wissensbestände, die in derKolumne präsentiert werden? 1. Der Genitiv (= das Genitivobjekt) wird

vom Dativ (= vom Dativobjekt) ver-drängt.

2. Der alternative Dativgebrauch nimmtzu. (»Auch das »Herr werden« ist eineverbale Konstruktion, in der der Geni-tiv noch herrscht, aber immer häufiger

vom Dativ verdrängt wird« (Sick 2005:20).)

3. »ohne Anspruch auf Vollständigkeit«(Sick 2005: 21) wird eine Liste mit 23gegenwartsdeutschen Genitivverbenpräsentiert (Sick 2005: 22).

4. Im Gegenwartsdeutschen lassen sich»zwei Kategorien« von Genitivverbenunterscheiden: vollreflexive Verbenund Verben aus der Gerichtssprache(Genitivus criminis) (Sick 2005: 21 f.).

ad 3–4: Registriert werden im Gegen-wartsdeutschen 56 Verben mit Genitiv-rektion, von denen 31 nichtreflexiv und25 formal-reflexiv sind (Lenz 1996: 3 und48 f.). Nichtreflexiv sind z. B. bedürfen,harren, spotten, formal-reflexiv sind etwasich annehmen, sich enthalten, sich wundern.Der Großteil sowohl der nichtreflexivenals auch der formal-reflexiven Verbensind präfigierte Verben (20 bzw. 16). 6 der31 nichtreflexiven Verben sind als rechts-sprachlich einzuordnen. Gegen Sicks Auswahl von 23 Verbenkann unter Typizitätsgesichtspunktennichts eingewendet werden. Die Propor-

Nr. Thema

Themenangabe (Sick)

Beispiele (Sick)

Gegenstand (Rekonstruktion)

Nr. Gegenstand

1a Abbau des Genitiv-objekts durch das Dativobjekt

dem Geburtstag von X geden-ken, dem Problem Herr werden, sich dem Thema annehmen

Abbau des Genitivob-jekts

1

1 Diese ›mengentheoretische‹ Spannung wird in der Tabelle durch 1a (Themennummer)versus 1 (Gegenstandsnummer) signalisiert.

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tionen von nichtreflexiven und formal-reflexiven bzw. – innerhalb der jeweiligenUnterklassen – präfigierten und nicht-präfigierten Verben sind zu denen dervollständigen Verbliste analog. Proble-matisch ist dagegen, dass er von »zweiKategorien« spricht und eine formale Un-terklasse (»vollreflexive Verben«) einersemantischen (»Verben aus der Gerichts-sprache«) gegenüberstellt. Dies schafftnicht nur eine begriffliche Verwirrung,sondern kann den logisch denkenden Le-ser auch irreführen. Dieser könnte näm-lich auf Grund der Kategorisierung zum(logischen) Schluss kommen, dass allenichtreflexiven Verben mit Genitivrek-tion Verben aus der Gerichtsspracheseien. In Wirklichkeit sind es jedoch nurknapp 20 % (6 von 31). ad 1–2: Ob der Genitiv vom Dativ ver-drängt wird bzw. ob der Dativgebrauchzunimmt, lässt sich nur entscheiden,wenn der sprachhistorische Prozess kurznachgezeichnet (Viabilitätsprüfung),wenn in Anlehnung an die Viabilitäts-prüfung eine Systemrekonstruktion ver-sucht und wenn eine Frequenzanalysedurchgeführt wird. Der historische Abbau des Objektsgeni-tivs ist gut erforscht (zusammenfassendvgl. Ágel 2000: 1870 f.). Im Alt- und Mit-telhochdeutschen (ca. 750 bis ca. 1350)war die Klasse der genitivregierendenVerben noch produktiv, im Mittelhoch-deutschen – der Blütezeit des Objektsge-nitivs – gab es noch ca. 260 genitivregie-rende Verben. Heute sind es, wie er-wähnt, nur noch 56. Der größte Formen-umbau, die erste Welle des teilweisenoder völligen Wechsels zu Konkurrenz-formen, tritt im 15. Jahrhundert ein. Einezweite Welle ist um 1700 herum zu ver-zeichnen (Fischer 1992). Seitdem ist derAbbau kontinuierlich, erfasst jedoch dieeinzelnen Textgruppen und Textsortennicht gleichmäßig.

Die Verdrängung des Objektsgenitivswird von Textgruppen und -sorten getra-gen, die der Sprechsprache näher stehen,volkstümlich sind und einen lockererenStil haben. Entsprechend findet manselbst in der geschriebenen Alltagsspra-che des 19. Jahrhunderts nur noch verein-zelt Objektsgenitive (Elspaß 2005: 317 ff.).Typisch dagegen sind Akkusativobjekteund Präpositionalgruppen (präposi-tionale Objekte und Adverbiale). Bei-spielsweise werden Verben wie sich an-nehmen, bedürfen, harren und das Adjektiv(sich) bewusst (sein) in der geschriebenenAlltagssprache des 19. Jahrhunderts»nicht mehr mit dem Genitiv« verwendet(Elspaß 2005: 318).

15) Ich…bedarf jedoch…gute Erholung. 16) …so haben sich die Fürsten um sie

angenommen… (Belege aus den Jahren 1873 und1856, zitiert nach Elspaß 2005: 318).

Diese Belege entstammen Privatbriefen,gehören also der Textgruppe der Privat-texte an. Den Gegenpol bildet die Text-gruppe der Rechtstexte, die historisch(und auch heute) den höchsten Genitiv-objekt-Anteil aufweist. Der Abbau des adverbalen Genitivs istalso spätestens seit dem 15. Jahrhundert›beschlossene Sache‹. Die Gründe für denGenitivschwund sind nicht im Gegen-wartsdeutschen zu suchen (die wichtigs-ten Erklärungsansätze werden in Ágel2000: 1870 referiert). Die 56 verbliebenengenitivregierenden Verben stellen keinproduktives Teilsystem mehr dar, son-dern sind historische Residuen. Entscheidend ist, dass historisch nichtder Genitiv im Allgemeinen, sondern nurder adverbale Genitiv abgebaut wird. DieVerwendung des attributiven Genitivsnimmt (in der geschriebenen Standard-sprache) sogar zu. Diese komplementä-ren Prozesse haben mit einer konstantenhistorischen Entwicklung, der zuneh-

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menden grammatischen Trennung der»Sphäre des Verbums und des Substan-tivs« (Brinkmann 1971: 468), zu tun. Diesbedeutet, dass es historisch immer mehrund deutlichere grammatische Merkmalegibt, die ein sprachliches Element als demSatz oder als der Nominalgruppe zuge-hörig ausweisen. Zu diesem Sprachwan-delkomplex gehört auch die komplemen-täre Entwicklung von Genitiv und denanderen Kasus: Nominativ, Akkusativund Dativ entwickeln sich zunehmendzu verbregierten Kasus, der Genitiv ent-wickelt sich zum substantivregierten Ka-sus, man vgl. etwa1 17) [ein Buch]akk � [lesen] 18) [das Lesen] � [eines Buches]gen Wird der adverbale Genitiv vom Dativverdrängt? Nein. Das Genitivobjekt wechselt typischer-weise zum Akkusativobjekt oder zur Prä-positionalgruppe, dativische Konkur-renzformen treten historisch nur ver-einzelt auf (Fischer 1992, Anttila 1983,Elspaß 2005: 317 ff.). Einige Beispiele (siehe Fischer 1992:299 ff.): Abbau des Objektsgenitivs zu-gunsten des Akkusativs bei erwarten, pfle-gen, vergessen, verschonen, wahrnehmen,zugunsten von präpositionalen Objektenoder Adverbialen bei acht haben, sich be-danken, sich fürchten, sich behelfen, sich be-klagen, erschrecken, fehlen, schweigen, unter-richten und sich wundern. Dass dativische Konkurrenzformen nurselten vorkommen, wissen wir nicht nuraus Spezialuntersuchungen zum adver-balen Genitiv, sondern auch aus Statisti-ken über das sich historisch wandelndeVerhältnis der einzelnen adverbalen Ob-

jekttypen. Würde das Dativobjekt die ty-pische Konkurrenzform des Genitivob-jekts darstellen, müsste die Anzahl derdativregierenden Verben historisch kon-tinuierlich zunehmen. Doch die Anzahlder Verben mit Dativobjekt nimmt etwavon 1860 bis 1960 von 15,9 % auf 10,9 %(aller objektregierenden Verben) ab, wäh-rend die Verben mit Präpositionalobjektim selben Zeitraum von 27,2 % auf 32,3 %zunehmen (Sommerfeldt 1988: 218). Unter den 56 genitivregierenden Verbender Gegenwartssprache gibt es nach Lenz(1996: 11 ff.) kein einziges Verb mit dativi-scher Konkurrenzform. Die Alternativ-formen sind nach Lenz ausschließlichAkkusativ-, Präpositional- und Satz-Ob-jekte.2 Dasselbe gilt nach ihr auch fürgenitivregierende Adjektive wie bedürf-tig, bewusst, fähig, gewiss, kundig, ledig,müde, überdrüssig usw., z. B.: 19) Sie ist zu großen Leistungen fähig.

(Lenz 1996: 36) Dass der Genitiv vom Dativ verdrängtwird, stimmt also nicht. Bastian Sick hathier die Ausnahme zur Regel gemacht.Die Regel ist ja, dass das Genitivobjektvon Akkusativ- und Präpositionalobjek-ten bzw. von präpositionalen Adverbia-len verdrängt wird. Nebensätze und Infi-nitivkonstruktionen sind zwar Alterna-tivformen, jedoch keine Konkurrenzfor-men des Genitivobjekts. Der Typus Sieerinnert sich der Begegnung mit ihm wirdvom Typus Sie erinnert sich, ihm begegnetzu sein nicht verdrängt, sondern funktio-nal ergänzt (Beispiele nach Lenz 1996:14). Die Typen stellen zwei verschiedeneAusdrucksmöglichkeiten dar: kompaktvs. explizit (von Polenz 1985: 25).

1 Der Pfeil symbolisiert die jeweilige Rektionsrelation. In 17) regiert das Verb (= Regens)den Akkusativ (= Rektum), in 18) das Substantiv (= Regens) den Genitiv (= Rektum).

2 Unter Satz-Objekten versteht sie Nebensätze und Infinitivkonstruktionen in Objekt-funktion, s. etwa die Belege 20) und 21) weiter unten.

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Trotzdem könnte es natürlich sein, dassder (insgesamt unerhebliche) alternativeDativgebrauch zunimmt. Zum adverbalen Genitiv und seinen Al-ternativformen liegt eine gute empiri-sche Untersuchung von Victoria Diegelvor, die im Rahmen des erwähntenHauptseminars »Der Dativ ist dem Ge-nitiv sein Tod« entstanden ist (Diegel2007). Durchgeführt wurde eine Kor-pusrecherche zu den sechs genitivregie-renden Verben der Gerichtssprache: an-

klagen, beschuldigen, bezichtigen, überfüh-ren, verdächtigen und zeihen. Ausgewer-tet wurden 100 Belege pro Verb, alsoinsgesamt 600 Verbvorkommen. Die Be-lege entstammen jedoch nicht Rechts-texten, sondern Zeitungen (»Die Zeit«,»Die Welt«, »Die Frankfurter Allge-meine Zeitung«, »Die Süddeutsche Zei-tung«) und Zeitschriftenmagazinen(»Der Spiegel« und »Focus«). Ich fasse die Ergebnisse von Diegels Kor-pusrecherche in einer Tabelle zusammen:

Mehr als 50 % der Verbvorkommen (302Belege) entfallen auf das Genitivobjekt.Da Satz-Objekte wie 20) und 21) Aus-drucksalternativen des Genitivobjektsdarstellen, kommt man auf insgesamtknapp 81 % (485 Belege).

20) Bei seiner zweiten Vernehmung habeSchön überführt werden können,dass mehrere parlamentarische An-fragen unvollständig beantwortetworden seien, erklärten SPD undGAL am Dienstag. (Die Welt, zit. nach Diegel 2007: 11)

21) Der Franke wird ebenfalls verdäch-tigt, mit dem spanischen Doping-netzwerk in Verbindung gestandenzu haben. (FAZ, zitiert nach Diegel 2007: 12).

Der prozentuale Anteil der Konkurrenz-formen liegt also bei 19 %.

Zwar ist die zahlenmäßig überwiegendeKonkurrenzform die Präpositional-gruppe, doch diese beschränkt sich na-hezu ausschließlich auf das Verb anklagen(84 von 85 Belegen). Überraschend sindhier nicht die präpositionalen Kausalad-verbiale mit wegen, sondern die beiden(ebenfalls kausaladverbialen) Belege mitfür:

22) …keiner dürfe zweimal für dasselbeVerbrechen angeklagt werden… (Die Zeit, zitiert nach Diegel 2007: 6)

23) Es war das erste Mal, dass gewählteRegierungsmitglieder für Verbre-chen gegen die Menschlichkeit ange-klagt wurden. (Der Focus, zitiert nach Diegel 2007:6)

Im Falle von anklagen hat die kausalad-verbiale Form mit wegen die Genitivform

Verb Genitiv-objekt

Satz-Objekt

Objekts-prädikativ

Konjunktional-gruppe

Präpositional-Gruppe

anklagen 11 5 – – 82 (wegen) 2 (für)

beschuldigen 18 80 – 2 (als) –

bezichtigen 77 21 – 2 (als) –

überführen 78 4 – 17 (als) 1 (wegen)

verdächtigen 27 73 – – –

zeihen 91 – 4 5 (als) –

Gesamt 302 183 4 26 85

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verdrängt. Anklagen ist heute kein Geni-tivverb mehr. Die Hauptvariante ist diekausaladverbiale Ergänzung mit der Prä-position mit wegen, der Genitiv ist nurnoch residuale Nebenvariante. Besonders interessant ist die zweithäu-figste Konkurrenzform, die Konjunktio-nalgruppe mit als, die besonders häufigmit dem Verb überführen vorkommt. Auf-schlussreich ist die Gegenüberstellungder Genitiv- mit den Konjunktionalbele-gen:

24a) Ein 45-jähriger Mann wurde der Tatüberführt. (Die Welt, zitiert nach Diegel 2007:Anhang)

24b) Nach der Tat bezichtigte er zu-nächst seinen Vater, doch die Mord-kommission konnte schnell ihn alsTäter überführen. (SZ, zitiert nach Diegel 2007: An-hang)

25a) Es sind neue Dokumente aufge-taucht, die die häufig verdächtigteLeichtathletin nun des Dopingsüberführen könnten. (Der Spiegel, zitiert nach Diegel2007: Anhang)

25b) Floyd Landis ist als erster Trägerdes Gelben Trikots in der Ge-schichte der Tour de France als Do-per überführt worden. (Der Focus, zitiert nach Diegel 2007:Anhang)

Die Gegenüberstellung zeigt deutlich,dass die Belege mit Konjunktionalgrup-pen keine wirklichen Konkurrenzformender Genitivformen darstellen. Vielmehrhandelt es sich – so, wie beim Genitivob-jekt und Satz-Objekt – um semantischeAlternativformen: Der Genitiv wird ge-wählt, wenn der Kern der Nominal-gruppe ein Nomen actionis (Tat, Doping),die Konjunktion als, wenn er Nomenagentis (Täter, Doper) ist. Würde es sichum echte Konkurrenzformen handeln,

müssten sie gegeneinander austauschbarsein, was aber nicht der Fall ist. DerAustausch der Nomina actionis gegenNomina agentis und umgekehrt führt zuunsinnigen Sätzen (versehen mit einem»!«): 24a’) !Ein 45-jähriger Mann wurde des

Täters überführt. 24b’) !Nach der Tat bezichtigte er zu-

nächst seinen Vater, doch die Mord-kommission konnte schnell ihn alsTat überführen.

25a’) !Es sind neue Dokumente aufge-taucht, die die häufig verdächtigteLeichtathletin nun des Dopers über-führen könnten.

25b’) !Floyd Landis ist als erster Trägerdes Gelben Trikots in der Ge-schichte der Tour de France als Do-ping überführt worden.

Das Verb überführen hat also eine Neben-variante mit der Konjunktionalgruppe alsentwickelt. Der Wandel ist systemkon-form, denn die Innovation besteht darin,dass die frühere Restriktion des Kernsub-stantivs auf Nomina actionis aufgehobenwurde. Eventuelle normative Einwändegegen diese Innovation wären disfunkti-onal, da sie den Verwendungsradius desVerbs einschränken würden. Eine ähnliche, aber schwächer ausge-prägte Entwicklung bahnt sich beim Verbzeihen an: 26a) Als gebürtiger Bonner kann man

sich an der Hauptstadtdiskussionnicht beteiligen, ohne gleich des Lo-kalpatriotismus geziehen zu wer-den. (Der Spiegel, zitiert nach Diegel2007: Anhang)

26b) Ein Polizeiführer wird als Sympa-thisant geziehen, Angehörige derPolizeiverwaltung kritisieren dieStaatsanwaltschaft. (Der Spiegel, zitiert nach Diegel2007: Anhang)

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Nicht weniger interessant als die fünfBelege mit Konjunktionalgruppe sind dievier Belege mit Objektsprädikativ (Diegel(2007: 13) analysiert sie als Akkusativob-jekte):

27) Ein Orientalistik-Professor zeiht ihn»Scharlatan« und »Plagiator großenStils«. (Der Spiegel, zitiert nach Die-gel 2007: Anhang)

28) Der Muslim und Säkularist ist kein»Landesverräter«, wie ihn nationa-listische Kreise in der Türkei zeihen.(Die Welt, zitiert nach Diegel 2007:Anhang)

29) Was Spötter aus SPD-Reihen veran-laßt, die Christsozialen »Feigenblät-ter der Neoliberalen« zu zeihen. (DieWelt, zitiert nach Diegel 2007: An-hang)

30) Jeden Präsidenten, der heute das-selbe täte, würden die Enkel einenSchwächling zeihen. (Die Zeit, zitiertnach Diegel 2007: Anhang)

Die systemkonforme Innovation bestehthier darin, dass zeihen in Analogie zunennen im Sinne eines beschuldigendenNennens verwendet wird, was sich mit-hilfe der Ersatzprobe nachweisen lässt:

27’) Ein Orientalistik-Professor nennt ihn»Scharlatan« und »Plagiator großenStils«.

28’) Der Muslim und Säkularist ist kein»Landesverräter«, wie ihn nationa-listische Kreise in der Türkei nennen.

29’) Was Spötter aus SPD-Reihen veran-laßt, die Christsozialen »Feigenblät-ter der Neoliberalen« zu nennen.

30’) Jeden Präsidenten, der heute das-selbe täte, würden die Enkel einenSchwächling nennen.

Die objektsprädikativischen Formen 27)–30) sind alternative Ausdrucksformen füragentive Besetzungen der Nominal-gruppe. Sie stellen keine Konkurrenzfor-men des Genitivs dar:

27’’) !Ein Orientalistik-Professor zeihtihn des Scharlatans und Plagiatorsgroßen Stils.

28’’) !Nationalistische Kreise in der Tür-kei zeihen ihn des Landesverräters.

29’’) !Was Spötter aus SPD-Reihen veran-laßt, die Christsozialen der Feigen-blätter der Neoliberalen zu zeihen.

30’’) !Jeden Präsidenten, der heute das-selbe täte, würden die Enkel einesSchwächlings zeihen.

Und der Dativ, dessen Gebrauch nachBastian Sick zunehmen soll? Er kommt unter den 600 Belegen vonDiegel kein einziges Mal vor. Natürlich lassen sich die hier präsentier-ten Erkenntnisse (inkl. aller im vorliegen-den Abschnitt zitierten Untersuchungs-ergebnisse) nicht auf die Totalität derdeutschen Gegenwartssprache mit ihrerenormen Vielfalt an Textgruppen undTextsorten verallgemeinern. Dass der ad-verbale Dativ als Konkurrenzform desadverbalen Genitivs vorkommt, ist unbe-streitbar. Dies beweisen alleine die Belegevon Bastian Sick. Doch nach Auskunftunserer Viabilitätsprüfung, Sprachge-brauchsanalyse und Systemrekonstruk-tion ist der adverbale Dativ als Genitiv-konkurrent marginal. Unter den Innova-tionen stellt er die Ausnahme dar.

5. Fazit Svenja Hammer, deren Rezension dieDiskussion in Info DaF ausgelöst hat,schließt ihre Besprechung mit den folgen-den Worten: »Abschließend kann ichmich nur dem Umschlagstext anschlie-ßen, der besagt: »Lese nicht irgendeinBuch, sondern lies dieses Buch!« (Ham-mer 2007: 307). Unsere Arbeit im Kasseler Hauptseminar»Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod« imWS 2006/2007 hat zu einem anderen Er-gebnis geführt. Dieses andere Ergebnismanifestiert sich in einer teilweisen oder

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vollständigen Abweichung von dem inAbschnitt 2 entworfenen methodischenSzenario, das ich als das A und O fürkompetente grammatische Ratschlägeund Lösungsvorschläge erachte: 1. In der Regel erfolgt in den Kolumnen

keine transparente und adäquate Eta-blierung eines grammatischen Gegen-standes. Die Themenangaben und Bei-spiele stehen in einem zufälligen und/oder ungeregelten Verhältnis zu denrekonstruierbaren grammatischen Ge-genständen.

2. Sprachgebrauchsanalysen finden nuram Rande statt. In Fällen, wo Aussagendes Typs »Konstruktion A wird häufi-ger von Konstruktion B verdrängt« an-zutreffen sind, kann beim Leser derEindruck entstehen, dass der Autorselbst Recherchen angestellt hätte odersich auf fachliterarische Erkenntnissebeziehen würde.

3. Eine Rekonstruktion des oder der zu-grunde liegenden (u. U. konfligieren-den) Teilsysteme findet nicht statt. Da-her bleibt unklar, ob die erörterten In-novationen systemkonform sind odernicht bzw. ob sie bezüglich eines poten-tiellen Normwandels richtungweisendsind oder nicht. Ohne diesen Bezugs-rahmen bleibt jede Sprachkritik orien-tierungslos. »Sprachkritik sucht die Möglichkeitendes Systems mit den Realisierungen dersozialen Norm zu vergleichen und dieRealisierungen vor dem Hintergrund derMöglichkeiten zu bewerten, zu kritisie-ren.« (Schiewe 1998: 18)

4. Auf Sprachwandelprozesse, die zumbesseren Verständnis und zur adäqua-teren Rekonstruktion des gegenwarts-deutschen Systems beitragen könnten,wird höchstens punktuell und unorga-nisch verwiesen.

Bastian Sick, der auch Romanistik stu-diert und insofern eine linguistische Aus-bildung erfahren hat, ist kein linguisti-

scher Laie. Er verfügt aber auch nichtüber die fachwissenschaftliche Kompe-tenz, die ihn befugen würde, anderengrammatische Ratschläge und Lösungs-vorschläge im Bereich der deutschenGrammatik zu erteilen. Natürlich spricht nichts dagegen, das Pu-blikum mit grammatischen Themen zuunterhalten. Was aber tun, wenn das Pu-blikum nicht nur unterhalten, sondernauch belehrt werden möchte? Was tun,wenn für das Publikum der Entertainerauch als eine Art normative Instanz, dieverständlicher ist als der Duden, in Fragekommt? Da die Kriterien des Publikumsfür Belehrbarkeit keine wissenschaftli-chen sind, könnte man sogar behaupten,dass Bastian Sick einfach sein Publikumbedient. Das Problem ist, dass die belehrende Un-terhaltung in einer Sphäre der Öffentlich-keit stattfindet, die sich qua (Teile des)Publikum(s) mit einer rein belehrenden,nicht unterhaltenden und ganz andereAufgaben wahrnehmenden Sphäre derÖffentlichkeit überschneidet: mit derSchule. Zur Belehrung in der Schule be-darf es eines wissenschaftlich fundierten,didaktisch adäquat vor- und aufbereite-ten Unterrichtsstoffs, der von Lehrernund anderen Bildungsinstanzen getragenwird, die sich ihrer belehrenden und sozi-alen Verantwortung gegenüber ihremPublikum, den Schülern, bewusst sind. Die schulische Sphäre der Öffentlichkeitist unverwechselbar, und es ist unser allerelementares Interesse, dass sie auch un-verwechselbar bleibt. Ich wünsche unsallen, dass sich die Lehrer, die die großeBastian-Sick-Schau besuchen, gut amü-sieren, dass sie sich jedoch, zurück inihrer Schule, keine Minute überlegenmüssen, Bastian Sicks Kolumnen zumLehrstoff zu machen. Ich wünsche unsallen, dass wir keine Bildungsinstanz alslinguistischen Missetäter überführenmüssen.

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Ein Umschlagtext, dem man sich gutengrammatischen und sozialen Gewissensanschließen könnte, wäre: »Lese, lieberLehrer, der du unterhalten werden willst,Bastian Sicks Bücher, aber lies, lieber Leh-rer, der du belehrt werden willst, andereBücher!«1

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Vilmos Ágel Prof. Dr. phil.; 1983–1999 Germanisti-sches Institut der ELTE Budapest (Assis-tent, ab 1993 Privatdozent); 1988 Promo-tion im Bereich der historischen Valenz-forschung; 1990 sog. »Kandidat der Lin-guistik«; 1997 Habilitation; Venia le-gendi: Ars grammaticae; 1999–2004 Ger-manistisches Institut der UniversitätSzeged (Privatdozent, ab 2000 Profes-sor); 2000–2003 Széchenyi Professoren-stipendium; 2000–2003 Mitherausgeberdes Jahrbuchs der ungarischen Germanis-tik; 2001–2004 Leiter des OTKA-ProjektsDeutsche Grammatik 1650–2000; 2003

Friedrich Wilhelm Bessel-Forschungs-preis der Alexander von Humboldt-Stif-tung; ab 2004 Mitherausgeber der Zeit-schrift für Germanistische Linguistik; 2004Professur für Germanistische Sprach-wissenschaft/Systemorientierte Lin-guistik an der Universität Kassel; 2007–2009 Leiter des DFG-Projekts Expliziteund elliptische Junktion. Forschungsschwerpunkte: Grammatikin Gegenwart und Geschichte, insbeson-dere: – Grammatik des Neuhochdeut-schen (1650–2000) – Grammatik undkonzeptionelle Mündlichkeit/Schrift-lichkeit – Valenztheorie.