Baumgarten Ueber Dewey

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Eduard Baumgarten I Die geistigen Grund- lagen des amerikanischen Gemeinwesens Bd. II. Der Pragmatismus: R. W. Emerson, W. James, J. Dewey

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Eduard Baumgarten, einer der Schueler Heideggers, ueber Dewey und Pragmatisums.

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Eduard Baumgarten I Die geistigen Grund­lagen des amerikanischen Gemeinwesens

Bd. II. Der Pragmatismus: R. W. Emerson, W. James, J. Dewey

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DER PRAGMATISMUS R. W. EMERS ON, W. JAMES, ]. DEWEY

VGN EDUARD BAUMGARTEN

VITTORIO KLOSTERMANN FRANKPUR T AM MAIN

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ALLE RECHfE INSBESONDERE DAS DER ÜBERSETZUNG VORBEHALTEN

Druck der Limburger Vereinsdruckerei Limburg an der Lahn I 9 3 8

Printed in Germany

Vorrede

Einleitung

I. Kapitel:

INHALT

'RALPli WALDO EME'RSON

VII IX

Emersons Lebensgang und Charakter 3

1. Die geschichtliche Situation 3 2. Die Vorfahren 4 3. Das Leben von der Kindheit bis zur Pfarramtsnieder-

legung und Europa-'Reise 7 4. Das Leben nach der Heimkehr 14 5. Emersans Betragensart in entscheidenden Situationen 17

II. Kapitel:

Philosophie der Macht 27

1. Zerstreute Äußerungen über Macht 29 2. Der Machtinstinkt der Engländer 32 3. Der Machtwille in Emersans Geschichtsschreibung 34 4. Die Berufung des amerikanischen Geistes zu eigener Macht 44 5. Macht des Individuums 47

III. Kapitel:

Die Idee der Kompensation 55

1. Allgemeine Kompensationslehre 60 2. Der absolute Gewinn oder Verlust der Seele 66 3. Stufen der Wahrheit und des Erfolges 67 4. Der Umschwung im Begriff der Überseele; der Glaube

als das Substantielle des Lebens 79 5. Emerson und Nietzsche; Emersans amerikanisches Ge-

wissen 81

WILLIAM JAMES

I. Kapitel:

Das Leben von William James in seinen Briefen 102

1. Die Familie; das Verhältnis zum Vater 102 2. Lebenslauf 110 3. Kinder und Ehestand; Geschwister; fremde Länder;

Freunde; die Arbeit 114

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II. Kapitel:

Die Lehre vom Menschen 129 1. Die Wirkweise großer Männer als Zeugnis des aben-

teuerlichen und sprunghaften Charakters der Welt 132 2. Die Labilität der Grenze zwischen Ich und Welt: das

Zusammenspiel von Welt und Ich in den typischen fäl-len des Sich-entscheidens 142

3. Die Wahrnehmung der Unbestimmtheit der Welt in den menschlichen Stimmungen; die unentschiedene Welt und die Verantwortung des Menschen 156

III. Kapitel: D i e L e h r e v o n d e r W i s s e n s c h a f t 164

1. Der Wille zum Glauben und die Wissenschaft 166 2. Die Motive und Thesen des Jamesschen Pluralismus 181 3. Der Zusammenhang zwischen Wille zum Glauben,

Pluralismus und pragmatischem Wahrheitsbegriff 190

JOHN DEWEY

I. Kapitel: Der philosophische Entwicklungsgang John

Deweys 1. Lebenslauf, Schriften, Wirkungskreise 2. Vom Absolutismus zum Experimentalismus 3. Das Bekenntnis zu Emerson

li. Kapitel: Der Zusammenhang der Momente des

menschlichen Betragens 1. Theorie der Gefühlserregungen

a) Der Ursprung von Emotionalität und Rationalität im gleichen Moment des Betragens

b) Das Phänomen des Lachens und ähnliche Phänomene 2. Kritik der Trieb- und Instinktlehre 3. Theorie des Denkens und der Wahrheit

III. Kapitel: Glaube als Wille

1. Werte, Ziele und Mittel a) Kritik der Wertlehre b) Ziele und Mittel

2. Deweys Auseinandersetzung mit der Kautischen Ethik 3. Die Idee der Demokratie

Anmerkungen Namen ·Verzeichnis Sach-Verzeichnis

212 212 217 234

242 247

247 251 260 269

277 282 282 288 296 313

333 464 471

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VORREDE

Dieser Band setzt die Arbeit des ersten unmittelbar fort. Trotzdem ist er ein in sich selbständiges Buch. Man muß, um Emerson, James und Dewey zu verstehen, nicht notwendiger­weise Pranklin kennen. Die Absicht: zu einem Verständnis der .amerikanischen Menschen und ihres Gemeinwesens beizutragen, wird in beiden Bänden mit denselben Mitteln verfolgt; es wird <ier Versuch gemacht, die Amerikaner von ihrem eigentümlichen Glauben her, also aus ihrer K r a f t heraus, zu verstehen.

Der "Pragmatismus" ist die Philosophie, in der amerika­nische Glaubenskräfte aufbewahrt und zu fortwirkendem Selbstbewußtsein verdichtet sind; er wird auf den folgenden Blättern von seinem eignen Standort her-: als ein Stück ame­rikanischen Lebens und zum Zweck der Verdeutlichung dieses Lebens dargestellt. Wenn der Pragmatismus zugleich ein philo­sophischer Wille ist, der bestimmte allgemein verstehbare Ur­teile über die Natur der Welt und die Natur des Menschen fällt, und hinmit auf Schritt und Tritt den Willen deutscher Leser zur Antwort reizt, so habe ich doch (außer in einigen vorläufigen Anmerkungen) jede Auseinandersetzung aus dem folgenden Text, dessen Rahmen sonst gesprengt worden wäre, ausge­schlossen. Eine in der Tat nötige deutsche Verarbeitung der hier vorkommenden "Theorien" und "Lehren" werde ich im Zusammenhang mit eigenen, systematischen Untersuchungen .anderen Ortes folgen lassen.

Das Manuskript dieses Bandes hat zwei Jahre im Pult ge­legen. Vor seiner letzten Umarbeitung in die jetzige Gestalt habe ich Stücke aus dem dritten Teil (Dewey) in anderer Form und Abzweckung schon vorläufig mitgeteilt in der von Alfred Baeumler und Paul Monroe herausgegebenen "Internationalen Zeitschrift für Erziehung" (1936, Heft 2 und 6, 1937, Heft 3). Ich

VII

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danke Herrn Prof. Baeumler und seinem Schriftleiter, Herrn Dr. Theodor Wilhelm, für ihre freundliche Zustimmung zu dieser zwiefachen Verwendung.

Den Herren Major Oehler und Dr. Schlechta im Nietzsche­Archiv Weimar danke ich für die entgegenkommende Weise, in der sie mir geholfen haben, die Spuren aufzufinden, die zei­gen, wie lebhaft, eindringend und dauernd das Interesse N i e t z s c h e s am Vorbild der Philosophie Emersons ge­wesen ist.

G ö t t in g e n, den 22. Februar 1938.

E d u a r d B a u m g a r t e n.

VIII

EINLEITUNG

Benjamin Franklin haben wir dargestellt als den "Lehr­meister" des amerikanischen Glaubens an die Möglichkeit des Experiments. Die "Revolution" der Menschen-, Gesellschafts­und Staatsauffassung, die dieser Glaube an das Experiment be­deutete, war freilich keine amerikanische Erfindung. Dieser Glaube wanderte 1620 aus Altengland mit hinüber, um sich im neuen Land - im denkbar geeignetsten Raum - zu versuchen. Oer Glaube. an das Experiment war in England zu Anfang des 17. Jahrhunderts in entgegengesetzten Lebensgebieten und Parteilagern ein gemeinsames Ferment. Um nur drei Beispiele anzuführen: er tritt auf als das Gottes- und Selbstbewußtsein der Soldaten Cromwells, für die ein König nichts ,Festes', son­dern ein hinriebtbares Subjekt ist; das ist die independistische, puritanische, die grimmigste Darstellung des Prinzips 1

Das Prinzip ist aber in einem Mann, der noch mit Elisabetha­nischem Glanz in die wutvolle Stimmung der Stuart- und Crom­well-Epoche hineinstrahlt, gleichfalls gegenwärtig: in Shake­speare. Wenn für Cromwell und die Seinen ein König nur be­dingungsweise König ist, so kam schon bei Shakespeare vor, daß "Wahrheit" und "Kraft" nicht mehr im Helden als solchem ,fest' sind - sondern ihm z u k o m m e n oder n i c h t zu­kommen, je nach der Art, in der er als Bürger seiner Welt und "Bruder" einer Gemeinschaft sich in deren Erfordernisse schickt oder nicht schickt -: Shakespeares Coriolanus. Indem Shakespeare diesen Menschen erfahren läßt, wie sein "Ge­wissen" draußen mitten unter den anderen, von denen er sich selbstherrisch lösen will, gegen ihn stark ist, wandelt er das Prinzip des autonomen Helden in das Prinzip des gentleman ab: der ist stark, sofern er versteht, "passend zu handeln".- Und wiederum: "Gut" und "böse" sind nicht "fest", sind nicht im

IX

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I. Kapitel:

DER PHILOSOPHISCHE ENTWICKLUNGS..:

GANG JOHN DEWEYS

I.

L e b e n s 1 a u f , S c h r i f t e n , W i r k u n g s k r e i s e.

John Dewey ist 1859 in Burlington (Vermont), im nördlichen Neuengland geboren. Er erwarb 1884 den Titel eines Doktors der Philosophie an der Johns Hopkins University, Baltimore, mit einer Arbeit über die psychologischen Annahmen in der Kautischen Philosophie (The Psychology of Kant). Johns Hop­kins war eine Universität, die, unter besonderem Einfluß Göt­tingens, deutschen Wissenschaftsidealen gemäß, errichtet wor­den war. Gleich nach der Promotion wanderte Dewey in den Mittelwesten; er lehrte Logik und Moralphilosophie an der Universität von Michigan; 1894 wurde er Professor an der neuerrichteten Universität von Chicago. Als Leiter der philo­sophischen Abteilung und des pädagogischen Seminars ruft er alsbald eine der Universität angegliederte Versuchsschule ins Leben. 1904 folgte er einem Ruf an die Columbia-University, deren Emeritus er heute ist.

Die schriftstellerische Schaffenskraft Deweys war - un­ausgesetzt - außerordentlich. Neben zahllosen Aufsätzen in Zeitschriften erscheint Buch um Buch. Jedes folgende ist gegen das vorangegangene neu'erdings g e 1 a d e n mit unter­suchender Kraft; in keinem aber läßt die Analyse bloße Frag­mente liegen; jedes erzwingt, "rekonstruiert" für sich die ganze form und natürliche fülle eines Gegenstandes. Es erscheinen, in dieser Weise, 1886: Psychology; 1888: Leibniz; 1891: A criti-

212

cal theory of Ethics; 1895: The Psychology of Number; 1900: The School and Society (ins Tschechische, französische, Deut­sche, Japanische, Polnische, Russische, Spanische, Türkische übersetzt); 1903: Studies in Logical Theory; 1908: Ethics; 1910: How we think; 1915: German philosophy and politics; sodann die drei Hauptwerke der Reifezeit: 1916: Democracy and Edu­cation; 1922: Human Nature and Conduct; 1925: Experience and Nature; neben ihnen die wichtigen Begleitwerke: 1920: Recon­struction ,in Philosophy (Tokio-Lectures); 1927: The Public and its Problems (Staatstheorie); 1929 ( Gifford lectures, Edinburgh): The Quest for Certainty (Theorie der Motive der Metaphysik und Theorie der Wissenschaft); 1934: A Common Paith (Theorie der Religion, Kritik des Christentums) 1

* *

Neben der Tätigkeit als Universitätslehrer, Versuchsschul­lehrer und Schriftsteller war Dewey seit den neunziger Jahren zunehmend auch erziehungspolitisch und politisch tätig und unterwegs. Von mehreren Ländern, in denen im Gefolge des Weltkriegs nationale Revolutionen ausbrachen, wurde Dewey als Berater für die Reform des Erziehungswesens herangezogen. So weilte er mehrere Jahre in China; die dortige jungrevolutio­näre Bewegung hat den Einfluß seiner Philosophie in sich auf­genommen. Dewey widerfuhr hierfür der Dank und die Höflich­keit der Chinesen, daß sie ihn einen zweiten "Confucius" nann­ten: nicht nur die Jungen oder die Schwärmer, - auch die Honoratioren der Universität von Peking haben ihn als solchen bei der Verleihung des chinesischen Doktortitels gefeiert 2

• -

Deweys Beziehung zu Japan ist weniger intim. Immerhin sind seine Vorlesungen über "die Erneuerung der Philosophie" (Reconstruction in Philosophy) 1919 von ihm an der Kaiser­lichen Universität in Tokio gehalten worden 3

• - Es folgte eine l:inladung in die Türkei (auch hier wirkte Dewey mit bei der Reorganisation des Erziehungswesens); ferner eine Einladung nach Mexico zu ähnlichem Zweck \ Auch die Bolschewisten

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in Rußland luden Dewey 1929 zu sich ein, mehr aber um an den Ideen dieses "Bourgeois-Philosophen" (wie sie ihn nannten), ihre eigenen, "besseren" Messer zu wetzen~.

Diese weltumspannende Wirkung Deweys ist umso erstaun­licher, als Dewey in seiner Erscheinung nichts anderes an den Tag legt als eine schweigsame Langsamkeit, ja Verträumtheit, Versunkenheit in das eigene Nachdenken. Deweys Einfluß in den genannten Gebieten der Erde ist nur verständlich - einmal aus dem allgemeinen, nach dem Kriege sehr anwachsenden Er­ziehungs- und Bildungs-Einfluß Amerikas im Orient (meßbar schon an der großen Zahl orientalischer Studenten an amerika­nischen Universitäten), sodann aber aus der theoretischen Stoß­kraft, die der Pragmatismus in der elementaren, einfachen Ge­stalt, die ihm Dewey verlieh, besitzt. Diese innere Wucht ließ sich von keinen Landesgrenzen, ebensowenig durch persönliche Langsamkeit und Schwere, aufhalten 6 • -

Im eigenen Lande war Dewey in den Jahren vor der Präsi­dentschaft Franklin Roosevelts bemüht, eine "Dritte Partei" zu organisieren zwecks Zusammenfassung der Farmer und In­dustriearbeiter mit verantwortungsbewußten Schichten der "Intelligenz". Er rief dazu auf, die Zeichen der Zeit zu ver­stehen. Der fröhliche Beute-Kapitalismus (rugged individualism) hatte, wie spätestens 1929 klar war, anarchische Folgen ge­zeitigt. Das Wirtschaftsprinzip des Iaissez-faire hatte sein gutes Gewissen eingebüßt. Denn der Boden dieses Freiheitssystems: daß für j e d e s Individuum i r g e n d eine "Gelegenheit" (oppor­tunity) immer da sei, war versunken oder am Versinken. Dewey erkannte als einer der ersten, daß dieser Boden der alt­amerikanischen "Freiheit" unter den veränderten Bedingungen, nämlich nach der Schließung der "Grenze" und mit dem Be­ginn der Europäisierung (Einengung und Verfestigung) der ame­rikanischen Wirtschaftsstruktur, nur noch durch einen radikalen Systemwechsel: durch entschlossene P I a n w i r t s c h a f t , einschließlich etwa notwendiger staatssozialistischer ~egulie­rungen von einer autoritären Zentrale aus, wiederherzustellen sei 7

214

In den allgemeinen, die gegenwärtigen Parteikämpfe wahr­scheinlich überdauernden Zielsetzungen von Roosevelts "New Deal", desgleichen in den einzelnen planwirtschaftlichen, sozial­politischen und arbeitsgesetzgeberischen Reformplänen von Roosevelts Mitarbeitern sind Ideen Deweys spürbar am Werk.

Auch zu internationalen politischen Fragen hat Dewey in entscheidenden Augenblicken beratend oder warnend das Wort ergriffen - manchmal in einer uns fremdartig erscheinenden Weise, manchmal, in und nach dem Kriege, als unser Gegner 8•

Aus den Jahren 1917 ff. liegen kritische Aufsätze zur Völker­bundsidee und Völkerbundspraxis vor; unter anderem eine hell­sichtige Warnung an Woodrow Wilson: falls Wilson vorhabe, in der Rolle eines moralischen Weltrichters aufzutreten, werde er, gemäß dem Motto: "fiat justitia, pereat mundus", die Sache des künftigen Friedens aufs schwerste s c h ä d i g e n , statt sie zu fördern 9

Die gegenwärtige Bewegung des europäischen "faszismus" (worunter die Amerikaner auch den "Nationalsozialismus" ein­begreifen) hat in Dewey eine eifernde, zuweilen blinde, zuweilen unbillige Gegnerschaft ausgelöst. Aber in einer Rede zur Drei­hundert-Jahr-feier der liarvard-University (1936): "freedom and Authority", wendet er die üblichenAnk!agen, die die liberale Demokratie gegen den "fascismus" erhebt, gegen den Ankläger zurück: tua maxima culpa: nur gegen eine verschleuderte Freiheit konnte eine übertriebene Autorität in den Sattel kom­men. Dewey empfiehlt für sein eigenes Land die altamerika­nische Lösung: ein "arbeitendes Kompromiss": Autorität in den formen kooperativer Selbstverwaltung, so wie diese Kombina­tion, in v o r b i I d I ich e m Modell, in der Laboratoriums­Disziplin wohlgeplanter und dennoch frei, individuell betriebe­ner Wissenschaftsarbeit verwirklicht sei 10

Die Gestaltung der politischen Gemeinschaften nach diesem Modeii - dem einzigen, das dem modernen Menschen vollauf entspreche und Ehre mache - erklärt Dewey für die ameri­kanische Aufgabe. Die Erfüiiung dieser Aufgabe unter den ge­gebenen kritischen Umständen scheint ihm so sehr den Einsatz

21ö

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a I I e r Kräfte der Nation zu erheischen, daß er in dieser Rich­tung zugleich die große Gelegenheit -einer r e 1 i g i ö s e n E r­neuer u n g erblickt. An allen Ecken und Enden der Welt stehe der Gewinn oder der Verlust einer guten politischen und sozialen Ordnung auf dem Spiel; da sollte, meint Dewey, die Kraft keines Herzens fernerhin dem Gott der alten orthodoxen und "übernatürlichen" Religionen geopfert werden. Dewey for­dert, daß dem traditionellen Christentum die Gefolgschaft auf­gesagt werde, damit die religiösen Triebe der Menschen endlich dazu freigelassen seien, ihren Gottesdienst als ein tätiges Ringen um die Annäherung des Wirklichen an seine idealen Möglich­keiten - hic et nunc - zu verrichten 11

Dewey hat dieses Ziel der Vereinigung von Religion mit politischem Idealismus nicht nur in unüberbietbar scharfen Thesen programmatisch vorgetragen: in drei Vorträgen, die er, fünfundsiebzigjährig, an der Yale-University hielt- sondern er hat jene ständige Umsetzung von Glauben in Tätigkeit durch sein ganzes Leben hin durchgeführt. Ein spätestes praktisches. Beispiel seiries religiös-politischen Idealismus bestand darin, daß Dewey vom 11.-17. April 1937 in Coyoacan (Mexico) den Vorsitz in jener Untersuchungskommission führte, vor der sich T r o t z k Y gegenüber den Anklagen S t a 1 i n s verantwortete und in deren Verlauf wenigstens eine "vorläufige" Tatbestands­aufnahme und Diagnose der russischen Vorgänge durchgeführt wurde 12

Der Nutzen einer solchen Veranstaltung liegt für Dewey nicht zuletzt in ihrem beispielhaften ,demokratischen' Charak­ter. Politische L a i e n orientieren sich, unaufgefordert, von sich aus, in der alten Weise Franklinseher Club-Organisation; dann aber setzen sie ihre "privatim" und "wissenschaftlich" gewonnenen Diagnosen und Urteile als mitbestimmende Pak­toren in den Vorgang der öffentlichen Meinungsbildung ein -in diesem Pali: eine aufsehenerregende und eindrückliche Warnung vor Sowjet-Rußland, seinem System und seinen Methoden.

216

II.

V o m A b s o 1 u t i s m u s z u m E x p e r i m e n t a I i s m u s.

Die ersten Studentenjahre verbrachte Dewey in dem kleinen abgeschiedenen College seines Geburtsorts Burlington (Vermont). Eine besonders strenge kirchliche Orthodoxie er­zeugte im geistigen Leben dieser Stadt eine bedrückende Athmosphäre. Der heranwachsende Junge bekam sie zu spüren. Sie wich auch im College nicht von ihm. Sein Professor der Philosophie, ein Geistlicher, (in den 70er Jahren noch lag der philosophische Unterricht in den amerikanischen Colleges fast ausnahmslos in den Händen von Klerikern), zeichnete sich, so berichtet Dewey, durch eine gewisse tiefsitzende Ängstlichkeit ("constitutional timidity") aus. Sein Vorgänger war "kühner" als er gewesen und hatte das Kirchenkollegium gegen sich auf­geregt, weil er, in Coleridges Übertragung, Kantische, liege­lische, Schellingsche Gedanken dazu heranzog, christlich-theo­logischen Lehren eine rationale Deutung zu geben. "Empiris­mus"-: E r fahr u n g s philosophie gar galt den Herren des kirchlichen Regimentes als ein eindeutiger Weg der Verfüh­rung zu moralischem und religiösem Unglauben. So konnte der junge Dewey von seinem vorsichtigen philosophischen Mentor höchstens unter vier Augen etwas Unverdecktes lernen. Als Dewey das College schon durchlaufen hatte, als er in den drei folgenden Jahren als Junglehrer in einer Schule diente, da ver­traute ihm auf langen Spaziergängen der Lehrer seine freieren Meinungen an. Auch hier noch war ihre Äußerung ängstlich. Dewey erinnert sich insbesondere an den Ausspruch: "Zweifel­los sei der Pantheismus vom Standpunkt des Intellektes die befriedigendste Form der Metaphysik - aber er stehe im Widerspruch zum religiösen Glauben." Derselbe Mann leitete zu dieser Zeit Dewey an, die deutschen Philosophen in deut­scher Sprache zu lesen. Zuvor schon, im College, hatte Dewey seinen ersten philosophischen Impuls erhalten. In einem Kurz­kurs in Physiologie, der nach einem Buch von Huxley gegeben wurde, "entstand ein großer formaler Eindruck von Einheit und

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wechselseitiger Abhängigkeit. Wie im menschlichen Organis­mus, so müßten, schien ich zu wünschen, überall in der Welt und im Leben die Dinge zur Einheit kommen. Die mußte sich je und je, im Material beliebiger Gebiete gewiß entdecke~ lassen 1

."

Das Studium der deutschen Philosophie setzt Dewey in Johns liopkins fort. Dort begegnet er dem Professor Morris. ~rofesso_r Morris hatte in Berlin bei Professor Trendelenburg dJe Schnften des Aristoteles und des deutschen Idealismus stu­diert. Morris, so erzählt Dewey, war "so gelehrt, wie enthusiastisch überzeugt von der Demonstrierarbeit der deut­schen idealistischen Philosophie, ein Mensch von so einigem Herzen und so völligen Gemüt, wie mir kein zweiter im Leben begegnet ist". Die folgenden Jahre sind für Dewey in der Er­il~nerung identisch mit der Aufnahme liegels, mit dem "Ereignis emer erstmaligen liingenommenheit meiner ganzen Natur an die Form und den Gehalt einer Philosophie". "Ein Grundverlan­gen" in ihm "griff unmittelbar nach der Weise des liegelischen Denkens aus." "Die Isolierung des Selbst gegen die Welt, der Seele gegen den Körper, der Natur gegen Gott", - das war die Erbschaft der (Vermonter) Neuenglandkultur, die er "als einen schmerzhaften Druck, ja als ein Ding, das ihn innen zerriß, herumtrug". Er war "unfähig" geblieben, in sich "diese Last aufzuheben oder sie auch nur deutlich zu bezeichnen." Hegcls Synthese von Subjekt und Objekt, Materie und Geist war für ihn "keine intellektuelle Formel, sondern wirkte als unermeß­liche Befreiung·'. Im gleichen Sinn der Niederlegung harter und geduldloser intellektueller Scheidewände wirkte auf ihn Hegels Behandlung der menschlichen Kultur, der Künste und Institutio­nen. Schon früher, in Burlington, war er auf die Schriften Com­tes .g.estoßen. Nicht das Gesetz der drei Stadien, sondern die ·:Knttk des ~esorganisierten Charakters der modernen west­h~hen Kultur war damals schon dasjenige gewesen, was auf ihn Emdr~?k machte: die Idee einer Wissenschaft als "Synthese gegenuber den Wirkungen eines desintegrierenden Individualis­mus", als "Methode der Regulierung und Organisation des 218

sozialen Lebens". "Dieselbe Kritik- aber eine weit tiefere und ausgreifendere Idee der Integration" fand er jetzt in lieget.

Nach der Promotion wanderte Dewey, wie erwähnt, aus der Heimat des Ostens an die amerikanische "Frontier": in den Mittelwesten. Die nächsten fünfzehn Jahre trieben ihn "lang­sam, fast unmerklich" von liege! fort. In der Nüchternheit und der schaffenden Energie des Frontierslebens fühlte er eine stei­gende Beschämung hinsichtlich seiner eigenen Begabung zu formalem, dialektischem und konstruierendem Denken. Durch eine ganze Zeit hin übte er einen gewalttätigen Zwang gegen sich aus im Sinne der Hinwendung zum Dinglichen und Gemein­verständlichen, das seinem spekulativen geistigen Geschick das eigentlich Entlegene, etwas von Haus aus Stumpfes und Lästiges war. Der Wille zu schlichter Beobachtung und Beschreibung der wirklichen Situationen, ebenso der Entschluß, Fragen der praktischen Pädagogik sich angelegen sein zu lassen, entspran­gen, wenn Deweys Erinnerungen recht haben, keiner ursprüng­lich stärkeren Veranlagung in ihm, sondern waren das fort­wirkende Resultat eben jenes "P r o t e s t e s gegen den Hang meiner Natur, von dem ich unter dem Gewicht der Dinge, die ich erfuhr, wußte, daß er eine Schwäche war".

Deweys erstes Buch, das in dieser Lage: unter der Nach­wirkung liegels und in der Luft des amerikanischen Mittel­westens entstand, die "Psychology" des Jahres 1886, enthält in sich, tief versteckt, diesen Kampf. Der Weg vom Absolutis­mus zum Experimentalismus, den Dewey bewußtermaßen erst seit der Begegnung mit James, also erst seit 1890, beschritt, ist unbewußt, schon mitten durch dieses Buch hindurch gebahnt. Es lohnt sich, den Siebenundzwangzigiährigen in diesem frucht­baren Moment zu beobachten, - zu beobachten, wie er da, in seinem Erstlingswerk von liegels Begriff des Geistes und der Freiheit ausgeht, wie sich aber unter der Hand - im Verlauf der Darstellung - eine eigene, ganz unhegelische Idee der Frei­heit durchsetzt und nun das ganze Buch mit einer eigentüm­lichen Spannung zwischen seiner Form und seinem Inhalt er­füllt.

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Die F o r m des Hegelischen Denkens, nach der der junge Dewey gegriffen hatte wie nach einer Weise der Befreiung von ganz innen her, wird noch jetzt (1886) von ihm so eifrig erfaßt, daß sie in seiner Hand zu einer einfachen F o r m e 1 zusammen­rückt: Gott - oder die Substanz der Welt - ist wirklich als "Freiheit", d. h. als lebendiges Subjekt. Aus dieser Formel ent­rollte Dewey den Leitfaden, den er durch seinen Entwurf einer Psychologie hindurchwarf. Diese "Psychologie", die zugleich eine Beschreibung des absoluten Weltganzen ist (vorgestellt im Leben und in der Arbeit der Seele), hat, üblicherweise, die drei Teile: Erkennen, F ü h I e n, Wo II e n. Der Leitfaden durch diese drei Teile hindurch ist der folgende: Der Mensch ist lebendiges Sub}ekt, d. h. ein Wille, sich zu verwirklichen. Der Weg dieser Selbstverwirklichung ist Erkenntnis-: "Den­ken". Die Rückstrahlung des Erkenntnisweges in die Seele nennen wir Gefühl -: das "Fühlen". Das "Wollen" schließlich - oder der Wille des Selbst, ist die eigentliche substantielle Realität desselben und ist nicht etwa als ein dritter den beiden vorherigen Prozessen der Selbstverwirklichung (Erkenntnis und Gefühl) nur angegliedert. Wille i s t schon, jenen beiden an­dern vorweg, an seinem Ziel, ist schon vollständig und univer­sal d a. Der Wille kann eigentlich nicht, wie jene beiden als ein ,Prozeß' bezeichnet werden. Vielmehr: in den Proze~sen des Selbst ist er dasjenige, was sich selber s t ä n d i g ihm vor­hält. Das Selbst erkennt diesen vollständigen Willen in sich s.elbst zwar nur in der Weise, daß es sich in jeder gegenwär­tigen Lage s o und s o begrenzt und i n s o f e r n e über sich hinausgerufen weiß. Aber es "fühlt' derweilen, daß das Ziel doch selber da ist, und es spürt in sich, daß es selbst nur dann dauernd glücklich sein kann, wenn es das Ziel erreicht haben wird. E i n e Seite der Wirklichkeit dieses absoluten Willens im Selbst ist der m o r a I i s c h e Wille als das Tätigsein das allein besonderen Erkenntnissen und besonderen Gefühlen Rich­tung, hinmit bestimmten und deutlichen Sinn verleiht. Die an­dere Seite, gegenüber dieser bestimmten tätigen, ist die um­fassende, die absolute. Das ist der r e I i g i ö s e Wille oder der 220

Glaube. Er erklärt, daß der vollkommene Wille (Gott) die ein­zige Quelle der Tätigkeit und der Wirklichkeit ist. "Der Mensch hat auf sein besonderes Leben als auf eine Unwirklichkeit ver­zichtet." Die einzige Wirklichkeit ist der universale Wille. In dieser Wirklichkeit tragen sich alle Tätigkeiten und alle Er­kenntnisse des Selbst zu und ohne diesen Willen, der Gott ist, wäre alles Gefühl zerrissen und unstimmig. Psychologie ist die Wissenschaft von der Seele des Menschen auf ihrem Gang zu Gott.

Das ist gewiß nicht zu leugnen: schon dieser Leitfaden wan­delt die Hegelische Denkweise in bestimmter Weise ab, indem er sie sehr vereinfacht und schematisiert. Von H e g .e 1 s Gr. ct als "Weltgeist", d. h. als Geschichte, ist nicht die Rede-eigent­lich nur von Gott innerhalb der viel abstrakteren "Freiheit" der Selbstentwicklung des moralischen, geschichtlich beliebig ver­setzbaren Ichs. Dieser engere, moralisch-seelische Bereich der Freiheit des Geistes ist jedoch als solcher in einer immer noch Hegelischen Breite und Helläugigkeif zu ·einer "Phänomeno­logie" des Erkennens, Fühlens und Wollens ausgefaltet und schließt sich von Kapitel zu Kapitel, von "Moment" zu "Mo­ment", zu einem immer uollständigeren Be,~rriff des Absoluten und der substantiellen Wirklichkeit der Seele zusammen-: bis schließlich der Standort Gottes ganz hineingenommen ist in das Dasein des Menschen, so daß das absolute Ende und der absolute Zweck der Erkenntnis erreicht zu sein scheint.

Dewey beginnt seine Phänomenologie der Seele mit der Feststellung, daß die Einteilung der Psychologie in Denken, Fühlen, Wollen nur als Kunstgriff der Darstellung aufzufassen sei. Das wahre Objekt der Psychologie: der Prozeß des Selbst­bewußtseins, sei in jedem Augenblick ein ganzer und einheit­licher und nicht etwa eine nachträgliche Kombination dreier selbstständiger "Vermögen". In Wahrheit hängt Wissen und Erkenntnis von Fühlen ab, Wollen von Wissen, und Gefühl ist nicht außerhalb von Handeln (also von Wille) möglich: das Selbst im Ganzen i s t indem es handelt (as it acts or reacts).

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Jeder einzelne der drei folgenden Sonderanblicke ist, als isolier­ter, nur das "Resultat einer künstlichen Analyse".

1. Erkennen.

.Es kann h_ier nicht auf ein R.eferat des höchst verzweigten und anschaulich ausgearbeiteten Details der einzelnen Kapitel ankommen:

Empfindung -: die besonderen Sinne; Wahrnehmungs­prozesse -: Apperception, Assoziation und Dissoziation· Auf­m~rks~_mkeit; Gedächtnis; .Einbildungskraft; Denken; Int~ition. Dw .Erorterungen und Darsteilungen in allem diesem Einzelnen s~ehen - wie. schon die eben zitierte Vorbemerkung (gegen d~e Psycho~?g1~ d:r drei "Vermögen") vermuten läßt - auf emem v~rhaltmsmaßig hohen Niveau gegenüber den Vorstel­lungsweis~n der damaligen positivistischen und Assoziations­p~ychologien. Nur ein paar kennzeichnende Siitze greifen wir hier und da für unsere Zwecke heraus.

Im. Ka~itel über das Urteil steht zu lesen: "Wahrheit ist die ?beremstn~mung dieses gegenwärtigen Urteils mit allen mög­h.chen damrt zusammenhängenden Urteilen, die fernerhin noch srcherg~stellt werden können. So ist Wahrheit nur ein anderer Na~e fur Vernunft (intelligence). Jeder Akt der Vernunft ist ein b.~z.rehender Akt." - Diese Sätze sind vielfacher Auslegung­fahig. Wie sie hier ausgelegt werden sollen, geht aus de~ Schlußkapitel dieses I. Abschnitts, der von der "Intuition" han­delt, hervor. Intuition ist der Titel für das, was alle die bisher ~bstrakt geschilderten Teile der Erkenntnis sind, wenn sie in rhre.r ursprünglichen Ganzheit und Einheit genommen werden. Drer Arten der Intuition, die sich äußerlich wieder unterschei­den lassen, heißen: Intuition der Welt; _ des Ichs; _ und G~ttes: Aber diese drei sind nur eins. Nehmen wir zum Bei­SPiel die W e I t als Ordnung wahr, so begreifen wir in diesem Weltbegriff zugleich das Selbst als das ordnende Handeln der Vernunft (~ntelligence), das in den Akten und im Prozeß des D~nkens diese Welt aus sich selber hervorbringt. Bekommen Wir ~ber etwa das S e I b s t , das Ich, als solches in den Blick s? blicken wir darin in bestimmter Weise immer zugleich auch die Welt an -"Welt" als den Stoff, an dem die Freiheit des 222

Ichs, dieser schöpferische Prozeß des Ordnens allein seinen Blick gewinnen, Gestalt bekommen, sich halten und fortführen kann. Es findet die Doppelbeziehung statt, "daß wir die Welt nur sehen und erkennen können, weil wir sie idealisieren und das Selbst nur, weil wir es realisieren". Beide Blicke gehen ständig ineinander über und in diesem Übergehen sind sie die Intuition Gottes. So schließt auch jeder einfachste Akt der I::r­kenntnis eine Intuition ein - denn in einem jeden solchen findet eine Einheit statt zwischen Realem und Idealem, Objek­tivem und Subjektivem. Jeder Erkenntnisakt ist hiermit eine Verwirklichung der absoluten Vernunft.

Danach ist es klar: die Wahrheit als die mögliche Über­einstimmung eines besonderen Urteils mit allen fernerhin zu­gehörigen - ist nie wesentlich gefährdet. In jedem ist Gott­oder die Vereinigung von Subjekt und Objekt, von Idealität und Realität, schon ganz zugegen und garantiert gleichsam die weiteren Abschlüsse, die, lediglich materialmäßig, noch aus­stehen mögen. Gott kann sich nicht selber aus dem Weg gehen. Die Essenz der Wahrheit ist immer schon anwesend und alles, was das Selbst zu tun hat, ist nur dies: sie zur seinigen zu machen. Bei aller Lebendigkeit (Freiheit) des Sub­jekts ist doch die Welt fertige Welt; Gott ist anwesender Gott. Aus diesem gesicherten (insoweit Ii e g e 1 - ähnlichen) Schema des Geistes bricht nun aber schon der zweite Teil des Buches aus,- viele Sätze des ersten Teiles wieder aufhebend oder in ihrem innersten Sinn verändernd.

2. Das Fühlen - wird zunächst definiert als der innere Aspekt jedes Willens- und t:rkenntnisaktes, der von beiden niemals zu trennen und mit ihnen gleichzeitig ist. Aber De­weys Beschreibungen, die nun folgen, halten sich nicht im Rahmen dieser trockenen Definition. Schon im Kapitel über die Gefühle der Sinne (sensuous feeling) finden sich Sätze wie der: Wenn das Auge sieht, fühlt der ganze Organismus die Erfahrung des Sehens. Dieser Satz geht über die These der Parallelität von Denken und fühlen schon hinaus. Er lautet beinahe so: der Körper im Ganzen ist es, der im Fühlen den

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geistigen Akt des Sehens f ü h r t. Indem die Darstellung fort­schreitet, kommt dieser Begriff der Rolle des Gefühls zu­nehmend zur Herrschaft. Im Kapitel "Intellektuelle Gefühle" wird das Verhältnis zwischen Fühlen und Denken (schließlich sogar zwischen ,,Fühlen und Logik") dahin angegeben, daß ge­sagt wird: "die Führung aller intellektuellen Prozesse durch Gefühl wird allgemein übersehen, aber sie ist fundamental". "Jede intellektuelle Tätigkeit ist auf ein Ziel gerichtet. Aber wir w i s s e n nicht, was das Ziel ist (sonst sparten wir uns den Vorgang des t:rkennens oder Suchens); wir f ü h l e n was es ist - in dem Sinne, daß wir gegebenes Material auswählen bzw. verwerfen, je nachdem es ,fühlbar' mit dem (ungekann­ten) Ziel stimmig oder unstimmig ist." An einer späteren Stelle: "Logik muß auf die wirklichen t:ntdeckungen des Verstande$ warten, die vom Gefühl geleitet sind ... Logik verallgemeinert und kristallisiert was ursprünglich in der Form von Gefühl da ist. Ein Urteil ist die Projektion eines Vor-Gefühls, daß Dinge so und so sind."- Von entscheidender Wichtigkeit im Ge­samtabschnitt über das Fühlen ist das Kapitel über die Formale­gefühle und darin der Begriff der ,,t:inordnungs-Gefühle" (fee!ings of adjustment): "Wenn die Bestandteile z. B. eines äußeren Wahrnehmung!?gegenstandes zueinander in einer so durchgängigen Beziehung stehen, daß sie im wahrnehmenden Subjekt eine woblangepaßte Tätigkeit begünstigen, so haben wir ,harmonisches' Gefühl. Ist unser Gemüt- (und Organis:. mus) - von seiten eines Gegenstandes gleichzeitig dazu ge­reizt, auf zwei We,isen zu reagieren, die miteinander unver­träglich sind, so kommt das Gefühl der Uneinigkeit und Zer­rissenheit auf. In der Form sind diese Gefühle die gleichen, einerlei, oder die Übereinstimmung oder der Konflikt ein sol­cher von Empfindung-, Verstandes- oder moralischen Bestand­teilen ist." liält man diese Sätze mit denen über Gefühl und Logik zusammen, so treibt der Text im Ganzen schon der Konsequenz zu: daß "logischer Widerstreit" nur die bewußt­seinsmäßige Kristallisation organischen Widerstreits oder eines Widerstreites in den Sachen ist. In allen diesen Beschreibun-

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gen und Analysen taucht jedenfalls - spürbar - der Begriff einer Welt auf, die nicht primär Gegenstand der Erkenntnis ist, gar einer Erkenntnis, die notwendig und immer zu ihrem Ziele kommen wird (deswegen nämlich, weil Subjekt und Ob­jekt von je schon einander zugeordnet sind), sondern einer Welt, mit der der Mensch als ein organischer Sonderteil der­selben, körperlich ringt; mit ihr kämpfend, sich in sie schickend sieht er zu, wie er mit ihr aus ihr her sein Leben - als ein immer prekäres - fristen kann. Erkenntnisprozesse verlieren nunmehr gerade an den Brennpunkten der Darstellung die tat sä chIich e Unterordnung unter ein intellektuelles Pri­mat, das nur noch formal durchgeführt wird; es gerät ganz in Vergessenheit, daß sie Stufen der Selbstverwirklichung und der Intuition Gottes sind. Sie werden zu Mitteln, I e b e n zu können, Mittel der Herrschaft in natürlichen Situationen, Mittel der Sachbewältigung. Gewiß: auch liege I wollte nichts wissen von einer Subjektivität, die nicht aus sich fort und zum Objekt kommt. Aber die Natur, in deren Dick und Dünn der junge Dewey jetzt alle "Gefühle" (genauer: alle gesunden Ge­fühle) aktiv, wählend, parteiisch, Fuß fassen läßt. indem er sagt: jedes Gefühl ist Gefühl v o n etwas, ist also wesentlich a u ß er sich und drinnen in den Sachen , - diese Natur, in die meine Seele so "intim" hineinverschlungen ist, ist nun ihrem elementaren Visum nach nicht mehr primär g e i s t i -g es Objekt, apriorisch und fertig; sie ist nicht von sich her schon "geistig", das heißt, sie steht nicht in der Rolle eines Mitunterredners in einem prästabilierten Selbstgespräch Got­tes innerhalb meiner - gleichfalls apriorischen - Seele: sie ist nicht selber ein bloßes inneres Moment der Entwicklung meines Selbst. Sondern: sie ist Natur: dieses Handfeste, zu Bewältigende. In dem Paragraphen über "Abnorme Gefühle" ist einmal die Rede von Erkenntnis, die bloß zur Schaustellung, im Interesse von Eitelkeit oder Machtgellisten gesucht wird,­und sodann von der feineren Art dieses ,,Lasters": von der eigentlichen Krankheit des 19. Jahrhunderts: "Er kenntnisliebe zum Zweck der Entwicklung des Geistes an und für sich." Wer

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solche Erkenntnisliebe zum "Laster" erklärt, ist schon weit von Uegel fort und hat "Erkenntnis" in ein Mittel des KamP -f e s mit einem von sich selbst her arationalen "L e b e n" ver­wandelt.

3. In dem Abschnitt über Wille wird das Schema der Selbst­verwirklichung und der Intuition Gottes gleichfalls durchsetzt mit Kategorien, die einen neuen und eigenen Ansatz verraten. Sie treten schon in den Kapitelüberschriften zutage: "Herr­schaft des Körpers" (physical control); "Herrschaft der Klug­heit" (prudential control); "Moralische Herrschaft" (moral con­trol). Ich greife einen Satz heraus aus dem Paragraphen über Herrschaft der Klugheit: "Die Gemütsbewegung ·des Zornes z. B. ist eine beherrschte (controlled), nicht wenn sie unter­drückt ist, sondern wenn sie so geleitet ist, daß sie sich nicht ausbreitet als vage und wilde Reaktion, sondern Denken irr Bewegung setzt und Handlung anspornt. Viele der größten Reden der Weltgeschichte und ebenso ihrer Taten des Mutes sind Beispiele beherrschten Zornes. Gefühl, das nur sich selber ausdrückt, ist unbeherrscht; Gefühl, das dem Verstand und dem Willen dient, ist beherrscht." Obwohl dies noch nicht ausdrücklich formuliert wird, zwischen den Zeilen ist es deutlich: solche Beherrschung, Verfügungskraft, Kontrolle macht jetzt die F r e i h e i t des Menschen aus. Hier hat Frei­heit nichts mehr zu tun mit einem fertigen Privileg der Gottes­erkenntnis, sondern ist schlechterdings praktisch: Freiheit ist hier soviel wie sorgen für ... ; ein Schaffen und Bewahren von Spielraum für ausschlaggebende, körperhafte Tat.

Die Gesamtstimmung dieser Darstellungen in ihrem Detaii ist von spürbar anderem Ursprung als der begriffliche Rahmen, in den sie immer wieder - formell - zurückleiten. Oft meint man Dewey noch diesseits der Kammhöhe zu sehen, auf der die Schnittlinie zwischen Iiege!s und seinen eigenen "Neigun­gen" verläuft, aber plötzlich wird man gewahr, daß er schon wieder verschwunden und zu sich hinüber zu Tal gegangen ist. Beispiel: auch für liege! nimmt der Begriff der Gewohnheit eine Schlüsselstellung ein zwischen Geist und Natur. Wenn

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aber Dewey ausführt, wie in der Gewohnheit ,.das Individuum sich als ein organischer und integraler Teil der Welt der Natur und der Welt der Gesellschaft constituiert" -: daß es nämlich kraft fester Hantierungen mitten rin beide hineinreicht und zu-: gleich aus· beiden Ausrichtung und "Gewissen" für sich ge­winnt, so führen diese Beschreibungen in eine Richtung, aus der sich Dewey nur noch mit einem harten und reißenden Ruck zurückholen kann zu dem Begriff eines Selbst, dessen höchster moralischer Zweck darin besteht, daß es sich - als ein Selbstsein im absoluten Sinne - verwirklicht. Die einem solchen a b s o I u t e n Selbst angemessene Wahrheit müßte ja eine solche sein, die alle Weisen der "Gewöhnung", d. h. der Abhängigkeit des Selbst von besonderer Natur und Lage und alle daraus folgenden notwendigen Parteinahmen eines klu­gen (,kontrollierten') Willens, wieder aufhöbe oder mit einem plötzlichen Sprung transzendierte. Solche "Aufhebung" täg­licher und persönlicher Klugheit etwa in dem Sinne, daß sie je und je nur ein Mittel, eine bloße "List" in der Hand eines. übergeordneten, e i g e n t I i c h handelnden Weltgeistes sei, führt Dewey aber gerade n i c h t durch. Die "Freiheit" seiner Subjekte erscheint zunehmend in der Gestalt einer E n t­s c h I o s s e n h e i t derselben zu klugem Kampf ,,hier und jetzt", unter prekären Bedingungen, und nicht mehr in der Gestalt einer B e s c h I o s s e n h e i t ihres W ollens in irgend einem ·ewigen Willen oder weltgeschichtlich sich entwickelnden Ratschluß Gottes. - Kurzum, der Autor ist unmerklich vom Absolutismus zum Experimentalismus übergegangen. Schon der gleich anfangs auftauchende Begriff der Intelligenz (für Vernunft), sodann der Begriff einer körperhaft-gefühlsmäßig geleiteten Erkenntnis, die angedeutete Kategorie der Gewohn­heit, die Darstellungen des Willens als Verfügungs- und Kontroll­mächtigkeit, sind Kategorien einer Gesamtauffassung, die im Menschen eine Vernunft voraussetzt, die wohl in ihrerWeit sich "versucht" (experimentiert), nicht aber ihre Welt in das eigene Selbstsein verwandeln und von ihr in einem absoluten Sinne Besitz ergreifen kann. Die jetzt gemeinte ,Vernunft' kann nur

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noch t e i I w e i s e (aus einer nie ganz aufhebbaren Parteilich­keit ihrer besonderenAktivität heraus) von ihrerWeit Besitz er­greifen. Schon mitten in diesem Buch, das äußerlich noch von Selbst und Gott in einem Atem redet, fängt Dewey weiter drin­nen in ihm an, von Gott zu s c h w e i g e n. Dieses Schweigen und Schweigen-wollen war die eigentliche Abkehr von liegel. Diese Abkehr war eine puritanische; ia, sie war- in einem be­stimmten tiefsten Sinne des terminus von Max Weber (und die­sem letzteren selber darin congenial): eine ,asketische' Abkehr2

Wie Dewey es selbst, auf seinen Entwicklungsgang .. zurück­blickend, angedeutet hat: die amerikanische Frontier, der An­blick des elementaren Schaffens und Sorgens, die da herrschten, hat ihm - gleichsam als eine einfache Form der Anständigkeit - das S c h w e i g e n v o m G e i s t auferlegt, hat ihn unver­sehens hellhörig und offenherzig gemacht für das philosophische Pathos, das in den biologischen Arbeiten D a r w in s gegen den Geist Iiegeis im Anzug war. In der aufgezeigten "Gegen­bewegung", die den spekulativen Rahmen der Psychologie des Jahres 1886 durchzieht, kann der Kenner leicht genug die Freundschaft mit Darwin spüren.

Dewey selber hat in seinem Buch "Influence of Darwin on Philosophy - and other Essays" (ed. 1910) das Wesentliche der "Revolution", die Darwins "Origin of species" gegen eine zweitausendjährige Tradition hervorgebracht habe, darin ge­sehen, daß Darwin dem Galileischen Ausruf über den "herr­lichen" Reichtum von Ul)aufhörlichen Möglichkeiten "spezi­fischer" Veränderungen (als einer Anschauungsweise der modernen P h y s i k) endlich auch in den Wissenschaften der Moral und Politik Resonanz verschafft habe -: indem er zu­nächst das Zwischenreich des Lebens und des Organischen diesem Gedanken erschloß. Jetzt kann üb e r a II eine neue Logik zur Herrschaft kommen. Philosophie kann ihr Forschen nach absoluten Anfängen und absoluten Abschlüssen ab­schwören zugunsten von Untersuchungen s p e z i f i s c h e r Werte und spezifischer Bedingungen, die sie hervorbringen. Statt über "Idee" ( eillo;) als göttlichen Plan und über "Fort­schritt" als die innere Entfaltung desselben romantisch zu räsonnieren, wird jetzt das Harte gewußt, daß es schlechte und gute Pläne gibt - und daß die entscheidende Auswahl

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,von außen' ("zufällig") komm~n mag, so daß es z. B. ein blutiger Ernst ist, ob Gelegenheiten ergriffen oder "verpaßt" werden. Statt allgemeiner Theodicee gilt jetzt "spezifische Sorgfalt für organische Möglichkeiten an Ort und Stelle". -Und schließlich (und nicht zuletzt): indem Darwins "Origin of Species" alte Fragestellungen faktisch sprengte, gab dieses Buch zugleich eine für alle frühere und künftige Philo­sophie f und a m e n t a I e Lehre zu verstehen. "Es besteht immer noch die Überzeugung - obwohl sie angesichts der Geschichte eine bloße Halluzination ist - daß alle Fragen, die der menschliche Geist gestellt hat, Fragen seien, die mit den Denkmitteln der betreffenden Alternativen, die diese Fragen von sich aus vorschlagen, beantwortet werden könn­ten. Tatsächlich kommt es zu geistigem Fortschritt meist dadurch, daß die Frage selber zusammt den Alternativen, die sie fixieren möchte, glattwegverschwindet, - ein Ver­schwinden, das die folge von ihrer abnehmenden V i t a I i t ä t und die Folge eines faktischen Wechsels der Notwendig­keiten und der (entsprechenden) dringendsten Interessen ist. Wir ,lösen' die Frage nicht; wir werden sie los." - Das ist Darwin gegen liege! -, jetzt (1909) in einer Klarheit, die 1886 nur erst "Vorgefühl" war 3 •

Das Ereignis, welches damals bewirkte, daß alle die ver­schiedenen Einflüsse und die noch uneinigen Tendenzen des eigenen Nachdenkens, die ihn zunehmend aus der Welt Kants und Iiegeis loslösten, auf einen Punkt hin zusammenschlossen, war die Lektüre der 1890 erschienenen zweibändigen Psycho­logie von William James, insbesondere der Eindruck, den die biologische Grundtendenz dieses Werkes auf ihn machte. Der Punkt, um den nun alles bisher Gedachte sich neu kristalli­sierte, war der Begriff der Aktion, der Ii an d l u n g. Denn dies war es, was ihm bei der Lektüre des J amesschen Werkes mit einem Schlag einleuchtete: daß ein tief und allseitig auf­gefaßter Begriff des Ii a n d e l n s für diese biologische Psycho­logie das belebende Ii erz sei. Daß Dewey bei dieser Begegnung mit James das Gefühl hatte, daß ihm die Schuppen von den Augen fielen, d'aß er andererseits der J amesschen Denkart als­bald ins Herz sah, geschah freilich nicht zufälligerv.•·eise. Nicht nur Darwin hatte ihn in diesen Jahren auf James innerlich

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vorbereitet, sondern neben Darwin noch ein ganz anderer: Leib n i z. Dewey hatte jener "Psychologie" des Jahres 1887, in der in der geschilderten Weise liege! mit Darwin rang, eine Monographie über Leibniz folgen lassen 4

• In diesem schönen Buch, dem liebevollsten, verehrungsfreudigsten, das wir von Dewey besitzen, hat er die Überwindung der Lockeschen Ab­straktionen und atomistischen Psychologie durch Leibniz' "le­bendige Begriffe", vor allem den Be,griff eines innigst, in allen seinen Teilen zusammenhängenden tätigen Weltganzen ge­feiert. Wenn Locke den Begriff der "Substanz" dadurch ge­wann, daß er von allen erfahrbaren E.igenschaften der Dinge abstrahierte, so begriff umgekehrt Leibniz die "Substanz" nicht als dieses übrigbleibende Leere, sondern als das Konkrete der Dinge, als das E.lement ihrer Lebendigkeit, Täbigkeit: "sub­stance c'est l'action". Diese beiden Grundgedanken, die er in Leibniz' Leben und Werk bis in ihren, feinsten spekulativ­logischen Gehalt und gleichzeitigen psychologischen Scharf­blick hinein darstellt: den Gedanken "Substanz ist Handlung" und den Gedanken der Kontinuität, des lückenlosen Zusammen­hangs der Natur im Ganzen, brachte Dewey als die beiden wesentlichen Kristallisationsfermente mit in die ,,Entdeckung" der Jamesschen Psychologie. In James fand er den Mann, der moderne biologische Methoden und Einsichten so handhabte, daß sie das Prinzip "substance c'est l'action" exakt dem o n­s tri e r t e n; zugleich den Mann, der, dementsprechend, dazu gerüstet war, ,Kontinuität' wiederherzusteilen zwischen Gegen­standsbereichen, die die zeitgenössische Philosophie und aUge­meine Denkwe'ise gegeneinander zu isolieren trachtete. Leib -n i z hatte die Führung 5 , wenn Dewey das Hauptverdienst von James alsbald in zwei Punkten sah, die er (später, rück­blickend) in die beiden folgenden rühmenden Sätze zusammen­faßte: "unter den vrielen Philosophen, die von Organismus redeten (den Begriff aber struktural und somit statisch faßten), blieb es James vorbehalten, Leben als Phänomen der Ii an d­I u n g zu begreifen (to think of life in terms of life in action)". Und: unter dem Oberbegriff "Handlung" gingen bei James die

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Phänomene des Vitalen und des Geistigen k o n t i n u i e r -I ich ineinander über.

Die Kontinuität zwischen Vitalem und Geistigem sah De­wey in der Jamesschen Psychologie, - nicht zwar in aiien ihren Teilen, aber überall da, wo sie seelische Phänomene als objektive Phänomene des Handeins darstellte, in folgender Weise gewährleistet: --<

d

Gleich in dem objektiv-biologischen Kriterium, das James für das, was "geistig" sei, aufstellte, war der Zusammenhang von Leben und Geist zum Grundsatz erhoben: "die Verfolgung zukünftiger Zwecke und die Wahl der Mittel zu ihrer Erlangung sind das Zeichen und Kriterium der Gegenwart des Geistigen in einem Phänomen." James habe diesen Gesichtspunkt nach allen Seiten hin zur Durchführung gebracht. Z. B.: Die gei­stige Leistung der A u f m e r k s a m k e i t faßt James als eine teleoJo,gische Punktion der Auswahl und Integration der­art, daß sie jeweils als Korrelat eines (vitalen) "Interesses", durch das sie ausgerichtet und kontrolliert wird, stattfinde. In seinem Kapitel über "Unterscheidung und Vergleichung" zeigt James, wie inteiiektuelle "Analyse" und "Abstraktion" je geweckt und geleitet wird von einer Hinwendung auf zu Erlangendes und von einem Zugriff auf die angemessenen Mit­tel; in seiner Theorie der "Begriffsbildung", wie allgemeine Vorstellungen als Bezeichnungen einzelner Dinge weder bloße Abstraktionen aus einzelnen fällen, noch Erzeugnisse über­empirischer Punktionen sind, - sondern wiederum teleologi­sche Instrumente; in den Erörterungen über "Notwendige Wahrheiten und die Rolle der Erfahrung" zeigt er in einer Auseinandersetzung mit Spencers Biologismus, daß das Kri­terium für den Wert eines Begriffes nicht im Bereich seines Ursprungs liegen kann, sondern im Bereich seiner Anwendung, die durch lebendige Situationserfordernisse determiniert sei, zu suchen ist. "Iiier haben wir den Embryo des ganzen Gehalts des Pragmatismus." Worauf derselbe abhebt, habe James prägnant in den Satz zusammengezogen: "die populäre Vor­stellung, daß die Wissenschaft (und ihre Denkformen) dem

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Geist ab extra aufgezwungen werden und daß unsere (Lebens-) Interessen nichts mit ihren Konstruktionen zu schaffen hätten. ist schlechthin absurd 8."

Wir halten hier ein. Dewey selbst bricht an diesem Zeit­punkt - des Begegnisses mit der Jamesschen Psychologie (die anders als sonstige Bücher eine wahre R e v o 1 u t i o n seines Denkens bewirkt habe) seine Lebensskizze ab. Den Rest zu schildern, war ihm zu langweihg.

Er fügt nur noch an, daß von da ab vier Gesichtspunkte für seine Arbeit leitend geblieben seien 7•

1. Leitender Gesichtspunkt blieb ihm, in der Jamesschen Psychologie die subjektivistische Seite auszuscheiden - näm­lich die Seite, daß da James zwar immerhin von einem S t r 0 m des Bewußtseins rede (vgl. oben S. 195), aber eben doch immer noch von "Bewußtsein", als sei dies eine eigene "innere Welt", die in sich selbst ruhend da sei. Diese subjektivistische Über­bleibs'el bei James habe er ausgeschieden; die andere, die (soeben umrissene) objektive Tendenz bei James, die in ge­wisser Weise eine Erneuerung des Aristoteles gegen Descartes bedeute, indem sie mit einem Ruck die Philosophie aus den Banden des subjektivistischen Idealismus losreiße, habe er zur Konsequenz getrieben, - also: die Lehre, daß Bewußtsein umweltlieh bedingtes Handeln sei. Er habe sich entsprechend zur Aufgabe gemacht, alles Psycholo&Jische begrifflich streng und durchgängig als Handlung - als Betragen (behaviour) zu fassen, m. a. W. als natürliche, ringsum offene, umweltlieh bedingte Vorgänge (events), nicht aber als ein inneres Reich der Seele.

2. Er habe gefunden, daß sich, sobald man diesen metho­dischen Standort einnehme, menschlich-seelische Vorgänge von andern Naturvorgängen dadurch objektiv unterscheiden. daß sie Kommunikationscharakter zeigen: es findet in ihnen stets (wenn auch in noch so rudimentärem Sinn) Re d e statt. - d. h. ein Einreden und Hören auf andere oder Dinge (com~ rnunication). Dieser Redecharakter des m e n s chIich­seelischen macht es zum "geist i g"-seelischen. Die James-

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sehe Gleichsetzung des ,,Geistigen" mit "Handeln im Vorblick auf Zwecke und Mittel" (s. o. S. -) wird hier dahingehend ver­tieft, daß gezeigt wird, wie jener Vorblick auf Zwecke und Mittel kerin "einsamer" Vorgang ist, sondern ein Sich-Mit­einander-Verständigen zwischen einem Einz'Clnen, seinen An­dern und seinen Dingen, voraussetzt. "Geist" ist in der Tat (wie J ames ihn begriff) eine spezifische Weise des Handeins; das specificum dieses Handeins aber ist, daß es Handeln z11 Zweien, soziales Handeln, Partnerschaftshandeln ist 8

• Von dieser Wahrnehmung aus habe er sich die Aufgabe gestellt. bestimmt philosophische Grundbegriffe und Theorien zu re­konstrui_eren. "Rede", anders ausgedrückt: Handeln auf ein Du hin, an welches das Zuhören und Mitteilen sich wendet, müsse, so fand er, als primum datum alles Seelischen auch die Grundgegenstände der Philosophie konstituieren. Insbesondere bei der Behandlung der "Logik" gelte es, daran zu denken, daß sie, auf ihren ursprünglichen Gegenstand gesehen, die Wissenschaft von der R e d e (Aoyo~) in dem erörterten elemen­taren Sinne, also eigentlich: die Wissenschaft vom Handeln zu zweien, ist.

3. Er habe es für einen intellektuellen Skandal gehalten, daß sich in der modernen Philosophie eine doppelte Logik bre1t gemacht habe, nämlich eine Logik für die Naturwissenschaft und eine zweite ganz andere Logik für die moralischen oder (wie wir sagen) Geisteswissenschaften. Man müsse das Denken als Instrument des menschlichen Lebens so radikal zu fassen suchen, daß es sich in beiden Gebieten als das grundsätzlich g I e i c h e Instrument d. h. ohne einen Bruch der natürlichen und logischen K o n t i n u i t ä t nachweisen lasse.

4. Er habe se,in Leben lang Phi I o so p h i e und Er­z i e h u n g für e i n und die s e 1 b e S a c h e gehalten und habe sie als diese Einheit bearbeitet.

Die sachlichen Gesichtspunkte eins, zwei, drei werden wir in den beiden folgenden Kapiteln am Werke sehen. Das vierte Anliegen aber, das Dewey hier nennt: Philosophie und Er­ziehung ein und dasselbe sein zu lassen, ist ein wesentliches

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dern zu ... : im Treiben und Vertrieb der Welt, denm Eilboten zu ienen langsamen, gelassenen und ausdauernden Einsamen ausreiten, um die eigensinnigen Geschenke ihrer Liebe sich zu nehmen und für den Lauf des Tages recht und fertig zu machen. So findet, zum mindesten mittelbar, eine fleimkehr aus dem Zustand der Reflexion zur Weltfreundlichkeit statt, und kann sich das losgetrennte philosophische Symbol tagtreue Erfüllung erzeugen. Es ist ebenso unmöglich, Liebe und Zeugung aus dem Begriff des Denkens hinauszuweisen, wie es unmöglich ist, Denken und Abgrenzungen aus dem Begriff des Künstlers zu verbannen. Betroffensein, Teilnehmen, Sich-sorgen (concern, interest, caring) machen das Leben des einen wie des andern aus. Es ist eine bedeutsame Ironie, daß der alte Streit zwischen dem Philosophen und dem Dichter von einem Menschen erst­mals aufgebracht wurde, der mehr als irgend ein anderer Ein­zelner die Wesenszüge beider, des Künstlers und des Metaphy­sikers, in sich vereinigte. Im Grunde ist der Streit nicht ein solcher zwischen Gegenständlichkeiten, nicht einmal ein sol­cher zwischen Methoden, sondern ein Kampf zwischen Nei­gungen des flerzens. Und in allen Trennungen der Liebe wohnt die Einheit dessen, der liebt. Weil P 1 a t o so groß war, war er so geteilt in seinen Meinungen. Ein geringerer Mensch konnte diese zerrissene Liebe nicht ertragen, in deren Namen iener den Dichter und den Philosophen gegeneinander aufrief . . . Und wiederum E m e r s o n stünde gegen uns auf, wofern wir ver­suchten, seinen äußersten Wert zu übertreiben, indem wir ihn auf die flöhe einer Kunst hinaufheben, die höher liegen soll als die flöhe der Philosophie. Er als erster würde auf die Verächt­lichkeit des Unternehmens hinzeigen, mit dem wir etwa seine schöpferische "Substanz" emphatisch auf Kosten seines reflek­tierenden Verrichtens preisen wollten. Denn irgendwo sagt er doch dem Sinn nach dies: der einzelne Mensch als Dasein sei eigentlich M e t h o d e: Substanz und Fülle umdrängen als Natur und Geschichte das menschliche Dasein in jeder Stunde seiner Alltäglichkeit. "W a h r h e i t" liegt auf der Straße, auf der alle gehen: die Philosophie ist - gleich dem Dasein des 236

Menschen selbst, (nur in bewußterer Weise) - die Methode ihrer Entdeckung. Aufgabe der Philosophie als Kunst ist es, den gemeinen Alltag zu seiner tiefsten möglichen Kraft entschlossen zu machen, ihm die Wahrheit aufzudecken, die je schon an die Erfahrung jeglicher Stunde als ihr möglicher Reichtum an­drängt - aus den Erzählungen der Geschichte, aus der An­wendung von Wissenschaft, im Gerede zwischen Nachbarn, auf den Austauschwegen des flandels und Verkehrs.

Wenn Emerson da, wo er auf die Chronologie der Ge­schichte zu sprechen kam, das D o r t und D a mal s als eine wilde und rohe Lächerlichkeit preisgab, so zog er damit zu­gleich den Trennungsstrich, der ihn vom "Transcendentalis­mus" seiner Zeitgenossen, der der Idealismus einer Klasse ist, abscheidet. Es ist eine traurige Wahrheit, daß der Idealist zu oft mit dem Sensualisten sich verschworen hat, dem Jetzt, das ein Drang und ein Übergang ist, Wert und geistigen Charak­ter abzustreiten. Dank der gemeinsamen Arbeit dieser schlech­ten philosophischen Verschwörung geschah es, daß der ge­meine Mann nicht Idealist ist, oder zum mindesten dies von sich selbst nicht weiß. So sind es die Menschen, denen ihre Erde geraubt wurde, die Emerson zu sich selber zurückbringt. Wenn der Mensch krank ist, unfähig, von einer niedrigen Hartnäckig­keit und voller häßlichen Argwohns, so nur deswegen, weil so viel von seiner Natur ihm widerrechtlich vorenthalten wird.

Gegenüber Konfession und System, Konvention und Anstalt steht Emerson dafür auf, daß dem gemeinen Mann das wieder ausgehändigt werde, was Unterschlagungslust im Namen von Philosophie und Religion, Kunst oder Moral dem gemeinen flaushalt entwendet hat. und in den Bereich sektiererischen und klassensicheren Genusses abtrieb. Über das Maß eines jeden andern hinaus, den wir kennen, hat Emerson begriffen und er­klärt, wie solche schlechte Veruntreuung Wahrheit aus ihrer Schlichtheit herausdrängt, sie zur Anmaßung besonderer Ver­walter vereitelt, die um sie wie um ein Eigentum eifern; wie Wahrheit nun zu einem Kunststück in den fländen von Theo­logen, Metaphysikern und Literaten wird - oder zu einem

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rätselvollen Erstaunlichen: zu dem \Vunder eines auferlegten Gesetzes, eines ganz unerwünschten und in keiner Echtheit je möglichen Gutseins.

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In diesem Zusammenhang nennt Dewey Emerson den Philosophen der Demokratie und stellt ihn - anderen Orts - mit Maeterlinck zusammen". In bezug auf Beide sagt er, daß wir von ihnen noch heute nicht gelernt hätten, wie ein unwissender, lichtscheuer, teils "feudaler", teils romantischer liang zum Mythologisieren uns immer wieder in die Niede­rungen einer Ehrfürchtigkeit hinabdriicke, die sich ausschließ­lich als Ehrfurcht vor dem Außerorden t I ich e n äußern kann. Es wird noch lange währen, bis der Mystizismus unter uns als naturalistischer -so wie er Maeterlinck und Emerson auszeichnete - stark wird. Auch der erstere, Maeterlinck, erlebte eine Bekehrung seiner Kunst: die. Umwendung vom "Feudalismus" zum Naturalismus 3

• Seine früheren Dra­men enthalten eine feudale Metaphysik. Gelübde, Gebete, tiefe Unruhe, wortloser Gehorsam, loyale Ignoranz, Liebe, die dunkel in ihr Schicksal geworfen ist, Angst, die gebannt um ihren Tod kreist, leihen den Schauplätzen eine wirre Schön­heit. Aber In t e 11 i g e n z: das fragen als verwegener Vor­stoß in mögliche Offenbarkeit, handelt in diesen Szenen nicht. Der spätere Maeterlinck hat gelernt, daß "kein Licht gefähr­lich ist"; er liebte- ohne jede Ausflucht- die Wissenschaften und ihre liilfe; ihre gesunde Neugier; ihre ernste Wunder­losigkeit. Er hat sich völlig von dem Vorurteil gelöst, daß mystische Unendlichkeiten den Menschen nur in den Augen­blicken begegnen könnten, wo ihre Lippen ein credo quia ab­surdum lallen. Zugleich wurde ihm Emerson zum Philosophen des Alltags. "Und der Alltag ist die Substanz unseres Seins." Inmitten solcher Gegenwärtigkeit des Substantiellen läßt der Künstler die Eifrigkeit der Einschätzung seiner selbst als eines "Epigonen" dahinfahren, -jene schützende Maske über seiner Abtrünnigkeit vom Gemeinen. Nehmen wir irgend eines der großen Werke zur liand, in dem die Vergangenheit unternahm, dem "unendlichen Geheimnis" ein Denkmal zu schaffen, (wie etwa die Göttliche Komödie des Dante), so sehen wir, daß je seine liärte, Gewalttätigkeit und Enge nur die seinigen sind, und daß seine Schönheit, seine Fähigkeit, die Leidenschaft still und die Stimmungen wach zu machen, aus den natür­licheren, gerechteren Blickweisen stammt, die die unsrigen sind, und daß sie aus dem unerschöflichen Gehalt des täg-

liehen Lebens fließt, den alle Zeitalter miteinander gemein haben. Die übernatürlichen und metaphysischen Unendlich­keiten der Vergangenheit waren leere Räume, die natürlicher Reflexion keine Anhaltspunkte darboten. Sie waren abge­sprengte und entwendete Unendlichkeiten; sie standen nicht in da·s Leben in jedem seiner Augenblicke herein, sondern nur an einigen willkürlichen Punkten, während die Unendlichkeit der Natur, ihrer Kräfte, die uns tragen und überdauern, gleich­mäßig an allen seinen Punkten in unser Dasein eintreten. Wir versäumen, uns über den verkrampften und verstümmelten Entwurf, in den das Unendliche dort als ein Bekenntnisartikel verbracht wurde, zu wundern, weil wir dem dortigen Begriff des Unbekannten weitherzige Räume zugesellen, von denen wir nun in wunderlicher Illusion glauben, daß jene Menschen vergangeuer Zeiten wacher als wir selbst für sie gewesen seien.

Das Kriterium der Echtheit bringt man an jede Philosophie durch die frage heran, wie viel Leben sie als entdecktes dem gemeinsamen Manne zurückgibt. Eine neue Lehre, sagt Emer­son, erscheint auf den ersten Blick wie eine Umkehrung aller unserer Meinungen, Geschmacks- und Betragensweisen. Aber schließlich muß sich zeigen, daß es nicht "eine verkehrte Welt", sondern eine schlichte, natürliche lialtung ist, die der Denker dir zurückbringt ... "daß das große Wort, wenn es ihm endlich gelingt, nur eine vertraute Erfahrung des Menschen auf der Straße offenbart".

Der Platoniker lehrt die Immanenz absoluter Ideen in der Welt und im Menschen: daß jedes Ding und jeder Mensch an einem absoluten Sinn Teil hat, der in ihm sich vereinzelt, und durch den er, dieser einzelne, Gemeinschaft hat mit den an­dem. Aber im Laufe der Zeit machte sich diese Wahrheit des Universums zu einer leichten und selbstgefälligen Lehrbarkeit heraus; sie wurde irgendwie zu einer Wahrheit der Philoso­phen, eine Wahrheit privater Auslegung, in die einige Menschen hinaufreichten, andere nicht, die folglich für einige wahr wurde, aber nicht wahr für andere und sonach nicht völlig wahr für irgendwen. Immer wieder hat demgegenüber der echte Philo­soph gewußt, daß Wahrheit keine Lehrbarkeit und kein Eigen-

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turn ist: Wenn es je einen Menschen gab, der Metaphysiker aber bereits auch Professor der Metaphysik war, so ist es Immanuel Kant. Und doch erklärt er, er müsse sich für wert­loser halten als einen Tagelöhner auf dem Felde, wofern er nicht glauben könnte, daß auch er, selbst im entferntesten Be­reich seiner technischen Unterscheidungen und Einteilungen, den Kampf der Menschheit vorwärts trage, den sie um Freiheit - d. i. Erheiiung - kämpft.

"Wir sind versucht zu sagen,~daß Emerson der erste und bis jetzt fast der einzige Christ des In t e I I e k t e s s e i." Verstand und Vernunft verführten ihn zu keinem Treubruch <ier Liebe. "Aus Emersans Ehrfurcht für die I n s t i n k t e und T r i e b e unserer s c h I i c h t e n N a t u r werden zu ihrer rechten Zeit Sätze, Systeme und logische Auslegungen der Welt hervorgehen. Dann werden wir eine Philosophie haben, <lie zu schelten Religion keinen Ruf verspüren wird, zugleich eine Philosophie, die sich auf ihre Freundschaft mit der Wissen­schaft und mit der Kunst versteht." -

Mit solcher spürbaren Erregung und Feierlichkeit hat Dewey selten geschrieben. Zugleich aber heben sich aus der aUgemei­nen Feststimmung dieser Rede drei p r ä z i s e Richtungen heraus, in denen Dewey das geistige Erbe Emersans bewahrt und entwickelt sehen will. Diese drei Richtungen sind die ge­sinnungsmäßigen Hauptmotive seiner eigenen Philosophie ge­blieben:

1. In Emersans Preis des Schweigens entdeckte Dewey die Idee eines vorlogischen Verständnisses der Welt; oder die Idee einer aiier Satzlogik gegenüber ursprünglicheren Logik. Diese Idee der Logik hat Dewey, wie sich zeigen \Vird, ausgeführt. Eine "satzlose Logik" waltet in aiien Formen des reflexions­losen Umgangs: im stimmungsmäßigen Angesprochensein und Vernehmen; im tätig-einfachen Sich-Einspielen, Mitspielen und Entgegenspielen; im schweigenden "Einverständnis" usw.

2. In Emerson, dem P o e t e n , entdeckte Dewey die Idee <ier Philosophie als einer zur Kunst erhobenen Weise des Da-

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seins selbst, in der es sich die Substanz seiner Welt als seine eigenen, zu enthüiienden Möglichkeiten vor sich bringt und so sich selbst als ein Können und als Kunst-: als Weg (Methode) versteht. Auf Grund dieses Begriffes vom menschlichen Da­sein werden Philosophie, Kunst und Methode (Wissenschaft) untereinander auf die gleiche Ebene der Bodenständigkeit zu­rückgebracht.

3. Aus Emersans "naturalistischem Mystizismus" und seiner Antifeudalität" griff Dewey die Idee auf, daß Wahrheit hier ~nd j e t z t ist. Daß sie sich in kein Abseits des Besitzes ent­wenden läßt, sondern zur Offenbarkeit nur kommt, wenn sie in der Offenheit des Tages sich hält und dessen Not und Nächtig­keit die liand zur Hilfe reicht. Wahrheit kann im einzelnen Menschen, wofern sie statt Aufschluß von Können im Umgang mit der Welt der Sachen oder statt Aufschluß von Kommuni­kation im Umgang mit den andern, nur erst eigener Besitz ist, nur als ein Sich-schämen sein; nicht als Recht gegenüber der Hartnäckigkeit der Welt und nicht als ein höheres Recht-haben gegenüber dem Stumpfsinn der vulgären Verständigkeit. Und selbst diese reine Innerlichkeit der Wahrheit, die als Un­sicherheit des Schämens möglich ist, steht je schon in der Oe­fahr ihrer Vereitelung, da der Verfaii dieser Innerlichkeit an die Stille eines Geheimnisses, das sich an seiner eigenen Ver­schwiegenheit ergötzt, immer bevorsteht. Wahrheit erweist sich noch in diesen geheimsten und verführerischsten Spuren ihres Verfalls als das, was sie wesentlich ist: "Entdeckung" (dis­covery), als welche sie alle Weisen von Verdecktheit, auch die innerlichsten, nicht zuläßt.

Das Wesen der Wahrheit, so gefaßt, trägt keine Emphase. Sie ist, als liandeln, in dessen ringsum offene Helligkeit ver­bracht. Sie sucht nicht das ihre. Sie freut sich über jede Ent­hüllun.l?: und Zurechtweisung, die ihr aus dem Gelächter der klugen Welt zustößt. Sie ist, als Liebe zu dieser Welt, nüchtern.

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Il. Kapitel:

DER ZUSAMMENHANG DER MOMENTE

DES MENSCtlLICtlEN BETRAGENS

Das methodische Prinzip, das sich durch die Arbeiten De­weys vom Jahre 1890 ab zieht, ist die einfältig-klare K o n s e -q u e n z , mit der er den von ihm entdeckten halbseitigen An­satz der Jamesschen Psychologie -: die b i o 1 o g i sch-ob -j e k t i v e T e n d e n z derselben - aus ihrer Konfusion mit jener andern, subjektivistischen Tendenz herausgelöst und zu einer vollständigen Systematik des menschlichen Betragens zu Ende verfolgt hat. Alle rückfälligen Bestandteile der James­schen Psychologie: insbesondere alle Schemata eines isoliert angesetzten inneren Bewußtseins, schied er, wie schon erwähnt, aus. Dazu gehörte auch das Jamessche Bild des "Bewußtseins­stromes". Bei allen seinen Vorzügen gegenüber dem Locke­tlumeschen Mosaik vereinzelter Bewußtseinsteilchen, ließ auch dieses Bild noch immer die in ihm verstandenen psychologischen Phänomene eingebettet bleiben in einer abgesonderten reinen Subjektivität des Subjekts 1 • So wird noch immer die Seele gegen die Natur, das Individuum gegen die Welt künstlich iso­liert. Das Grundschema einer radikal empirischen Psychologie muß an die Stelle des Begriffes vom "inneren Strom" den Begriff des Kreislaufes setzen, als welcher die äulfere wirkliche Welt miteinbegreift Im offenen Kreislauf zwischen zwei aufeinander bezogenen Aktionspolen: Ich und Umwelt, kommen seelische Phänome zustande als Spannungsverhältnisse innerhalb dieser

Handlungsganzheit Seelisches wird dementsprechend von Dewey als ein

bestimmter Zusammenhang von Interaktions- P h ä n o­m e n e n gefaßt: als ein eigentümlicher Zusammenhang fak-

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tischer Betragensweisen eines bestimmt ausgestatteten Or­ganismus in und mit seiner Welt. Zu diesen Betragens­weisen. gehört alles das Verschiedene, was man als D e n k e n (~eflexwn); Gemütsbewegung (Emotion); ferner auch als das tiefere halb- oder unbewußte Triebleben (Impulse Drang der Instinkte) aufführt. Indem nun aber die Lebendigkeit der Im­pulse (Instinkte), üer Gefühlsspannungen, der Denkverrichtun­gen nicht als ein innerer seelischer Ablauf gefaßt wird sondern jeweils als eine Weise des "Betragens" in der Welt, ~der: der Inter-aktion mit ihr, so ist an diesen Akten die W e 1 t von vorn­herein gleich sehr beteiligt wie der betreffende Organismus Es sind nicht Ich-Akte, sondern Ich-und-Welt-Akte. Seelische~ ist ~o ein von vornherein offener Kreislauf Ich-Welt. Ferner: mdem Dewey schon im terminus des "Betragens" das Ich und seine Welt in Interaktion miteinander gesetzt hat - hinmit in einen kontinuierlichen "Z u s a m m e n h a n g" - geschieht es daß, eingespannt in dieses umfassende Spielfeld, die einzelne~ Ich-Akte (wie Trieb, Gefühl, Reflexion) auch ihrerseits nicht mehr statisch abhebbare Seiten oder Stufen des Bewußtseins sind, sondern einander zugeordnete, aufeinander eingespielte Momente der einheitlichen Interaktion Ich-Welt. Vom Grundzusammenhang Ich-Welt her gesehen, erscheinen alsbald Triebe, Gefühle und Denken in einem dynamischen und ein­heitlichen Punktionszusammenhang. Was ist "neu" daran? "Ungefähr so" hat auch eine "altmodische" -Philosophie u~d,;sychologie die Dinge angesehen. Wohl hat man "einge­tellt ; daß aber Triebleben, Gefühlsleben und Verstandesleben irgendwie und "im Grunde" miteinander zusammenhängen, hat weder Locke noch Kant, noch auch Wundt (der Einteilungen so sehr liebte) geleugnet. Das "Neue" ist, daß Dewey zeigt, wie diese verschiedenen ". . .-Leben" "im Grunde" miteinander zusammenhängen. Die Spekulationen darüber ersetzt er durch eine einfache Beschreibung der Betragensweisen selbst, die von sich aus sehen lassen, w i e sie miteinander zusammenhän­gen. Warum sah man oder beschrieb man dies nicht zuvor in dieser (angeblich) einfachen Weise? Dewey antwortet auf

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diese frage: dies konnte man solange nicht tun, als man vom Primat des Bewußtseins ausging. Primär gegeben, so wurde seit Descartes gelehrt, sind Bewußtseinsdaten. Nun entsteht nicht nur das Problem der "Außenwelt" als ein Vexier-Pro­blem, sondern alles was nicht "reines" Bewußtsein ist, fängt an, als etwas g e g e n das Bewußtsein "An d e r e s" betrach­tet zu werden: z. B. die Triebe, die Gefühle. Sie sind nicht nur etwas anderes als Bewußtsein, etwas anderes als das reine (clare et distincte) Gedachte, sondern etwas "Unteres", zu Er­lösendes usw. liiergegen war es nur ein (ebenso bodenloser) Gegenschlag, wenn James etwa, (entgegen seinen besseren Einsichten), ebenso Bergsou und andere "Lebensphilosophen", nun umgekehrt die Instinkte, Gefühle gegen den Verstand prie­sen und ausspielten. Wieder richtete sich die Arbeit der Denker darauf, ihre selbsterrichteten Trennungen, hierarchischen Ein­teilungen zu verteidigen, - also: zu spekulieren, statt den ge­meinsamen natürlichen B o den zu untersuchen, in dem die verschiedenen Phänomene ihren U r s p r u n g und in dem sie den Grund eines einheitlichen Punktionszusammenhanges haben. Das "Neue" an Dewey ist, daß er mit dem cartesiani­schen Anfang im Bewußtsein- mit diesem grundlegenden Sub­jektivismus - von Grund aus und vollständig gebrochen hat. Er setzt an beim Ich als einem sich-in-der-Welt-betragenden­Ich. Von diesem Ansatz aus ergeben sich dann nach allen Seiten hin allerdings überraschend neue Theorien.

1. Im Bezug auf das vom Bewußtseins-Rationalismus so­genannte ver wo r r e n e Innere -: die Gefühlserregungen,

zeigt Dewey

a) wie sie gerade nicht im Gegensatz zum klaren Verstand, sondern im genauesten Zusammenhang mit ihm, nämlich: im aufzeigbar s e l b e n Moment menschlichen Betragens ent­springen. Dieser Moment ist derjenige, wo Seelisches über­haupt in dem schon angeführten Sinn von R e d e hervorbricht. Alle Rede, (durch die sich menschliches gegen rein animalisches Verhalten scharf unterscheidbar abzeichnet) hat diese zwei Seiten: Emotionalität und Rationalität. "Rede" mit Dingen wie

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mit Menschen entspringt in dem Augenblick, wo meine trieb­haften Aktionen und Reaktionen ihnen gegenüber (infolge natür­licher Ursachen) den Charakter der Zweifelhaft i g k e i t, Pr a glich k e i t annehmen: Wer und was bist Du? Was soll ich gegen Dich tun oder nicht tun? Als so befragte werden die Dinge und andern Menschen zum Gegen-Ich, zum "Du", das möglicherweise mitspielt, möglicherweise entgegenspielt Wäh­rend auf solche Weise Rede als liandeln zu zweien entspringt, übt zugleich ihr Ursprung: die Situation der Unsicherheit, Prag­lichkeit, zwei Wirkungen aus. 1. Sie regt mich auf: wirkt sich e m o t i o n a l in mir aus, in Gefühlserregungen, 2. treibt mich zu Auflösungsversuchen, zum liin und lier von Überlegungen an: wirkt sich in intellektueller Tätigkeit aus.

b) Inbetreff der uns hier interessierenden e m o t i o n a­I e n Seite dieses ,Redens' (oder liandelns zu zweien), zeigt Dewey, daß Gefühlserregungen (emotions) nicht etwas Inner­liches sind, das sich sodann, sekundär, in sogenannten .. Aus­drucksphänomenen" äußert, sondern daß diese "Äußerungen" (wie Lachen, Weinen, Zittern etc.) primäre, unmittelbare Stücke der Interaktion von Ich und Welt ausmachen. Lachen z. B. ist e.in echtes Stück aktiven Betragens des Organismus in seiner Welt. Der innere Gefühlsreflex dieses Betragens: das ,Gefühl', das ich beim Lachen habe, ist hingegen gerade das S e k u n -d ä r e. (I a, b.)

2. Auch die Theorie der Instinkte und Triebe hatte unter dem Bann der Bewußtseins-Philosophie und der zugehörigen Isolierung des Ichs gegen die Welt gestanden. Die Triebe und Instinkte wurden aufgeiaßt als der "Adam" des Menschen; dämonisch und schicksalhaft in ihm fixiert, war auch dieser Adam etwas, was sich im Tun und Lassen dieses Menschen "äußerte", - sofern nicht ein höheres Ich (Verstand und Vernunft) lierrschaft über diese Dämonen gewann und die Per­son von nun an zu Äußerungen eines "reineren" Ichs vermochte. Zugleich war die Meinung ziemlich verbreitet, daß wiederum dieses glückliche Eingreifen von Verstand und Vernunft weit­gehend von einer schon vorgegebenen und fixierten Triebver-

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anlagung höherer Art in dem betreffenden Menschen abhänge: in hochgeborenen Naturen kommt die Vernunft zum Durch­bruch; in niedergeborenen (z. B. Sklaven) ist sie schon "von Natur" ausgeschlossen. Dieser Trieb- und Instinktlehre, die Dewey als Korrelate der Soziallehren des oligarchischen Grie­chenland und des feudalen Europa auffaßte, ging er nicht nur von der historischen, sozialen Seite her zu Leibe, sondern radi­kaler: er suchte zu zeigen, daß es das Phänomen bestimmter Triebe und Instinkte, die als solche einzelnen und festen in den Menschen definitiv fixiert wären, gar nicht gebe. Auch Instinkte und Triebe sind, laut Dewey, offene, insofern weitgehend, aller­dings nicht beliebig, wandelbare I n t e r a k t i o n s w e i s e n zwischen Ich und Welt. So verstanden bilden sie allerdings, auch für Dewey, den tragenden Untergrund des Lebens: das Reich seiner aktiven Gewohnheiten. Dieser Bereich ist es, der, unter bestimmten Bedingungen, menschliche Rede aus sich entläßt, die sich sodann von diesem verbindenden und auch weiterhin tragenden Boden aus nach jenen beiden Seiten schlägt: in die emotionalen und in die intellektuellen Punk­tionen. (II.)

3. Was schließlich das Verstandesleben - jene zweite, ,.in­tellektuelle" Punktionsseite des menschlichen Redens (Zu­sammenhandelns) betrifft, so hat hier Dewey am auffälligsten seine Revolution durchgeführt. Sein Grundsatz: Seelisches nir­gends als isolierte Bewußtseinsvorgänge aufzufassen, hatte für die Logik die unmittelbare folge, daß auch sie sich auf einem Boden der ,.Selbstgegebenheit" mit den anschließenden Lehren ihrer ,.inneren Evidenzen" nicht mehr halten ließ; die Denk­prozesse wurden gleichfalls als Weisen der Interaktion von Ich und Welt gefaßt -: als Betragensweisen. Es zeigt sich, daß Denkprozesse, solchermaßen im Ganzen des menschlichen Be­tragens gesehen, darin nur bestimmte ,.Momente" einnehmen, Momente, die wesentlich episodisch: auftauchend und vorüber­gehend sind. (Es sind die Momente der Praglichkeit, in denen zugleich mit dem Denken emotionale Erregung entspringt.) Aus dem episodischen Charakter des Denkens ergibt sich: Denken

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ist nicht in sich selbst schlüssig und evident, sondern hat seinen Anfang und sein Ende in Betragensweisen, die wesentlich nicht­denkende sind. Insofern es zutrifft, daß ein Denken zu Ende kommt, sooft es Wahrheit feststellt, so kann dies nur bedeuten, daß im Augenblick der Wahrheitstindung das Denken als sol­ches schon wieder aufgehört hat und zu primitiverem Betragen und Leben zurückgekehrt ist. Denken erschafft sich keine eigene Wahrheit. Seine Probleme werden ihm vom gemeinen, un­denkenden Betragen her gestellt und seine Wahrheiten stellen sich erst heraus, wenn wiederum der Portgang des undenkenden breiteren Lebens dasjenige erfüllt und bestätigt, was ein isolie­rend-experimentierender Denkprozeß solchem Leben als eine "ideale Möglichkeit" vorschlug. So steht das Denken eines Menschen prinzipiell in einem nie unterbrochenen kontinuier­lichen Zusammenhang mit seinem gesamten vitalen Betragen; Ausnahmen davon: die Isolierungen ,.reiner Theorie" sind nur Scheinausnahmen. Auch ,.reine Theorie" ist nur eine besonders w e i t - umwegige I n s t r u m e n t i e r u n g (bessere oder tie­fere Ermöglichung) von Leben und Leben-Können. (III.)

I.

T h e o r i e d e r G e f ü h 1 s e r r e g u n g e n.

a) D e r U r s p r u n g v o n E m o t i o n a 1 i t ä t u n d

Rationalität im gleichen Moment des

Betragens.

Wir beginnen mit Deweys Theorie der Gefühlserregungen, weil ihm auf diesem Felde im Jahre 1894/95 in zwei Aufsätzen der Durchbruch zu seinem entscheidenden Gesichtspunkt ge­lungen ist 1

• Iiier leuchtete ihm die Idee auf, daß alles Seelische, sofern man seinen menschlich-geistigen Charakter empirisch­deskriptiv festzustellen suche, so viel sei wie Iiandeln zu zweien oder R e d e. Von diesem Gesichtspunkt ausgehend kommt Dewey nun zu dem Befund und der These, daß dasjenige, was

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wir so gern als Gegensatz fassen: Intellektualität und Emotio­nalität, nur die zwei Seiten e i n e r Gesamthaltung ausmachen, eben jenes Handeins zu zweien. Tiere reden nicht; insofern sie nicht reden, findet aber bei ihnen nicht nur kein Intellekt, sondern auch keine Emotionalität statt. Machen wir uns das deutlich. Auch der Mensch kennt ganz tierische, rein anima­lische Handlungsweisen. Sie sind gekennzeichnet dadurch, daß in ihnen jede Art der Rede aufhört: und dies heißt eben, laut Dewey, es findet dann weder mehr ein Denken, noch eine Ge­mütsbewegung statt. In dem Aufsatz des Jahres 1895 gibt Dewey dafür folgendes Beispiel: "Ich erinnere mich sehr wohl an einen jugendlichen Faustkampf; an die Gefühle des Ärgers und der Gereiztheit vor dem Kampf und an die Gefühle teils von furcht, teils von Stolz hinterher, aber in betreff des Zwischen­stadiums des Kampfes als solchen an gar nichts mehr als bloß eine wunderlich lebhafte Wahrnehmung des Gesichts des an­deren Jungen als des hypnotisierenden Brennpunktes aller mei­ner Muskeltätigkeiten."

Hier sind die drei deutlichen Zeitunterschiede mit den ihnen entsprechenden Betragensmomenten: v o r dem Kampf, i m Kampf, n a c h dem Kampf. Im Kampf -: da ging es rein animalisch her ohne alle Rede: d. h. ohne Verstand und ohne Gemüt; vollkommene Koordination aller Bewegungen in in­stinktsicheren Reflex-Kreisläufen. Vor dem Kampf und nach dem Kampf dagegen zeigen sich seelische Phänomene, findet Rede statt, nämlich: Verstand sowohl wie Gefühlserregtheit Ich ärgere mich, ich bin gereizt. Das heißt: dieser andere da hat mich auf irgend eine unerwartete Weise getroffen, und zwar so, daß ich zurückgestoßen bin, daß er nun gegen mich draußen dasteht als ein Du, das ich abfragen will auf das, was es von sich aus gegen mich vorhat, während ich von mir aus im Augen­blick noch nicht weiß, was ich mit ihm anfangen soll. (Vorher "wußte" ich es, das soll heißen: ohne Überlegung oder arti­kuliertes Wissen (Wissen i. e. S.2

) kam ich einfach mit ihm aus - einfach, d. h. auf den Betragens-Bahnen wohlkoordinierter Gewohnheiten oder Instinkte. Das jetzt eingetretene Betroffen-

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sein von einem andern, dieses Noch~nicht-wissen-wie-ihm-be­gegnen, - das Suchen nach Antwort auf ihn, - das ist R e d e mit ihm, die zwei Seiten hat, eine emotionale und eine intellek­tuelle: denn in diesem Zustand der zurückgestoßenen Getroffen­heit bin ich in eine Spannung des Verhaltens versetzt, die in mir als Subjekt d i s k o o r d i n i e r t e Erregungen (Emotio­nen) auslöst und gleichzeitig den fraglichen anderen als ein Objekt gegen mich abhebt, das ich auf alle möglichen Z e i­c h e n und Anzeichen hin (d. h. mit dem Verstand) beob­achte.

Dieses abstandsvolle, überlegende Beobachten ist die in­tellektuelle Seite der Verhaltensspannung; ein analoges "Reden" mit dem feind findet wieder nach dem Kampfe statt: in den Gefühlen (Emotionen) der furcht und des Stolzes. Greifen wir allein die furcht heraus. Die animalische "Gemeinschaft" mit dem feind, während deren sein Gesicht buchstäblich der innere Brennpunkt meiner eigenen Körperbewegungen war, geht wie­der verloren, bricht auseinander in eine neue Subjekt-Objekt­spaltung. Ich überlege mir mögliche folgen: wie wird er, den ich jetzt wieder als selbständiges Du draußen sehe, möglicher­weise handeln? In der e m o t i o n a 1 e n Erregung, die dieser unsichere, brüchige Spielraum der Möglichkeiten in mir erweckt, lese ich zugleich am Verhalten des Du da draußen A n z e i c h e n ab, aus denen ich sein weiteres Verhalten schlüssig zu deuten versuche, - m. a. W.: ich denke nach. brauche meinen Verstand. Beim Tier kommt, soweit es wirk­lich ganz instinktgebunden ist, dergleichen Nichtwissen und Unschlüssigkeit nicht vor: also keine Rede, weder eine intellek­tuelle Subjekt-Objektspaltung, noch die mit ihr gleichzeitige emotionale Spannung. Auch das Tier kennt eine abwartende, vorsichtige Haltung vor dem Kampf. Aber der Löwe, der mit dem Schwanz rhythmisch den Boden peitscht, vollzieht damit eine ganz momentgebundene, reizadäquate, instinktsichere Ak­tion. Er w a r t e t , aber er ist nicht u n s c h 1 ü s s i g. Ge­fühlserregung dagegen bedeutet einen wesentlich unschlüssi­gen Kampf um die rechte Anpassung an eine Situation. Die

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Spannung des Löwen vor dem Absprung ist keine ,emotionale', sondern eine im Objekt und mit dem Objekt wohl koordinierte Spannung, eine vollständig augepaßte Handlungskreislauf­spannung. Emotionalität setzt unvollständige Koordination vor­aus und findet nur statt, wo Leben sich auf feste Instinktbahnen nicht mehr verlassen kann, so wie andererseits Intellekt und Denken dann stattfinden als die Funktionen, die sich in Gang setzen, · um für den unvollständigen Handlungskreislauf die schließenden Glieder zu finden und so die emotionale Spannung zu lösen 3

• Der Mensch ist anders als das Tier mit seiner Welt nicht einfach einig, sondern redet von Zeit zu Zeit mit ihr, setzt sie so als Du außer sich. Er hat nicht nur instinktmäßig festge­legte Betragens-Bahnen, sondern genießt infolge einer differen­zierteren, aufgelockerteren Organisation an vielen Stellen und Gelegenheiten den Nachteil und Vorteil einer Vielfalt sich an­bietender Möglichkeiten.

In jeder sich ereignenden Handlungsunschlüssigkeit sind in­tellektuelle und emotionale Momente ununterscheidbar, unlös­bar miteinander verwoben: in der Begegnung eines Jägers mit einem großen Bären geht zwar sein Ausruf: Was für ein Biest! mehr auf die intellektuellen Funktionen seiner Reaktion, und sein Ausruf: Mein Gott! mehr auf die emotionalen. Aber wäre er nicht "erregt", d. h. zwischen unentschlossenen Körperten­denzen in Alarm versetzt, so könnte seitens des Intellekts keine rapid-kalkulierende "Feststellung" des Bären als eines so und so gefährlichen, so und so zu behandelnden (sofort schießen? oder noch warten?) stattfinden. Emotionalität und Intellekt be­dingen einander. Allerdings kann die Gefühlserregung so an­wachsen, daß sie die intellektuellen Funktionen: das Beobach­ten, das Wahrnehmen ganz in sich ersäuft, und es besteht nun ein Lebensinteresse, daß dies nicht geschieht, daß sich das Wahrnehmen von der Gefühlserregung zwar antreiben läßt, aber doch gegen sie ruhiges Feld behält und die Anzeichen, die der Bär gibt (oder sonst ein Feind) mit Erfolg studieren kann. Dieses Lebensinteresse hat es verursacht, daß Menschen den Verstand gegen die Gefühle womöglich selbständig erklären

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wollten. Das ergab dann freilich - im Extrem - das Bild eines sehr abstrakten Verstandes (des reinen Rechnens im Spiel­raum logischer Schemata); so kam der Gegenschlag der Romantiker: man meinte auf den Verstand gerne zu verzichten, wenn man nur um desto urkräftiger in die Tiefe der Gefühle ver­sinken könnte; in diesen inneren Brunnen: "mein Gott, wie habe ich Angst!", oder: am anderen Pol möglicher Erfahrungen: "mein Gott, wie bin ich selig!"-. Dies ist- bei Erreichung des äußersten Grades, - die "Objektlosigkeit" des Mystikers, des­sen Tiefe unendlich und zugleich vollkommen leer ist, näm­lich ohne verbleibende Bindung an die intellektuelle B e o b -a c h tu n g von Gegenständen.

b) D a s P h ä n o m e n d e s Lachen s und

ä h n 1 i c h e P h ä n o m e n e.

Die These, daß die seelischen Phänomene der Emotionalität Phänomene des Handelns, also Phänomene eines offenen Ver­kehrs mit der Umwelt sind, werden durch einen besonderen Gedankengang in den genannten Aufsätzen der Jahre 1894/95 noch deutlicher gemacht. Dieser Gedankengang wendet sich gegen die Theorie, Seelisches sei primär I n w e n d i g e s , -ein Gefühlszustand, der sich sekundär, in "Au s1 druck s­a k t e n" k u n d g i b t.

Dewey hat seine Theorie der Gefühlserregungen um die Un­tersuchung eines handfesten Phänomens gruppiert - um das Phänomen des L a c h e n s. "Lachen" wird allgemein verstan­den (so auch von Darwin und James) als "Ausdruck eines Ge­mütszustandes". Man nimmt also an, erst bestehe so etwas wie ein innerer Bewußtseinszustand: inneres Gefühl, Bewußtsein der Freude etwa; dieser innere selbständige Zustand drückte sich dann in zweiter Linie aus in der Körperbewegung des Lachens. Dewey sagt, genau umgekehrt: erst kommt (wie dies James selbst für Zittern und Furcht seinerseits schon gezeigt hatte) der Akt des Lachens: erst handelt der Körper, nämlich in der Lachbewegung; diese Lachhandlung mag sich dann,

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zweitens, in einem Gefühl der Freude reflektieren. Deweys These lautet: Lachen ist ein aktuelles Stück zweckvoller orga­nischer Aktivität. Lachen ist ein Stück prjmären Handelns.

Es ist, sagt er, gar nicht einzusehen, wieso die eigentüm­liche Körperbewegung des Lachens Ausdruck eines Gefühls (der Vergnügtheit etwa) sein soll. Vergnügtheit als Gefühlszu­stand, also als Stimmung des Wohlgefühls, hat gar nichts mit Lachen zu tun, nicht einmal mit Lächeln. Wohlgefühl - z. B. beim Essen - äußert sich allenfalls im Rollen der Zunge, Schmatzen der Lippen, aber nicht im Lachen. So haben alle spezifischen Wohlgefühle, z. B. sexuelle, ihre charakteristischen Gebärden. Eine ganze Anzahl sind begleitet von einem An­halten des Atems, um die Erregung auf ihrem Maximum zu halten, und durchaus nicht von einem Ausatmen, wie es beim Lachen stattfindet.

Um dem Phänomen des Lacl1ens auf die Spur zu kommen, müssen wir ein paar vorbereitende Umwege machen.

Beobachten wir eine Gruppe von Fußballspielern, die ge­rade vom Spiel kommen. Unabhängig von dem, was die Leute reden, können wir gleich sagen, ob sie gewonnen oder verloren haben. In einem Fall sind die Körperhaltungen aufrecht, die Lungen dehnen sich häufig, die Bewegungen sind rasch und ent­schlossen. Da findet viel Gestikulieren, Schwatzen und Lachen statt. Im anderen Fall wird wenig geredet, und was schon ge­redet wird, nur mit verhaltener Stimme; Bewegungen sind alle langsam, oder wo sie schnell sind, sehen sie aus, als wollten sie etwas ausstoßen oder gegen irgendetwas ausweichen. Meditie­rende, nachdenkliche Körperhaltungen kann man vielfach be­obachten - kurzum, eine Szene der Depression. Wir haben hier den Kontrast zwischen einem spontanen Überfließen offe­ner Aktivität (overt activity) auf der einen Seite und einem Niedergedrücktsein offener Aktivität auf der anderen Seite.

Worauf gründet sich der Unterschied? In beiden fällen wirkt die Energie (muskulöser, nervöser und drüsenmäßiger Art), die im Spiel in Gang gesetzt wurde, noch immer fort. Aber im einen fall wirken sich reibungslose Aktionsströme aus, har-

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monisierte Aktivität: die körperlichen Bewegungstendenzen haben, unter sich wohl koordiniert, freie, zielsichere Ausfahrt. Im andern Fall sind zwei, einander entgegengesetzte, Be­wegungslinien in Aktion: das jetzige Schreiten des Körpers läßt sich nicht koordinieren mit den körperlichen Bewegungs­tendenzen, die sich im kinästhetischen Erinnerungsbild des zu­rückliegenden Spiels noch weiterhin austragen. Gegenüber der jetzigen ausschreitenden Bewegung des Körpers beim Gehen drängen diese anderen Bewegungstendenzen nach innen bzw. rückwärts: sie begleiten mit Heftigkeit das nochmalige Über­denken der Spielsituation, wobei hypothetische Änderungen vorgenommen werden; Dummheiten fallen mir ein, ihr Erinne­rungsbild will ich wie im Drange mit einer raschen Armbevve­gung aus dem Spielfeld wegjagen. Kurz, die nervösen und motorischen Energien, die das vergangene Spiel imaginieren, laufen die Kreuz und die Quer und stören, widerstreben dem momentanen motorischen Vorgang des Vorwärtsgehens. Grob gefaßt, die Beine wollen nach Hause, der Kopf nach dem Spiel­feld zurück 4•

Beiläufig sieht man hier den organischen Zusammenhang zwischen bestimmten Arten von Musik, d. h. Tonbewegungen und bestimmten Gemütsstimmungen, die dadurch erweckt werden. Ein Adagio im Sinn von Milton-liändels »Penseroso« (der Nachdenkliche) bewirkt eine melancholische Stimmung. Dagegen ein Allegro (d. h. los und fort!) bewirkt Freude. Melan­cholie, Depression machen eben von vornherein die innere ,Musik' eines »penseroso« aus: ihr Tongang geht nicht aus der Stelle, sondern ist, während er fortschreitet, immer zugleich rückwärts gewendet, festgehalten, zurückgeholt.

Im selben Augenblick, wo jene Fußballspieler zu drohenden Redensarten übergehen können: "nächstes Mal sollen sie uns kennenlernen", oder dergleichen, ist die Melancholie, die Depression, schon fort. Die Bewegungstendenzen dieser Män­ner sind nicht mehr gebrochen, nicht mehr reflektiert. Das »pensare« als Wägen, Schwanken, als Nachdenklichkeit, ist vorbei. Sie gehen frei weg: Allegro. - Melancholie, Bedauern,

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Reue usw.: alles dies ist (von dem bestimmten In h a I t­I i c h e n fort auf die typische dabei spielende seelische Emo­tionalität gesehen): gespaltene, sich klemmende Doppel­aktivität: Disko o r d in a t i o n von Bewegungen. Unter diesen Titel fällt prinzipiell alles Nachdenken, also Den­ken überhaupt. Alles Denken ist Reflexion in diesem ganz or­ganischen buchstäblichen Sinn: Rückwendung, Rückbeugung: reflektorische Bewegung. So ist alles Denken von Haus aus melancholisch: es findet in ihm immer die Bedingung gespal­tener, geteilter Aktivität statt. Da ist Zwiespalt: Mittel und Ende wollen nicht zusammenkommen. Daß die Haltung ziel­sicherer Aktivität mit der Haltung der Freude zusammenfällt, gründet in der Koordination aller beteiligten körperlichen Be­wegungstendenzen: sie alle unterstützen sich gegenseitig, helfen sich, bringen sich voran: daher die Schnelligkeit, Wachheit, Schweiß, Schwung, Tempo-kurzum: Allegro, Freude.- Medi­tation und Bedauern sind beides Aktivitäten des Anhaltens, der ,Arrestierung', des Konfliktes: daher die Haltung der Gedrückt­heit, der Konzentration nach innen- gegenüber der Expansion im andP.ren Falle.

Denken kann allerdings zu einem besonderen Beruf werden, dann findet in der Denkpraxis eine spezielle Koordination von Mitteln und Enden statt, die weitgehend spielend, durchlaufen wird; dann handelt es sich, auf besonderer Ebene, neuerdings um ein h e i t I ich e Aktivitäten mit ihrer eigenen Freude. Trotzdem sind die Stirnrunzeln, die Mühseligkeit, die Einsam­keit des Lebens von Denkern sprichwörtlich . .freilich, wenn ein langwieriger und umfassender Denkprozeß sich seinem Ende nähert. wenn eine große erfolgreiche Auflösung sich an­kündigt, dann mag die Hand eines Newton zittern und .f'reude wie ein I-<_ausch ausbrechen. Bei solcher Gelegenheit tritt wieder jene Einigkeit der Bewegung auf: in solchen Mo­menten großer denkerischer Resultate verhält sich der .f'orscller gegen die Welt nicht mehr reflektiert und reflektierend, sondern ist mit ihr in einem buchstäblichen Sinnz ein Ii e r z und e i n e Seele - d. h. ein einziger Strom aktiver Bewegung.

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Alle diese Bemerkungen sind indessen hier nur vorbe­reitend für die Erfassung 9-es Phänomens des Lachens. Der Zu­sammenhang wird gleich einleuchten.

Lachen ist, so wenig es Ausdruck von Freudegefühl oder Vergnügen ist, auch nicht vom Wesen des Humors her zu ver­stehen. Auch der humorloseste Mensch lacht. Lachen bezeich­net den Endpunkt einer Periode des Aufschubs, der Erwartung, und zwar eine Endigung, die plötzlich und scharf ist. In dem Baby lösen rhythmische Betätigungen, wie Iioppa hoppa Reiter, jeweils im Kulminationspunkt Lachen aus. Lachen in einem kleinen Kind kann auch Akt der Zustimmung sein zu etwas, das seiner ausschauenden Erwartung plötzlich genug tut.

Auch be~ Erwachsenen zeigt jede nähere Beobachtung, daß Lachen primär gar nichts mit Scherz oder ·witz zu tun hat. Sondern Lachen ist in den verschiedensten inhaltlichen Fällen das immer gleiche Ereignis, daß der Betreffende p I ö t z 1 i c h einen Zielpunkt erreicht (attaining suddenly a point). Alles War­ten, Ausschauen, verhaltene Anstrengung begleiten wir nun aus naheliegenden biologisch-teleologischen Gründen mit einem Ein­atmen und Anhalten des Atems: unser gesamtes Muskelsystem halten wir im Zustand einer ziemlich beträchtlichen Spannung. Der Sache nach ist derweilen eine g e t e i I t e Tätigkeit im Spiel (daher die Spannung). Teils richten wir unsere Aufmerksamkeit auf vorhandene Bedingungen, die zugänglich, hautierbar sind, teils sind wir auf ein vage imaginiertes Ende gerichtet, das sich aber nicht finden und in die im Gang befindlichen Tendenzen, Vorstellungsbilder einfügen lassen will. Nun lasse man den ge­suchten Endpunkt plötzlich hereinbrechen (Iet one see the point suddenly), dann wird die ganze angehaltene Energie sich aus­lösen. Das Einfallen des Endpunktes (der "Pointe", des fehlenden Verbindungsstücks) ist die Erzielung der Einheit, deren Moment mit der Auslösung der Spannung zusammenfällt. Die plötzliche Relaxierung, insofern sie die Spannung der besonders angehal­tenen Atmungsorgane und Stimmorgane zur Auslösung bringt, ist Lachen. Sein rhythmischer Charakter stellt nur einen beson­deren Fall für das allgemeine teleologische Prinzip dar, daß jede

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"ökonomische", wohl angemessene natürliche Handhing rhyth­misch verläuft. (So ist z. B. aku~es Schreien unrhythmisch, geht es in rhythmisches Schluchzen über, so ist auch die Spannung des Schmerzes ln Erleichterung übergegangen: der Schmerz hat sich "moderiert".)

Sogefaßt ordnet sich Lachen- als aktives organisches Ver­halten - mit verwandten Bewegungen zusammen in ein und dasselbe Prinzip. Der Erleichterungsseufzer steht als Phänomen dicht neben dem Lachen. Der Unterschied ist der, daß der Seuf­zer stattfindet, wenn das Interesse auf den Handlungs p r o z e ß gerichtet ist und wenn die Vorstellung der Arbeit - als einer langsamen und kontinuierlichen - auf dem Gipfelpunkt steht, aber doch noch weiten Weg vor sich sieht, - während Lache n stattfindet, wenn das Interesse ganz auf das Punk­tuelle des Resultats gerichtet war- und dementsprechend auch der Körper plötzlich auf die plötzliche Erscheinung des aus­schlaggebenden "Punktes" reagiert. Im ersteren fall wird die Anstrengung fortgesetzt. Der Seufzer ist dieses Sichhineinlassen in die Fortsetzung, die aber immerhin schon Ausgänge und Licht­blicke zeigt. Im falle des Lacl1ens aber ist Anstrengung mit einem Schlag zu Ende. Die "Lösung" bricht als fertige, komplette herein. Entsprechend komplett und abrupt lasse ich meine Ge­spanntheit aus mir ausfahren.

Eine Beziehung des Lacl1ens zum Humor besteht natürlich, aber Humor ist nur eine komplexere und intellektuell beladene Differenzierung dieses selben allgemeinen Prinzips. Dem gleichen Prinzip wie das Lachen untersteht (als Betragensphänomen statt als Ausdrucksphänomen gefaßt): das Weinen. Beide, Wei­nen und Lachen, bedeuten Endpunkte einer Periode von An­strengung. Nehmen wir den einfachsten fall bei einem Baby. Es versucht nach einer Glaskugel zu greifen, die ich ihm hin­halte; mit aller Energie richtet es sich auf dies begehrte Objekt. Ich lasse das Ding aus Versehen auf den Boden fallen. Das Kino sieht es entzwei gehen und bricht in Weinen aus.- Der }?:oor­dinierende Zie!punkt, an dem sich die gespannte Erwartung des Kindes im Augenblick des Zugreifens hätte auslösen können-:

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lachend, ist plötzlich zerfahren; da geht das Gesicht des Kindes buchstäblich in Stücke (the chi/d goes literally to pieces).

Diesem primitiven fall schließen sich alle fälle der Trauer des reifen Menschen an. Auch Trauer ist eine Weise von (,defektiver', gestörter) Handlung: Trauer als scheinbar ein~ sames seelisches Inneres, ist in Wahrheit, wie alle s e e I i­s c h e n Phänomene, ein "Handeln zu zweien". Der Traurige setzt Handlungstendenzen an, die zu einem Du ausgehen, das sich aber nicht einstellt, das ausbleibt, fehlt. Es ist etwa tot oder weit entfernt. So schlägt die Bewegung, die sich draußen nicht koordinieren kann, in sich zurück. Dieses aktuelle fehl­gehen und Zurückfallen von Handeln auf sich selbst ist Trauer. Freude ist getätigte Koordination meiner Bewegungen. Trauer ist Diskoordination meiner Bewegungen: in ihr ist mindestens ein Teil meiner Handlungsbewegungen, meiner äußeren und ebenso inneren (visceralen) Rhythmik ziellos: so schlägt sie sich in extremen fällen, in b I o ß noch "innere" (idiopathische) Bahnen. Sobald sich Handeln draußen im Gegenständlichen wieder zu koordinieren beginnt (in seiner Welt nicht mehr "wie verloren" ist) hat Trauer schon aufgehört, diese wunde zu sein - sie wandelt sich ab in ein temperiertes Ge f ü h I; das aber heißt: ein mit neuen äußeren Tätigkeiten sich allmählich wieder verwebender U m g a n g m i t d e m Ab w e s e n -den a I s einem hierdurch "Erinnerten", ist an die Stelle jener scheiternden Bewegungen getreten 5

Andere fälle der Diskoordination sind das plötzliche Ver­missen eines unentbehrlichen Handlungsgliedes, während die Unternehmung schon im Gange ist. In solchen fällen kom­men die Gebärden der "Verlegenheit" auf. Der Handelnde sieht plötzlich seinen Weg nicht mehr deutlich vor sich: so schreckt die eigene Bewegung zurück, während sie sich zugleich doch durchsetzen will. Sie ist - als in dieser Weise diskoordiniert -: linkisch. Die hier stattfindenden unsicheren Körperbewe­gungen sind, vom Standpunkt des Betreffenden aus, nicht "Aus­druck" oder "Zeichen" einer inneren Furchtsamkeit oder Scheu

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oder dergleichen, sondern unmittelbare organische folgen da­von, daß die "Haltung": der Rückhalt aller Bewegungen am Zielpunkt, abgerissen ist: die eben noch straffen Zügel sind plötzlich von vorne her losgelassen worden und fallen durch­einander. Das "Ge f ü h I" der Verlegenheit ist dazu sekundär.

Wie Verlegenheit, so sind alle Arten der Eitelkeit "Kreis­laufstörungen": Sie gründen in irgend einem objektiven Miß­lingen von Betragenskoordinationen.

Diskoordination grober Art findet statt, wenn alle motori­schen Energien auf eine Verrichtung gespannt sind - etwa das Halten einer restrede oder das Auftreten auf einer Konzert­bühne, - der Moment des Loslegens aber noch auf sich warten läßt. Jetzt schlagen die schon angelassenen motorischen Energien statt nach außen nach innen, - auf Drüsen, Blase usw.

Wir brechen hier mit den Beispielen ab und wiederholen die These, die sie illustrieren sollten. Gefühlserregungen sind Teile echter organischer und gegenständlicher Handlungen, die aber, weil ihnen im äußeren zielhaften Ablauf Störungen (Diskoordi­nationen) widerfahren, nach innen zurückgeschlagen wurden. So ist denn auch der am Bewußtsein auftretende, heftige "Ge­fühlsreflex" keine beliebige Begleiterscheinung, sondern ein wohlverständlicher Effekt dieser reflektierten (zurückgewor­fenen) Handlungsablaufs. Dieser subjektive, innere Effekt bleibt zugleich ein in die (gestörte) Handlungsganzheit noch immer eingeordneter Faktor; er behält auch, a I s dieser Fak­tor, eine noch immer gegenständliche, objektive Funktion: er löst Nachdenken aus und schreibt ihm Richtung vor. Ist die betreffende "Zurückgeschlagenheit" eine besonders heftige oder ungewöhnlich umfassende, so mag es freilich geschehen, daß das genannte Nachdenken, das Sich-Besinnen auf mögliche Wiederherstellungen des zerstörten Handlungskreislaufes sich in bloßen Phantasien herumtreibt - den wirklichen Anschluß an offene Tätigkeit nicht wieder gewinnt. A u c h diese ("idiopa­thischen") Vorgänge - und sie vor a 11 e m - sind aber

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ihrer Natur nach nicht ursprünglich "innere" Vorgänge, sondern funktional verständliche Abwandlungen von Be­tragenskreisläufen, die zwischen Ich und Welt spielen. Nor­malerweise zielen alle Gefühlserregungen darauf ab, gestörte · Betragensganzheiten wiederherzustellen. Die Beispiele zeigten das. ,Erregt' sucht etwa ein Ich in einer Situation oder einem einzelnen Gegenstand, von dem es, im Lauf seines Hantierens mit ihm, auf so verwirrende Weise gereizt wird, daß es keine zusammenhängende Antwort oder passende Reaktion mehr auf­bringen kann, den koordinierenden Punkt. Leuchtet dieser "Punkt" plötzlich ein, so läßt sich das Ich, das suchend den Atem angehalten hatte, rasselnd los in die glücklich wieder­hergestellte Laufbahn offenen ,Verstehens' (Hantieren-Kön­nens). Die Subjekt-Objekt-Spannung löst sich im Lachen wie­der auf in einen Kreislauf, indem sich beide,- Ich und Welt-, wohl-koordiniert durchdringen 6

• Beim Weinen freilich findet eine solche unmittelbare Wiederherstellung von Handlungs­ganzheit nicht statt. Hier scheint es, als ob die aufgesammelte muskulöse, nervöse und drüsenmäßige Ladung gleichsam ,in vacuo' zerplatze. Immerhin stellt sich hierdurch eine inner­organische Entspannung ein; und diese bedeutet zugleich nach außen eine Gleichgewichtswiederherstellung: nicht nur der Gegenstand, dem die Spannung galt, ist in Verlust geraten, son­dern auch die Spannung ist nun fort. Neue Interaktionen können Platz greifen. - Genug! Die These scheint hinreichend ge­stützt und lautet - (nun gleich in ihrer allgemeinsten Fassung):

Alle seelischen Phänomene sind durchgehends aufzufassen als Teile situationsgebundener - gelingender oder mißlingen­der - Gestalten des Handelns (weil coordinated or discoordi­nated configurations of behavior.) - Gefühlserregungen sind demnach gleichfalls zu beschreiben als solche organischen Teile ganzer weltständiger Betragensgestalten.

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II.

K r i t i k d e r T r i e b - u n d I n s t i n k t I e h r e.

Das hartnäckigste Widerstandsnest der subjektivistischen Bewußtseinspsychologie, die das Ich gegen die Welt isoliert, sah Dewey in der traditionellen Trieb- und Instinktlehre. Einen Generalangriff auf diese Festung hat Dewey erst in dem Buch über "Die menschliche Natur" (Human Nature and Conduct), 1922, unternommen. Dieses Buch hat folgenden verwunder­lichen Aufbau:

1. Teil, die Roiie der Gewohnheit im menschlichen Verhal­ten. 2. Teil, die Rolle des Triebs. 3. Teil, die Rolle der In­telligenz.

Warum fängt Dewey mit der "Gewohnheit" an statt mit den Trieben. Sind nicht die Triebe das Tiefere, Grundlegende, das Ursprünglichste im Menschen? Ist also nicht mit i h n e n der Anfang zu machen? Dewey setzt mit seiner DarsteJiung des Menschen bei den Phänomenen der G e w o h n h e i t ein, das heißt aber: bei den unendlich vielfältigen Verwehungen seines Ichs mit der Welt, in denen drinnen er seine eigentliche ,;Woh­nung" und Bleibe hat. Man sieht gleich, daß der Begriff der Gewohnheit sehr weiträumig gefaßt ist: der Umkreis der Ge­wohnheiten ist so groß wie der Umkreis des komplexen, natür­lichen und sozialen Lebensgewebes, das als die vorgegebene Welt eines Individuums dasselbe anherrscht und immer auch in ihm selbst schon herrscht und waltet. Diese Sätze sind zunächst deutlicher zu machen.

Die Natur des Menschen als eines lebendigen Wesens ver­weist zuallererst auf das Faktum, daß er als eine Weise des Umgangs mit einer Umwelt da ist; a II es Lebendige lebt als ein Spiel von Interaktionen. Auch die "Umwelt" des Menschen ist nicht eine gegebene "Außenwelt", an die sich ein gegebenes Selbst anpaßt oder gegenüber welcher es sich selbst erhält. Im "Umgang" ist ein Organismus je schon unlöslich mit seiner Welt durchsetzt und in seine Welt verwickelt. "Selbsterhal-260

tung" (Selbstverwirklichung oder wie immer die Liste dieser irreführenden Titel fortläuft) 1 ist keine auf ein Selbst direkt gerichtete Aktion, sondern verläuft immer indirekt - als eine Einwirkung gegenwärtiger Iiandlungen eines Organismus auf einen zugleich mit ihm unterwegs seienden Gang der Dinge. "Anpassung" ist - in allen höheren Formen des Lebens -nicht ein Sich-Anpassen des Organismus an eine ihm vorgegebene Umgebung, sondern - gleichfalls indirekt - ein tätiges Um­stellen bestimmter Faktoren der Dingverläufe in der Welt des Umgangs, sodaß ihre Wirkungen auf den Organismus (im Zusammenhang mit dessen Rückwirkungen auf sie) eine für sein Leben günstige Richtung nehmen.

Die Situation des menschlichen Individuums ist über diese Bestimmungen hinaus dadurch ausgezeichnet, daß ihm seine natürliche Umwelt - die Umwelt der Dinge - im Medium einer s o z i a 1 e n Umwelt begegnet. Seine Umgangstriebe werden vorweg aufgefangen und kunstvoll geleitet in den Bah­nen eines gemeindemäßig organisierten Herkommens. Es ist von jeher an die Umgangsweisen g e w ö h n t , auf die im liaus, in der Nachbarschaft, in der Schule usw. gehalten wird. Es lebt, indem es eingesellt ist in die Bedeutungen (und Be­deutungshorizonte), die sowohl in den schweigenden Hantie­rungen wie in den artikulierten Redeweisen seiner "Umgebung" vorgebildet sind. Indem er das gemeinsame "Was" sehen lernt, womit hantiert wird, oder davon eigens "die Rede ist", - in­dem es also in diesem vielschichtigen Sinne "sprechen" lernt­wird es in das Gemeinde-Wesen und auf dessen "Güter" ein­gestimmt.

Dewey fängt seine Darstellung des Menschen bei der "Ge­wohnheit" an, und zwar so, daß der Begriff der Gewohnheit in der eben angedeuteten lebendigen Weite und wesentlich dyna­misch gefaßt ist,- als Weisen des Umgangs, die im einzelnen Menschen, ohne daß er dies eigens zu "wollen" braucht, walten 2 •

Eine geläufigere Ansicht des Menschen fängt freilich bei ihm "s e 1 b er" an: bei den Trieben, die dem Menschen als

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Subjekt fertig gegeben sind und in einer gleichfalls gegebenen Welt sich gewissermaßen abrollen. Dieser Ansatz geht in­dessen, laut Dewey, nach zwei Richtungen hin in die Irre:

1. ~r redet von Trieben (Instinkten), als seien das bestimmte, e~tsc?Iedene und definierbare Einheiten, Ursachen, Kräfte, die emen festen Schluß auf eigene und regelmäßige Wirkungen erl~uben. In der Folge entfaltet sich eine naive und hartnäckige Tneb- und Instinkt-Mythologie.

2. Diese Triebe werden in einem Ich angesiedelt. Dieses Ich ~etzt seine Triebe gewissermaßen von sich selbst aus in Betneb: aus "Selbstliebe". Der Begriff der Selbstliebe war der s~ste~atische Punkt, an dem die einflußreichsten Moral­theonen Ihren (grundsätzlich irrtümlichen) Problemansatz festlegten. Ethisches Problem war: wie gegen üb e r d

t·· 1· h S lb er "na ur IC en e stliebe" ein objektives Sittengesetz sich kon-stituieren könne (Kant) bzw. wie auf G rund derselben ein allgemeines Kriterium des Guten und Schlechten sich gewinnen l~sse (Utilitarier). Die Selbstliebe, ihre Motive, Maximen ~md ~~e: kei~ ursprünglicher Sachverhalt, "dem g e g e n -u. b e r em Reich der Vernunft und eine Autonomie der Pflicht ~Ich begründen oder aus dem sich (im Sinn der Utilitarier) Ir~end ein möglicher "Glücks"maßstab auskalkulieren ließe. Die Selbstliebe ist im Sinn eines elementaren Datums eine reine : i k t i o n. Als unleugbare "Tatsache" ist sie jeweils ein Reakttonsphänomen. Eine Person verschanzt sich in der "Selb~tliebe", sobald ihr natürlicher Handlungsspielraum b!ocktert wird, sei es infolge von "Verboten" seitens der Er­zieher, oder infolge von Mutlosigkeit gegenüber erfolgsstärke­re~ P~rt.t~ern oder dank einer Verschlingung dieser Faktoren n:~t rehgwsen und ethischen Theorien. Außerhalb dieser sekun­daren Blockierungserscheinungen, die früher oder später im Le.ben.durch Umstände aller Art hervorgerufen werden können SPielt m den natürlichen Begehrungen des Organismus - ·~ .. . pn mar - mcht die Eigenliebe eines isolierten Selbst, das seiw~ Lust- u~~ Unl,~stsun:men erwägt und auf die Vergrößerung sei­nes "Gluckes aus tst, sondern: ein D r a n g (in Gestalt von

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vagen Trieben oder schon gedichteteren Gewohnheiten), sich Situationsverläufen, die in eigenen Organisationen schon unter­wegs sind, zu unterziehen (to undergo) und, in ihnen vorlaufend, ihre ferneren Möglichkeiten aufzugreifen und auszubilden.

Über den "Urtrieb" der ,Selbstliebe', des ,Egoismus' sich zu unterhalten, ist nicht mehr modern. Der Modetrieb ist heute ,,der Wille zur Macht". Auch er ist, so fährt Dewey fort, kein Urphänomen, sondern ein bedingtes und abwandelbares Reak­tionsphänomeri. Ein seiner selbst bewußter Wille zur Macht findet sich hauptsächlich bei denen, die einen sogen. Minder­wertigkeitskomplex haben und die das Gefühl einer persön­lichen Unterlegenheit, das sie irgendwann erwarben, aus­gleichen möchten, indem sie einen gewaltigen Eindruck auf andere machen, in deren Spiegelung sie ihre Kraft gewürdigt fühlen. Der Literat, der sein Wirken in den Bereich der Phan­tasie verlegen muß, wird mit viel größerer Wahrscheinlichkeit einen Willen zur Macht an den Tag legen als ein Napoleon, der ganz bestimmte Zielgegenstände mit außerordentlicher Deutlichkeit vor sich sieht und sich unmittelbar über sie als s o I c h e hermacht. Explosive Reizbarkeit, Zänkischkeit, Bockigkeit schwacher Personen, Träume von Größe, plötz­liche Gewalttätigkeit von Leuten, die sonst notorisch nach­giebig sind, sind die gewöhnlichen Anzeichen eines "Willens

zur Macht". Was sich gerade am Beispiel der Selbstliebe bzw. des

Willens zur Macht zeigen ließ - ihr fiktiver Charakter -gilt, sinngemäß abgewandelt, von beliebigen an d e r n so­genannten T rieb e n. Statt des Begriffs des inneren "Tri e­b e s" ist jeweils der Begriff eines vagen D rang e s einzu­setzen, der sich nicht aus sich selbst "füllt", sondern sich aller­erst auf dem Welt-Wege, d. h. auf dem Wege konkreter Be-

tragenskreisläufe "definiert 3".

Ein schlagender Gegenbeweis gegen die Leugnung einhelli-ger Triebe und Instinkte scheint nun aber schon in der Frage zu liegen: gibt es denn nicht dergleichen wie liunger, Geschlechts­trieb, Furcht? Allein, selbst in den Fällen von liunger und Ge­schlechtstrieb, wo die Kanäle des zugehörigen liandelns ziem­lich eindeutig bestimmt sind, durch die vorgegebenen Be­dingungen - (fertige Anlage der entsprechenden Organe usw .)

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- selbst da ist der wirkliche Inhalt oder das Gefühl des Hun­gers, der geschlechtlichen Gebarung unbegrenzt verschieden in jeweiliger Anmessung an die besonderen sozialen Verwehun­gen, in die sie eingebettet sind. Nur wenn ein Mensch am Ver­hungern ist, ist der Hunger ein einhelliger, natürlicher Trieb. Zugleich aber hat er, gerade in der Annäherung an dieses Ex­trem, die Tendenz, seine psychologische Unterschiedlichkeit zu verlieren und zu einer einzigen Raserei des Gesamtorganismus zu werden. Dies aber zeigt eben in äußerster Eindringlichkeit, was in jedem Fall gilt: daß keine Sondertriebe des Organismus abgeteilt wirken als massive "Kräfte" (wie die "Verbrennungs­kraft" oder die "Schwerkraft" der Naturwissenschaft alten Stils), daß vielmehr ein unendlich ineinander greifendes Spiel des Organismus im Ganzen das "Wirkliche" ist. Die arbeits­teiligen Sonderlaufbahnen der einzelnen organischen Tätig­keiten sind nur dem Anschein nach gegeneinander isolierbar. Sie sind weder nach ihren praktisch ausgezeichneten Funktio­nen noch nach ihren interorganischen Kooperationsweisen fixiert, sondern unter beiden Gesichtspunkten verändern sie sich je nach den Umständen, Bedingungen, innerhalb welcher und in Anmessung an welche ihr Spiel sich entwickelt. Es gibt z. B. nicht e i n e n Instinkt der Furcht mit ein paar Unter­arten. Wenn jemand in Angst ist, so reagiert sein ganzes Wesen; und dieser ganze in Mitleidenschaft gezogene Organis­mus ist nie zweimal derselbe. Allerdings können wir in allen Fällen gewisse mehr oder weniger gesonderte kennzeichnende Akte als wesentlich gleiche feststellen, wie Muskelzusammen­ziehungen, ein Sich-zurückziehen, Ausweichen und Verstecken. Aber schon mit den letzteren Worten ist eine Umwelt ins Spiel gebracht. Ausdrücke wie "sich zurückziehen, sich verstecken''. haben nur einen Sinn als "Haltungen zu Objekten". Es gibt nicht so etwas wie Umwelt im allgemeinen, es gibt immer nur be­sondere wechselnde Objekte und das heißt: Ereignisse. Daher "ereignet" sich die Art des Ausweichens oder Weglaufens oder sich Duckens jeweils in unmittelbarer Entsprechung zu den ge­gebenen Bedingungen. Es gibt nicht e i n e Furcht, die sich 264

verschieden "kund gibt", sondern es gibt ebenso viele ur­sprüngliche und wesentlich verschiedene Furchtzustände, als es Objekte (deutlicher: Ereignisse) gibt, denen sie entsprechen und als es verschiedene Folgen gibt, die gefühlt, beobachtet oder vorausgesehen werden. Furcht vor der Dunkelheit ist verschieden von der Furcht vor der Öffentlichkeit. Furcht vor dem Zahnarzt verschieden von der vor Geistern. Furcht vor auffälligem Erfolg von der Furcht vor Demütigungen. Furcht vor einer Fledermaus ist etwas total anderes als Furcht vor einem Hund. Furcht vor frischer Luft etwas ganz anderes als Furcht vor dem Bolschewismus. Feigheit, Verlegenheit, Vor­sicht, Ehrfurcht, Aberglaube, Skepsis können alle als Formen von Furcht betrachtet werden. Sie alle haben gewisse phy­sische organische Akte gemeinsam. Aber jeder ist dem Wesen nach einzigartig. Jede Furcht ist, was sie ist kraft aller ihrer Wechselwirkungen und Wechselbeziehungen mit andern Ak­ten, mit den umgebenden Mitteln, mit den Folgen. Indem dieses "Außere" sich ändert, tauchen ständig neue "primitive" Triebe, d. h. Tätigkeiten und Akte, Verlangensweisen und Verhaltungen auf. Die Möglichkeit, den vollen spezifischen Sinn und Wahr­heit dieser komplexen Ereignisse sich zu vergegenwärtigen, umsichtig und aussichtsvoll mit ihnen, als was sie sind und wie sie wirken, umzugehen, wird verschüttet durch die überlieferte Psychologie der fixierten Instinkte und durch die dogmatisch~n Vorstellungen von einem fixierten Triebmechanismus. Dte Mythologie der Instinkte und Triebe vertritt der einsichtigen und verantwortlichen Verwaltung menschlicher Möglichkeiten allenthalben den Weg. Zum Beispiel eine (durchaus denkbare) großzügige Organisation des Friedens, die die selbstmörderisch­unsinnige Wirkung moderner Riesenkriege ausschalten möchte, wird a priori verlacht, indem man sagt: es ist sinnlos, über Maßnahmen gegen einen zweiten (noch totaleren) Weltkrieg zu Rate zu gehen, denn da lauert auch künftig im Menschen ·:der kriegerische Instinkt" - ein unausrottbarer Grundtrieb semer Natur Wie steht es in Wahrheit mit diesem ,einfachen' Grund­trieb?. Er setzt sich aus unzähligen Sondertrieben und Absich-

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ten, die aus konkreten Situationen stammen, zusammen. Etwa: ~treitlust, Rivalität, Ruhmsucht, Beutegier, Angst, Mißtrauen, Arger; Sehnsucht nach der Freiheit von Konventionen und Bin­dungen des Friedens; Machtlust; Entrüstung über Unterdrück­ung; der Anreiz von Möglichkeiten, sich neu und erstaunlich zu benehmen;- Liebe zur Heimat und zum Boden, Anhänglichkeit an das eigene Volk, Herd und Altar; Mut; Loyalität; _ die Gelegenheit, zu Namen, Karriere oder Geld zu kommen - all diese und noch andere Dinge machen die kriegerischen' Kräfte ~~s. :Vir aber folgen einer kindlichen Logik und verdoppeln die c.mh~It des Resultats durch die Annahme einer "Kraft"einheit, die hmter dieser Wirkung stehe. Ein soziales Ereignis setzen ":'ir doppelt an: einmal als bestehende Tatsache und dann noch emmal als ursprüngliche Kraft, die die Tatsachen hervorbringe und geben dann wohlweise Plattheiten zum besten über die un­wandelbare Wirkungsweise der "menschlichen Natur". Der ~chte Sachverhalt aber weist eher dahin, daß die Triebe, die Im Krieg als einem komplizierten Resultat sozialer Einrichtun­gen und Verhältnisse zur Verwertung kommen, in viele andere Kanäle abgeleitet werden könnten. Das Jahrhundert das den Triumph der wissenschaftlichen Lehre von der Möglidhkeit der Verwandlung der Energien ineinander mit angesehen hat wür­de n~cht vor der geringeren Aufgabe sozialer Umformudg und Ableitung der kriegstüchtigen Kräfte zurückschrecken stünde nicht dieser Anstrengung die wohl organisierte Macht ~on Be­quemlichkeiten und Eitelkeiten im Weg, darunter bestimmte überlieferte (erziehungsmäßig gepflegte) Vortstellungen vom Wesen des Heroismus. Nicht weil ein eingeborener Instinkt den Menschen bindet, sondern weil soziale und ökonomische G e w o h n h e i t e n im Bunde mit komplexen, eingewöhnten geistigen Ideen (unter dem Banne der Triebmythologie) im Spiele sind, ist das Problem des Ausschlusses der Kriege ein unendlich sprödes. So müßte es, um den Krieg abzuschaffen, allererst gelingen, den Frieden in einem tiefen emotionalen und leidenschaftlichen Sinn h e r o i s c h zu machen. Die heroischen Erregungen sind aber wiederum nicht etwas, was als Spezialität 266

auf" ein Nebengleis,e geschoben werden könnte, etwa in dem Sinn, daß die "Kriegsinstinkte" ihre "Sublimierung" in einer besonderen Praxis und Betätigung finden könnten; sie müßten ihren Abfluß, in einem ganz tief gegrabenen Strombett, in a ll e Aufgaben des Friedens hinein nehmen. Krieg ist eine Form der Totalität. So müßte Frieden erst zu einer totalen Leiden­schaft und Form werden, ehe er den Krieg ersetzen könnte. Das Problem des Krieges ist schwer, weil es den letzten Ernst des Menschen betrifft: weil es in die geistigen Deutungen ein­gelagert ist, vermöge deren der Mensch mit seinem Leben als Ganzem übereinzukommen sucht. So ist es kein anderes Pro­blem als das umfassendere: die Vielfalt der eingeborenen Triebe im Umkreis des Alltags wirksam zu versittlichen, d. h. sie zu totalisiere11; die Triebe in ihrer Vielheit müßten in ein durch­gängig aktiviertes, durchgängig offenes und umsichtiges Spiel gesetzt werden. In der Durchsichtigkeit des geöffneten Spiels mit den besten Möglichkeiten des Alltags und sonach in der A r b e i t an der Verbesserung desselben, sollen die Triebe Freiheit, d. h. helle Verantwortung gewinnen. Wird die Fülle der Triebe nicht dahin gerufen, und da zur Kunst gewöhnt, so schleicht sie sich hinter das Grau eines verordnungsmäßig oder puritanisch oder utilitär geregelten Alltags und bewahrt sich in dessen Rücken als ein tieferes Heiliges auf - für den ersehnten absoluten" Aufbruch und Einsatz in einem Krieg, der gegen

den Idealismus der so Aufbrechenden im Resultat, unter den modernen technischen Bedingungen, womöglich noch i r o n i­s c h e r verlaufen wird als der vergangene 4

Um zur theoretischen Summe der Sache zu kommen: das Wesen des Menschen ist gegen dasjenige der Tiere entschei­dend durch einen unendlich los~n Spielraum möglicher Trieb­verwendung und Triebentfaltung ausgezeichnet. Das zeigt sich schon in der Hilflosigkeit des Kindes, in der Ziellosigkeit seiner anfänglichen Körperbewegungen gegenüber der Fertigkeit und Selbständigkeit des "instinktiven" Betragens von Tieriungen. Das Charakteristische der menschlichen Triebkonstitution ist, daß jeder Trieb fast zu jeder Fähigkeit organisiert werden kann,

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je nach d~r Art, in der er in Wechselwirkung mit der U -gebung tntt. Das tatsächliche Ergebnis hä t d b U:

· b r t T . ng avon a , wte et~ es ~mm er neb mit andern Trieben sich verflicht D' semersetts h'' t d · tes , . I U ang von en Wirkungsgelegenheiten ab die die sozm e mwelt darbietet. '

sich~i;1 schwärmerisches Gerede von Instinkt und instinkt-, en Menschen geht als Mode um. Wahrheit ist daß t dem so t . , e was F or ' gen~nn _e? tierischen Instinkt Vergleichbares sich in der

~ :~n mtmttver Sicherheit gerade auf den Gebieten hoch­spezmhsterter Tätigkeiten findet. bet' Forschern CI . H f"h . . . · , , murgen,

~ehr u tdern, mcht aber in_ den schlichteren (naturnahen) Be­retc en es Handeins wo d Eh I t"k . ' en e euten, Eltern, Lehrern, Poli-t ern usw. thre Aufgaben gestellt sind Wo . d'

kre· · d · m tesem Um-ts Je~an . mit seinen "Instinkten" stolziert, da verficht er

v_ermutltch ergensinnig das Recht und den partiellen Erfolg et~er e n g e n (aber u m s t ä n d I i c h behüteten und ge­sc. onten - oder durchgezwängten) -Ge wohn h e i t D' "SIChe~h~it" _dieses Instinktes, oder die harte und eifersü~hti;: Geradl_mt~~ett eines solchen inständigen Willens, erzeugt- bei der prm_ztptellen Offenheit und Reaktivität aller Bereiche des me~s~hhchen ?aseins - irgendeine arge und wachsende Dis­~oztatwn des m Frage stehenden Spiels im Ganzen. Sie führt ~~~~t kt~rz ~der lang zu einer inneren oder äußeren Katastrophe m h .n~tm~t, so~der~ die Bereitschaft, Erfahrungen zt;

ac ~n. li1 Jeder Sttuatwn je von neuem der Wandlung und de~ fortgang derselben zu folgen, in ihr die warnenden An­zetchen von gewohnheitsmäßig Übersehenem oder G I ~etem auf sie!: wirken zu lassen, dieselben entschlossen :u~~~: ~ngen m~d dte praktischen Konsequenzen daraus zu ziehen.

mcht Instmkt, sondern E r f a h r u n g als d t' B ' r hk 't d · es e eweg-Bic _et er Ennnerung, Umsicht und Voraussicht machen di"' esttmmung des Mens h . . "'

c en aus,- mit emem Wort: Intelligenz.

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III.

Theorie des Denkensund der Wahrheit.

Die vage Unbestimmtheit der menschlichen Triebveranla­gung verschafft dem Menschen den größeren Handlungsspiel­raum, zugleich aber auch die L ab i 1 i t ä t seiner Betragens­bahnen. Mit Leichtigkeit treten hier "Diskoordinationen", "Stö­rungen" auf - während das Tier verhältnismäßig gerade Bah­nen läuft, gesichertere, zuverlässigere- jedoch mit dem Neben­umstand, daß ihm im Falle von Widerwärtigkeiten, Gefahren usw. nun auch nur ein entsprechend enger Spielraum von Um­gehungs- oder Aushilfechancen zu Gebote stehen. Den Men­schen treffen Störungen als Appell, auf den er 1. emotional (d. h. zunächst in erregter Unschlüssigkeit), 2. rational (d. h. auf Ab­hilfe sinnend) reagiert. Dieses zweite Moment ist jetzt zu be­trachten. Die Betrachtung wird zu einer einheitlichen Theorie des "Denkens", "Erkennens" und zu einer Theorie der Wahr­heit führen, welche von Dewey - wiederum vom Schema des vollständigen Betragenskreislaufes (Ich-Welt) aus - ent­worfen worden sind. I n n e r h a l b eines Betragensganzen ent­springen bei Gelegenheit von Diskoordination Erkenntnispro­zesse, - als episodische Prozesse - die gerade in ihrem l o g i s c h e n Sinne nur dann richtig und schlüssig verstehbar sind, wenn sie a 1 s "episodische", als im breiteren vitalen Betragensverlauf f u n die r t e Phänomene aufgeiaßt und analysiert werden.

Dewey 1 sagt einmal gegen Lotze, der Beruf der Logiker, ihre ausschließliche Beschäftigung mit Erkenntnisvorgängen habe sie auf das Vorurteil gebracht, Seiendes müsse irgendwie erkannte s Seiendes sein oder es sei überhaupt nicht - so, als ob Dinge oder Charaktere nur da wären als "ins Auge ge­faßte" oder "begriffene". Sie sind aber da als geschätzte, ge­flohene, gesuchte, gefundene, als in Umstrittensein belebte; sie sind da (und "nicht-da") als Freude, Trauer, als Herstellung, Verwendung, Hantierung, als Verrichtetes oder Beiseitege-

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brachtes. Und sie sind in all diesen Weisen spezifisch qualifi­zierte "Habe". Indem die Logiker diese Vorlogischen Gestalten au~er acht ließen, indem sie annahmen, alle Organisation von Se~e.ndem s~i eo ipso g e da c h t e Organisation, geriet ihre Logik zugleich unter die Herrschaft des Vorurteils, alles Seien­d~ stehe primär im Modus der Wahrheit oder der Unwahrheit. Die hilflosen Zirkelbewegungen, in die von da aus jede Theori~ des Erkennens hineingerissen wird, zeigte Dewey in seiner Kritik Lotzes auf und gegen diesen Iiintergrund entwickelte er im .. Jahre 1903 ungefähr die folgenden Thesen, die für alle seine s~ateren logischen und erkenntnispsychologischen Arbeiten leitend geblieben sind: Seiendes steht nicht primär im Modus der Wa?rheit oder der Unwahrheit. Nicht einmal derjenige Ausschmtt des Seienden, mit dem der Menschen unmittelbaren U~gang pflegt, - das er "hat", oder selber "ist", ist als solches Pnmär wahr oder unwahr. Der Bereich des Seins und ebenso der Bereich des schlichten Habens ist unendlich viel größer als de~ B~reich des Wahren. Bezirke des Wahren zeichnen sich ~Pisodisch erst da ab, wo ein menschliches Handeln ganz spezi­fischer Art: nämlich ein Fragen und Untersuchen oder gespann­tes Ausschauen, stattfindet.

Pr~mär wird Seiendes im Modus schlichten Habens oder refl~.xiOnslosen Hantierens erfahren und ist darin als ein vage ~efuhltes vorhanden. Erst wo infolge ungewohnter Konfigura­tionen der Situation die Hantierung mit dem Seienden ihren Boden und ihre verläßlichen Horizonte verliert, d. h. in Ver­legenheit kommt, wo sich infolgedessen (in eins mit auftreten­de~ "Emotionen") ein Suchen und Fragen, eine Intention auf Wiederherstellung des in Verlust geratenen Spielraumes be­merkba~ macht, erst da tritt Seiendes in den Aspekt möglicher ~ahrheit oder Unwahrheit. ·Wahrheit ist ein korrelativer Bc­gnff zu Erkenntnis. Erkenntnis aber ist eine spezifische Form ~e~schlichen Handelns. Wenn der Pragmatismus die Wahrheit m die Perspektive der Aktivität versetzt, so nicht deshalb weil h~er eine einseitige aktivistische "Weltanschauung" und Welt­emstellung zufällig die Feder führte. Was der Pragmatismus 270

zeigt, ist, eher umgekehrt, dies: zur Welt gibt es unzählige Hal­tungen, die wesentlich unaktivistisch sind: das stille Mitschwin­gen mit ihr in der Freude, das Bedrücktsein durch sie in der Traurigkeit. Aber überall da verläuft zugleich menschliche Hal­tung überhalb, oder wenn man will, unterhalb des Bereichs der Wahrheit. Der Bereich der Wahrheit ist allerdings aktivistisch auszulegen, weil Sein als Wahrheit überhaupt erst auftaucht, wo eine geschärfte Aktivität des Erkennens im Spiel ist. Diese Aktivität aber wird vom Pragmatismus gerade in ihren Gren­zen erfaßt: die Aktivität des Erkennens hat jeweils nur episo­dischen Charakter. Jede Erkenntnis bleibt eingelagert in Horizonte, die als nicht erkenntnismäßige das erkennende Sub­jekt halten, weitertragen und insgeheim leiten. Und keine wie immer geartete "reine Erkenntnis" kann ihre je besondere natür­liche Situation, zu der sie relativ ist, wirklich transzendieren. Sie kann sie nur dialektisch unsichtbar machen und verleugnen. Erkenntnisvorgänge sind episodisch: sie entspringen, wo reflexionsloses Dasein in Verlegenheit gerät und führen, wenig­stens a potiori, zu solchem reflexionslosen Dasein zurück. Denn alle Erkenntnisvorgänge haben wesensmäßig instrumentale Funktion: sie dienen der Wiederherstellung solchen ursprüng­lichen Daseins, das in sich selber nicht primär logischen und deshalb auch nicht wesentlich wahrheitshaften Charakter trägt, sondern in jenen vageren Charakteren der Freude, der Traurig­keit oder etwa der Inbrunst, bzw. der Weite, des Reichtums, sich abspielt.

Schematisch hat jeder Erkenntnisvorgang drei Phasen: 1. die Erfahrung einer Störung, die einer bisher wohlgestalteten Umgangsweise mit unweitliehen Dingen widerfährt 2

• Die Störung mag ganz gelinde sein. Ein leises Zögern, das den Handelnden inmitten herzhaften Zugreifens befällt, oder ein plötzlicher Anflug skeptischer Zurückhaltung inmitten genuß­reicher Versunkenheit. Die Störungen können robuster sein. Umso deutlicher spielt sich dann folgendes ab. Der Haudelnde wird auf sich selbst zurückgeworfen. Er hält an sich, nimmt von den Sachen, mit denen er eben noch handgemein oder in

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die er versunken war, Abstand. Die Sachen stellen sich ihm gegenüber auf als fragwürdige Faktizität. Dieser Vorgang bringt die Subjekt-Objekt-Spaltung zustande, die nicht über­haupt und nicht schon vorgängig zum Denken besteht. Die zweite Phase besteht darin, daß die angesetzte Hantierung des Subjekts in der verwandelten Form sich fortsetzt, daß es die Objekte oder die geballte Faktizität, gegen die es sich distan­ziert hat, in der Einbildungskraft (oder auch handgreiflich) auseinanderlegt in das, was unmittelbar noch taugt, für die teil­weise Fortführung der bisherigen Hantierung und in dasjenige, was als wegweisendes Anzeichen zu gebrauchen ist für einen passenden Entwurf von M ö g I i c h k e i t e n , auf deren Wegen der ursprüngliche Handlungsbereich indirekt wieder­hergestellt werden kann, und zwar so wiederhergestellt wer­den kann, daß die Faktoren, die die Störung herbeigeführt haben, ausgeschaltet oder geradewegs in Dienlichkeiten ver­wandelt werden.

Das Faktische als dieses Widerständige wird also hier auf­gebrochen und auf seine instrumentalen Charaktere hin son­diert. Das Faktische hört auf, ,factum brutum' zu sein, und wird zu einer Summe von Zeichen und mechanischen Verfügbar­keifen. Es ist von entscheidender Bedeutung, daß sich dieses alles nur zuträgt im aktuellen Vollzug dieser besonderenzwei­t e n P h a s e eines Erkenntnisprozesses. Die hier kunstvoll her­ausanalysierten und destillierten Bestände vom Faktischen und Möglichen, die zwar in und für diese Phase des Untersucl1ens "Wirk I ich k e i t" sind d. h. etwas, womit in der Tat und "wirksam" operiert wird, werden nun aber vom Idealismus eines Lotze oder vom Realismus eines R·ussell oder Santayana zu "eigentlichen" und "letztgiltigen" Wirklichkeiten hyposta­siert. Indessen führt jeder normale Erkenntnisprozeß aus dieser zweiten in eine dritte Phase, in der er erst zu Ende kommt. Und in dieser dritten Phase findet ein Zurücktauchen in kunst­losere und völligere Wirklichkeit statt, auf die jene abstrakt­analytischen "Wirklichkeiten" stets bezogen waren und bezogen blieben 3

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Die dritte Phase ist der experimentelle Zusammenschluß der analysierten Verfügbarkeifen mit dem Möglichen-: dem g~­danklich, ideal Entworfenen, das sich in den aufgespürten Zet­chen angemeldet hatte. Die verbleibenden VerfügbarkeHen wer­den mit den zunächst nur ausgedachten, inzwischen aber wirk­lich bewerkstelligten oder aufgesuchten neuen Sachverhalten zusammengebracht. Wird dadurch die gestörte Hantierung tat­sächlich wieder in Gang gestzt, so erweist sich damit die v~II­zogene Sondierung des Faktischen auf Verfü~bares un.d auf sich anzeigende Möglichkeiten hin als w a h r: die Intent10~1, unter <l.er das Faktische analysiert wurde, e r f ü 11 t sich. SubJekt und Objekt, Möglichkeit und Wirklichkeit vereinigen sich wieder zu einer wohlgeordneten Einheit der Hantierung oder des Ge­nusses. Wahrheit bedeutet: Erfüllung von jeweils vorfallenden Untersuchungs-und Lösungsintentionen. Derwieder beherrschte Fortgang der organisch-einheitlichen Hantierung oder die wie­·derhergestcllte Lebenseinheit schlicht genießenden Umgangs steht fernerhin noch im Zeichen der Wahrheit nur insofern, als eine E r i n n e r u n g fortwährt an die überwundene Spal­tung, oder insofern die wiedererrungene H~n.dlu~gsein~.eit sich neuerdings durchsetzt mit sorglicher AntiziPation mag­lieher künftiger Beeinträchtigung oder Störung.

Diese Theorie der Wahrheit, die nur als Korollarium einer triftigen empirischen Beschreibung der Erkenntnisvorgänge.ver­standen sein will, behauptet ihre Giltigkeit nicht nur, wie es scheinen möchte, für den Bereich des technischen, auf Natur­beherrschung bezogenen Wissens, sondern ebenso sehr für die Bereiche des (von Scheler z.B.) sogenannten"Bildungswissens" (Wert-Wissens) und "Erlösungswissens" 4• Gerade indem De­wey zeigt, daß dieselben Methoden auch in den Bereichen der ,höheren" Geistigkeit, obzwar spezifisch abgewandelt, walten, 'wm er die Mauern niederlegen, die ein geistiger Feudalismus immer von neuem errichten möchte. 'vVo immer eine schlichte reflexionslose Freude an natürlich empfundenem Guten oder an Geliebtem sich in ein "Wertwissen" verwandelt, schieben sich Reflexionsvorgänge ein von prinzipiell gleicher Struktur wie die

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vorstehend skizzierten. Werte, Wertwissen entsteht, wo Gutes (d. h. freudig Getanes und Empfundenes) mit einem andern sol­chen Guten kollidiert. Eine natürliche Einstellung zu einem be­stimmten Guten oder Geliebten gerät in Spannung zu einer zweiten, gleichfalls konkreten liebenden Verhaltung, die die Ge­stalt des ersten stört. Eine Rekonstruktion der ersteren wird infolgedessen nötig, und zwar eine Rekonstruktion mit dem Ziel, daß die zweite störende Gestalt entweder zum Zerfall gebracht oder miteinbezogen werden kann. Man denke hier an geschicht­liche Auseinandersetzungen, etwa des frühen Christentums mit der antiken Kultur, die nachdringt und verarbeitet sein will, oder an die Verarbeitung europäischer Tendenzen im neuen amerika­nischen Frontiersleben, oder, am deutlichsten, an Glaubenshal­tungen einer älteren Generation, die von einer jungen Glaubens­bewegung (sofern die radikal und umfassend ist) erschüttert werden und sich alsdann zu Anschlußaktionen aller Art (äuße­ren und inneren) genötigt sehen. In allen diesen Fällen entsteht eine Verlegenheit des Lebens. Die benötigte Rekonstruktion verläuft dann so, daß ein bisher natürliches Gute sich gegen das fragende Subjekt loslöst, ihm als fragende Faktizität gegen­übertritt, so daß sie sich in ihre variablen Elemente, in ihre beweglicheren BeziehbarkeHen analysieren läßt. Solche sich nun herausstellenden möglichen Beziehungen, solche projizier­ten ldealitäten nennt man in diesem Bereich: Wertstrukturen; und die Fülle der Wege, auf denen sich solches analysiertes Gutes zu neuen Erfüllungskomplexen verbinden läßt, nennt man die Dialektik der Werte. So sind, leicht ersichtlich, alle Weisen geschichtlichen Verstehens, die sich ausbilden lassen als Vermittlungen zwischen sich zunächst störenden Erfah­rungsweisen, nichts anderes, als wiederum analytisch experi­mentierende Erkenntnisvorgänge, die sich in den oben geschil­derten Phasen vollziehen.

1. Phase: Erfahrung kollidierender Bereiche von Gutem.

2. Phase: Analyse jedes dieser Bereiche in seine beweg­lichen Elemente; Überlegung von möglichen Vermittlungen, Verbindungswegen zwischen ihnen mit der Intention auf die

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Wiederherstellung der Integrität des totalen Erfahrens, in wel­chem beide Bereiche mehr oder weniger adäquat unterkommen sollen.

3. Phase: Wahrheit als Wahr-machung (verificatio): als ex­perimentierend ausgeführte Erfüllung dieser aktiven Inten­tionen.

Es zeigt sich, die Erkenntnisvorgänge im Bereich des "Bil­dungs- und Erlösungswissens" tragen wiederum "praktischen" Charakter: wieder ist Wahrheit instrumental zu Erfüllung. Die erstrebte Erfüllung freilich, etwa das resultierende geschicht­liche Verstehen, einer "vergangenen" in den Zeichen einer "neuen" Zeit, mag hernach vorwiegend als ä s t h e t i s c h e r Ge nuß - (beispielsweise) -erfahren werden. W a h r h e i t ist stets ein p r a k t i scher und ins t rum e n t a I er Begriff; der besondere Erfüllungsbereich aber, zu dem sie jeweils in­strumental ist, wird dadurch nicht präjudiziert; der mag je nachdem vorwiegend praktisch, oder theoretisch oder ästhe­tisch oder religiös sein.

Für die Natur- und technischen Wissenschaften und für die sogenannten Geisteswissenschaften gibt es nur e i n e r I e i Wahrheitsbegriff, weil es, auf die Grundfunktionen gesehen, nur einerlei Weise des Erkennens gibt. Für jene beiden Be­reiche gilt gleichermaßen, daß Erkenntnis eine Verhaltungs­weise ist, die nur e p i s o d i s c h (und selbst innerhalb dieser Episoden nur p a r t i e 11 herrschend), im Verlaufe natürlichen Daseins entspringt und dahinein zurücktaucht Erkenntnis­funktionen, einschließlich aller noch so radikalen Fragehaltun­gen, sind instrumental, und zwar instrumental nicht zu Wissen als selbständigem Wissensgehalt, sondern instrumental zu schlichtem Leben: alle Wahrheit des Erkennens mündet aus in die Wiederaufnahme des einfachen Daseins in seinem Fort­gang, mündet aus in die F r e u d i g k e i t , die sich in solcher fortgängigen Praxis von selber zuträgt, und zwar nun mit größerer Sicherheit zuträgt, weil jene Episode der Erkenntnis, der artikulierten Besinnung, sich als nachwirkende Umsicht und

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Helligkeit im Tageslauf selber ansiedelt. Erkenntnis und Wahr­heit sind in völliger Übereinstimmung mit dem Werktag. Wahr­heit wird nicht aufgeschichtet zu feudalem und herrschsüchti­gem Besitz, Wissen bildet keinen Staat für sich selbst, ist kein höheres Reich gegen das Gemeinwesen des Alltags.

Wir sind unversehens im Bereich ethischer Fragen ange­langt. Diesem Bereich wenden wir uns nun ausdrücklich zu. Die Grundlage, auf der Dewey ethische Fragen behandeln wird, ist die, daß die "praktische sittliche Vernunft" nicht kate­gorisch aus sich selbst Wertmaßstäbe erzeugt, die gleichsam von außen oder oben die "Natur des Menschen" anherrschen. Die sittliche Vernunft hat keine "konstitutiven" Funktionen (so wenig wie sonstiges Denken solche besitzt), sondern nur r e­k o n s t r u k t i v e Funktionen. Sie kann helfen, in dem d u r c h g ä n g i g e n Z u s a m m e n h a n g menschlichen Be­tragens, den die Natur schon gestiftet hat, bestimmte Zusammen­hänge noch weiter zu festigen, oder verfestigte zu größerer Freiheit aufzulockern. Die Natur, mit der die "sittliche Ver­nunft" es zu tun hat, ist gegen sie nicht das "Untere" und keine "böse". Sie ist in ihrem "Triebleben" nur der Drang, in der größeren, umgebenden Natur mitzuspielen. In ihren emotio­nalen und rationalen Betragensweisen aber reagiert sie auf die Widerstände und Einladungen dieser größeren Natur und Welt etwa im Sinne des Emersansehen Gewissens, als ein fein ab­gestimmtes unendlich spielfähiges Kompensationsinstrument Dieses "Instrument" - oder diese Konstitution des Menschen als eines Mitspielenden - begriff Dewey aber nicht als eine metaphysische, überirdisch verordnete, sondern - in der Nach­folge der tiefsten Einsichten von James - als eine b i o I o­g i s c h - teleologische N a t u r ordnung. Die natürlichen Ord­nungen: den vorgegebenen Zusammenhang der Natur im Men­schen, soll die Ethik nicht zu transzendieren suchen - sie k an n es gar nicht, ohne an Rechtschaffenheit und natürlicher Sicherheit einzubüßen. Ethische Prinzipien sind nicht Prin­zipien der Direktion der Natur, sondern der Redirektion. Als geführte nur kann die Vernunft führen.

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III. Kapitel:

GLAUBE ALS WILLE

Die Idee seiner "E t h i k" entfaltet Dewey im Zusammen­hang mit einem eigentümlichen Begriff der Ku n s t. Die Kunst begreift er von der Seite der Technik. Technik ist ihm aber nichts Äußerliches, sondern das wesentliche Vermögen des Men­schen, sich indirekt oder vermittelnd zu betragen. Höchste Schönheit tritt in Erscheinung, wo es dem Menschen gelingt, ein Stück Natur in ein Aktionszentrum zu verwandeln, das nach unendlich vielen Seiten hin vermittelnde Wirkungen ausübt, so aber daß deren Möglichkeiten zugleich schon in ihm als Anblick und 'erfüllte Stimmung gesammelt sind. Im Kunstwerk ist die vermittelnde Kraft des Menschen zur Gestalt g e s a m m e I t , zugleich aber über diese Gestalt hinausspiel end, f o r t­wirkend. Im Kunstwerk ist die eigentliche Lebendigkeit dieses Ineinander von Erfüllung (Konsummation) und Dienstfertigkeit zu unendlich fortgängigem Werk (Instrumentalität). Große Kunst ist individuell im Sinn des "großen Individuums" bei James und Emerson: sie ist wie ein Mensch, der, zwischen Vie­len und Vielem vermittelnd, zeigt, was von nun an möglich ist und in Angriff genommen werden kann. So ist die Schönheit der Kunst nicht das "Ästhetische" an ihr (der isolierte Anblick bestimmter, stilvoll gelungener Erfüllungen), sondern mitten in der Erfüllung ihre instrumentelle, "technische" Seite: das

Werk als wirkendes 1 •

Ethik, gefaßt als Kunst, Kunst aber gefaßt als die höchste mögliche Technik des Vermitteins - in diesen Begriffen liegt das, was Dewey im Sinn hatte, wenn er gegen James sagte, nicht darum gehe es, dem Menschen einen ,W i 11 e n' (oder ein "Recht" oder eine "Freiheit") ,zum G 1 a u b e n' zu ver-

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statten, sondern darum: Glauben zum Willen zu disziplinieren. Die bloße Freiheit zu meinem Glauben ist eine nur ästhetische Schönheit. Da ist Glaube nur dieses "Innere" und "Meinige". Glaube als W i I I e aber ist Schönheit, die aus sich herausgeht, die nach allen Seiten hin die Konsequenzen ihres Glaubens zieht, ihn ins Werk setzt, ihn zum Mittel und Mittler richtet ihn im Tun und in der Tat auf die Probe stellt, ihn um schafft -in Wirkung und Gegenwirkung ihn w a h r, d. h. unendlich' in­strumental sein läßt 2 •

Diese deklamatorischen Sätze sind im Folgenden auf ihren spezifischen Inhalt hin zu entfalten. Zunächst aber ist zu be­merken, daß diese Ethik ersichtlich das Werk der Deweyschen Psychologie und Logik ohne eine Spur von Unterbrechung fort­setzt. Grundlegend für die Psychologie war der Begriff des Betragens-Kreislaufes. Die Labilität der Instinktbahnen im Menschen führt zu ,emotionalen' Erregungen sowohl wie zu jenen Bildentwürfen, die in eins mit der ,intellektuellen' Analyse der Gegenstände zu teils faktischen, teils idealen "Anwesen­heiten" gelingen: durch diese Vermit t I u n g e n zwischen Vorhandenem und Möglichem wird der ursprüngliche Kreislauf wird die Einheit mit der Welt auf eine gegenüber dem Tier~ leben grenzenlos komplexe und wesentlich k u n s t volle Art wiederhergestellt. Emotion und Intellekt, - mit einem Wort .. Rede" (als "Diskurs"-: das Iiin-und-Iier-Gehen von einem zum andern; und als ),oro<;, ),Ejstv-: das Auf- und Zusammen­sammeln des Zerstreuten) bleibt als Vermittlungswesen nun dauernd eingeschaltet. Damit hat der Mensch zugleich die "Einsamkeit", das Insich-selbst-beruhen der insUnktsicheren Tiere ein für alle Mal aufgegeben: er ist nicht einfaches Natur­wesen, sondern Natur ist ihm zur "Welt der Rede" (universe of discourse) und damit zugleich, im elementarsten Sinn dieses Begriffs: zum Kunstwerk geworden. Jede "Gegenwart" redet ihm zugleich schon immer von "abwesendem Anwesen­den": von Möglichkeiten. Das menschliche Verhalten ist gleichzeitig hiermit noch in einem offensichtlicheren Sinne reden des (querverbundenes und vermitteltes), weil sich 278

-der einzelne Mensch ständig als bewußter Partner o r i e n­t i er t am Verhalten Anderer, die er versteht, d. h. mit denen zusammen er seinerseits eine zu der ihrigen korrelatiye R o I l e spielt. Eine korrelative Rolle spielen ist Reden im eigentlichen Sinne: Dialog, Kommunikation, - wohingegen das zuvor erwähnte ,Reden' mit den D in g e n - wie schon früher betont - ein unvollständiges Reden ist, da die Dinge nur in meiner denkenden Einbildung, sodann in meiner in sie ein­greifenden Tat als deren reagierende Faktoren - aber nicht von sich aus, "antworten 3

".

Solches Rede-stehen und In-Rede-Stehen, im Dialog mit anderen stehen, ebenso wie der Diskurs mit Dingen, braucht in­dessen nicht artikulierte, bewußte Rede zu sein. Dazu kommt es, wie öfters bemerkt, nur in besonders gespannten Situatio­nen, wo eigentliches "Denken" stattfindet. Der Punkt, der festzuhalten ist, ist der, daß menschliches Dasein wesentlich -und schon vor allem expliziten Denken - v e r m i t t e l t e s Dasein ist. Die eigentlichen Denkprozesse nun wurden in Deweys logischen Arbeiten so gefaßt, daß sie wiederum und neuerdings V e r m i t t l u n g s funktionen sind. Meine un­artikulierten gewohnheitsmäßigen, relativ naiven und doch immer schon "vermittelten" Umgangsweisen,- "Redeweisen": meine gewohnten Kommunikationen mit anderen, Diskurse mit den Sachen, werden akut gestört. Da muß die Störung auf ihre Faktoren analysiert, Möglichkeiten der Wiederherstellung eines wohlfunktionierenden Kreislaufs müssen ideal entworfen und dann experimentell versucht, verifiziert werden. Das haben wir im vorigen Kapitel entwickelt.

Diese Lehre des Denkens trägt für Dewey den Gewinn ein, daß in ihr der logische Bruch zwischen Natur- und Geistes­wissenschaft sich aufhebt. A I l e Wissenschaft, auch die "ver­stehenden", sind experimentierende Unternehmungen, insofern praktische, v e r mit t e l n d e Unternehmungen. Naturwis­senschaft bildet systematische Techniken der Naturbeherr­schung aus. Geisteswissenschaft bildet gleichfalls systema­tische Techniken der Naturbeherrschung in einem engeren

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Sinne aus: nämlich der Seelen- und Menschenbeherrschung~ Seelisches, Menschliches wissenschaftlich zu verstehen, heißt (in einem weitherzigen Sinne des Wortes): p r a k t i s c h e Herrschaft über es gewinnen, nämlich so, daß wir freier sinn­voller mit ihm umgehen können im Portgang der G~samt­situation des Lebens. Dewey glaubt, daß gerade für die Geisteswissenschaft der Satz gilt, daß jede große Anschauung. jede "theoria", nur dann in der Liebe ihres Gegenstandes: lebendig ist, wenn sie zugleich ihren Gegenstand praktisch sein läßt: ihn Praktisch sein lassen heißt in ihm seine eigenen In­strumente entdecken, vermöge welcher er Kommunikation un­terhalten kann zwischen sich und einer Welt, die sich gegen ihn wandelt. Ihn praktisch sein lassen heißt: statt ihn bloß "feststel­lend" zu "verstehen"- ihn fragen, welche elementaren ,Wirk­lichkeiten' in ihm ruhen, die sich auflockern lassen zu neuen Freiheiten der Aktion und Reaktion auf verwandelte Lagen und Bedingungen. Damit aber tut dann der Geisteswissenschaftler dasselbe wie der Naturwissenschaftler: er experimentiert mit seinem Gegenstand: er löst die Gegenstände als unmittelbare unartikuliert-gegebene und hingenommene Güter auf in ihr~ Faktoren, er erblickt in ihnen ,Instrumente': K a u s a 1 i t ä t e n.

Die Verwandlung n a t ü r I ich gegebener und hingenom­mener Güter in eigens beschützte und zu fortgängiger Verwen­dung "instrumenti-erte" Güter- d. h. in "Werte", ist für Dewey identisch mit "ethischem" oder "ver an t wo r­t ende m" Verhalten ihnen gegenüber. Diese Deweysche Idee der Ethik entfalten wir im Polgenden in drei Abschnitten.

Die Ineinssetzung von W e r t mit seinen wirklichen Mi t­t eIn, von "Verstehen" - mit Einsicht in zugrundeliegende Kausalitäten, ist bei Dewey eine bewußt ketzerische Lehre. Nichts ist für seine Ethik und für seine Idee der Kunst so ~harakteristisch wie seine Kritik derjenigen "Wertlehren", die m diesem entscheidenden Punkt eine von alters her entgegen­gesetzte Auffassung vertreten. (I a.)

Die theoretische Spitze dieser Kritik zeigt sich in denjenigen Diskussionen, in denen Dewey seinen Begriff des V e r m i t-280

t e I n s eigens zum Thema macht. Dies geschieht überall da, wo er an ve~streuten Stellen seiner Werke die Begriffe "Ziel" und Mittel" diskutiert. Die wesentlichen Stücke dieser Diskussion

~ind mitzuteilen. Das einfache Resultat ist: daß Ziele selbst wesentlich Mitte I sind. Wo "Ziele" anders verstanden wer­den, (nämlich als Selbstzwecke), kommt es zu typischen Patho­logien des "guten Willens". (I b.)

Seine Anschauungen über "Ziele" und "Mittel" und über die Möglichkeiten und Verkehrungen eines "guten Willens" hat sich Dewey in eingehender geschichtlicher Auseinandersetzung _ insbesondere mit K a n t - erkämpft. Die Einseitigkeit der Kantischen "Gesinnungsethik", die zu den gleich unnatürlichen Abstraktionen der utilitarischen "Erfolgsethik" (Bentham) nur einen Gegensatz auf gleicher Ebene darstelle, entspringt, sagt Dewey, mit dieser zusammen, aus gemeinsamem ~.oden:

- Aristoteles. Kantkritik, sagt er, ist nur sinnvoll als Kntik der griechisch-aristotelischen "Humanitätsidee". (II.) . ..

Der griechisch-abendländischen Ethik, die die hochsten menschlichen Güter zu "Werten an und für sich" erklä~e und sie somit aus dem Bereich des Alltags (der Ökono~t~, ~es Sich-Sorgens um Mittel) heraushob, setzte Dewey dte~emge Ethik gegenüber, die er selber die Ethik der Demokratte ge­nannt hat. So bietet sich zuletzt die Gelegenheit, den haupt­sächlichen Inhalt der drei Kapitel über Dewey - ebenso der­jenigen über James, über Emerson, .un~ auch d~n ~~~al~ d~s vorausgegangenen Bandes über Bemamm Pranklm, bundtg zu wiederholen in einem Bericht über Deweys Idee der Demo­kratie. (III.)

Der Begriff, der die drei Teile des folgenden Ka~itels zu­sammenhält, ist der Begriff des V e r m i t t e I n s. Dteser ~e­griff ist der methodische Grundbegriff der Deweyschen Philo­sophie überhaupt. Auch kennen wir diesen Begriff von .I a n g her. James faßte Wahrheit als eine Weise des Vermtttel~s. als cash-value': Wechselgeld. Emerson faßte das Gen 1 e als Vermittler. Pranklin lehrte, die eigentliche T~chnik d~s Lebens einer Gemeinschaft sei die Kunst des Vermtttelns: dte

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Kunst des politischen Dialogs, des arbeitenden Kompromisses. Und schon im 17. amerikanischen Jahrhundert faßten die Män­ner, die den Mayflower Kompakt miteinander aufsetzten ihr Ziel nicht in der Idee eines "Staates" zusammen, sonde;n in dem W i I I e n , miteinander ein einfaches m e n s c h I i c h e s G e m e in w e s e n fortlaufend herzustellen, wogegen alles Institutionelle ein "Mittel" sei, über das sie sich von Zeit zu Zeit beraten würden. Nur ein Wert wird durch diese 300-jährige Geschichte des amerikanischen Commonwealth festge­halten als fester: der Wert der menschlichen Gemeinschaft. Weil er u n bedingt gilt und unbedingt gesucht wird, sind alle übrigen Werte im Rahmen dieses "heiligen Experimen­tes": Technik. Weil Dewey d i es e alte amerikanische Glau­bens- und Willens-Tradition in die Methodik und Begriffsbil­dung seiner Philosophie hineingeschafft hat, ist es wahr, was man oft sagen hört, in seiner Philosophie spiegele sich der eigen­tümliche Zustand des amerikanischen politischen und nationa­len Lebens. Ja, mehr noch scheint wahr zu sein, das amerika­nische Leben hat sich in dieser ,Spiegelung', selbst im zerris­senen 20. Jahrhundert noch einmal, zum einfachen Ideal ge­sammelt und so sich selber a u f b e w a h r t und v e r t i e f t. Wer Dewey verstehen gelernt hat, versteht sich in bestimmter Tiefe und Sicherheit auf den inneren Zug, den Richtungswillen und die Tragkraft amerikanischen Wesens und Gemeinwesens.

I.

Werte, Ziele und Mittel.

a) K r i t i k d e r W e r t I e h r e.

Die Schulen der "Neukantianer" und verwandte Schulen in allen Ländern lehren, das Verstehen von Wertgebilden sei etwas vollkommen anderes als dasErklären vonEreignissenaus ihren Kausalzusammenhängen. Dieser Unterschied, dem Dewey nur eine oberflächliche, keine grundsätzliche Triftigkeif zu-282

billigt, geht, so glaubt er, auf die Griechen zurück. Denn die Griechen begründeten die Meinung, zwischen einem Wert und den natürlichen Ereignissen, die ihn bewirken, bestehe keine innere Gemeinschaft. Dewey führt Aristoteles an. In seinen Augen- überhaupt in den Augen der Griechen- sei "Wert", was die schaffende Kunst abwirft als fertiges "Gut" (als s e i enden Gegenstan'd der Theorie, der Kontemplation).

Das Schaffen selbst (im sozialen Sinn: als Arbeit; im meta­physischen Sinn: als Unfertig-Sein und Ungewiß-Sein, insofern "Nicht- Sein), hatte in den Augen der Griechen keinen Anteil am Wert. Dewey zitiert Aristoteles: "Es gibt Klassen von Menschen, die notwendiges Material der Gesellschaft aber kein integrierender Teil derselben sind", und meint, Aristoteles habe die Summe der griechischen Anschauung vom Verhältnis zwi­schen "Wert" und seinen "Mitteln" (als einem streng ä u ß er-1 ich e n VerhäHnis) gezogen, wenn er im gleichen Zusammen­hang gesagt habe: "Ist da ein Ding, das Mittel ist, und ein Ding, das Ende (Wert) ist, so ist nichts gemein zwischen ihnen, außer insofern als das eine, das Mittel, das Erzeugnis produziert -und das andere, das Ende, das Erzeugnis empfängt\"

Wert (und ebenso Schönheit) lagt für Aristoteles (nach De­weys Bericht) nur im fertigen, im h e r gestellten Kunstwerk, in delli was die Theorie als reine Anschauung aus der Hand des Werkz~ugs, des Tuns und des Sklaven empfing- und nun für sich als end g ü I t i g e (ewige) Anwesenheit festnahm.

Unter dem Einfluß dieser griechischen Gesinnung (die da­mals in sozialen Einrichtungen wohl fundiert war) sei es ge­schehen, daß eine moderne Werttheorie behauptete, Werte seien Gegenstand des Verstehens, und solches Verstehen habe nichts zu schaffen mit dem Erklären der Ursachen und Um­stände, denen ein Wert entsprang. Freilich liegt diese moderne Wertlehre (laut Dewey) in großen, eigenen Konfusionen, -denn im Anschluß an die Männlichkeit der Renaissance schätzt ja der moderne Mensch im Grunde den Schaffenden (Arbeiten­den) höher als den Genießenden (Besitzenden) - z. B. den Künstler höher als den Ästheten, währenddessen aber jener

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"reine Verstehende", den die "Ursachen", die "Mittel", kurz: der P r o z e ß der Z e u g u n g nichts angehen soll, gerade wieder den Standort des Ästheten oder des Besitzenden ein­nimmt. Gegenüber dieser Werttheorie ist Deweys Position kurz folgende: "Werte", sowohl wie Bedeutungen entspringen in dem natürlichen Vorgang der Geselligkeit des Menschen. Bedeutungen sind das Mittel, das sich ~wischen zwei Menschen einstellt, sofern sie ihr Handeln wechselweise wahrnehmen. Jedes schweigende Einander-wahrnehmen und Einverständnis ist der Struktur nach schon Wechselrede und Dialog in den Zei­chen von Bedeutungen, an denen beide Partner wechselseitig aber gleichsinnig teilhaben. Natürliche soziale Tendenzen sind am Werke, solche momentanen Bedeutungen als ,Werte' auf­zubewahren, sie zu verläßlichen Gebrauchs- und Genußgütern, Denkmälern, Idolen zu festigen, - ihre W e r t g e I t u n g zu fixieren. (Schlagworte sind z. B. solche Fixater Schüler pflegen - spontan - Gedankengänge eines Meisters in heilige Schreine, in massive Bundesladen zu verwandeln usw.) An dieser eifrigen Aufbewahrung der Bedeutungen qua Geltung, Wert, teilzunehmen, bzw. ihre bloße Schaustellung und Nach­empfindung zu betreiben, kann nicht Geschäft der Philosophie und Wissenschaft sein. Ihr Geschäft ist die Kritik solcher natür­lich erwachsenden "Wertreiche". Sie hat zu fragen: wie kam der jetzt fixierte Anspruch irgend eines Wertes zustande? Wie wirkt er sich aus? Aufgabe der Philosophie als Kritik ist, die bestehende Geltung eines Wertes in Frage zu stellen, d. h. aber: in den lebendigen Prozeß der Wertzeugung zurückzutauchen - also aus der Haltung des Besitzenden überzugehen zur Prü­fung der Kausalreihen, die einen Wert zustande kommen ließen, und die von ihm weiterhin ausgehen 2

Philosophie und Wissenschaft hat zu fragen: auf welchen offenen oder geheimen Wegen kam es zu dieser Wertgeltung, auf welchen offenen oder geheimen Wegen wirkt sie auf das konkrete Verhalten der Menschen ein - insbesondere auf ihre Freiheit, miteinander intelligent umzugehen und zueinander offen zu sein?

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'h 't der Menschen Der Philosophie geht es um diese Pret et

Uel·nander- und folglich hebt ihr Verstehen v.on Wertenhda-z .. hch zu mac en,

Uf ab sie intelligenter Beherrschung zugang T ra ' 1 b ·· an den ag indem sie ihre internen Mittel- und Po ge ezuge .. . d'

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~~~1feeß:,i~:r~::~a:;: ~:~n d~nglichen zusammenhänge, die ihn

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Me~schen verschließen sich gegeneinander (und _geg~ sich

selbst): .geg~n ihr eig~es l:~~:s~~:. ~:s l:~et;~~g~hre n~~~~ sung, mit mchts so se r a .. . . " t Dewey, mittelbaren" Werte halten. "Und ldie T;.agod:e:tf;:~~chenDing

daß in so vielenfällen die Ursac Jen, ~~ zduf.. . Gutse'tn in-" .. k . G ünde sm ur sem ' als einem Wert fuhren, eme r . lb Gut ist die

h d ß ein unmttte ares • dessen die Tatsac e, a es ·enes der Tendenz hat, jenes Forschen nach den Ursa~~l~~~ ~edi~gung Leidenschaft entzogene Urteil fernzuhal:en, d d . t'st a"

d f t Gutem m Gutes e Jure . d~r Verwa~~~:g s:~~ie:te a~n~ ketzerisch beladene Satz läßt Dteser pat a .. b . daß das dumpfe oder sich zu dem ei~facheren ~er~ro. e~n~elber gründen, dazu ge-heftige Gefühl fur Werte(,d~tehmftsic) Grund" auf dem solches

· · d wahren mg a en ' neigt _sei, ~n k und auf dem es weiterhin sein Spiel treiben Gute ms Spiel am, .. ken. die Ursache seiner "unmittel­wird aus den Augen zu ruc ' · · · rt Besitzer­bare~" Werthaftigkeit sei derweilen nur mem ftxte .erd' Weite wille der sich dagegen sperrt, sich hinauszuwagen m Ie . die

d Offenheit der Vermittlungen (Kausalreihen), d~_rch.dte -un . o· 't dem übrigen Naturlauf anfanglieh ver­ses gellebte mg mt kt ( d dann k .. ft war und weiterhin, nur vielleicht unbemer ~n

nup . · d Ich sperre mich gegen heimtückisch) verknüpft bleiben Wlf • - . . B

d h d' es mtch semen e-die Vermittlungen eines Guten, urc Ie .. ' .. ·t . di'e fortgängigkeit der Natur zuruckstoßen mochte.

st zer m d' Rückver-G , d'tesen Rückschlag der Liebe und gegen Iese

egen 285

Page 42: Baumgarten Ueber Dewey

~~~li;:;~Ig in ~ebn forte~le~den oder Widerpartnerischen Fluß eren e ens will Ich mich u d . r

feindselig abschotten. Ich will nur . n m~m ge Iebtes Gutes mit meinem Gut . . rem, unmittelbar verstehend,

en ems sem, aber es nicht kl"" d exponieren. ;,Unmittelbare" Wertgefühle si d er _aren, ·, h. wey eigenwillige Vers hr ß . n somit nach IJe­M .. I 'h . c Ie ungen emes Besitzes gegen die

el~~;~c~ ~u I~e\~:~~::. :~ela:i:r!iv~~~te~ndihGnegzeunkr~ften Guten d · " ' emem " e JUre zu erweitern.

des;e~ches ~nschließ~nwollen und solches Trotzen wird in­

ein~ ele:~e:tareew~7 ~Icht :noralistisch verurteilt, sondern als griffen: eine Tende:n e;.z I~ a~em geschichtlichen Dasein be­standes . . z, Ie a s egenpol zur Offenheit des Ver­wiederho:~ Bereich ~es geistig-geschichtlichen Lebens nur angetroffe ' w~s dsch~n Im Bereich ~er untermenschliehen Natur

,. . n Wir . enn schon die anorganischen Naturvor ~:~g:nzdei~en die. gleiche polare Spannung zwischen Kontrak~ die modern:P;~~I~Z· b~~;. ~ereiche ~er Natur enthalten, wie Iäufe mit Anf atJgt, Geschichten, d. h. Ereignisver-Kontinuitäten a~:; u;d End~ermin, hiermit enthalten sie sowohl Dasein des Mensch ers~hluss~, Brüc_he 4. Im geschichtlichen deren Züge· Konti:n.t~·etigen Sich, weil es ein Stück Natur ist,

. UI a en sowohl wie AbscJI·· S feindselige Exklusivitäten: 1 usse, prünge,

"Wie iedes natürliche Erei n· liehe Individuum in der G lt g J_s, so steht auch das mensch-her ist es in ein blinde~w111 ~em~r Dunk.~lheit und von dort umarmt sich in seiner Is I. emsem gesturzt. Der Mensch E o Jerung und sträubt s· l

ntschließen, gegen das G'b d N' Je I gegen das den verfügbaren Kräft J dun WJmm de~ Kommunikation mit dieser ängstlichen Abweeln ~r Kelt, gleJch, als gälte es in

lr emen ampf um die E" I' seiner Existenz Selbst k .k Jgent Ichkeit des Unkommu.nizierten ommuni abler ~inn ~~t in die Färbung ganz frei von Reserve. !~lt;suc!t~ Keme ?ffentlichkeit ist baren Vereinzelung des M l g man dJeser unverrück­sie los wird DJ·e Sti'mm enscdJ.en _antun, nur nicht, daß man

. ung Je m 'h .. d bittere Sehnsüchtigkeit in die E f J r grun et, ka~n eine dazu führen d ß . r ahrung werfen. Sie mag

' a Sich das Selbst ruhelos und unstillbar 1 286 Ierum-

wirft und an jede Gelegenheit äußerlicher Betriebsamkeit und Zerstreuung verfällt, nur um i h r zu entrinnen. Sie mag liebe­voll genährt und ausgebildet werden in einer trostreichen Gelassenheit gegenüber den Geschäften der Welt und endet dann in dem abwegigen Glauben an die Überlegenheit des privaten inneren Lebens gegenüber allem anderen, oder in der Illusion, daß so etwas wie echte Befreiung gelingen könnte durch eine fleißige Behütung des Herzens vor dem Betrieb der \Velt und der Gesellschaft. Sie mag sich Ausdruck verschaffen in systematisch ausgearbeiteten Weisen der Zärtlichkeit und Rührung über sich selbst oder in Ausbrüchen eines groß­trotzigen Schreies: Hier stehe ich und kann nicht anders. Sie mag zu einer vernunftlosen Loyalität gegen offenbar verlorene Sachen und zu bodenloser Hoffnung stark machen, und die Ereignisse mögen sich manchmal so schicken, daß solch ab­wegiger Glaube recht behält 5."

Aufgabe der Philosophie ist es, meint Dewey, diese Dunkel­heit, in der sich der Mensch herumwirft, für ihn aufzuklären. Natur ist dieses Gute und Böse: Kommunikation und Trotz. Vernunft ist das Bessere der Natur selbst: die Auflösung des Trotzes durch die BioBiegung und das weitherzige Ausdenken von natürlichen Mitteln der Kommunikation. Geist und Philo­sophie ist die Ausgestaltung und Artikulation der Wege, auf denen die zerstreuten Möglichkeiten des Guten miteinander in Verbindung gesetzt werden, sodaß sie in dieser innigeren Kom­munikation eine stärkere Macht gewinnen: größere Elastizität oder Wandelbarkeit in der Zeit nach Maßgabe der Bedingun­gen, Umstände, "Weltlage". "Unmittelbare" Werte sind be­griffene, verstandene Werte nur, wenn sie dazu erlöst sind, ein neues gegenwärtiges Lebenkönnen zu "vermitteln". Indem Er­kennen solches Aufschließen und Vermitteln ist, erweist es sich als schaffende Kunst, die, wie das gleiche von jedem bildenden Künstler gilt, nur dann ihre Begriffe, Schlüsse und "Ansichten" zu vollendeter Gültigkeit gereinigt hat, wenn solche geglückte Erfüllung (consummation) zugleich aus sich fortgeht und brauchbar bleibt zu neuer Verwendung und Nutzung.

287

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b) "Ziele" und "Mittel" 6•

Ehe ein Ioh als vernünftiges, umsichtiges Selbst Z i e 1 e ins Auge faßt, ist es als Organismus schon in bestimmten Rich­tungen vorgetrieben: es hantiert mit Gegenständen in gerichte­ten Bahnen des Verhaltens. Die Gewohnheiten, in denen es sein Dasein treibt, sind nicht passive Anpassungen a n Um­welt, sondern Anpassungen v o n umweltliehen Dingen, ein Ausrichten, Bearbeiten, Gebrauchen derselben. Nicht aber stehen dabei Dinge als "Ziele" vor Augen, sondern sie sind, als Spürbares, Ungefähr-Gefühltes, verläßlich eingebaut in ge­wohnte Bahnen des Verhaltens. Dieses die-Gegenstände-im­Gefühl-Haben gerät in Unruhe, sobald sich die Bedingungen, unter denen üblicherweise hantiert wird, verändern. Wenn aber Hantierung auf diese Weise gestört wird, so verschwin­den die "Gegenstände", die die Gewohnheit im Gefühl hatte nicht einfach, sondern sie wirken in ihr weiterhin fort - aller~ dings als veränderte, entsprechend den veränderten Um­ständen. Die Veränderung, die an den Inhalten der Gegen­standsgefühle einer gestörten Gewohnheit geschieht, ist die, daß sie nun, wo sie als das Ungefähr einer gewohnten Intention sich an den gegebenen Verhältnissen nicht mehr unmittelbar erfüllen können, dieselben überspringen: sie springen gegen sie vor und sind nun als V o r b i 1 d vor den Augen des gleich­zeitig erweckten Bewußtseins. Sobald das Treiben einer Ge .. wohnheit gestört wird, entspringt, vermöge der Stauung, jetzt allererst scharfes Gefühl und "Vors t e 11 u n g" hinsichtlich bestimmter entscheidender Gegenstände, mit denen sie seither arglos umging. Gleichzeitig damit wird die Frage wach: wie sind diese Gegenstände, die jetzt als ideale Vorbilder (Ziele) vorschweben, wieder "einzuholen", dem Betragensverlauf wie­der einzuverleiben? Wie ist der Umgang, der nun ausdrücklich durch diese vorgesprungenen Gegenstände ("Zielpunkte") ge­kennzeichnet ist und in unruhiger Sorge als ein bedrohter wahr­genommen wird, von neuem sicherzustellen?

In dieser Analyse, in der das Selbst als ein schon immer und von selbst tätiges gefaßt wird, erscheint ein Ziel als etwas 288

gegen Widerstand Vorspringendes, das nun alsbald innerhalb der Tätigkeit des Selbst eine vermittelnde Punktion ausüben wird. Ziel ist nicht E n d e , das einem Handeln als Endzweck vorgegeben ist, ist auch nicht "Motiv" des Handelns, dadurch dasselbe allererst verursacht würde, sondern: ein Ziel ent­springt mitten im Umgang und funktioniert innerhalb des­selben als M i t t e 1 seiner Reorganisation.

Je mehr ein "Ziel" seine Punktion erfüllt, desto mehr ist es ein bloßer Richtpunkt, oder eine Anzahl von Richtpunkten, an denen sich Handeln reorientiert. Daraus ergibt sich aber, daß kein Ziel, sofern es in irgend einer brauchbaren Schärfe einen Plan von Handlung leitet, je congruent sein kann mit dem gan­zen sachlichen Umfang des ursprünglichen Tuns und Lassens, dessen Fortführung es neu ermöglichen soll. Von daher klären sich Erscheinungen auf, die gerne für "Paradoxien" gehalten werden: Menschen, die ihr Ziel erreichen, sind enttäuscht oder überrascht von den Nebenerfolgen, Beigaben, vom "wahren·' Gesicht der Sache, in die sie nun verwickelt sind. Der Psycho­analytiker eilt herbei und läßt hören, daß das, was sich jetzt zeige, die "eigentlichen" Motive dieses Menschen enthülle. Kein Mensch erreiche ein anderes Ziel als dasjenige, das "wirk­lich" Motiv seines Handelns gewesen war; - offensichtlich v e r 1 e u g n e der Betreffende seine wahren Motive; a 1 s diese abgeleugneten, schließlich ins Unterbewußtsein abge­drängten "Komplexe", machten sie sich jetzt aber, wie sich zeige, geltend und stellten alle Vorgeblichkeiten dieses Men­schen nur desto schonungsloser bloß. Diese Charakter-Ent­hüllungen des Psychoanalytikers sind nur der Gegenzug gegen eine andere Deutung, die oft ein solcher Enttäuschter selber gibt: was da geschehe, sei nicht seine Tat, sondern nur ein ,,Äußerliches", das ihn nichts angehe. Unter allem, was jetzt sich zutrage, sei w e s e n t 1 i c h nur dasjenige, was als Ziel sein Handeln b e w u ß t motiviert habe. Der Grundirrtum der hier - auf beiden Seiten - herrscht, ist die Vorstellung, Ziele hätten - (sei es als bewußte, sei es als verdrängte) - die Funktion Tätigkeit und Handlung zu "motivieren" - d. h. in

19 289

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Bewegung zu setzen. Als ob der Mensch nicht vom ersten Atem an v 0 n s e I b s t in Bewegung wäre. Der natürliche Sach­verhalt, der den Streit zwischen Idealismus und Psychoanalyse aufhebt, ist einfach genug. Ziele können allerdings nicht "moti­vieren". Auch das "Festeste" im Menschen, die ältesten Be­stände seiner Gewohnheiten, sind in sich selbst schon dynami­sche Ladungen: ein Tunwollen. Diese ältesten Weisen des. Tätigseins und Ausgreifens bilden, indem sie ihre Erfahrungen an und mit den Dingen und andern Personen machen, ein Netz von neuen, wiederum vordrängenden Gewohnheiten aus. Die­ses sozial und dinglich sich zunehmend integrierende Netz von Gewohnheiten ist dasjenige, was wir in einer Person ihren substanziellen Willen-: ihren "C h a r a k t er" nennen 7

• Der ist in der Tat, in diesem Sinn, "k o m p I e x" - er ist an diese natürlich erwachsenen Komplexe verhaftet. Wo Ziele als jene vorspringenden Gesichtspunkte der Reorganisation ins Spiel treten, da wirken die eigenen komplexen Gewohnheiten als Tendenzen noch immer fort, desgleichen die Gewohnheiten an d e r e r, die in die meinigen hineinragen, und ferner noch. mit diesen beiden zusammen, das Gewicht und der Druck des Materials der unendlich vielschichtigen und unständigen Dinge, die in den beiderseitigen Gewohnheiten investiert sind. Tritt man nun aus der episodischen Konzentration der Zielsetzung, Richtungsnahme wieder - wennschon in der bewußten "Rich­tung" - ins volle Leben, so begegnet man allerdings niemals dem Ziel- das nur ein Wegweiser und Riebtpfahl war- son­dern diesem prallen Resultat des Konzerts aller mitwirkenden Kräfte. Unter den Mitspielern in diesem ,komplexen' Konzert mögen sich hier und da auch Sonderkomplexe im Sinn der Psychoanalyse einfinden. Aber sie bilden, selbst wo sie krank­haft und heftig wirken, nur e i n e n Koeffizienten unter andern. Auch die "Libido" - der durch Tabu-Vorschriften beliebig tief intensivierte oder verkrampfte Geschlechtstrieb - hat kein Monopol auf die Ausbildung von Lebens- und Aktions-Kom­plexen.

Alles Gesagte gilt für einmalig-herausragende, betont

290

ideale" Vorsätze ebenso wie für massivere, durchs.ch~ittlichere Zielsetzungen. Eine Berufswahl etwa - sofern ste uberha~pt mehr ist als ein automatisches "Einschwenken in eine vor e-

rf .. hrt 1 ih wahres" Resultat, St·1mmte routinenhafte Spur, e a a s r " f

' d ich au daß das abstrakte "vorschwebende" Schema, as man s ' es zulaufend, vorhielt, sich auffüllt mit dem ei~.enen alten \Ve~en des Ichs in Verbindung mit gewissen "neuen aber wunderltch derben, gediegenen und "trivialen" Sachlagen.

Gegenüber dem Schrecken oder dem Ho~n, d~n di~ De~a~­kierung absolut gesetzter Ziele auslöst, ergtbt steh ~m~ ~olhg andere innere tlaltung, sobald Ziele von vornherem m threr möglichen Funktion richtig verstanden und d.ement~prechend durch einen ausdauernd-vermittelnden Willen ms Sptel g~setzt

d n Ziele" sind dann richtig verstanden, wenn ste als wer e . " · ht r Kunstmittel und Werkzeug verstanden sind-: w~nn.mc v~ -

. d het'ßt das daß '.Sie in einem buchstabheben Smn gessen wtr , • . . h V o r 1 ä u f i g e s (erst noch zu Vermittelndes) smd. versuc s-

weise Anhaltspunkte. Moralphilosophen machen immer wieder Aufhebens .. von

d p d ie" daß man dem "Glück" nicht nachjagen ko~ne,

er " ara ox ' " man sich von Jhm daß es aber unversehens "komme ' wenn als diesem Gesuchten und Ersehnten entschlossen ab:'ende. Dewey sagt dazu: hier liege durchauskeine Paradoxie vor, sondern nur ein Beispiel für das allgemeine Gesetz,. daß m~n Ziele nur verwirklichen kann, wenn ma~ sich vo~ Jhne~ a I~ und den M i t t e I n zuwendet, d. h. an die A r b e I t ge ... der Ar b e i t aber wird das Ziel se.lb:t. Hilfsmittel und hort als solches auf zu nasführen und zu Jrrlheren.

An der konkreten Fülle der Bedingungen, denen eine Ziel­setzung im Handeln ausges·etzt wird, hat sie die Tragkraft und die Tragweite ihrer Wahrheit zu verdeutlichen. In d~r Er­fahrung der Situation als solcher, die sie belichtet, muß ste d~n scharfen Unterschied zutage fördern zwischen dem.' was ste aufhellt und verfügbar macht, und dem, ~as, von. thr unauf­gehellt und unbemächtigt, die Grenze anzetgt, w_o thre Wahr­heit in Unwahrheit verfällt. Wird die hypothetische un~. ex­perimentelle Funktion der Ziele geleugnet, so v e r s c h a r f t

291 19*

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sich nicht, sondern verhärtet sich ihre Wahrheit. Jetzt wird das Gute des Ziels wie unter sogenannten "Jesuiten" zum "Einen Zweck", der alle Mittel heiligt. Es vermittelt nicht Sicht, sondern läßt die Sicht auf das Viele der mitspielenden Zwecke und Sachen verlorengehen.

Zielsetzung vertauscht in allen diesen Pällen ihre offen­barende und aufklärende Punktion gegen eine m a g i s c h e. Als klassisches Beispiel hierfür führt Dewey die marxistische Lehre vom Ziel der \Veltrevolution an. Iiier wurde "Ziel" als Endzweck angepriesen. Eine "neue" Welt sollte die Expro­priateure mit einem Schlag expropriieren und hinmit "g u t e W e I t" werden. Um diesen Umschwung herbeizuführen, wurde aber zunächst die Parole des Klassenkampfes ausge­geben. Von ihm nahm man an, daß er "nur" als "Mittel" und nur vorläufig Geltung haben soll. So wurde auf ein Endziel hingearbeitet unter Nichtachtung~aller Polgen, die inzwischen auf Grund der Eingewöhnung der menschlichen Iialtung in den Stil der Mittel (die jenes extreme Ziel herbeiführen sollten) in den Menschen sich ansiedeln und als G e w o h n h e i t e n zwischen ihnen und ihrem vermeintlichen "Ziel" als das wirk­liche Ergebnis aufwachsen mußten: Verstocktheit (im ortho­doxen Glauben an die Dialektik des historischen Gesetzes); Glaubenslosigkeit (gegenüber jetzt verfügbaren Möglich­keiten); Iiaß im Sinn eines absoluten Prinzips (gegenüber einem laut Klassenlage angeblich absolut unzugänglichen und unbe­einflußbaren Peind). Diese hartnäckigen Gewohnheiten -der Niederschlag der Klassenkampfidee - werden theoretisch gleichgültig gemacht als "nur vorläufige Mittel" zu einem schließliehen Ende, das, als radikaler Umschlag, auch seine Mit­tel wieder "aufheben" werde. - Iiier wird also geglaubt, daß das, was vermittelnd am Werke ist, im Endresultat unwirksam bleibe. Diese Lehre des Marxismus, die für Dewey nur ein typisches Beispiel für unzählige andere analoge Einstellungen ist, gebärdet sich als "Wissenschaft", ist aber nur eine moderne Art von "Magie". Magie wird betrieben, wo immer man auf Resultate hofft ohne intelligente Beherrschung der Mittel, oder,

292

wo immer geglaubt wird, daß Mittel im Gang belassen wer­den könnten, ohne daß sie auf das Resultat (auf das "Ziel") einen wesentlichen Einfluß ausüben werden

8•

Es ist hier nicht nötig, die Pathologie solchen "guten Wil­lens" im einzelnen auszumalen. Typischerweise bringt jede Anklammerung des Menschen an Ziele als Endzwecke zwei prinziell mögliche Haltungen hervor: entweder der so Glau­bende verschließt sich eigensinnig gegen die faktischen Pol­gen seines Iiandelns: er zieht sich in sein Inneres - in das Innere seiner Zielsetzung zurück. Oder er versucht, um jeden Preis den Erfolg draußen brutal zu erzwingen und mit ihm, wenn er ihm als dieses Vereinzelte glückt, sein eigenes Ver­dienst zu erhärten. Wie dort im Selbstgerruß der "Überzeu­gung", des "reinen Willens" - so drängt sich auch hier eine gleichsam "ästhetische" Befriedigung (an einem festen äuße­ren Resultat) vor gegen die verantwortliche Teilnahme am Portgang der Dinge, der sich als weiterer Polgenbereich jeder einzelnen Tat oder jeder isolierten Reihe von Erfolgen anhängt. Die Versuchung, auf den erzielten äußeren Erfolgen zu be­stehen, ist insofern weniger schadenbringend, als jede solche herrische Selbstbehauptung in einem entsprechenden Ii an­d e l n sich fortsetzen muß, - also ihre E r f a h r u n g e n machen wird, - während der "reine Wille" immer erneut nur "sich s e 1 b s t" und im übrigen unter sioh gleichgültige Pälle des gemeinen Verrats der Welt erlebt, die seine Ziele nicht

verstehen will 0•

Ziele können zu gesunder Wirkung nur kommen, wenn recht begriffen wird, w a s sie und was sie n i c h t leisten können. Man muß die Gesetze des Haushalts, in dessen Rahmen sie fungieren sollen, vor Augen haben: Pür jeden Menschen be­stehen jene weit verzweigten sozialen und dinglichen Gewohn­heiten, in die hinein er geboren und erzogen wird. Weil diese Gewohnheiten so weit verzweigt sind, sind sie plastisch und variierbar und suggerieren von sich aus n e u e M ö g 1 i c h -k e i t e n bzw. den Willen, solche Varianten bewußt und ge­waltsam auszuschließen. Gewohnheit ist sachgründige Übung;

2H3

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die Sachen aber hängen unter sich zusammen, spielen fort und fort - und bilden so ein unendliches W e I t r e i c h. So langt jede besondere organisierte Übung und Gewohnheit zugleich natürlicherweise über sich hinaus. Es findet in ihr also ein Antagonismus statt zwischen einem "Trieb", sich zu erweitern und einem Bestreben, ihren bisherigen Bereich zusammenzu­halten, ihre einmal gewonnene form zu bewahren. Dem "Trieb'' einer Gewohnheit, sich zu erweitern, können, wie allen Trieben, "Ziele" entspringen; (der erforderliche "Widerstand", gegen den dieselben vorspringen, mag in diesem fall in vagen Be­grenztheitsgefühlen bestehen oder etwa in dem Gegengewicht, das das Bewahrungsbestreben innerhalb derselben Gewohnheit darstellt). Setzen wir diesen fall eines""Triebes" (der aus einer Gewohnheit heraus, rein infolge ihrer eigenen Expansions­fähigkeit entsteht, nicht erst in Erwiderung auf akute Situations­konflikte) als das einfachste Modell eines Triebes an, so läßt sich in Zusammenfassung der bisherigen Erörterungen sagen, daß die ethische Verantwortung oder die "Freiheit" eines Men­schen gegenüber seinen Trieben in der Art und Weise besteht, wie er auf deren sich zeigende Ziele reagiert. Dewey sagt: Freiheit ist ein lngenieurproblem. Die gestellte Aufgabe ist die: sich gegenüber aufscheinenden Zielen aufmerkend zu verhalten (wo sie aufscheinen, zeigen sie Verhärtung oder Unzulänglich­keit, zu eng gezogene Grenzen in bisheriger Gewohnheit an), den a u f g e g r i f f e n e n Zielen gegenüber aber umsichtig zu bleiben, dem hinter ihnen treibenden Trieb nur insofern sich zu verschreiben, als er sich wirklich fähig erweist, die bisherige Gewohnheit zu regenerieren, ihr eine erhöhte Plastizität, Bild­samkeit und Tragkraft zuzuführen, - statt etwa an die Stelle i h r e r Härte die neue s e i n i g e , ärgere, zu setzen. Wie aber: Kann denn die "Freiheit" oder die "Vernunft" im Menschen dies, jederzeit und wie sie will, bewerkstelligen? Hat sie etwa eine eigene unparteiische Polizeitruppe gegen die harte Übermacht eines Triebes ins Feld zu führen? Nein, aber indem ein M e n s c h dazu erzogen wurde, seine Umsichtigkeit unter keinen Umständen einem ausbrechenden Trieb (einem

294

neuen Glauben) blindlings zu opfern, ruft er im selben Augen­blick, wo er ihm gegenüber sein Gedächtnis intakt hält, die be­wahrenden Tendenzen, die in der betreffenden Gewohnheit bausen, auf den Plan; mit deren Hilfe schon geschah es, daß er Gedächtnis nicht preisgab, oder daß es, wo er es etwa einen Augenblick lang verlor, bald genug zurückkehrte. - Dre eige­nen bewahrenden "Triebe" (Tendenzen)-: das Gros der Ge­wohnheiten selbst - neigen dazu, Leben zu verhärten. Die eigenen Expansions-"Triebe", die die Gewohnheit jederzeit aus :sich selbst, gegen ihre eigenen Grenzen, auslösen kann, lockern es auf - können aber selbst sich alsbald überspitzen, ver­härten, und in der Wirkung Leben erst recht einengen. Dk Freiheit des Menschen ist das Ingenieurproblem, Trieb gegen Trieb in Schach zu halten, gegen e in e n Trieb, der fanatisch :sein möchte, die vielen Triebe der ganzen verfügbaren Natur

zurückzurufen 10•

In den beschriebenen Weisen hält Dewey "Ziele", ethische Grundsätze, und dergleichen in der Kontinuität zum natürlichen Leben. Was aber ist für den Menschen "Endzweck"? liierauf, glaube ich, antwortet Dewey: "Endzweck" ist, was uns ein un­durchdringliches Geschick geschenkt hat: dasjenige Gute, das, in diesem Sinne, als ein Heiliges den Menschen zur Frömmig­keit stimmt, ist das natürliche, gemeinsam erfahrbare Leben in seinem Prozeß 11 • Vernunft: Ziele, Idealität, Wertbewußtsein konstituieren nicht ein höheres abgeschiedenes Reich, sondern sind lediglich- um dies Wort zu wiederholen: -das "Be s­s er e" der Natur selbst: die Mittel und Werkzeuge, die sie zu ihrer eigenen Verbesserung an die Hand gibt, das Mittel der Aufhebung der in ihr sich zutragenden Schwierigkeiten, Ver­härtungen, Verkümmerungen. In dieser kontinuierlichen Ver­bindung mit der Natur kann nun umgekehrt auch die Vernunft und können ihre Grundsätze nicht erstarren, sondern bleiben beweglich in Anmessung an ihre natürlichen Dienste.

Die Deweysche Lieblingsidee der Kontinuität schließt sich hier eigentümlich zusammen mit einem scheinbar entgegen­gerichteten Prinzip, das der altamerikanischen Entschlossen-

2!=15

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heit zum "Ex p er im e n t" entstammt: dem Prinzip der Be­weglichkeit, Wendigkeit. Beide zusammen (continuity and flexi­bility) werden wir zuletzt in Deweys Idee der Demokratie ihre entscheidende Rolle spielen sehen. Sie waren aber auch dort­zusammen - am Werk, wo sich Dewey seines eigenen ,Glaubens' dadurch versicherte, daß er ihn in der offenen Aus­einandersetzung mit älteren Glaubenshaltungen zu einem Rede­stehenden, geschichtlich sich verantwortenden ,Willen' festigte.

II.

Deweys Auseinandersetzung

mit der Kantischen Ethik.

Deweys Kritik an der Kautischen Ethik 1 richtet sich gegen den bekannten Leitgedanken derselben, daß der moralische Wert einer Handlung in ihren Motiven, hinmit in der Gesinnung des Handelnden liege, nicht in den äußeren Folgen, die sie her­vorbringt. Indem Kant, so führt Dewey aus, auf diese Weise den sittlichen Wert des Handeins in das "Innere" der Person verlegte und die letztere zugleich ,autonom' erklärte, trat seine Lehre in scharfen Gegensatz zu iener Tendenz englischer Moral­theorie, die von Bentham auf die Spitze getrieben wurde in der These, das moralische Kriterium einer Handlung liege aus­schließlich in ihren Folgen, die sie für die Mehrung des indivi­duellen und kollektiven Glückszustandes austrägt. Die Zer­reißung, die hier von seiten Kants und von seiten Benthams am g an z e n Sinn einer sittlichen Handlung vorgenommen ist, fällt in die Augen. Man könnte nun zunächst glauben, man habe es hier mit zwei Theorien zu tun, von denen jede zur Hälfte wahr sei und die sich gegenseitig ergänzten. Dewey dagegen be­hauptet: die Zerreißung, die hier stattfindet, ist eine schlimmere. Indem Kaut die Erfolgsseite des Handeins aus seiner Wesens­beschreibung des Moralischen ausschaltet, zerstört, verstüm­melt er zugleich die Seite, die ihm am Herzen liegt: die Ge-296

sinnungsseite. Indem Bentham den Erfolg einer Handlung auf seine Weise isoliert und allein bewertet, verdirbt gerade er wiederum den echten Begriff des Erfolgs. Erfolg wird,- ge­nau wie die Kautische Gesinnung, nur in anderer R i c h t u n g , - zu einer bloß abstrakten Größe. Erfolg wird aus einem vollen praktischen Phänomen umgedacht und entleibt zu einem inne­ren Empfindungs-Quantum: - zu den angeblich kaikulier­baren direkten Lust- oder Leidmengen, die - als Realeffekt - aus einer bestimmten Handlung auf den Täter zurückkom­men werden. Dieser "Realeffekt", sagt Dewey, ist, näher be­trachtet, eine Fiktion, noch unwirklicher als die reine Ge­sinnung Kants.

Der Dualismus zwischen Kant und Bentham ist somit nur ein oberflächlicher. Er findet tatsächlich auf einem und dem­selben theoretischen Boden statt. Die Brüchigkeit dieses Bo­dens, die Unverbundenheit der beiden auf ihm eingenommenen Standorte zeigt allerdings an, daß dieser gemeinsame Boden nicht Boden im eigentlichen Sinne - verbindender, unterschlie­ßender Boden - ist, sondern das bloße Nebeneinander und Auseinander einer abstrakten "Ebene". Es erhebt sich also die frage nach dem Ursprung dieser dünnen und künstlichen Ebene, die Kant und Bentham miteinander gemeinsam haben. Und ietz t lautet allerdings die Antwort: sie ist emporgestemmt als die eine Seite eines wirk 1 ich e n und tiefgründigen Dua­lismus. Der dem Kantisch-Benthamschen Streit zugrunde lie­gende Dualismus ist - nach Dewey - der Dualismus der abendländischen Kultur überhaupt,- der auf Aristoteles zu­rückgehe und trotz der anderweitigen tiefen Wandlungen von Theorie und Wissenschaft sich kaum wesentlich abgewandelt habe: der Dualismus zwischen Mensch und Natur, oder: bildungsmäßig und modern gesprochen-: zwischen "Humanis­mus" und "Naturalismus". Über den Ursprung der Sache bei Aristoteles gibt Dewey an vielen Stellen seiner Werke Bericht. Ich wähle eine Stelle aus, die sich in seinem pädagogischen Hauptwerk findet und in der Absicht auf Allgemeinverständlich­keit geschrieben ist 2

• Hier - wie an anderen, meist sehr viel

297

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komplizierteren Stellen - spielt Dewey sein ihm wichtigstes "ceterum censeo" aus. Er glaubt, er kann den historischen Boden sichtbar machen, auf dem solche Isolierungen wachsen m u ß t e n, wie z. B. die Kantrsche Abscheidung des inneren, eigentlichen (Gesinnungs-)Wertes des Menschen vom äußeren natürlichen Geschehen seiner Taten und ihrer Polgen - oder jene umgekehrte Abscheidung des wiederum inneren eigent­lichen (Genuß-)Wertes der Po I g e n einer Tat für den Täter von der Tat selbst, von der fortgängigen natürlichen Komplexität ihrer Motive, Triebkräfte und unmittelbaren organischen Tat­freude -: Ar i s tote I es war es, der den eigentlichen Men­schen - die "Humanität" des Menschen - von seiner unteren oder bloßen "Natur" grundsätzlich abschied. Hier wurden den höheren Vermögen des Menschen nicht nur Führerrechte zu­gesprochen, sondern sie wurden als Selbstzwecke und Se!bst­genügsamkeiten isoliert, - isoliert in demselben Sinne wie das soziale größere Spiegelbild des individuellen Menschen: der

~griechische Staat, gegeneinander abgeschiedene Klassen zeigte: Dienende, Arbeitende, deren Leben "von Natur" in ein äußeres Tun und in physische Vorgänge verstrickt war; und (wiederum: "von Natur") Herrschende, Besitzende, deren Le­ben reine Theorie und reine Erfüllung (Genuß) war: Empfang­nahme der fertigen Resultate - bzw. der Reflexe - des natiir­lichen Geschehens in der Seele; Betrachtung des ablösbaren geistigen Gehaltes; Aufbewahrung desselben in interesseloser, über alles Begehren erhabener Gesinnung. Deweys Darstel­lung des Aristotelischen Begriffs des Menschen hat folgenden Wortlaut:

"In diesem System der belebten Wesen nimmt der Mensch den obersten Platz ein. Mit den Pflanzen und Tieren hat er Körperbau und Punktionen zum Teil gemein, nämlich Er­nährung, Portpflanzung und Bewegung. Diejenige Punktion jedoch, die ihn aus der übrigen Welt heraushebt, in der sein M e n s c h e n t u m liegt, ist das Denken. Das Denken hat den Zweck, das Schauspiel der Welt zu erfassen. Seine wahre, die spezifisch menschliche Aufgabe, liegt darum in der möglichst 298

vollen Erfüllung dieses menschlichen Vorzuges und Vorrechtes. Das eigentliche menschliche Leben ist deshalb ein Leben der um ihrer selbst willen betriebenen Beobachtung, der Ver­senkung, des Denkens, der Spekulation. Aus dem Denken ent­springt außerdem die rechte Beherrschung der anderen Ele­mente der menschllichen Natur, der Begierden und der prak­tischen Betätigungen und Impulse. Diese sind an sich durch Gier, Mangel an Unterordnung, Neigung zur Ausschweifung gekenn­zeichnet und streben lediglich nach ihrer eigenen Befriedigung; sie mäßigen sich - wie es ihnen als den niederen zukommt -und dienen wertvollen Zwecken nur dann, wenn sie der Herr­schaft der Vernunft unterworfen werden."

Niemand werde die weitreichende Triftigkeit der vor­stehenden Sätze, soweit sie beschreibend sind, leugnen wollen. Aber nun verfestige sich die Einteilung in den höheren und in den niederen Menschen - vor allem dadurch, daß die Analogie zu sozialen Menschen k I a s s e n herangezogen wird und als Modell der definitiven Pixiertheit des Unterschieds auf die all­gemeine Theorie zurückwirkt - sodaß die Humanität oder die Vernunft nunmehr feudalen Charakter annehme: ... "Nur in verhältnismäßig Wenigen ist die Vernunft imstande, als be­herrschendes Gesetz des Lebens zu wirken. In der großen Masse der Menschen herrschen vegetative und animalische Punktionen. Ihre Denkkraft ist so schwach und unbeständig, daß sie durch leibliche Begierden und Leidenschaften immer wieder überwältigt wird. Menschen dieser Art sind nicht Selbstzweck; denn nur die Vernunft stellt einen letzten Zweck dar. Wie Pflanzen, Tiere und leblose Dinge sind sie nur Werk­zeuge, Mittel im Dienste außer ihnen liegender Zwecke, wenn­gleich sie im Gegensatz zu diesen selbst genügend Verstand haben, um in der Ausführung der ihnen übertragenen Aufgaben gewisse Unterschiede zu machen. Sie sind daher von Na tu r und nicht etwa nur infolge der sozialen Lage Sklaven ...

. . . Innerhalb des einzelnen Menschen sowohl wie sozial gesehen besteht zwischen dem bloßen Leben und dem men­schenwürdigen Leben eine tiefe Kluft. Um ein würdiges Leben

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zu führen, muß man freilich zunächst überhaupt leben, was auch für die Gesellschaft gilt. Die Zeit und die Kraft, die für den bloßen Lebensunterhalt aufgewandt werden gehen ver­loren für Betätigungen, die in sich vernünftig und ~innvoll <:ind · ü?rigen~. machen Betätigungen der ersteren Art auch u~1ge~ eignet fur solche der letzteren. Mittel sind minderwertig _ was zu irgend etwas die n t, ist seinem Wesen nach knech­tisch. Das wahre Leben ist nur insofern möglich, als die äuße­ren Notwendigkeiten des Lebens, ohne Anstrengung und ohne besondere Richtung des Geistes darauf, zu haben sind. Daher müssen Sklaven, Handwerker und Prauen das zum Leben Nötige liefern für andere, die genügend Intelligenz besitzen sich in einem Leben der Muße mit Dingen zu befassen die a~ sich wertvoll sind. '

Diesen beiden Arten der Betätigung und der Unterscheidung zwisch~n dienender und freier Betätigung-: Kunst (Technik); u~d Wissenschaft - entsprechen zwei Typen der Bildung. Die emen werden durch geeignete praktische Übung darin geschult gewisse Dinge zu tun, mechanische Werkzeuge zu gebrau~ c~.Iei: und ~amit technische Erzeugnisse herzustellen oder per­sonhche Dtenste zu leisten. Diese Schulung ist lediglich Sache ~er G~wöhnung und der technischen Fertigkeit; ihre Methode Ist Wiederholung und Beflissenheit der Hingabe, nicht Er­weckung und Förderung des Denkens. Freie oder geistige Bil­dung dagegen strebt danach, die Intelligenz für ihre eigentliche Aufgabe heranzubilden: für das Erkennen. Je weniger es dieses Erkennen mit praktischen Dingen, mit der Produktion zu tun hat, um so stärker nimmt es den Geist in Anspruch. Aristoteles zieht die Grenzlinie zwischen der niederen und der freien Bil­d:mg ~o konsequent, daß er selbst diejenigen Beschäftigungen, dw wir heute als "reine Kunst" bezeichnen (Musik Malerei B~ldhauerei), soweit es sich um ihre Ausübung hande,It, zu de~ nIe d e r e n Betätigungen rechnet. Es geht bei ihnen nicht ab ohne äußere Hilfsmittel, ohne fleißige Übung und ohne äußere Ergebnisse. Bei der Erörterung der musikalischen Erziehung z. B. wirft er die Frage auf, wie weit die Jugend im Spiel der 300

Instrumente geübt werden solle. Er antwortet, daß solche Übung und Leistung geduldet werden möge, soweit sie zum Kunstverständnis führt, d. h. die Fähigkeit entwickelt, die von Sklaven und Berufsmusikern dargebotene Musik zu genießen. Wenn jedoch berufliche Tüchtigkeit des Musizierens erstrebt wird, so sinkt die Musik von der Ebene der freien Erziehung auf die der Berufsbildung herab - man könnte dann ebensogut das Kochen lehren, sagt er. So beruht selbst eine freie und geistige Beschäftigung mit den schönen Künsten auf dem Vor­handensein einer Mietlingsklasse von Ausübenden, die die Entwicklung ihrer eigenen Persönlichkeit zugunsten des Er­werbes mechanischer Fertigkeiten und deren praktischen Aus­übung geopfert haben. Je höher eine Betätigung, umso geistiger ist sie, um so weniger hat sie mit physischen Gegenständen und mit dem Körper zu tun. Je geistiger sie ist, umso unabhängiger ist sie, umso entschiedener ist sie sich selbst genug.

Diese letzten Ausführungen erinnern uns daran, daß Aristo­teles selbst innerhalb derjenigen, die das Leben der Vernunft leben, einen Klassenunterschied macht. Denn es besteht ein Unterschied der Ziele und der Freiheit des Handeins zwischen denen, deren Leben nur vom Denken b e g I e i t e t wird, und denen, die das Denken zum e i g e n t 1 i c h e n I n h a 1 t ihres Lebens machen. Der freie Bürger nämlich, der sich dem öffent­lichen Lebenseiner Gemeinschaft widmet, an der Leitung ihrer Angelegenheiten beteiligt ist und dadurch Ehre und Auszeich­nung erwirbt, führt ein Leben, das von der Vernunft begleitet ist. Der Denker jedoch, der sich der wissenschaftlichen For­schung und dem philosophischen Denken ergibt, arbeitet sozu­sagen "in Geist", nicht lediglich durch den Geist. Mit anderen Worten: selbst die Betätigung des Bürgers in den öffentlichen Angelegenheiten behält noch in etwas die Färbung des Prak­tischen, des Äußeren, des wirklichen Tuns. Diese Trübung kommt darin zum Ausdruck, daß die bürgerliche Betätigung und die Auszeichnung in ihr nur mit Hilfe anderer möglich ist; man kann sich im öffentlichen Leben nicht als einzelner be­tätigen, man bedarf anderer dazu. Aber alles "bedürfen"

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enthält nach der Philosophie des Aristoteles einen materiellen Pakto_r, umschließt Mängel und Unzulänglichk ·t b ·-r t noch Immer etwas außerh lb . ei en, eno Ig

.. . a semer selbst Liegendes zu seiner ~rf~llung. Em rein geistiges Leben aber kann man fii . h ll . m swh selbst führen; was man dafür an Unte 't ··t r sie a em, d rs u zung von an--~r.en erhalten kann, ist nicht wesensnotwendig, sondern zu-

falhg · · · Nur das Erkennen um des Erkennens willen ohne jede Bezug.~ah_me auf irgend welche Anwendung, ist v~Ilkommen u?abhang1g, ist sich selbst genug. Darum ist nur diejenige Btld_ung wahrhaft frei, die auf Kraft zum Erkennen ohne jede ~eziehu?g auf praktische Betätigung oder selbst auf bürger­hebe Pflichten abzielt."

_Diese "klassischen" Anschauungen eines Griechen (der zu­gleich umfassendes Genie und eingeschränkter ' Akademiker" gewese ") · ·d ' n sei sm ' sagt Dewey, nicht ungebrochen auf uns gekommen. Aber das Eigentümliche ist. di"e Ab dl · 1 , • wan ungen Ja se bst die scheinbaren Umkehrungen die t"m L f d '

1 · h r • au er ge-sc He t Ichen Entwicklung Europas an ihnen vorgenommen wurden, haben den "gründlichen Intellektualismus", der in ihnen angelegt :var, eher noch gesteigert. Gewiß: von den Menschen der R~natssance war das Aristotelische Reich der reinen Ver­nunft_m A~I~t.erklärt worden. Denn Aristoteles wurde jetzt ein­f~ch I_dentiftziert mit der sozial-konservativen Rolle, die er für die Bildun~ der christlichen Gesellschaft und Kultur des Mittel­al:ers gespielt hat. Der Kampf eines neuen Entdeckungswillens gn~. d~n Aristoteles an als den Schirmherrn eines nicht meh~ ertrag~Ichen Reichs starrer Autoritäten. Vernunft kam in einen entscluedenen Verruf. Vernunft: allgemeingiltige p . . . Begr"ff · . b nnziPien,

I e a pnon, edeutete nun entweder leere Formen, die unwahr waren, wofern sie nicht durch Erfahrung: dur_ch Wahrnehmungen der Sinne, oder durch getätirrtes C"x­penment ausgefüllt werden konnten, um damit erst B;deut;ng und Geltung zu gewinnen - oder sie bezeichnete auch ge-radenwegs veraltete, verrottete Vorurteile " E h h" und d · - s sa 1er . a so . aus, als werde gegen Aristoteles eine wirk-

hebe RevolutiOn durchgeführt werden. In Menschen wie Lio-302

nardo da Vinci waren Geist und Schaffen, Denken und hand­werkliche Technik bewußt einig, nicht mehr wie in Klassen des Höheren und des Niederen geschieden. Aber das Ende dieser Auflehnung gegen Anstoteies war erstaunlich. Indem der Geist des Aristoteles mit dem Geist träge aufbewahrter und überkommener Autorität gleichgesetzt wurde, empfahl sich als die beste Gegenwehr gegen diese trübe Mischung von Geist und altgewordenem Leben, von Geist und eingefleischten Ge­wohnheiten der scharfe Appell einerseits an die auflösende und kritische Kraft des radikalen G e danken s , oder anderer­seits an die alleinige Giltigkeit dessen, was als nächste sinn­liche Erfahrung auf die nackte, bloß rezipierende Seele auftraf: die "unmittelbaren elementaren" Empfindungen. Das Prinzip der "Erfahrung", das einige Männer der Renaissance gegen Aristoteles ins Feld zu führen grade schon im Begriff gestanden hatten, verengte sich, (z. T. in ihnen selber) sofort wieder. Der Begriff der Erfahrung meinte nun gerade wieder n i c h t das­jenige, was Aristoteles (zwar in abschätzigem Sinn, aber trotz­dem sachgerecht und treffend) als das Leben des Handwerkers und Technikers, des Künstlers beschrieben und unter den Be­griff der Empirie (ep.n:Etpta) im Gegensatz zu Geist, Vernunft, subsumiert hatte; sondern die Erf<l'hrung, die jetzt gegen den Aristoteles ins Feld geführt wurde, war paradoxerweise, ge­rade wieder G e i s t - und zwar Geist von Aristoteles' Geist -bloß mit einer neuen, bei Aristoteles so noch nicht vorkommen­den Betonung der s u b j e k t i v i s t i s c h e n Seite des Geistes (ein caput mortuum des ursprünglich politischen und notwen­digen Aufstandes der P e r so n e n gegen "Kirche" und "Zunft"). Erfahrung, unmittelbare, evidente Erfahrung, war nun, um es zu wiederholen, entweder dasjenige, was als Akt der Verstandestätigkeit in sich selbst klar und deutlich war (Descartes), oder was als Empfindungselement unmittel­barer passiv hingenommener Besitz der Seele war (Locke, engiische Sensualisten). Beide Male bedeutete Erfahrung nichts wirklich "Ursprüngliches", sondern je ein hochspezialisiertes Resultat analytischer Abs_traktion. Im Gefolge der einen Rich-

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tung entdecken wir unter anderem jene "innere" reine Morali­tät Kants; im Gefolge der anderen Richtung: die utilitarische Bewertung des Handeins nach Maßgabe der von ihm hervor­gebrachten "reinen" einfachen Lustempfindungen 3

Es geschieht in dieser allgemeinen, eben vorgetragenen Perspektive: in der Perspektive der "tragischen" Geschichte des europäischen Iiumanitäts- und Geistesbegriffs, daß Dewey die Kantische Ethik traktiert.

Die besonderen Sätze derselbyn, die er von drei Seiten aus aufs Korn nimmt, sind diese berühmten:

"Es ist überall nichts in der Welt, ja auch außerhalb der­selben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte-gehalten werden, als allein ein guter Wille ... " (Talente, Eigenschaften des Temperaments, Glücksgaben sind dagegen nur bedingungsweise gut: "denn ohne Grundsätze eines guten Willens können sie höchst böse werden").

"De~; gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zur Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich gut ... "

Und wiederum: "Eine Handlung ... hat ihren moralischen Wert nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird, hängt also nicht von der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung ab, sondern bloß von dem Prinzip des Wollens, nach welchem die Handlung unangesehen aller Gegenstände des Be­gehrungsvermögens geschehen ist."

Nichts sei lehrreicher, meint Dewey, für die Einsicht in den wahren Begriff und Gebrauch des menschlichen Vernunftver­mögens, als die Auseinanderfaltung des Sinnes und der theore­tischen Absichten, die hinter diesen Kautischen Sätzen steck­ten. Alle "Zwecke" eines Tuns entstammen nach Kant dem Begehrungsvermögen oder der Sinnlichkeit. Kant ist weit da­von entfernt, in der Sinnlichkeit, die ihm zwar als ein "unteres Vermögen" gilt, deswegen schon ein Prinzip des Bösen zu sehen.

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Sie ist weder gut noch böse. Böse wird sie aber, sobald sie selbst zu führen und über das, was Pflicht oder nicht Pflicht sei, selber zu entscheiden sich anmaßt. Pflicht darf nicht von der Vielfalt, Zufälligkeit und Anarchie sinnlicher Impulse ab­hängen. Pflicht ist einfach, kann ihre Gebote nicht beliebig abändern, je nach den Individuen und ihren tausendfachen Unterschieden der Anlage, Bildung usw. Ob sonst so oder so gebildet - oder ungebildet -, es ist immer der Mensch in absoluter Schlichtheit, der erkennt und weiß, was seine Pflicht ist. Es ist für Kant nur das Gegenstück zu dieser Alltagserfah­rung, wenn er jetzt erklärt, daß Pflicht in ihrer einfachen Giltig­keit sich theoretisch nur begründen lasse aus dem Prinzip einer reinen Vernunft, die nun dank ihrer vollkommenen Allgemein­heit ihre Entscheidungen zugleich als notwendige und unver­änderliche fällen kann.

Kant sah die Konsequenzen, die sich an eine strenge Durch­führung dieses Gedankens anhängen mußten und "scheute sich nicht, zu tun, was keiner vor ihm getan h~ttte: die Ab­trennung der moralischen Grundsätze und Ideale von der Er­fahrung bis zum letzten logischen Schluß durchzuführen. Er sah, daß, wenn man den Grundsätzen jeden Zusammenhang mit den Gegebenheiten der Erfahrung nehme, man ihnen auch jede Rücksichtnahme irgendwelcher Art auf die Polgen nehmen müsse. Dann sah er mit einer Klarheit, die seiner Logik Ehre macht, daß mit dieser Abschließung die Vernunft zu etwas völlig Leerem wird. Nun sah er sioh vor dem scheinbar un­löslichen Problem, moralische Anweisungen mit Bezug auf spezifische fälle aus einem Prinzip zu gewinnen, das jedem Verkehr mit der Erfahrung abgesagt hatte und daher unfrucht­bar und leer war. Und da kam er auf folgende sinnreiche Methode. formelle Allgemeinheit bedeutet zum mindesten logische Identität, sie bedeutet Übereinstimmung mit sich selbst oder Widerspruchslosigkeit. Daraus ergibt sich die Methode, mit der einer, der sittlich richtig handeln möchte, bei der Be­urteilung der Richtigkeit irgend eines in frage stehenden Aktes vorgeht. Er wird sich fragen: kann das Motiv dafür "allge-

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mein" gemacht werden für jeden Fall? Vermöchten wir noch zuzustimmen, wenn durch unsern Akt unser Motiv zugleich zu einem allgemeinen Gesetz der wirklichen Natur erhoben würde'? Würde ich dann noch diese 1 b e Wahlentscheidung treffen wollen?

Gewiß würde der Mensch sich besinnen, ehe er stiehlt, wenn er durch seine Wahlentscheidung, die Stehlen zum Motiv seines Aktes macht, es zugleich zu einem so starren Naturgesetz er­heben würde, daß er (und jedermann sonst) künftig immer wür­den stehlen müssen, so oft Besitzerwerb in Frage stünde. Kein Stehlen ohne Eigentum; bei allgemeinem Stehlen aber kein Eigentum: ein klarer Selbstwiderspruch ... " Stehlen kann niemand "rein" wollen, cl. h. a 11 gemein wollen, "ohne das. große logische Prinzip A=A zu verletzen 4

".

Kein verständiger Mensch, fährt Dewey fort, wird die Genialität, und ferner die Triftigkeit dieser einfachen Anwen­dung eines in der Tat universellen Prinzips leugnen. Das Kau­tische Schema zeigt denn auch sehr klar, welche Rolle die "Ver­nunft"-: Verallgemeinerung und Abstraktion, im Betragen zu spielen vermögen. Vernunft - Abstraktion und Verallge­meinerung - helfen uns, der Parteilichkeit zu entrinnen, von der unsere Begehrungen, Neigungen, Impulse, sich selber über­lassen, allzu leicht besessen sein mögen. Solang ich die frag­liche Tat nur als diese einzelne, meinige, vor mir sehe und sie, in dieser enge und Raschheit einleuchtend finde und finden will , solange werde ich auch um mich herum lauter Dinge sehen, die zu ihren Gunsten sprechen, während ich mir zugleich alles verdecke und in meinem Denken nicht zur Entfaltung kommen lasse, was g e g e n sie spricht. Zu der umgekehrten Haltung: sich hinsichtlich seines Vorhabens klar zu werden über den wirklichen Sinn desselben, d. h. über seine v o 1 I e T r a g w e i t e , dazu gibt es in der Tat keinen schärfereil Anreiz, als sich vorzustellen, daß man sich dem spezifischen Iiandlungsprinzip, das in dem fraglichen Vorhaben steckt, für immer verschreibt, daß man es sogar, von nun an, als ein festes, schlechthin wirksames Gesetz in die Naturverfassung

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der Welt einsetzt (that the motive of my act will become a fixed, a regular law in the constitution of things). In der Tat, indem wir unser Vorhaben in dieser Weise verallgemeinern, hellt sich uns zugleich sein eigener - gegen unsere subjektiven Wünsche und Vorurteile unabhängiger - Natur- und Sach­charakter auf. Denn um sein Motiv als allgemeines Naturgesetz auch nur formulieren zu können, muß ich mir, gleichsam in einem Gedankenexperiment, klar machen, was es praktisch mit ihm auf sich hat, worauf es hinaus will.

Nun läßt sich leicht vollends zeigen - und dies tut Dewey bis in alle Einzelheiten der Kantischen Beispiele hinein - wie es Kant zwar allem Anschein nach vortrefflich gelungen ist, den Beweis dafür zu erbringen, daß Moralität gegenüber der Anar­chie der Sinnlichkeit ein festes (kategorisches) Prinzip in einer ganz einfachen Regel reiner Vernunft besitz'e, wie aber diese Regel tatsächlich in der e n t g e g e n g e s e t z t e n Richtung arbeitet, als Kant für sie - eben um ihrer rationalen Reinheit willen - in Anspruch nahm. Nicht Gleichgiltigkeit gegen jeden konkreten Zweck und gegen die wirklichen Folgen einer Tat, sondern umgekehrt: die denkbar schärfste Inachtnahme und Ausfaltung des in Frage stehenden I n h a l t e s - seiner N a tu r nach, also vor allem auch nach allen seinen natürlich zu gewärtigenden F o 1 g e n, ist das, was die rationale Ver­wandlung der Privatmaximen in ein allgemeines Naturgesetz praktisch erzwingt - in der Tat: univer s e 11 erzwingt, d. h. überall da, wo dieser schlechthin einfachen Regel w i r k -1 ich und in concreto gefolgt wi:rd. Die Frage ist aber: was heißt das, dieser Regel "in concreto zu folgen"? Hierauf geben die Kautischen Beispiele selbst die Antwort. Sie selbst zeigen nämlich, daß jene innerliche (logische) Widersprüchlichkeit, die sich bei einer "allgemeinen" Projektion und Analyse pflicht­widriger Vorhaben automatisch ergibt, nur das logische Abbild s a c h 1 i c h e n Widerstreits und seelischer Unschlüssigkeiten ist, die Kant in der betreffenden Privatmaxime dadurch zum Ausbruch kommen läßt, daß er, im Gefolge jener über das bloße momentane Begehrnis hinaus e r w e i t e r t e n , "unpar-

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teiischen" Betrachtung des Vorhabens seitens der betreffenden Person, k o n k u r r i e r e n d e M o t i v e - aus dieser Person selbst heraus - auf den Plan ruft und in ihr ursprünglich einiges (d. h. hier: blindes) Motiv eindringen läßt. Und es ergibt sich als praktisches Resultat nun dies: ein moralisches Ziel ist ein solches, das sich harmonisch hineinprojizieren läßt in den wei­testen und breitesten Überschlag des Lebens der betreffenden Person im Ganzen. Es ist also nur scheinbar so, daß der "kate­gorische Imperativ", oder die Frage: "kann dein Motiv (deine "Maxime") zugleich ein Gesetz sein, das sich nicht widerspricht?" - es ist nur scheinbar so, daß diese frage und die in ihr geforderte Manipulation des rein formalen Satzes vom Widerspruch der wirkliche Grund und die Begründung des Guten ist. Kant selbst läßt unwillkürlich durchblicken, daß es doch nicht die reine formale Vernunft ist, die den eigent­lichen Kern des moralischen Wollens ausmacht. Denn die for­male Seite des kategorischen Imperativs erweist sich als ein bloßes technisches Ii i I f s mittel. Und selbst noch als Ii i I f s -mittel hört es alsbald auf, formal zu sein, kaum daß es sich sel­ber in Vollzug setzt. Denn alsbald ruft es konkretes Ge­d ä c h t n i s und k o n k r e t e E i n b i I d u n g s k r a f t dazu auf, eine Iiandlung, die sich blind oder absolut oder fanatisch aufdrängen will, als ein bloßes Teilstück mit dem g a n z e n Zusammenhang des eigenen Lebens zu konfrontieren - mit dem Zusammenhang des eigenen Leßens, das nun alle seine wesentlichen Sach-Interessen - als organische (und nicht von Iiaus aus "anarchische") zum Generalappell vor die Front bringt. Die Anwendung jenes reinen formalen Satzes h i I f t dazu, daß dieser Generalappell zustande kommt und funktio­niert, sie hilft dazu, daß alle jene vorerst verdrängten Interessen sich wieder melden können, nämlich sich melden können als In­teressen, die in der Tat Schaden leiden müßten, f a II s mein momentanes Motiv (meine Maxime) gegen sie zur Übermacht einer fortwährenden (naturgesetzlichen) Allgemeingiltigkeit erhoben würde. Die form a I e frage: "würde mein Motiv im fall seiner Allgemeingültigkeit nicht "sich selbst wider-

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sprechen"? hat sich unversehens in die k o n k r e t e frage ver­wandelt: "würde es in diesem falle nicht alle jene a n d e r n Interessen (oder jedenfalls bestimmte von ihnen) schädigen -und schlüge d i e s e Schädig:ung nicht schließlich auf es selbst zurück?" Auf diese frage hin geschieht es, daß sich mein Leben als Ganzes zum Appell meldet. Die Anwendung jenes reinen formalen Satzes h i I f t nun fernerhin, i n diesem Zusammenhang des ganzen Lebens noch ein besonderes specifi­cum in aller denkbaren Schärfe zu sehen: daß jedes solche ganze Leben nicht für sich, sondern Leben in einer Gemein­schaft ist; daß kein Mensch, keine Iiandlung und kein Genuß eines Menschen für sich selbst steht oder fällt, sondern die an­dem mitbetrifft und von ihnen rückbetroffen wird. Denn der "Widerspruch", der sich etwa in lasteiihaftem Iiandeln "auto­matisch" anzeigt, ist, genauer besehen, der Einspruch, den das soziale Gewissen - "Mit-wissen" - in mir gegen irgend ein Privatissimum-Gelüst erhebt. Deweys "natürlicher Schluß", den er, de'm allem zufolge, aus der Kautischen Methode zieht, lautet: "Das Rechte als das rat i o n a I e Gute bedeutet, näher untersucht, dasjenige, das eingeordnet ist in alle Fähig­keiten und Begehrungen des Selbst, derart, daß diese sich zu­gleich in ein zusammenwirkendes soziales Ganzes hinein aus­dehnen und da Fuß fassen können"."

Die Tragödie der Kantischen Ethik war, sagt Dewey, daß sie ihre eigene geniale Auslegung des Sinnes der Rationalität nicht wahrnahm, sondern das Schwergewicht der formalen V•ernunft aus ihrer dienenden, instrumentalen (steuernden aber nicht konstitutiven) Funktion zurücknahm und in die Gründung eines Reiches reiner Innerlichkeit verlegte. Er ver­schloß dadurch in seiner über die ganze Erde verbreiteten Schule den Blick dafür, daß ,innere' oder ,persönliche' oder ,reflektierte' Moralität Lebensrecht und Wahrheit in jedem Einzelfall nur dadurch gewinnt, daß sie - als "Mittel sozialer Rekonstruktion" - zu öffentlichem E i n s a t z gebracht wird zwecks Kritik erstarrter Gebräuche, zwecks Kritik irriger öffentlicher Meinung usw. In der Kautischen Schule wird sie

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zum Mittel des Rückzuges aus der "g·emeinen" und kampf­vollen Öffentlichkeit. Dann vergottet und v e r d i r b t sie drinnen die "Person" und läßt andererseits draußen die Öffent­lichkeit brutal werden.

Aber nun genauer, deutlicher. Nicht erst Kants Schule oder bequeme Anhängerschaft, sondern Kant selbst hat das Schwer­gewicht der Vernunft verlagert in die Moralität des guten Wil­lens als solchen und der guten Gesinnung als solcher, welche mit bestimmten Zwecken und bestimmten Polgen im Grunde ihrer selbst nichts zu tun haben will - oder nichts zu tun zu haben v o r gib t. Was sind die unmittelbaren, gleichsam ,logischen' Konsequenzen dieser Verlagerung? Nun, zu­nächst ist jenes "Vorgeben" nur bedenklich für die Theorie als Theorie. Es verstrickt sie in Untriftigkeiten und Piktionen und verzerrt so zunehmend das Bild des Menschen - zunächst als bloßes Bild. Theoretische Bilder sind aber zugleich Vor­bilder und helfen dazu, daß schon gegebene Neigungen des Oharakters sich wirksamer, mitteilbarer zu entschlossenen formen kristallisieren. Zum Beisp,iel: jene Frage der folgen, welche für den moralischen Charakter gleichgültig sein sollen. Zunächst ist nur das theoretische Ärgernis da. Man wird un­geduldig erwidern: gewiß bleibt ein gutes Motiv (und damit in gewisser Weise die Tat selbst) gut - t rotz der folgen, soferne die als unvorherzusehendes Mißgeschick die Absichten des Motivs durchkreuzten. Aber daraus allgemein auf die Gleichgültigkeit der Polgen überhaupt zu schließen, heißt doch (rein theoretisch) in der betreffenden Tat ihren wesentlichen Kontinuitätscharakter in der Zeit ignorieren. Im jetzigen Falle der Tat mögen Motiv und Polgen gänzlich disparat sein. Schon im Falle der Wiederholung der Tat "bei nächster Ge­legenheit" - nicht mehr. Jetzt gehören die damaligen "Pol­gen" mit zum "Motiv"; sie müssen j e t z t ins Motiv ,a priori' miteinbezogen sein, müssen mit im "einfachen" Blick stehen, - soll das Motiv vor "sich selbst" (vor seinem eigenen Gedächtnis und Wissen) aufrichtig bleiben können.

Hier sieht man aber sofort, wie die schlechte Theorie ent-

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sprechende praktische Neigungen des Lebens begünstigt: der "reine Gesinnungsethiker" kann sich stets aus der Verantwor­tung ziehen: "Ich meinte es recht." Er begibt sich dadurch auf die Ebene gewohnheitsmäßiger Selbsttäuschung, wenn nicht sogar der Scheinheiligkeit. Gedeckt durch den Auftrag einer ab­soluten Vernunft, kann er sich den typischen Egoismus er­lauben, von der Welt stets "mißverstanden zu sein"; sein "W i 11 e" ist derweilen gleichbleibend "gut". Der Engländer hat gegen solche Landsleute den Retort der Sprache bereit: "was aber bist du w i 11 e n s (willing)"? Wir werden deinen Willen beurteilen nach dem, was du (in Gestalt von augewand­ten Mitteln, von "Nebenerfolgen" und in Gestalt von akuten oder dauernden Hauptfolgen) "passieren" zu lassen w i 11 e n s bist" 6 •

Die Kantische Lehre der reinen Vernunft: der Gesinnungs­ethik, trug für Dewey alle Spuren jenes Humanismus an sich, der, seit Aristoteles, den Menschen aus seiner Natur h e r a u s -zuheben und ihn gegen sie abtrünnig zu machen versucht hat. Bei Kant war nicht nur die kontemplative Vernunft Selbst­zweck, sondern für ihn wurden es auch die Tugenden. Auch die Tugenden werden nicht aus ihrer natürlich-menschlichen Lebensfunktion, d. h. zugleich aus ihrer positiven Gemein­schaftsfunktion heraus verstanden, sondern als selbstgenug­same Vernunftformen. Dagegen erklärt nun Dewey katego­risch: "Tugenden sind nur Zwecke, weil sie so hervorragend wichtige Mittel sind." Die Wahrnehmung ihrer Punktion als elementarer Mittel für ihrer unwürdig zu halten, mag ihr "An­sehen" steigern, ist aber nicht ohne Polgen für das Leben. Denn jede Tugend zum Selbstzweck erhoben, wird vom Leben her und von der konkreten Gemeinschaft her gesehen, ,eigensinnig', m. a. W.: sie wird zum Laster. Die ,reinste' (wenn man will: die ,rationalste') der Tugenden: die Wahrhaftigkeit, sohätzen wir in der Tat an einem Menschen als einen Zug, der "an und für sich" gut ist - aber doch gerade nur deshalb, weil er so viel mit P o 1 g e n , mit R e s u I t a t e n zu tun hat, weil er par excellence eine "ausübende Eigenschaft" ist (an executive

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trait) - nämlich die Eigenschaft, unbequeme n ä c h s t e fol­gen, sogar den Tod, gering achten zu können, um wichtigere, dauernde folgen, die folgen der Lüge zu verhüten: die Zerstörung der Grundlagen menschlicher Kommunikation, die Zerstörung des Wesens der Sprache: Vertrauen, Offenheit, Konzentrationsmöglichkeit des Einzelnen auf seine besondere Rolle und Leistung. Wahrhaftigkeit, die nur über halb dieser sozialen Funktion und in Verächtlichkeit gegen sie als eine bloße innere Wahrhaftigkeit der Person kultiviert wird, hört rasch genug auf, wahrhaftig zu sein und verfilzt sich mit den abstrusesten formen des Selbstbetrugs.-

In ganz anderen, philosophiegeschichtlichen Zusammen­hängen gesehen, konnte aus der Philosophie der absoluten Per­son bestenfalls eine t i t an i s c h e Unruhe des Geistes ent­springen. Dann mochten rasch nacheinander die sachlich wider­sprechendsten Positionen gleichmäßig aus reiner Vernunft deduziert werden: f i c h t e. In ihm schon schlug die Philoso­phie des absoluten Ichs plötzlich um in die Entdeckung der eigenen Nation als des göttlichen Urvolkes. Ii e g e I aber be­merkte grundsätzlicher und konsequenter die Gefahren der reinen Innerlichkeit und machte sich an das Geschäft, die Ver­nunft endgültig zu objektivieren. Jetzt residiert sie im "abso­luten Staat" als der Verkörperung des objektiven Welt­geistes im gegenwärtigen "Moment" seines notwendigen Mar­sches durch die Zeit. Gegen den Staat sind nunmehr die Individuen als Ganze (auch nach der Seite ihrer ,Innerlichkeit'} das schlechthin Untere - als Untertanen.

Beidem-jener Verinnerlichung und dieser Veräußerlichung der Vernunft - setzt Dewey diejenige Gestalt der Vernunft entgegen, die er als moralische Demokratie bezeichnet. Sie hat, wie er scharf betont, nichts mit Demokratie als Staatsform zu tun. Demokratie als Staatsform sei lediglich ein Stück Maschi­nerie, das zu behalten oder wegzuwerfen ist wie irgend ein an­derer Maschinenteil auch, je nachdem ob er gut oder schlecht arbeitet. Unter moralischer Demokratie aber versteht Dewey

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die natürliche "Summe der Ethik" - jenes einfache· Ii erz, das für ihn hinter den rationalen formein des Kantischen kate­gorischen Imperativs pulsiert hat. Zu ihrer Definition wieder­holt Dewey fast wörtlich den Satz, mit dem er den posi­tiven Teil seiner Kautdarstellung beschlossen hatte: Moralische Demokratie "ist die wirksame Verkörperung des moralischen Ideals als eines Gutes, das in der Entwicklung aller sozialen Fähigkeiten jedes individuellen Gliedes einer Gemeinschaft be­steht 7

".

III.

Die Idee der Demokratie

Der Gedanke der Demokratie ist in Deweys Philosophie kein herauslösbares Teilstück, sondern die leitende Idee, von der sein Philosophieren im Ganzen bis in alle Einzelheiten hin­ein in Betrieb gesetzt wird. So wird denn der folgende, schließende Abschnitt, der diesen Titel trägt, keinen neuen Ge­dan~en mehr bringen, sondern nur eine bestimmt ausgerichtete W i e d e r h o l u n g der Hauptgedanken, die in den vorausge­gangenen Kapiteln hierhin und dorthin entwickelt worden sind. Da "Demokratie" aber das Leitmotiv der g e s a m t e n ame­rikanischen innenpolitischen und Geistes-Geschichte ist, so er­streckt sich die "Wiederholung" von selbst über den Weg hin zurück, den wir gekommen sind. Es erscheint daher ratsam, einen Augenblick lang anzuhalten, bevor wir den Deweyschen Gedankengehalt zusammenfassen, und zurückzuschauen zu James, zu Emerson, ja bis zu Benjamin franklin hin. In diese weit zurückgreifende Wiederholung hinein werden sich unver­sehens Gestalten drängen, die den Rahmen der bisherigen Be­trachtung sprengen: Roger Williams, Jonathan Edwards, .Jef­ferson, liamilton, Andrew .Jackson, Abraham Lincoln. Sie wei­sen im voraus auf einen gewissen Frontwechsel hin, den der abschließende dritte Band dieses Werkes vollziehen wird, um gegenüber dem ideal-demokratischen Glaubenselement noch deutlicher jene härteren Elemente vor Augen zu führen, die

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nicht etwa bloß die äußere, "tatsächliche" Geschichte der Ver­einigten Staaten beherrscht haben, sondern von da aus auch in die Geistesgeschichte und in die Gemeinschaftstheorie selbst eindrangen. Sie bildeten da eine Schicht des Willens und des Bewußtseins aus, die teils in arglosem Nebeneinander mit der Schicht des pragmatischen und demokratischen Glaubens lebte (so zum Beispiel in der Person von Thomas Jefferson), teils sich willentlich mit ihr verband und auswog (wie etwa bei Franklin, Emerson, James), teils dogmatisch und trotzig aus ihr verdrängt und negiert wurde (z. B. von John Dewey).

1:

George Iierbert Mead, einer der Mitarbeiter John Deweys in der "Chicago School of Philosophy" hat auf die auffallende Vergleichbarkeit aufmerksam gemacht, die zwischen den leiten­den Motiven der Deweyschen Philosophie und jener ältesten politischen Praxis der Amerikaner bestehe: den townmeetings, in denen die Stadtbürger auf der Grundlage ihres eigenen schlichten Laienregiments das für ihr gesundes Zusammenleben Zweckmäßige und Erforderliche oder das unter dem Druck der Situation und im Gang der äußeren Ereignisse Notwendige mit­einander durchsetzten, solchermaßen, daß aus diesen leben­digen kleinen Zellverbänden allmählich Stadtkreise, Staaten und Staatenverbände, zuletzt die Union erwuchs: "sie schufen ihr Gemeinwesen im Prozeß ihres gemeinsamen Iiandelns" (creating the community in the process of acting together 1). In der Tat ist, wie wir in der Einleitung des ersten Bandes zeigten, Deweys "E x p e r i m e n t a I i s m u s" oder "1 n s t r u m e n -t a I i s m u s" wundersam angekündigt in den wenigen Zeilen des Mayflower Compact des Jahres 1620. In diesem Instrument der Selbstermächtigung hatten Menschen, die miteinander einen gemeinsamen Glauben hatten, einander versprochen, die Pro­bleme ihres Gemeinwesens - von Zeit zu Zeit - durch pas­sende Beschlüsse, Institutionen, Gesetze, Beamtungen usw. mit­einander zu lösen. Das war der Geist der vordersten Linie (der

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"Frontier"): Geist von Pionieren. Wesentlich war diesem Geist von Anbeginn die 0 f f e n h e i t gegen seine "Zukunft": was die Zukunft - von Zeit zu Zeit - von dem wachsenden und fortschreitenden Gemeindewesen und Gemeindeglauben for­dern werde, das wollten sie wahrnehmen. Den selben prakti­schen Sinn hatte das Abschiedswort, das ihr zurückbleibender Pfarrer, Jolm Robinson, bei der Abfahrt der "Mayflower" an sie gerichtet hatte und das sie nicht wieder vergaßen: "Der Iierr wird noch weitere Wahrheit aus seinem heiligen Wort hervorbrechen lassen; Luther und Calvin waren große, strah­lende Lichter in ihrer Zeit, aber sie durchdrangen nicht den ganzen Ratschluß Gottes." Wohl setzte sich der schlichten Laienpraxis dieser Siedler von Plymouth bald darauf - in der "zweiten Linie" - das theokratische Genfer Modell Bostons entgegen. Glänzende Satiriker unter diesen Machthabern be­spotteten und verhöhnten das "h e i I i g e E x p e r i m e n t" der Laiendemokratie und verdammten deren "nur m e n s c h-1 ich e Instrumente". Aber aus dem starren autoritäten Ältestenregiment in Boston war jederzeit der Exodus in neue Frontier hinaus möglich: so bildete Roger Williams (1599 bis 1683) in der Frontier von Providence (von ihm, 1636, gegrün­det) den Geist jenes ersten Kompaktes zu einer vollständigen Theorie des amerikanischen Gemeinwesens aus. Das ,holy ex­periment' solchen laienhaften Gemeindeaufbaues setzte sich in bestimmten Lehren der Quäker fort.

Was die spätere partei- und staatspolitische Entwicklung seit der Säkularisierung der religiösen Gemeindeidee durch Franklin u. a. urrd seit der politischen Loslösung von England betrifft, so erinnern alle wichtigeren Namen daran, wie da in veränderter Organisation die alte Idee den inneren, unverän­derten Brennpunkt· eines fortdauernden Ringens bildet: in der Befreiung-s- und Revolutionszeit verteidigte J e f f e r s o n das amerikanische "Experiment" gegen den autoritären Macht- und Staatswillen des ersten Sollatzkanzlers Iiamilton; in der P r a x i s freilich hielt er sich mitunter selber mit Geschick und Iiärte auf der Linie von Macht und Gewalt. Der Kampf zwi-

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sehen diesen beiden Fronten wurde im Verfassungskonvent von 1787 ausgetragen; ihm galt die berühmte K o m p r o m i ß -rede Franklins. Später, im ersten Drittel des 19. Jahrhun­derts, wurde der Kampf durch den Präsidenten und Wildwest­general Andrew Jackson auf überraschende Weise verlagert, indem dieser "König" der Massen das Beispiel dafür gab, wie man absolutistische Konzentration der Macht und Gewalt mit radikal-demokratischen Frontiersgesinnungen verkoppeln kann. Auf dieser Kombination fußte wiederum Abraham Lincoln.

Diesem äußeren Gang des Kampfes um die Demokratie ent­sprach genauestens ein i n n e r e s Ringen in der T h e o r i e. Nur die wichtigsten Beispiele:

Im Anfang des 18. Jahrhunderts erzwang die fanatische Theologie des Jonathan Edwards (1703-1758) - im spätesten Augenblick, in dem dies noch denkbar war - eine Zu s a m­m e n f a s s u n g der religiösen commonwealth-Ideen der vor­ausgegangenen Zeit. In diesem tiefsinnigsten Theologen, den Amerika (andere sagen: die englische Welt überhaupt) erzeugt hat, waren beide Seiten des amerikanischen 17. Jahrhunderts lebendig: Plymouth und Boston: Laiendemokratie und theo­kratischer Presbyterianismus, vorweg auch schon, könnte man sagen, d·eren verweltlichte Erben: J efferson und Hamilton. Die Sostoner Seite des Edwards ist, daß er seiner Gemeinde die Höiie heiß macht, daß er ihr den Willen Gottes in der Gestalt des absoluten Z o r n es eintreibt. Der "Himmel" aber, oder das wahre "Glück" (happiness), zu dem er solchermaßen die ein­zelnen aufpeitscht und "erweckt", ist im Resultat von der Art des Laienglücks der Frontier. Denn für Jonathan Edwards bedeutete "Glück" so viel wie Leben im "Geist"; Geist aber, von der göttlichen L i e b e her konzipiert, ist ihm nur ein an­deres Wort für "Union"; und Union ist das Reeiie der Praxis des guten Willens aiier Einzelnen zum Gemeinwesen. Die Demo­kratie hat also bei Edwards diese zwei Seiten: eine fanatische und eine freie. Der Fanatismus tritt in voller psychologischer Reflexion auf und argumentiert, daß das "Glück" (oder die ,Praxis der Gemeinde') nur dann echt, d. h. ein wirkliches "Ana-

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logon" des Geistes Gottes sein könne, wenn sie auf dem Ein­verständnis der H e r z e n beruht (c o r d i a I agreement over against natural agreement). Dieses "Niveau" der Herzlichkeit lasse sich aber nicht von selbst (naturally), sondern nur durch gewaltsame religiöse Anstrengung, durch "akute und totale Be­kehrung", erreichen. Deswegen die aufpeitschende Predigt, die auf dem Weg über die Verfluchung der Ungläubigen und Un­willigen alle übrigen in e i n e n Willen und Eifer reißt. Dann aber kehrt sich der Fanatismus zur Freiheit um: beim erregten Gefühl und Rausch soll es nicht bleiben. Jetzt soll alsbald zur W a h r h e i t d. h. zum B e w e i s d e r P r a x i s fortge­schritten werden. Die Praxis des ,cordial agreement' könne!! aber nur die einzelnen in selbständiger Intelligenz vollziehen, und zwar so, daß jeder einzelne in dem, was er selber in seiner ,,privaten Sphäre" tut, stets die Wirkung auf die andern vor­aussieht ("anticipation") und in solchem Vorblick "eines Geistes mit ihnen" ist und ein öffentliches - schönes - Gleichge­wicht herstellt. (qnJ.aosl.cp[a) 2

Unmittelbar neben Edwards stand Benjamin Franklin (1706 bis 1790). Er hat dem fanatischen Theologen die Psychologie des Gemeinwesens aus der Hand genommen, von Grund auf säkularisiert und zur Fröhlichkeit aufgeklärt. Er ist der eigent­liche Altmeister der politischen Pädagogik der Amerikaner. Das Edwardsche System ist in allem wesentlichen bei ihm wiederholt. Es findet keine Höllenpredigt statt, aber trotzdem eine überall eingreifende und hierbei gegen natürliche Neigung öfters sehr gewalttätige Erziehung zur Klubgemeinschaft, zum "guten Willen", zur "Wahrheit der Praxis". "Intelligenz" und "Antizipation" treten noch mehr in den Vordergrund, wer­den noch klarer zu reinen Techniken der Liebe (der Hinneigung zur "Schönheit des Zusammenspiels") ausgearbeitet - in lusti­ger und pfiffiger Manier, aber im Tieferen nach wie vor alt­puritanisch. Das S p a n n u n g s f e I d des cordial agreement, das franklin durch bloße Klub- und Selbsterziehung, ohne Hilfe der Theologie, herzustellen versteht, ist ungeschwächt intensiv, und schafft das Medium, in welchem der K o m p r o m i ß als

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politisches Mittel nicht ein Nachgeben und Absinken zweier politischer Partner, sondern eine gemeinsame Anstrengung und Spannung derselben zur kooperativen Union ist. Die Kunst der Gemeinschaft ist hier zwar nicht mehr als Analogon des Gei­stes G o t t e s gefaßt, statt dessen hat Franklin seinen sozialen Tastsinn für Spannungsgesetze und Gleichgewichtsmög!ich-

. keiten dazu verwandt, genau analoge Verhältnisse in der Na­tu r (vor allem in den Phänomenen der Elektrizität) zu ent­decken und ist in der Deutung dieser Phänomene mit den selben Kategorien verfahren wie in seiner commonwealth-Psycho­logie. - Gegenüber der erstarrten Inbrunst des Edwards macht es die große Fröhlichkeit Franklins aus, daß er ein Motiv der Frontier zum Hauptpunkt gemacht hat: das Bewußtsein, daß der Mensch in Amerika ein zukünftiges Wesen ist: "Wir wen­den den Blick herum von den ersten Dingen (den Ursachen) zu den letzten Dingen (den Folgen)." "Wir fragen nicht, was ein Mensch ist, sondern was er tun wird 3."

Diesen Enthusiasmus griff im 19. Jahrhundert Ralph Waldo Emerson auf: Geschichte ist, was ich zu meinem eigenen Leben zwinge. Und wieder bildet er, wie Edwards und Franklin, beide Seiten der Demokratie fort: die Lehre von der Selbständigkeit und Verantwortung der Person und die Lehre von der Über­macht des Öffentlichen über das Private, Franklins Einsich­ten in die sozialen und natürlichen Spannungsphänomene bildet er fort zu einer noch umfassenderen Theorie der Kompen­sationsvorgänge, die in der Natur wie im Menschen sich aus­wirken; das Gewissen der Person deutet er als ihr Offen-Sein, in das die feinsten Spannungen und Gewichtsverhältnisse der sachlichen und sozialen Umwelt hineinspielen. Jene schaffende Kraft des individuellen Selbstvertrauens verbindet sich mit einer Hellhörigkeit, die wie ohne Wand ist gegen die Stim­men und Stimmungen, die von draußen andringen. Aber nicht nur in diesem Sinn haben wir Emerson die Übermacht des Öffentlichen anerkennen sehen, sondern drastischer noch, wenn er Landsknechte, Lynchjustiz, Napoleon und Jackson als Be­auftragte Gottes gelten läßt.

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Das doppelte Gesicht der amerikanischen Demokratie zeigt sich schließlich auch in William James. Die Seite der Freiheit und des individuellen Selbstvertrauens sahen wir ihn verfech­ten in der verwegenen These: wenn ein G I a u b e ein Indivi­duum wirklich führt und weiterträgt, so ist er insofern w a h r , und ein (wie immer forcierter) Wi I I e .zu solchem Glauben rechtfertigt sich in dieser Wahrheit seines Erfolgs. Mit dieser Formel bewaffnet, ist in der Tat ein jedes Individuum ein "klei­ner Zar". Aber der muß sich andererseits beugen, muß sich schicken und anpassen, sobald etwa ,höhere' Gewalt mit einem Schlag verfügt, daß aller Glaube auf bisher unerhörte Ziele sich umstellen muß: treten große Individuen auf, die ihre Umwelt mit e i n e m Ruck auf das Aktionsniveau ihrer Einseitigkeit hin­aufreißen, so fängt im Umfang und Maß solcher abrupten "Kau­salität" die Welt "von Neue m" an.

Wir sind wieder bei Dewey angelangt. Jetzt, wo wir die kurze Geschichte des Demokratiebegriffs mit seinen ringenden beiden Momenten vor Augen haben, fällt es uns plötzlich auf, welches Maß geistiger :Energie dieser konstruktivste aller amerikanischen Denker dazu aufgewandt hat, den K a m P f , der im Begriff der Demokratie bis zu ihm hin herrschte, auf­zuheben. Er bringt zwischen den streitenden Momenten eine Art endgültiger Synthese und Versöhnung zustande. Am augen­fälligsten tritt dies im Text einer Universitätsrede in Erschei­nung, die Dewey 1918 in Kalifornien unter dem Titel: "Philo­sophy and Democracy" gehalten hat\ Indem wir ihm folgen, wie er "Philosophie" als "Demokratie" auslegt, setzen wir ihn zum Interpreten seiner selbst ein. Im Mittelpunkt jener Rede steht eine "weitherzige" (wir fügen hinzu: eine erstaunliche) Auslegung der Schlagworte der französischen Revolution des Jahres 1789. Genauer gesehen, Dewey wandelt da den fran­zösischen Sinn dieser Worte (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) so gründlich um, daß er eine völlig neue Richtung bekommt, daß er durch und durch erfüllt wird von demjenigen amerikani­schen Ethos, von dem wir eine bestimmte schmale Spur soeben

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zurückverfolgt haben; zugleich freilich wird dieses Ethos selbst durch Deweys eingreifenden philosophischen Willen seinen harten natürlichen Spannungen enthoben:

frei h e i t interpretiert Dewey als Zukünftigkeit; die Welt ist unfertige und werdende Welt. Was aus gegebener Welt noch werden kann, hängt von Wille und Tat ab.

G I e i c h h e i t interpretiert Dewey als die durch keinen Vorgesetzten oder Untergebenen ahneihmbare und nirgendshin abschiebbare Verantwortung, die jeder Person (gleichviel welchen I~anges) an ihrer Stelle zufällt, daß sie da das ihrige schafft und tut.

B r ü d e r I i c h k e i t interpretiert Dewey als das Kennwort der natürlichen Tatsache, daß jede Initiative und Tat der Per­son ihr Gewiss e n und ihren bestimmten Sinn aus dem Zu­sammenhang (Kontinuum) der sozialen Gemeinschaft gewinnt, deren Glied diese Person ist.

Diese drei Grundsätze zusammen machen Deweys Glauben der Demokratie aus. Diesem GI a u b e n dient seine Philo­sophie; sie weiß also, daß sie eigentlich nicht Wissenschaft, sondern Leidenschaft ist -: Wahl und Entschluß zur Seinsart der Demokratie in dem angegebenen Sinn. Als p h i I o­s o P h i s c h e Leidenschaft ist sie freilich zugleich der Wille, diese gläubige Wahl einsichtig zu begründen und sie- soweit es irgend möglich ist - mit der Natur der Dinge und den Pak­ten, die die Wissenschaft ans Licht bringt, ins Gleiche zu setzen. Diese Bemühung Deweys, seinen Glauben zugleich zur Ein­sichtigkeit und natürlichen Vernünftigkeit anzuhalten, wird noch einmal deutlich, wenn wir ihm jetzt zuhören, wie er die ange­führten Grundsätze des näheren auslegt.

1.

Dewey stellt seinen Begriff der Freiheit jenem edlen und vornehmen (noble) Freiheitsbegriff gegenüber, der, wie er sagt, f e u d a I e n Zeitaltern und Gemeinschaften entspricht. In die­ser feudalen Gesinnung erklärt Tolstoi: der Ochse wäre im selben Augenblick f r e i, wo er die von der Natur gesetzte Not-

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Wendigkeit seines Joches einsähe und vermöge solchen B e­greifen s ihm gehorsam würde. liier wird die Voraussetzung gemacht, Freiheit sei gleichbedeutend mit Erkenntnis, und Er­kenntnis sei Wahrnehmung der Welt, wie sie ist. In jedem Augenblick wird hier die Welt als fertige gedacht, als ein simul totum Gottes. Freiheit ist die Ehrfurcht vor dem Wort Gottes, das in jedem Augenblick schon ganz und vollständig a u s g e -s P r o c h e n ist. Unfreiheit ist nur ein I r r t u m , ist das bloße Negative, daß ich das, was ist, nicht w e i ß. Der Freiheits­begriff Deweys macht die entgegengesetzte Voraussetzung. In keinem Augenblick hat sich Gott- oder das Ganze der Natur­schon ausgesprochen; die Natur selber weiß nicht, was noch aus ihr wird. So ist der "Zufall" in der Welt ein echtes Ereignis, nicht nur ein Titel für mangelnde menschliche Einsichten. Die Welt selbst hat diesen abenteuerlichen Charakter der Unent­schiedenheiL So ist Irrtum nicht das bloße Negative, daß ich für mich eine bestimmte Gegebenheit der Welt nicht erkannt habe, sondern Irrtum ist positiver Miß-Griff (mis-take), der als ein produktives Ereignis wirklicher Teil des Weltgeschehens selber ist. Ein Irrtum verändert an seiner Stelle den Gang der Ge-. schehnisse. Deutlicher: das Stattfinden von Irrtum setzt immer das Spielfeld und den Zusammenhang eines Vo r h ab e n s vor­aus, das ich in die praktisch reale Zukunft hinein oder etwa in ein nur erst vor-praktisches Ge d an k e n experiment hinein vorgetrieben habe: innerhalb solchen Vorhabens läßt ein Irr­tum, sobald er als Störung des Vorhabens erkannt wird, ver­mittels seiner Korrektur, neue Wege zum Ziele des Vorhabens hin entdecken, Wege, die ohne den vorausgegangenen Irrtum (Miß-Griff) vielleicht verborgen geblieben wären - die nun aber, da sie entdeckt sind, das Vorhaben und Ziel als solches abwandeln werden nach Maßgabe des verlagerten oder er­weiterten oder konzentrierten tatsächlichen Aktionsfeldes. So ist Irrtum ein schöpferischer Teil des Weltgeschehens selber. Der Irrtum des Kolumbus hat nicht nur die geographische Karte der Welt verändert, sondern die Erdteile selbst: ihre Land­schaft, die Weise ihrer Besiedlung.

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Wenn also Demokratie an "Freiheit" glaubt, so glaubt sie., um das oben Gesagte noch einmal schärfer zu wiederholen. dreierlei: daß individuelle Akte der Erkenntnis und Wahrneh­mung mehr austragen als nur einen inneren Wissensbesitz ("Reichtmn", be>stenfalls: "Frieden" der Seele), daß vielmehr alles, was ein einzelner privatim erkennt und wahrnimmt, zu­gleich offene (overt) und öffentliche (public) Wirkung hat auf die Gestalt der äußeren Welt, wie sie für ihn und für alle direkt oder indirekt mit ihm verbundenen Anderen w i r d : er reagiert nun anders "auf" diese Welt und das heißt immer: durch sie selber hinduroh, ihre Dingzusammenhänge ändernd, reorgani­sierend. Freiheit -als dieses Bewußtsein, daß jedes Selbst zu­gleich sein größerer äußerer, dinglicher, räumlich und zeitlich offener S p i e I r a u m ist, ist zweitens das Zutrauen, daß auch Irrtum meJhr und Natürlicheres ist als bloße private Un­zulänglichkeit, privater Mangel (etwa im Sinn einer endgültigen Unkraft des Geistes oder des Wahrheitsvermögens in mir). sondern daß jeder Irrtum als ein wiederum "offenes" Ereignis, das sich "beträgt" und zeigt, ein ding-hafter Zusammenhang: ist der von mir selbst oder von andern oder von uns mitein­ander aufgegriffen und in ein brauchbares Geleise gebracht werden kann. Freiheit ist als solches gute Zutrauen von öffent­lichen Aktionspartnern zueinander schließlich die Überzeugung, daß der "gute Wille" des einzelnen Spielpartners zwar jederzeit besonderes Glück (luck) haben aber auch ebenso sich unglück­lich vergreifen könne, daß also kein einzelner einen Grund da­zu hat, sich mit einem "Erfolg", der immer ein unsicherer Teil­erfolg bleibt, zu brüsten, sondern alle einander h e I f e n müs­sen, die Zufälle (contingencies) und die Verläßlichkeiten (stabi­lities) des Weltlaufs für eine gute gemeinsame Zukunft zu nützen. Im Verfolg dieses Gedankens läßt die Demokratie es nicht dabei bewenden, jener feudalen Freiheit vorzuwerfen, daß sich ihre Anhänger (im a II g e m e i n e n und g r u n d s ä t z -I ich) mit der kontemplativen Er k e n n t n i s des Seienden, wie es einmal ist, und mit einem entsprechenden inneren Ge­horsam zufrieden erklären, sondern sie verlangt nun auch von

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den ihrigen (den "demokratisch" Erkennenden: den aktiv und kooperativ erkennenden Menschen), daß,sie in keinem einzigen besonderen falle einer ähnlichen Versuchung nachgeben. Sie sollen sich dagegen in acht nehmen, dasjenige, was sie für ihren näheren oder weiteren Zweck und vermöge der entsprechenden leitenden Perspektiven jetzt gerade entdecken, für endgültig "w a h r" zu halten. Der Mensch eines demokratischen Gemein­wesens soll, gegen jeden erreichten Stand seiner Einsichten sich bewußt distanzierend, umsichtig und elastisch verfolgen, wie sie "a r b e i t e n" (how they work); fortlaufend soll er prüfen, ob sie als diese "Mittel" im Fortgang der Erfahrung und Arbeit sich b e w ä h r e n. In d i e s e m falle nur, im falle einer ver­gleichsweise um f a s s end e n Bewährung, die d~nn ihrer Na­tur nach immer eine öffentliche, niemals eine bloß private sein wird, soll er sagen dürfen, daß seine Kenntnisse, Einsichten, Ergebnisse- insoweit und insolange- wirkliche Wahrheit gewonnen haben.

2.

Der egalitäre französische Begriff der Gleichheit aller Men­schen erfährt in der Deweyschen Auslegung eine Verwandlung, die die ursprüngliche Sinnrichtung desselben geradewegs um­kehrt. Die Idee der Gleichheit kann in Deweys Augen nur den Sinn haben, daß j e d e r Mensch seiner Bestimmung und Auf­gabe nach u n v e r g I e i c h I i c h , d. h. unauswechselbar und unvertretbar ist. Diese Formulierung erscheint zunächst para­dox. Es zeigt sich aber, daß auch umgekehrt die Lehre von der Ungleichheit der Menschen in Wahrheit auf das Gegenteil: auf eine G I e i c h h e i t im Sinn praktischer V e r g I e i c h g ü I t i­g u n g der Einzelnen hinauslief. Die feudalen Lehren von der Ungleichheit der Menschen setzten feste natürliche Ordnungen und entsprechende hierarchische Ränge fest; mit vorweg gegebenen festen Maßstäben wurden die Menschen v e r -g I ich e n und entsprechend in "hohe" und "niedrige" ge­ordnet. In diesem Vergleichen wurde die Person vergleich­gültigt, ihre Selbständigkeit verneint. Sie konnte nurwerden ,

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was sie schon w a r kraft einer gegen sie ä u ß e r e n Ord­nung. Der Mensch ·als Glied eines demokratischen Gemein­wesens will dagegen seine Gliedschaft ·in diesem Körper nur kraft eigener selbstverantwortlicher lnitiafive und Teilnahme verwirklichen. Wo er geführt wird, will er von seinem beson­deren praktischen Platz aus den Führenden begreifen~ ihm aus eigener Einsicht folgen; mit dem Führenden gemeinsam will er, so wie dieser selbst, ein selbsttätiger, sich s e I b e r einordnen­der Mitarbeiter im ganzen Unternehmen sein; den Zweck des Unternehmens will er selber verstehen und wollen und mit allen andern Gliedern der Gemeinschaft teilen. Gleichheit heißt hier: daß einer wie der andere von sich aus sich einordnet; daß er das banze v e r s t eh t , indem er das seinige tu t , -das seinige, das ihm kein anderer fertig vorschreiben, auch nicht abnehmen kann. Dazu aber gehört, daß kein Glied der Gemeinschaft sich etwas "schenken" und ebensowenig sich etwas "weismachen" läßt. Gliedschaft will hier nicht nur selbst­schaffende, sondern ebensosehr auch wissende und intelligente Gliedschaft sein. Deutlich und scharf hebt sich hier ein gleich­sam "monadischer", auf unaufhebbare qualitative und organi­sche Differenzierung abzielender, d y n a m i s c h gefaßter Gleichheitsbegriff gegen den französischen (statischen, quanti­tativen und atomisierenden). a'h.

3.

Dewey fährt fort: Wenn wir demokratische "Gleichheit" als Prinzip der Individualität deuten, so liegt nichts Gezwungenes darin, Brüderlichkeit als Prinzip der Kontinuität zu verstehen, d. h. als Gesellung (association) und Wechselwirkung (interaction). Gleichheit, Individualität tendiert zur Isolierung ... Sie ist zen­trifugal. Zu derjenigen Aktualität und Kraft dagegen, die deut­lich, bestimmt und einzigartig ist (distinctive, specific, unique) kommt das Leben des einzelnen nur vermöge der Beziehung (relationship) zu andern, in gleicher Weise selbständigen We­sen ... und vermöge der "Sprache", die zwischen ihm und ihnen stattfindet.

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In diesem zusammengeballten Satz steckt jenes Kernstück der Deweyschen Theorie der menschlichen Natur, ihr Begriff der S p r a c h e. Um in die innere Vision des eben zitierten wunderlichen Satzes (Brüderlichkeit = Kontinuität; Kontinui­tät = Gesellung, Wechselwirkung) einzudringen, nähern wir uns noch einmal dem Vorstellungskreis, aus dem her Dewey Sprache ( A6yo<;, Geist) deutete.

· In den verschiedensten Zusammenhängen seiner Schriften betont Dewey immer wieder: Gesellung ist kein Problem, für das man nach Erklärungen suchen müßte, so wie dies etwa in der Frage geschieht: wie entsteht aus Individuen eine Ge­sellschaft oder ein Staat? Dres, sagt er, sei ein bloßes Schein­problem, denn die ursprünglichen ,reinen Individuen', die hier vorausgesetzt werden, gib t es gar nicht,- es g ab sie auch n~ol1t, nie und nirgends. Gesellung ist kein späteres Produkt, s&rideit1 ein G r u n d f a k tu m aller Natur. Überall in der Natur findet sie statt, denn überall findet Interaktion, Korrespondenz der Kräfte statt. Es gibt keinen einsamen Stern, kein einsames Molekül, auch kein einsames Elektron. So ist auch alles mensch­liche Handeln ganz ursprünglich: Verbandshandeln, niemals "in­dividuelles" Handeln (im strengen Sinne). Die einfache Gegen­überstellung: Individuum- Gesellschaft, oder: Person- Staat, ist immer fiktiv. Wo man etwa vom Pflichtenkonflikt spricht zwischen sogenannter Staatspflicht und sogenannter persön­licher Pflicht, da zeigt sic:h bei näherem Zusehen, daß auch die lietreffende persönliche Pflicht schon ihrerseits immer eine ges(;lllige Pflicht ist: etwa meine Pfliciht als Ehegatte, als Vater, als Freund, als Parteigenosse im Konflikt etwa mit einem be­stimmten Gehorsamsgebot seitens eines formalen Staats­apparates oder dgl. •

Gewiß kann man menschliche Gemeinschaft zum wissen­schaftlichen Problem machen. Aber dann gehen die sinnvollen und triftigen Fragen in eine ganz andere Richtung. Nicht: wie kommt Gesellung ü b e r h a u p t zustande?, sondern: was ist das spezifische Moment menschlicher Gesellung? Auf diese letztere Frage lautet die Antwort (die Deweysche Antwort):

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das spezifische Moment menschlicher Gemeinschaft ist Wechsel­wirkung in der Form des Iogos (verstanden als legein) - also des Redens, der S p r a c h e der Gesellten miteinander. Dieses Miteinander-Reden wird von Dewey (wie wir uns erinnern), nicht als ein Vermögen gefaßt, das von außen oder von oben­als ,ratio' - in die ,,Seele" ·des einzelnen eingesetzt ist. Um­gekehrt: Dewey spürt dem Phänomen nach, wie Seele, Geist, l6gos mitten im natürlichen Zusammenhandeln belebter Ge­schöpfe entspringt. Er stellt die These auf: Seele, Geist ent­springe z w i s c h e n Handelnden und zwar überall da, wo zwei tatsächliche Handlungspartner nicht mehr nur vermittels prä­formierter Reflexe aufeinander reagieren, sondern wechselweise einer des andern Reaktion a n t i z i p i e r t. An der genau be­schreibbaren Weise des Handlungsvorganges selbst zeigt sich, wie der eine Handelnde an der Handlung des andern so teil­nimmt, daß er nicht nur von s e i n e m Standort aus die Hand­Jung ~es andern spürt und erwidert, sondern zugleicih vom Standpunkt des andern aus: er vollzieht die Handlung des an­dem, die ihn trifft, zugleich als dessen Handlung mit; ebenso sieht der andere s eine Handlung vorweg schon im Stand­ort des Partners sich um- und fortsetzen. Die Stand- und Sicht­orte von Handlungspartnern haben sich hier einander mitgeteilt. Diese Mitteilung ist in der Art des Hand I u n g s vollzuges schon vollständig und setzt nicht etwa laute Rede, gesprochenes Wort voraus. Im Gegenteil: alle Sprache als gesprochene Rede hat dieses fundamentale Ereignis zur Voraussetzung, daß natür­liches Iiandeln natürlich gesellter Partner aus der Ebene der Aktion und Reaktion in die Ebene der Partizipation und Kom­munikation übergesprungen ist; daß in der Gestalt des kreuz­weisen Handeins den Handelnden im Schnittpunkt der beider­seitigen Handlungslinien die gemeinsame Richtungsresultante: die "Se e 1 e" ihres Unternehmens, der J6gos desselben, dort draußen sichtbar wird und sie einander auf diesen äußeren, vor­ausseienden Schnittpunkt hin Zeichen geben und verstehen können. Rede, Sprache setzt voraus, daß zwei Aktionspartner­was sie tun- im Vor blick auf solche Treffpunkte hin tun; daB

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:sie in diesem präzisen Sinne z u k ü n f t i g e (einander wech­selweise vorausseiende) Wesen sind. Geist, Seele, 16gos sind nichts anderes als die natürlichen Inhalte natürlich gesellten Lebens, sofern sie in diesen vorausgeworfenen Schnittpunkten <les Miteinander-Handeins e r s c h e i n e n als die Helligkeit, Deutlichkeit des Ein-verständnisses, der Einwilligung.

In der Antizipati'on des sozialen, des kommunikativen Han­deins werden die natürlichen Inhalte, Zusammenhänge des ge­lebten Lebens in diese 0 f f e n b a r k e i t und S i c h t des schon getätigten und noch fernerhin zu tätigenden Einverständnisses _gebracht. Die natürlichen Inhalte werden aber im Medium der Mitgeteiltheit oder öffentlichen Sicht tiefgreifend und "wunder­bar transsubstanziiert". Sie werden vom Lebenden nun nicht mehr nur als dieses Unmittelbare erfahren, als dumpfer An­druck, unmittelbarer Schmerz oder Freude, in die ein stummes Geschöpf hineingerissen ist und in denen es sioh unvermittelt wehrt o~er mit andern mittreibt Dieser Inhalt ist jetzt zugleich draußen, in jenem Schnittpunkt, den ich im offenen Umweg über die Standorte des an~ern oder der andern gewahr werde. Da draußen in dieser Offenheit ist der Inhalt meines Gefühls, meiner Leidenschaft zu einem D r a m a geworden, an dem andere mit­spielen; in deren Rollen bin ich selbst mit vertreten, bin da ver­vielfältigt und vielfach befreit. Ferner noch setzt sich in dem, was wir D e n k e n nennen, diese Befreiung fort. Die Antizipa­tionen des faktisch-gemeinschaftlichen, kommunikativen Han­deins enthalten in sioh schon das Moment der sogenannten P h a n t a s i e : das Moment, daß ich, selber handelnd, zugleich im Standort des an'dern "bin" und zugleich von "d o r t" aus handele. Denken findet statt, wenn dieses Moment des "Phanta­sierens" auch da und dann in Szene geht, wo keine andern leib­haftig anwesend sind. Einen Inhalt (etwas was mich befällt, be­nimmt oder umtreibt) d e n k e n ·und a u s-denken heißt: in ver­schiedenen Rollen, von verschiedenen Standorten aus mit ihm ins Spiel treten, ihn ,dramatisch' behandeln. So ist auch der angebliche Monolog des Denkens seiner Natur nach ein sehr vielfältiger D i a 1 o g, Was ich unmittelbar h ab e, oder b in,

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oder w i II, \Vird im Denken "klar'' und "bestimmt", weil ihm du r c h das Denken (d. i. durch den vorläufigen, privatim durch­geführten Dialog) die besonderen wohldefinierten Rollen zuge­wiesen und zu-erkannt werd•en, die im Drama der betreffenden Gesamtsituation für es verfügbar und möglioh sind.

Daß der Mensch "antizipieren"-: aus einem Standort in andere Standorte springen kann, macht ihn zum Menschen, oder, mit einem andern Wort: zum "Bruder". Mit Hilfe der hier noch einmal erinnerten Zusammenhänge leuchtet aber nun auch ein, was Dewey vorhin in dem dunklen Satze meinte, wenn er in ihm sagt: daß das Individuum sich erst in der Kontinuität seiner Beziehungen zu den andern konstituiert - und daß es zu einer klaren B es t i m m t 11 e i t seiner selbst nur daduroh kommt, daß es die Rollen der andern, die ihm natürlich zugesellt sind, seI b er mitspielt. Das Ich gewinnt seinen ,einzigartigen' Stand­ort und das ,spezifische' Vermögen der eigenen Kraft aus der Kontinuität mit den Standorten seiner Brüder.

Die Deweysche Umdeutung des französischen Brüderlich­keitsideals schließt einen Begriff des Geistes und der Vernunft ein, der ebenso unchristlich wie unromanisch ist und statt des­sen an ältesten g e r m a n i s c h e n Genossenschaftswillen ge­malmt. "Kontinuität", sagt Dewey, wirdnicht durch den Ver­stand oder die Vernunft erzeugt. Gesellung, Assoziation, Kon­tinuität ist überall in der Natur schon da. Auch die höheren Formen der Gesellung, die wir menschlich oder vernünftig nennen, entspringen nicht vermittels eines besonderen Ver­mögens, mit dem die menschliche Seele (im Sinn einer isolierten geistigen ,Substanz') a priori ausgestattet wäre, sondern sie entspringen mitten in den Akten natürlicher Genossenschaftlich­keit, wo immer sich Genossenschaft zu antizipierender Partner­schaft und Kommunikation (im geschilderten Sinne) fortbildet und herausschafft. Die ganze Leidenschaft des Deweyschen Philosophierens sammelt sich an diesem Punkt, wo es ihm mög­lich scheint, Geist, Denken, Vernunft n a t ü r I i c h entspringen zu lassen aus den Phänomenen der Gesellung und Genossen­schaftlichkeit.

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Die Summe von allem aber ist: Demokratie bedeutet für Dewey diesen dreieinigen Glauben: Sie glaubt an echte Z u -k u n f t. Sie glaubt an die Individualität der einzelnen. Sie glaubt aber, vor allem und erstlich, daß sowohl das :Erblicken und Wollen von "Zukunft" wie auch die :Entfaltung von Indivi­dualität nur aus der Praxis der Gemeinschaft entspringen könne,

,d genau in dem Maße, in welohem solche Praxis "kom-un zwar M ß . d . . H d I 'k t' " 1·st · genau in dem a e, 111 em ste em an e n mum a IV -. ..

ktiv-wechselseitig-Teil-Nehmenden, oder (was fur De-von a d 1 . h . t II' wey als hiermit identisch gilt): ein Han e n zwtsc en "111 e t-

genten" Partnern ist.

Dewey hat in seinem Denken, wie sich jetzt noch einmal gezeigt hat, alle "Theologie" ohne einen Rest ausgetilgt. Die besondere moderne Wissenschaft, an die wir seine Philosophie gleich anfangs a~gelehnt sahen, ist die Biologie. Und trotzdem ist nicht die Theologie zwar aber das JlH'J/la des Ge­meindewillens, das die englische Religiosität von Wycliff über Cromwell bis Jonathan Edwards beseelte, der Atem aucth s e in e r , so radikal verweltlichten, Philosophie. Der Haupt­satz seiner Philosophie ist der alte puritanische: "G eist" ist "Union". :Es ist auch nichts anderes als der alte Genossen­schaftswille der religiösen "Laien", der sich in dem scharfen Satz ausspricht, mit dem Dewey seine Interpretation der Brüderlichkeitsirlee beschließt: "Demokratie hat es nicht mit Launen, Genies, Halbgöttern und göttlichen Führern, sondern mit (durchgehends) vergemeinschafteten Individuen zu tun" ... "

Deweys letzten knurrenden Satz würde zwar derjenige gründlich mißdeuten, der in ihm eine ohnmächtig hassende Kriegserklärung gegen Autorität überhaupt und Führerschaft überhaupt vernähme. Dem Wortlaut nach wird nur die Ver­g o t t u n g der Autorität, die V e r g o t t u n g der Führer ver­pönt. Aber dennoch bleibt ein Überschuß von Affekt, eine unge­duldig ausbrechende Feindseligkeit im Wortlaut spürbar. Wir sehen :Emerson gegen diese Unruhe aufstehen und fragen: Wo ist Unrecht geschehen? Wo ist dem Haushalt des Menschen von Dewey ein Stück Wahrheit entwendet worden? Nun, der

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Page 64: Baumgarten Ueber Dewey

schwache Punkt in der Versöhnung, die Dewey zwischen den Tendenzen der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit bewirkt, liegt, meine ich, in dem geschichtsfeindlichen Dogma, das kurzweg verkündet: Brüderlichkeit (Gesellung) sei ein und dasselbe wie Intelligenz. Der geniale Gedanke, daß Geist, Vernunft soviel wie Sprache sei, Sprache aber soviel wie Antizipation oder das Vermögen des Menschen, sich selbst vorweg, dem Ich schon immer gegenüber im Standort des Du zu sein, wird dadurch in eine ganz neue, verengte Rich­tung abgebogen, daß nun die Vernunft als dieses Sprachver­mögen des Menschen unter dem doppelsinnigen Titel der "In­telligenz" erscheint. Das englische Wort ,intelligence' bezeich­net jenes Sprachvermögen gewiß besonders treffend, denn in einem herkömmlichen Gebrauch bedeutet ,tntelligence': ,:Einsich­tigkeit' im Sinn der Begabung, "schnell zu hören und zu reden", den andern hurtig zu "verstehen"; andererseits aber bedeutet ,intelligence' ebensowohl etwas ganz anderes, nämlich: Ra­t i o n a I i t ä t des Handelns, ökonomisch-politische Klugheit und Vorsicht. Dementsprechend geschieht es unversehens, daß unter dem Titel "Intelligence" jene wesensmäßige menschliche Le­bensform: Partner zu sein. mit einem Du (oder einer Mehrzahl von solchen) gemeinsame ":Einsicht" in gemeinsame Welt zu haben, umkippt in die Spezialität, einsichtsvoll im Sinne von g e s c h e i t zu sein. Gescheit sein aber heißt - (auf meine Partner gesehen): - r ü c k s i c h t s v o II gegen sie sein. Ge­scheit sein heißt meine G r e n z e n kennen, heißt den ,ver­nünftigen' Unterschied wissen zwischen Möglichem und Un­möglichem. Deweys Theorie der Brüderlichkeit gebärdet sich also, als ob Vernunft- das Wissen des Ichs um dasDu-alle Arten der Gewaltsamkeit, der Grenzüberschreitung des Ichs gegen das Du gleichsam logisch verböte und ausschlösse. Die amerikanische Geschichte, der diese Theorie ihr Dasein ver­dankt, lehrt aber so deutlich wie irgend eine andere, daß die "G r e n z e n" sowohl zwischen Mensch und Mensch wie zwi­schen Mensch und äußerer Natur wieder 'Und wieder herge­richtet und geweitet wurden durch Individuen, die :Ein s i,c h t

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(Ich- und Du-Gefühle) sehr wohl mit 0 e w a 1 t V'erbanden,­durch rücksichtslose Individuen, die wi_eder und wieder U n -m ö g I i c h e s versuchten und so dem Möglichen als einem späterhin intelligent Bewahrbaren allererst den Spielra'llm auf-

. stießen und festlegten 7•

Wenn Deweys :Ethik die :Ethik des intelligenten Maßes für die einzige :Ethik hält, die für den Menschen als Menschen in Frage kommt, so befindet er sich in einer ähnlichen Rolle wk John Locke, der die temperamentvolleren Wahrheiten des Thomas Hobbes, eines Mannes, der Cromwell am Werk gesehen und gespürt hatte, unterdrückte. Dewey, im 20. amerikanischen, wie Locke, im frühen 18. englischen Jahrhundert, sehen sich vor die Aufgabe gestellt, einst gewaltätig :Ermöglichtes mit ver­ständig-maßvollen, mit friedlichen Mitteln zu bewahren und zu verwalten. Im Rahmen dieser Aufgabe halten sie es für erzieh­licher, die geschichtlichen Wege, auf denen die ausgewogenen Haltungen eines weitherzigen ,gentleman' erst möglich wur­den, zu vergessen. Daran mögen sie recht tun. Der Versuch aber, von hier aus die menschliche Natur und menschliches Be­tragen a I s s o I c h e s und ü b e r h a u p t auf ein gültiges Rezept zu bringen, muß theoretische Resultate ergeben, die nach bestimmten Seiten hin blind und illusorisch sind.

Seinen Fr i e den-: seine Grenzen, sein Maß verdankt der Amerikaner des 20. Jahrhunderts jenen Draufgängern, die die Frontier vom Altlantischen zum Stillen Ozean hin vortrie­ben. Wir wenden uns von der späten dogmatisch geschlossenen Form, in die Dewey den Glauben der Demokratie eingefangen hat, zurück zur Bewegung der amerikanischen C o m m o n -w e a I t h - u n d U n i o n s g e s c h i c h t e , in der er sein Be­tätigungsfeld hatte. An den Fronten, an denen diese Geschichte sich zutrug, herrschte ein Geist, dem es am Prinzip der Ge­sellung, am Prinzip des "brüderlichen" :Eitiander-wechselweise­Vorwegseins, am Prinzip des "konzertierenden Handelns" nicht mangelte, der aber gleichzeitig nach den Regeln einer Psychologie verfuhr, die den Betrachter lebhaft an diejenige von Thomas Hobbes erinnert. In seinen ":Elementen des Rechts"

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Page 65: Baumgarten Ueber Dewey

schwache Punkt in der Versöhnung, die Dewey zwischen den Tendenzen der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit bewirkt, liegt, meine ich, in dem geschichtsfeindlichen Dogma, das kurzweg verkündet: Brüderlichkeit (Gesellung) sei ein und dasselbe wie Intelligenz. Der geniale Gedanke, daß Geist, Vernunft soviel wie Sprache sei, Sprache aber soviel wie Antizipation oder das Vermögen des Menschen, sich selbst vorweg, dem Ich schon immer gegenüber im Standort des Du zu sein, wird dadurch in eine ganz neue, verengte Rich­tung abgebogen, daß nun die Vernunft als dieses Sprachver­mögen des Menschen unter dem doppelsinnigen Titel der "In­telligenz" erscheint. Das englische Wort ,intelligence' bezeich­net jenes Sprachvermögen gewiß besonders treffend, denn in einem herkömmlichen Gebrauch bedeutet ,tntelligence': ,:Einsich­tigkeit' im Sinn der Begabung, "schnell zu hören und zu reden", den andern hurtig zu "verstehen"; andererseits aber bedeutet ,intelligence' ebensowohl etwas ganz anderes, nämlich: Ra­t i o n a I i t ä t des Handelns, ökonomisch-politische Klugheit und Vorsicht. Dementsprechend geschieht es unversehens, daß unter dem Titel "Intelligence" jene wesensmäßige menschliche Le­bensform: Partner zu sein. mit einem Du (oder einer Mehrzahl von solchen) gemeinsame ":Einsicht" in gemeinsame Welt zu haben, umkippt in die Spezialität, einsichtsvoll im Sinne von g e s c h e i t zu sein. Gescheit sein aber heißt - (auf meine Partner gesehen): - r ü c k s i c h t s v o II gegen sie sein. Ge­scheit sein heißt meine G r e n z e n kennen, heißt den ,ver­nünftigen' Unterschied wissen zwischen Möglichem und Un­möglichem. Deweys Theorie der Brüderlichkeit gebärdet sich also, als ob Vernunft- das Wissen des Ichs um dasDu-alle Arten der Gewaltsamkeit, der Grenzüberschreitung des Ichs gegen das Du gleichsam logisch verböte und ausschlösse. Die amerikanische Geschichte, der diese Theorie ihr Dasein ver­dankt, lehrt aber so deutlich wie irgend eine andere, daß die "G r e n z e n" sowohl zwischen Mensch und Mensch wie zwi­schen Mensch und äußerer Natur wieder 'Und wieder herge­richtet und geweitet wurden durch Individuen, die :Ein s i,c h t

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(Ich- und Du-Gefühle) sehr wohl mit 0 e w a 1 t V'erbanden,­durch rücksichtslose Individuen, die wi_eder und wieder U n -m ö g I i c h e s versuchten und so dem Möglichen als einem späterhin intelligent Bewahrbaren allererst den Spielra'llm auf-

. stießen und festlegten 7•

Wenn Deweys :Ethik die :Ethik des intelligenten Maßes für die einzige :Ethik hält, die für den Menschen als Menschen in Frage kommt, so befindet er sich in einer ähnlichen Rolle wk John Locke, der die temperamentvolleren Wahrheiten des Thomas Hobbes, eines Mannes, der Cromwell am Werk gesehen und gespürt hatte, unterdrückte. Dewey, im 20. amerikanischen, wie Locke, im frühen 18. englischen Jahrhundert, sehen sich vor die Aufgabe gestellt, einst gewaltätig :Ermöglichtes mit ver­ständig-maßvollen, mit friedlichen Mitteln zu bewahren und zu verwalten. Im Rahmen dieser Aufgabe halten sie es für erzieh­licher, die geschichtlichen Wege, auf denen die ausgewogenen Haltungen eines weitherzigen ,gentleman' erst möglich wur­den, zu vergessen. Daran mögen sie recht tun. Der Versuch aber, von hier aus die menschliche Natur und menschliches Be­tragen a I s s o I c h e s und ü b e r h a u p t auf ein gültiges Rezept zu bringen, muß theoretische Resultate ergeben, die nach bestimmten Seiten hin blind und illusorisch sind.

Seinen Fr i e den-: seine Grenzen, sein Maß verdankt der Amerikaner des 20. Jahrhunderts jenen Draufgängern, die die Frontier vom Altlantischen zum Stillen Ozean hin vortrie­ben. Wir wenden uns von der späten dogmatisch geschlossenen Form, in die Dewey den Glauben der Demokratie eingefangen hat, zurück zur Bewegung der amerikanischen C o m m o n -w e a I t h - u n d U n i o n s g e s c h i c h t e , in der er sein Be­tätigungsfeld hatte. An den Fronten, an denen diese Geschichte sich zutrug, herrschte ein Geist, dem es am Prinzip der Ge­sellung, am Prinzip des "brüderlichen" :Eitiander-wechselweise­Vorwegseins, am Prinzip des "konzertierenden Handelns" nicht mangelte, der aber gleichzeitig nach den Regeln einer Psychologie verfuhr, die den Betrachter lebhaft an diejenige von Thomas Hobbes erinnert. In seinen ":Elementen des Rechts"

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Page 66: Baumgarten Ueber Dewey

vergleicht Hobbes gelegentlich das menschliche Leben mit einem R e n n e n und definiert die Affekte der Individuen, die hierbei im Spiel sind, wie folgt:

Sich reinlegen ins Rennen, ist Begierde. Zurückfallen, ist Sinnlichkeit. Sehen, wie sie zurückbleiben: Ruhm. Sehen, wie sie vorne sind, Niedergeschlagenheit, Boden-verlieren durch Rückwärtsschauen: Eitelkeit. Aufgehalten sein ist Haß, Umkehren ist Reue, In Atem sein: Hoffnung, Müde sein: Verzweiflung, Sich vorlegen, um den Nächsten zu überholen: Eifersucht. Sich vorlegen, um ihn zu verdrängen oder hinzuwerfen: Neid. Sich entschließen durch ein vorhergesehenes Hindernis zu

brechen: Mut. Ein plötzliches Hindernis durohbrechen: Zorn. Es mit Leichtigkeit durchbrechen: Hochherzigkeit. Boden verlieren durch kleine Hindernisse: Pedanterie. Plötzlich fallen: Neigung zu weinen. Einen andern fallen sehen: Neigung zu lachen. Einen überholt sehen, von dem man's nicht will: Mitleid. Einen überholen sehen, von dem man's nicht will: Entrüstung. Fest zu einem andern halten: Liebe. Den mit vorbringen, der so zu einem hält: Nächstenliebe. Sich selbst verletzen aus Eile: Scham. Dauernd überholt werden: Unglück. Dauernd den Näohsten vor mir überholen: Glück. Das Rennen aufgeben: Sterben".

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ANMERKUNGEN

Page 67: Baumgarten Ueber Dewey

"Glaubensleiter" wieder in "Problems", p. 224; erfunden ist sie von Emers o n (in "Circles" II, 309), von ihm hat sie offenbar James. (bewußt oder unbewußt) übernommen.

J. Pluralistic Universe, p. 24 f. 4· ibidem, p. 32.

s. Will to believe, preface p. VIII. D e w e y hat die in diesen Sätzen liegende Position ausgearbeitet, zuletzt unter Bezugnahme auf He i s e n b er g s Unbestimmtheitslehre: "Quest for Cer­tainty" (Gifford Lectures, I929), eh. VIII: The Naturalization of In­telligence, p. 20 I ff.

6. Pragmatism, p. I6S ff. 7. ibidem, p. I68. 8. Vgl. insbesondere Pragmatism, eh. VII. 9· Letters II, ISS·

II I. Der Zusammenhang zwischen W i 11 e zum

Glauben, Pluralismus und Pragmatischem

Wahrheitsbegriff (S. I9D-I99).

1. Pragmatism, p. I97 ff. 2. ibidem, p. 2I2, 2IS, 2!0. J. ibidem~ p. 2I8.

S. I9I, Anm. 4·

434

Was mit "truth as cash-value" gemeint sei, sagt gleich der An­fang des VI. Kapitels: "Pragmatism's Conception of Truth": "when Maxwell was a child it is written he had a mania for having every­thing explained to him, and that when people put him off with vague verbal accounts of any phenomenon he would interrupt them im­patiently by saying: "Yes; but I want you to tell me the particular go of it !" (Pragmatism, p. I97-)

s. ibidem, p. 69. 6. Vgl. ibidem, Lecture VIII: "Pragmatism and Religion": the "tender" and the "tough" types of religion. 7· Ein­dringlich und bündig wird dieser Zusammenhang gefeiert in Deweys Nachruf auf James, Characters and Events I, S. I07-I22

(I9IO). 8. Principles II, 249 ff. 9· ibidem II, 283. IO. ibidem II, 308. 11. ibidem II, 320. 12. "Life in terms of Life in Action" (Deweys Formel für den eigentlichen Gegenstand der Jamesschen Philosophie).

JOliN DEWEY

Quellen:

Werke:

Psychology, New York, Rarper & Brothers, I887.

Leibniz's New Essays Concerning the Human Understanding.

A critical exposition. S. C. Grigg & Co.: Chicago, I888.

The Theory of Emotion, I, II, Psychological Review,

!894 I, SS3-S69,

I89S II, I3-32.

The Reflex Are Concept in Psychology, ibidem III, 3S7-370, I896.

The School and Society, Univ. of Chicago Press, I900.

Sturlies in Logical Theory, ibidem, I903.

Ethics, (in collaboration with J. H. Tufts), New York, Henry Holt,

I908.

Moral Principles in Education, Boston, Roughton & Mifflin Camp.

I909. The Influence of Darwin on Philosophy and other Essays, New

York, Henry Holt, I9IO (zitiert: Darwin).

How we Think, Boston, D. C. Heath & Co., I9IO.

German Philosophy and Politics, Henry Holt, New York, I9IS.

Democracy and Education, New York, Mac Millan, I9I6 (deutsch von Hylla bei Ferd. Hirt, Breslau, I930; zitiert: Dem. & Ed.

Essays in Experimental Logic, Chicago, Univ. Press, I9I6

(zitiert: Essays).

Reconstruction in Philosophy, New York, Henry Holt, I920.

Human Nature and Conduct, New York, Henry Holt, I922 (deutsch von Sakmann bei Deutsch. Verlags-Anstalt, Stuttgart; zitiert:

HNC.). Experience and Nature, Open Court, I92S (zitiert: Exp. & Nat.).

I929 Edition W. W. Norton & Co., New York und G. Allen &

Unwin, London.

The Public and its Problems, Henry Holt, New York, I927.

The Philosophy of John Dewey. Selected and edited by Joseph Rat­ner, New York, Henry Holt, 1928.

28* 436

Page 68: Baumgarten Ueber Dewey

436

Characters and Events. Popular Essays

in Social and Political Philosophy, 2 vls.

ed. by Joseph Ratner, Henry Holt, New York, 1929

(zitiert: Characters).

The Quest for Certainty

Gifford Lectures, delivered at The University of Edingburgh, 1929, New York, Minton, Balch & Co. (zitiert: Qest f. Cert.).

Pädagogik des Auslandes, herausgeg. von Prof. Dr. Peter Petersen­Jena, Hermann Böhlaus Nachf., Weimar, 1935:

John Dewey: Der Ausweg aus dem Pädagogischen Wirrwarr,

Die Quellen einer Wissenschaft von der Erziehung.

Das Kind und der Lehrplan.

Das Problem der Freiheit in den Neuen Schulen.

EINLEITUNG (S. 2o5-2u).

S. 205, Anm. I.

Eine Analyse der hier angedeuteten verbleibenden Differenz in J ames zwischen seinen geäußerten M e i n u n g e n und seinem voll­ständigeren C h a r a k t e r findet sich in Santayanas schönem Kapitel über William James in seinem schon öfters genannten Buch C h a r a k t er and 0 p in i o n in the United States. (eh. III.)

S. 206, Anm. 2.

Siehe James, Pragmatism, preface, p. VIII. Vgl. Letters Il, 310. D e w e y seinerseits betonte bei jeder Gelegenheit, daß der Mann, der sowohl J ames wie ihm vorweg die ersten und die e n t s c h e i -den den Schritte in der Richtung des Pragmatismus gegangen ist, der geniale amerikanische Mathematiker und Logiker C h a r­I es Sanders P e i r c e gewesen sei; vgl. Dewey: The Prag­matism of Peirce, Journal of Philosophy XIII, 709-715; Review of Peirce's "Chance, Love, and Logic" in "New Republic" XXXIX, 136 f.; "Le Developpement du Pragmatisme Americain" in "Revue de Metaphysique et de Morale, XXIX, 411-430. V gl. auch J a m es' ausdrückliche Bezugnahme auf Peirce in seiner ersten programma­tischen Rede über pragmatische Philosophie im Jahre 1898 in Cali­fornia: "Philosophical Conceptions and Practical Results." -Peirce's "Pragmatism" bzw. " Pragmaticism" (e r brachte, in Ent­lehnung von Kant, diese Titel auf) ist von ihm am prägnantesten entworfen in einer kurzen Abhandlung im "Popular Science Month­ly, XII (1877-78): "How to make our ideas clear?" Er unter­schied drei Grade der Klarheit: "familiarity, analytical definition, and an apprehension of the object's ,practical bearings'." Er sagte später: "the third grade is the most important of all, and a good example of it is William James who is phenomenally weak in the second grade, yet ever so high above most men in the third." über die Freundschaft und Spannung von Peirce zu James, s. Kap. 32 in Perry, The Thought and Character of W. J. (I, 533 ff.).

1931-1935 haben Charles Hartshorne und Faul Weiss eine Groß­ausgabe der nachgelassenen Werke von Peirce (Collected Papers) in 6 Bänden veranstaltet: I. Principles of Philosophy, II. Elements of Logic, III. Exact Logic, IV. The simplest Mathematics, V. Prag­matism and Pragmaticism, VI. Scientifc Metaphysics. (Harvard University Press, Cambridge.)

Im Gegensatz zu der hier versuchten Einführung in den ameri-

437

Page 69: Baumgarten Ueber Dewey

kanischen Pragmatismus müßte eine Gesamtdarstellung desselben, die ihn vorwiegend als Wissenschaft, als Fachphilosophie behan­delte, ihren Ausgangspunkt bei C h a r I e s P e i r c e genommen haben.

S. 206, Anm. 3·

Dewey, Characters I, ro7: "Those whu have been associated with him for many years can alone contribute to the story of his intellectual development - a fascinating topic, I imagine. Those who have studied under him will tell the tale of his teaching. While I have been honoured with his friendship for many years, circum­stances forbade intimacy, and I am not fitted to speak fitting words of his personality. Of William James neither as philosopher nor as man shall I then attempt to write, but will attempt some scattered and hurried impressions of what falls between."

Dewey schließt dieses Gedenkwort, das "zwischen" J ames dem Philosophen und James dem Menschen seinen festen Deweyschen Stand nahm, mit dem Satz:

"Oßr greatest act of piety to him to whom we owe so much is to accept from him some rekindling of a human faith in the human significance of Philosophy."

S. 208, Anm. 4·

Das Verdikt: "Iet the passion for America cast out the passion for Europe" (Emerson XI, 535), zeigt deutlich, daß das "Europa", das hier gemeint ist, keinen pharisäischen Gegenstand a u ß er h a I b des eigenen Herzens, jenseits des Ozeans, bezeichnete, sondern Nei­gungen, die mit herübergewandert waren: die erste (traditions­mäßige) Natur, die durch eine zweite (s i tu a t i o n s mäßig­amerikanische) ausgetrieben werden sollte. Die ständige Verketze­rung "Europas", die hier vorkommt, ist also für uns Europäer, die wir unsere alte Haut lieben, nicht halb so ärgerlich wie es erst scheint.

S. 209, Anm. 5·

438

Wieder fragen wir: wozu die Emphase? Hat denn nicht schon der europäische H e g e I , ohne im geringsten dazu amerikanischer Hilfe zu bedürfen, gegen Kautische idealistische Dualismen in der gleichen Richtung, ja fast mit den gleichen Worten geeifert? In der Tat wird hier in auffallend Hegelischer Ausdrucksweise und Nachfolge gesprochen, - aber, wie sich zeigen wird, mit einer

letzten Absicht und Instrumentierung, die derjenigen Hegels denn doch schnurstracks entgegengesetzt ist (s. später S. 229, Anm. 3). Auf die weitere Frage aber: waren nicht auch Schopenhauer und Kierkegaard und Nietzsche - als späteste Europäer - den letzten Hegeischen Motiven "schnurstracks" entgegengesetzt, so ist aller­dings zu antworten, daß in vielerlei Hinsicht der amerikanisc~e Pragmatismus in diese letzte Wendung der europäischen Philosophie sich sehr wohl e i n ordnen ließe als eine bloße z e i t g e n ö s­s i s c h e Erscheinung. Bei der instinktiven Abneigung aber, die James und Dewey gegen Schopenhauer wie gegen Nietzsche - zu Recht oder zu Unrecht - empfanden (nur der halb europäische Santayana hatte als Schüler von James zugleich volles Gehör für Schopenhauer: the gentleman among the German philosophers) -ist es doch und gar nicht nur für den besonderen Zweck dieses Buches möglich, den amerikanischen Pragmatismus probeweise zu isolieren und die These aufzustellen, er habe seine Gegenstellungen gegen den europäischen Idealismus wesentlich und vorwiegend autark: aus den altpuritanischen Gesinnungen heraus, entwickelt.

43!}

Page 70: Baumgarten Ueber Dewey

I. KAPITEL:

DER PHILOSOPHISCHE DEWEYS.

ENTWICKLUNGSGANG JOHN

I. Lebenslau'f, S h "f c rt ten, Wirkungskreise

(S. 212-216).

S. 2IJJ Anm. I.

Eine gute Vorstellung A Schaffens Deweys vermittelt ~~m ~maß des schriftstellerischen und H W S h "d ~e von en Professoren M. H. Thomas. (Co! ·b. U ~ ne~ er bearbeitete "Bibliography of John Dewey"

um Ia mverslty Press, New York 1929) d" . T . hundert Seiten lediglich die Ti t e 1 d .. ' te Im e!l I auf über (mit Angabe der Aufla er Bucher und Abhandlungen

Antikritiken) und die t~n~r~:~;;:~u~=~nB~ehsprekchu~gen, Kr~tiken, uc er a PI t e I mitteilt.

S. 2IJ1 Anm. 2 .

V gl. Deweys Aufsätze über China. China N" philosophy of Life Ch" S . · s tghtmare. The Chinese-National Sentimen.t Cloneds~t. octafl habCits. The Growth of Chinese

· n 1 Ions or hi ' N · h and Law in China. Young China and Ol:a ~e atwn ood: Jus:ice Transforming the Mind of Ch" A . · w Cu!ture 111 Chma. Peri!. Ü919-1921. 1925) . mCah. menca and China. The White

' 111 " aracters I, 193_ 312.

S. 2IJ1 Anm. 3·

Vgl. Dewey: Liberalism in J 0 Eastern Sea. Japan revisited. T apan. n the two Si des of the

· wo years later (1919 . ) Ch racters I, 149_ 193. · , 1921 : a-

S. 2IJ1 Anm. 4·

Vgl. Dewey: Young Turke a d h C . New. The Turkish Tragedy Thy n b! t e ahphate. Angora, the Turkey. Ü924/25): Chara;ters ei pr~ em of Turkey. America and State in 1\fexico. The Ne d O!'d3" 4-35~- Ferner: Church and

w an 111 Mextco Me ". ' Ed . nal Rennaissance Mex· d h · xtco s ucaho-. tco an t e 1\Ion D · lv roe octnne (I 926).

S. 2I41 Anm. 5.

Bericht Deweys im Universit Cl b C . vgl. Characters I I B . y u ' htcago, 2I. Februar 1929;

' 399· m encht des Dewey-Comittee (Trotzky-440

Trial) hat Dewey seine günstigen Eindrücke des Jahres 1928 gründ­lich - und öffentlich - revidiert. (Nachhall dieser Revision und Desavouierung bis in die Spalten des populärsten amerikanischen U nterhaltungsb la ttel hinein: The Satu rday-E vening-Post.)

S. 2I4J Anm. 6. Graf Keyserling, dessen Buch über "Amerika, der Aufgang einer

Neuen Welt" (!930) ich sonst nicht loben will, hat doch diese eigen­tümliche Macht Deweys richtig erkannt. Er nennt Dewey "das Ge­wissen Amerikas". Mit Erstaunen schildert er, wie dieser eine Mann für sein ganzes Land (für dessen Wirklichkeit sowohl wie für seine noch unerfüllten Möglichkeiten) repräsentativ sei in einem Grade, für den es in keinem anderen Lande der Erde heute einen Vergleich gäbe, und schildert mit noch größerem Erstaunen, wie dieser gleiche Mann über Amerika hinaus in der ganzen östlichen Welt Ansehen und Einfluß genieße. Keyserling zieht daraus sofort en bloc geistesgeographische Folgerungen. Dewey habe dieser "auf­gehenden \Velt'' - und also auch dem 0 s t e n alles, uns Abend­ländlern aber nichts zu sagen. - Diese Spenglerische Geographie, die so geheimrätlich einteilt, wo "Abend" und wo "Morgen" sei, leuchtet nun freilich allen den j u n g e n Europäern keineswegs ein, die als Soldaten des \Veltkriegs eine "Frontierssituation" radi­kalster Ordnung erfahren und deren natürliche Gesinnungen in sich ausgebildet haben -: ein i g e von ihnen (zum mindesten) waren, längst ehe sie von Amerika und seiner Philosophie etwas zu hören bekamen, in ihrem eigenen Herzen "Pragmatisten" (auf deutsche Weise) gewesen und empfinden heute in der deutschen Pionier­situation von 1933 ff. erst recht Lust, den Pragmatismus der ame­rikanischen Frontier als ein lehrreiches und alterprobtes Gegen­stück, als die Gesinnung eines sowohl der S i t u a t i o n wie der Ras s e nach wahlverwandten Partners durchaus e r n s t zu nehmen.

Es ist noch anzumerken, daß die von Keyserling im Jahre 1930 bestaunte ö f f e n t 1 ich- repräsentative Rolle Deweys, die eine Zeitlang, ohne sein Zutun, beinahe M o d e c h a r a k t er ange­nommen hatte, längst durch das Tagesinteresse an anderen Persön­lichkeiten in den Hintergrund gedrängt ist; in den derzeitigen pädagogischen Strömungen in Amerika kann man sogar deutlich eille Anti-Deweysche Reaktionsstimmung wahrnehmen, die indessen für die repräsentative Bedeutung, die Dewey g es c h ich t 1 ich, von Emerson und James her, zukommt, genauso gleichgiltig ist wie das vorhergehende ,Hosiannah'. - Die wissenschaftlichen Gegen-

441

Page 71: Baumgarten Ueber Dewey

Strömungen ~~gen den Pragmatismus, die unter anderem in der Rede des Prastdenten der Harvard-Universit""t b . d J h f · w k a et eren 300- a r-eter zu ort amen, erschüttern gleichfalls nicht d" I k

der D h Ph"l te nnenwer e eweysc en 1 osophie. Das Verdikt des p .. "d · h lb · ~ rast enten trug

stc se er 1ll charakteristisch p r a g m a ti s c h e F 1" D" · r ormu terung vor. t~se Pht~osophie habe sich (vom Fachwissenschaftsbetrieb aus gese en) "mcht b e w ä h r t"' so versage man ihr i H d den Glauben. n arvar

7· Vgl. Dewey: "Individualism Old and New". Ca "t 1" t" p b!" S · !" " ' • » PI a lS lC 01" u tc octa tsm? ; "Intilligence and Power" (The New Republic,

I930, Ns. 790, 792, 794. 796, 798, 8oo; I934• No. IOI2).

S. 2I5, Anm. 8. Auch als Ge g n e r hat Dewey das Bild Deutschlands zwar

verzerrt, ab~r noch immer großartig gesehen. Vgl. Dewe "German ph!losophy and politics New York I9IS I d S y, lu t D ' · n er amm-

( ng ver~ reuter eweyscher Aufsätze aber, ,Characters and Events'

1929) hielt es der Herausgeber wohl um de h" t . h ' t"" d" k · . ' r 1s or1sc en Voll-~ an ~g. ett '":tllen, für richtig, zwei Artikel aus der Kriegs- und

ac negszelt ~"The Mind of Germany", "Imanuel Kant") wieder abzudrucken. Sie werden unten (für die A . d . useman ersetzung De-weys mit der deutschen Philosophie) nicht mit in B t ht gezogen, weil in ihnen mehr noch als in dem genannten Bu:h:ac. echter und wesentlicher Kampf auf eine Ebene h" .. b em der de K · mu ersprang, auf

r negszorn der Nationen, hüben und drüben e· . fa ht B"ld 1 ' s me verem-

b c en I er a s bloße Folien für den eigenen patriotischen Glau-

en entwarf.

S. 2I5, Anm. 9· Vgl. Characters II SSI 7 3 . p· t . . . ff üb ' - o ' ta JUStitia, ruat coelum. II

592 . er den "Völkerbund" stellte Dewey (II 6o4. N . b ' I9I8) folgenden ersten Lehrsatz auf· A Leag e 'f N t'. ovemh er · . · " u o a wns w ose ~~am p~rpose IS to enforce peace ... is academic ... and wiit break

wn, m all probability, when confronted with bl f . · pro ems o national expanswn and a redistribution of the centers of eff t" Taken b · t 1f · ec 1ve power

Y I se lt represents simply a consecration of th n· . of the particular balance of power which obtains at a giv:np~~~c.~

IO. Abgedruckt in Survey Graphie, Nov. 1936, p. 6o3 ff. .

S. 2I6, Anm. II.

442

h Vgl. A common faith (Yale lectures, I934) p 28· Just becau

t e rel ease f th 1 . . · · " se o ese va ues IS so lmportant, their identification with

the creeds and cults of religions must be dissolved." Diese letzteren mit ihren Gebeten um außernatürliche Hilfe, schadeten, meint er, den fraglichen Zwecken und idealen Zielen mehr als sie sie, selbst bei gutem Willen, fördern könnten. (p. 47): Belief in a sudden and complet transmutation through conversion and in the objective efficacy of prayer, is too easy a way out of difficulties. It leaves matters in general just about as they were before; that is, suffi­ciently bad, so that there is additional support for the idea that only supernatural aid can better them." - Dem allem zufolge nun die bündige Erklärung, wie Religiosität heute rechtschaffener und ungekünstelter Weise zu definieren sei. (p. 27): "Any activity pursued in behalf of an ideal end against obstacles and inspite of threats of personal loss because of conviction of its generat and enduring value is religious in quality." Oder deutsch (die Thesen des Buchs in einem Satz zusammenfassend): Dewey erklärt gegen die christliche Religion, daß es keiner bestimmten einmaligen Offen­barung Gottes bedürfe, da jedes Leben, das einem umfassenden und dauernden Glauben, unter Nichtachtung von Bedrohung und persön­lichem Nachteil, dient - also heroisches Leben ist - durch sich selbst schon im natürlichen eigenen Vollzuge, religiös sei.

I2. Vgl. Foreign Affairs (An American Quarterly Review) vo!.

XVI, Nr. I, Oktober 1937, p. 68.

I I. Vom Ab so 1 u t i s m u s zum Ex p er im e n t a 1 i s m u s

(S. 217-234).

S. 218, Anm. I. Personal Statements, p. 13 ff.

S. 228, Anm. 2. Die g r o ß a r t i g e n , schon im Zusammenhang mit Benjamin

Franklin zitierten Darstellungen der puritanischen Religiosität bei Max Weber (vgl. Bd. I, S. II7) und Max Webers eigene Vorliebe für die grimmig-kalvinistische Vorstellung Gottes als eines ,deus absconditus' paßt in der Tat besser zur Charakteristik Deweys, als zu derjenigen Franktins (S. Weber, Ges. Aufsätze zur Religions­soziologie I, bes. S. 102 ff. und Marianne Weber: Max Weber, Ein Lebensbild, S. 350 ff.). Webers Frage aber: wie haben die Puritaner diese Gottesferne ausgeh a 1 t e n ? und seine Antwort: sie haben sich, von Angst und Einsamkeit gejagt, an die Arbeit und vor allem an rationale Zusammenarbeit gemacht, ist, auch von Deweys

443

Page 72: Baumgarten Ueber Dewey

444

Philosophie und Person her zurückgesehen, wahrscheinlich eine genaue U m k e h r u n g des fraglichen Zusammenhangs. Es gilt wohl - vor allem für das entscheidende 17. Jahrhundert - dies: der von Wycliff her anerzogene Stil der kongregationalistischen,. sozialen Kooperation beseelte die kleinbürgerlich-revolutionäre, zur politischen Herrschaft drängende Schicht so sehr, daß sie von Gott nur als von der unerforschlich - a b s o I u t e n Gewalt wissen wollten, durch welche s i e schlechthin berufen seien. Der deus. absconditus hat diese Streiter und Eisenseiten in religiösen Dingen grimmig gemacht - aber hat die einzelnen in einem sozialen Sinne keineswegs und nie "vereinsamt". Sie waren miteinander Soldaten, Brüder, Nachbarn. Noch in dem modernsten Sohn dieser Religiosität, Dewey, ist beides sichtbar: die harte, "asketische" Gottesferne (nämlich im Vergleich mit lutherischer und gemüthaft­mystischer Religiosität (s. Weber, a. a. 0.) und zweitens, die spon­tane, pionierhaft- u n b e d i n g t e Brüderlichkeit; diese letztere ist alles andere als ein sekundäres, durch subtile psychologische Ver­mittlungen als ein "Ausweg" zustandegekommenes Phänomen. Immer wieder ist in diesem Buch auf seine alte und fortdauernde Urs p r ü n g I i c h k e i t hingewiesen worden. Brotherly Love,. Fellowship bildeten schon für Wycliff den Grundstock religiöser happiness und waren unmittelbares ErziehungszieL Unter den vie­

len Dewey-Legenden ist folgende besonders glaubhaft. Als auf Deweys Ferienfarm eines Sommers infolge der Abwesenheit der übrigen zahlreichen Familie großer Milchüberfluß herrschte, fuhr Dewey jeden Morgen nach dem Melken mehrere Kannen Milch in seinem alten ländlichen Fordwagen zu einem benachbarten Sommer­sitz zum Verkauf. Die Besitzerin, eine Dame der reichen New Yorker Gesellschaft, wurde zu dieser Zeit darauf aufmerksam ge­macht, daß in der Nähe ihres Anwesens der berühmte Philosoph Dewey seine Ferienfarm habe. Sie lud ihn zu Tisch. Als alle an der Tafel Platz genommen hatten, konnte sie sich nicht mehr zu­rückhalten: "Dr. Dewey, how in the world is it possible, that you should Iook e x a c t 1 y like our milkman ?" - "Weil, madame, I guess, I a m your milkman." - Diese Pioniere kannten auch vor 300 Jahren keine persönliche Unsicherheit, machten kein Wesens und keinerlei ängstliche \Virtschaft mit ihrer besonderen Person und Einsamkeit, sondern führten m i t e i n an der ein schlichtes, zutrauendes Leben; - nur Gott war ihnen allen fern und hart verborgen. Die von Weber angezogenen Erweckungen jener frühe­ren Zeiten (revivals) waren wiederum nicht emotionelle Erret­tungen der e i n z e 1 n e n ·aus einsamen Prädestinationsängsten, sondern (vorwiegend) m a s s e n hafte Aufpeitschungen gegen den

ton lastenden bzw. zer-auf diesen Menschen als M a s s e n mono .. er im dritten

.. b nd gefahrvollen Frontiers-Alltag. (Darub 'k mur e üb d' Wurzeln der amen a­Band; vgl. unten, Text S. JI6 f.) . er. te Thomas C Hall, The nischen Sozialpsychologie bei Wycltff stehe . - Die · c Jture Boston 1930. religic;us background of Am.encan G ut t f: r n e Deweys ist auch nüchterne, puritani.sche, asketische "t od die antimetaphysischen, in dem eigentümhchen Pathos, ~kt em D a r w ins ausgewählt

. . h S "t und Wtr ungen illusionsfemdltc en et en 'V b _ bis zu einem be-

. d d Haltungen Max v e ers und betont sm ' en dt (Siehe den gleich folgen-stimmten Grade - wesenhaft verwan . den K!eindruck-Absatz des Textes.)

S. 229, Anm. 3· D e w e y ' H e g e 1 und S a n t a y a n a.

n der absoluten, also notwendigerweise Deweys Abwendung vo . riori alles wissenden, kon-

d" Welt wie ein Gott guthetßenden, a p . te .. . . H 1 bedeutete nicht, daß Dewey Je

templativen Vernunfttgkett e~e s 1

fhörte Er schreibt . ß d r von thm zu ernen au .

Regel wteder verga o e S h t' des Regelsehen Systems D' F m der c ema tsmus

(a a. ?·): •: ~~ or . .' t künstlich. Aber im Gehalt seiner Ideen erschemt mtr Jetzt hoc~s . . 1 iner Analysen, sofern man bleibt ei.ne unerhörte !tefe, ~~. ~~~:~c~:n Rahmen herauslöst, eine sie aus threm mechamschen,h tba. d u""berzeugt daß bei Regel

. . h S h'' fe Ic m avon ' unvergletchltc e c ar · . .. . Spiel der Einsichten

. .. R . ht nd em geraumtgeres em großerer etc. ~m u . anderen einzelnen systematischen sich findet als bet trgend emehm . h " - (Iimmer blieb Plato

. h nur Platon ne me tc aus. . Phtlosop .en,- .. . F ilich finde ich in ihm nicht den allem, Deweys hebste Lekture) · " re S b d n spätere Ausleger

. d lttätigen ystem au, e schheßenden un gewa . b d' antt'ken Skeptiker einen

· b z übertne en te ihm zuschne en. war . . . ihn als ihren geistigen andern Aspekt seiner Phtlosop~te,dwe~:~:heit damit immer noch

Vater ausrief.en, d~~~ ka~~~es~ön~~e dem gegenwärtigen Philoso-näher. - Keme gro ere . W d zurück zu Plato'. Aber

. ·1 d n als eme en ung ' phteren zutet wer e . . d dramatische, ruhelose das müßte der Pla.to ~er dDta~g~ se:hte:r Kommunikation, einen Plato, der, wesenthch m er et~e u sehen was ihm etwa

Vorst~ß nach d::s ~::e:~n::;~~n\~:ei~ungen des Denkens im-entspnngt ; der S · len und Praktischen -

t · h zurückschlägt zum ozta . rr:er t e~:;u küs~:tliche Plato, den phantasielose Kommenta:oren, dte ~~c~ d M d 11 des Universitätsprofessors erblickten, steh ausge­m thm as o e dacht haben."

445

Page 73: Baumgarten Ueber Dewey

.. "Di~ Exposition des eigenen Gedankens" führt "h (D spaterhm zu barscher Kritik a d e I n ewey} "unter einem weniger straffen Gn . ehn großen Klassikern, während

. . es1c tspunkt" e· · . . POSitive Auslegung der "fruchtbaren und . -~ne ~velt ergiebigere, Spinoza, Kant Hege!" ihm

11 h we1traum1gen Ideen eines

' wo 1 na e genug g 1 1 .. an anderer Stelle und . t ( e egen 1atte, sagt er mem a a 0 p 17) .. b .

zu sagen (was heute scho . . . ., . es eru nge sich wohl daß solche übertriebene Str:it~': ::ycholo~ischer Gemeinplatz sei), mit diesen andern als mit eine: ;'\au: em:n Kampf nicht. sowohl

Hege l gegenüber ze· . el e. er eigenen Natur hmdeute. Schärfe nie übertrieben . lgte . Slc_h mdes.sen Dev,reys asketische Gründe, die Dewey vo Hangrlelfbens~h. Die bündigen sachlichen

11 ege a schieden h t · 1· mentvoller als Dewey lb d ' a ' e1gent 1ch tempera-s se st, er sonst kei · .

antayana - an Dewey St t . neswegs puntamsche s a t - formuh t · J

sprach Santayana Deweys Buch über Ge. er : ''_11 ahre 1915 be-tics und beschloß diese B h Iman ph!losophy and poli­Philosophy 1915 v XII esp6rec u"ng folgendermaßen (Journal of

' ' . ' p. 45---u49): Professor Dewey skillfully avoid . . .

any account of the tra d s comphcatmg hls survey with nscen ental theo f k

after al! is the foundat,·o f . ry o nowledge; yet that n o everythm · th" h"

un~il it is radically abandoned we shal! harg 111 IS p llosophy, and qU!cksands to which it Ieads Wh . h dl~ emerge from the moral between what is and what o~ght t: ~: ?t ere ~~ fact a clear difference unlike the blessed cons . . _Why IS true freedom so very is the autonomy of co c~ousness of bemg willingly a slave? V\!hy

nse1ence actually not · Why is there a limited autho "t . . . ~omantlc and anarchica!?

· n Y 111 mshtutwns? Wh mlse ~nd partial cooperation practicable in s : ? y are ~ompro-somehmes a right to revolution? Wh . Dc!ety. Why IS there loyalty? Because the wh I t. y IS there sometimes a duty of

. o e rauseendental h"J h . ultimate, is false, and nothing but lf h p I osop y, lf made because the will is absolute "th a _se IS perspective hypostasized;

ne1 er m the ind" "d 1 · ty; because nature is not a prod t f h . IV! ua nor m humani-there is an external wo ld uc o_ t e mmd, but on the contrary which the mind recogniz;s ~n~g;s :nor to any a Priori idea of it, human nature within u h" I ee s upon: because there is a steady

s, w 1c1 our moods d . but cannot annul· because th . an passwns may wrang,

' ere 1s no absol t · · the Operation of instincts d . u e imperative, but only d . . . an 1nterests more 1 b.

ISC!phne and mutual ad · t or ess su ject to JUs ment · and fin 11 b . .

promise, an incipient loo h ' a Y ecause hfe 1s a com-se armony bet th . soul and th f ' ween e passwns of the

e orces of nature forc h" h r . protect the souls of oth ' es w IC lkew1se generate and

er creatures endo · th . expression and self as t" ' wmg em wlth powers of

- ser wn compar bl t aims not less sweet and worthy in th . a e o our own and with

e1r own eyes · so that th · k 446 ' ' e qlllc

and honest mind cannot but practice courtesy in the universe, ... exercising its will without vehemence or forced assurance, judging with serenity ... and in everything discarding the word absolute as the most false and the most odious of words."

Santayanas präzise Hilfsstellung für Dewey bei dieser Gelegen­heit verhinderte nicht, daß eines Tages eine in Santayana immer wirksam gebliebene, sehr verständliche europäische Auflehnung gegen eine gewisse geistige Atem-Enge des amerikanischen Prag­matismus sich Dewey gegenüber fast explosiv Luft machte. Wäh­rend er seinen Lehrer J ames bei allem Verdruß (s. bei Perry den höchst interessanten Briefwechsel, v. II, Register unter Santayana) nicht anders als lieben konnte, tat sich Dewey gegenüber nun die tiefe europäisch-philosophische Abneigung kund, -gegen den Mann, der den harten Geist Amerikas als erster vollständig in Philosophie ver­wandle,- "in einer Weise, als fingen Sparta und Karthago, die die Welt mit Philosophen ihres Geistes verschont hatten, noch nach­träglich an zu philosophieren". Hinter diesem Kampfruf her führte Santayana seine Detailangriffe gegen Deweysche Positionen durch, (Journal of Philosophy, 1925, v. XXII, 673-688: Besprechung von Deweys "Experience and Nature"), hastig in tatsächlichen Mißver­ständnissen, unirrend im Instinkt. Dewey kreuzte ritterlich mit dem heftigen Angreifer die Klinge; während er mit wunderbarer Schärfe focht und zum Gegenangriff überging, blieb er zugleich auf naive und wahre Weise e r s t a u n t über das plötzliche Auftauchen des von ihm sehr bewunderten und oft gepriesenen jüngeren Mannes gegen ihn in Schwert und Harnisch. Noch in diesem Erstaunen schloß Dewey seinen scharfen Gegenangriff voll Freundlichkeit ab. (Journal of Philosophy, 1927, v. XXIV, p. 57--64: " ... While I find myself in so much agreement with him he is in such profound disagreement with me. The case seems to resemble that of the Irishman, who said the two men looked very much alike, especially one of them. Barring that feature of Mr. Santayana's thought to which exception has been taken, I am happy to be that one.

Columbia University. John Dewey.

S. 2 JO, Anm. 4· Daß Dewey auf seinem Weg von Regel zu J ames, auf dem be­

reits D a r w in ihn vortrieb, in der Gedankenwelt und in dem geistigen Bereich der Persönlichkeit von Leib n i z einen Aufent­halt machte, erscheint nachträglich sehr sinnreich. Die unver­festigte Form der Leibnizschen Begriffe lud wie von sich aus zu pragmatischer Deutung ein, sodaß sich Dewey in diesem Augenblick

447

Page 74: Baumgarten Ueber Dewey

seiner Entwicklung bei Leibniz besonders wohl fühlte: noch war er hier im Schwingungskreis des spekulativen Idealismus, aber schon auf dem Rück weg gegenüber dem allwisend-gottähn­lichen Hegeischen Endzustand desselben. "Leibniz", p. 45 ff. wird erörtert, wie der Begriff der "Einheit" von Leibniz auf einer dritten Stufe als "Arbeitshypothese" verwandt wird (working hypothesis), und in diesem Zusammenhang finden sich Sätze, die (1888) wie eine Antizipation Jarnesscher Ausführungen (1907) klingen (vgl. oben S. 177, 191): "It is not what cornes before the formulation of a theory which proves it; it is not the facts, which suggest it, or the processes that Iead up to it: it is what comes after the formulation of the theory - the uses that it can be put to, the facts that it will render significant. The whole philosophy of Leibniz in its simplicity, width, and· depth, is the real evidence of the truth of his philosophi­cal principle. - Das Buch schließt mit folgendem Satz: But it is not enough for intelligence to have great thoughts nor even true ones. It is testirnony to the sincerity and earnestness of intelligence that it cannot take even such thoughts as those of Leibniz on trust. It rnust know thern: it rnust have a rnethod adequate to their dernon­stration.

S. 230, Anm. 5· Die Führung oder Mitwirkung, die Leibniz bei Deweys Ent­

deckung der ("demonstrierenden") philosophischen Methode von Jarnes gehabt hat, hat Dewey später offenbar ganz vergessen, jeden­falls nie erwähnt.

6. Dewey, Le developpernent, a. a. 0.

S. 232, Anm. 7·

448

Die lakonischen Thesen Deweys an Ort und Stelle sind hier nach Maßgabe anderweitiger Ausführungen Deweys etwas erwei­tert wiedergegeben. Sie haben im Original die Gestalt eines un­geduldigen Knurrens: The rest oft the story of rny intellectual deve!oprnent I arn unable to record without rnore faking than I care to indulge in.- Bezüglich der Wirkung, die James' Psychology im Unterschied zu andern Büchern auf ihn ausgeübt habe, sagt er: Upon the whole, the forces that have influenced rne, have come frorn persons and frorn situations rnore than from books - not that I have not, I hope, learned a great deal from philosophical writings, but that what I have learned frorn thern, has been technical in corn­parison with what I have been forced to think upon and about, because of some experience in which I found myself entangled. -

S. 233, Anm. 8. Reden" heißt normalerweise mit Menschen reden. Wenn in

" d den vorstehenden Sätz~n aller "vorblickende" Umgang, auch er-jenige mit Dingen, unter den Oberbegriff Rede (= so z i a I es Handeln, Partnerschaftshandeln) gebracht ist, so klingt das nach laxer Begriffsbildung. Wie soll mit ,Dingen' (die doch k~in leben­diges "Du" sind) Rede, Kornmunikation in Dew:~s ~mn s~att­finden, d. h. jenes Hin und Her wechselseitiger Antlztpatwn, wte es Dewey späterhin (vgl. Text, S. 325 ff.) ausführe~ wird? I:Ii~r f~hlt ja zur echten Rede (sei!. Dialog) der von steh aus rnltemshrn­rnende Partner. Es findet also bestenfalls h a I b seit.ige ~ede statt. Allein, bei allem Nachdenken über und Erwägen von Dmgen und Dingverläufen erkenne ich den verschiedenen dabei vorkornrnend:n Sachverhalten gl~ichsarn Rollen zu, die ich, mich abwechselnd m sie versetzend, gegeneinander und übereinander "aussagen". lasse. Die Dinge "geben" mir nun tatsächlich "Zeichen" (was ste, als Dinge unter sich, von "Natur" aus, zweifellos nicht tun). Verberge ich mir diesen nur quasisozialen Charakter des Vorgangs, vergesse ich, daß nicht die Dinge selbst, sondern ich es bin, ~er diese ihre Reden" -kunstvoll (zielhaft) - "führt", so befinde tch mich in de•; . primitiven" Einstellung des Animismus. Ich bilde mir ein die Din,~e s e 1 b s t hätten in bezug auf mich ihre geheimen .od~r offenbaren (guten oder bösen) Zwecke und verheimlichten oder {)ffenbarten mir von s i c h aus die rechten Mittel, mich derselben zu versichern bzw. mich vor ihnen zu schützen. (Vgl. Dewey, Ex­perience and Nature, Ch. V; Nature, Comrnunication, and Meaning, p. 18o.) Diese präziseren Analysen dürfen uns aber hier und im folgenden nicht weiter beschäftigen. Hier kam es nur auf das p r in z i p an: Geist (jeglicher Art, vor allem, wie sich später zeigen wird: Denken) findet nicht wesentlich "drinnen" "im" Kopf statt, sondern ist Rede - eine spezifische Weise des Verkehrs mit der WeIt.

III. D e w e y s Bekenntnis zu Ern er so n (S. 234-241).

r. Siehe The International Journal of Ethics, Juli 1903: "Erner­son the Philosopher of Dernocracy." First read as a paper at the Emerson Memorial Meeting, The University of Chicago, May 25, 1903, ·abgedruckt in Characters I, S. 6o ff.

2. Siehe The Hibbert Journal, July 19II; abgedruckt in Charac­

ters I, 31.

29 449

Page 75: Baumgarten Ueber Dewey

S. 238, Amn. 3·

450

Mit dem terminus ,feudal' wird hier offenbar die menschliche Haltung verstanden, die einen Vasallen oder gar einen Leibeigenen auszeichnet, der jederzeit bereit ist, mit den friedlichen, alltäglichen und natürlichen Zwecken seines eigenen Lebens zu b rechen und mit einem S p r u n g in den Dienst eines höheren Herrn einzu­treten, Kriegsdienste zu leisten zu Zwecken und gegen Feinde, mit denen er von Haus aus wenig, unter Umständen gar nichts zu schaffen hat. Wenn dieser höhere Krieg kommt, so ist er "Schick­sal", demgegenüber man nicht nach Gründen fragt: ein Dunkles, in das man sich tapfer - oder: mit der Lust des Abenteurers -hineinwirft. Für den Laientrotz des Amerikaners ist der Begriff ,feudal' nahezu ein Schimpfwort. Jenen "Sprung" und das Dunkel des Schicksals will er in seinem Leben so weit wie möglich hinaus­schieben. Der Gang der Natur ist gegen den einzelnen rücksichtslds und in gewisser Weise das "Höhere" gegen sein Leben. Diese Rück­sichtslosigkeit, übermacht der Natur, soll aber der Mensch mit allen Mitteln zum Grenzfall machen; er soll nicht selbst seine Einrich­tungen nach diesem Muster aufbauen. Im Gegen-Eifer gegen das Schicksal wird dann freilich leicht das andere Extrem erreicht. An einer Stelle des Deweyschen Aufsatzes über Maeterlinck kommt dieses Extrem einer alltäglichen Friedensliebe denn auch - ein wenig weinerlich -zum Vorschein: "the new drama will, Maeter­linck teils us, be born." "A theatre of peace and of beauty without tears", for a "truly illumined consciousness has passions and de­sires infinitely less exacting, infinitely more pacific, more salutary, more abstract, and more generaus than an unillumined conscious­ness" (Characters I, 37). Dieser Maeterlincksche Pazifismus ist aber Dewey eigentlich fremd und er hätte zur Erläuterung der "un­feudalen" Haltung zum Mysteriösen, die er im Auge hatte, nicht diese weichen Töne Maeterlincks zitieren sollen. Seine "unfeudale Haltung" meint lediglich eine selbsttätig und wissend sich ein­fügende und eingreifende Haltung, also "diejenige des M u t s statt der Angst" (Char. I, 35). Vgl. die antifeudalen Gesinnungen Frank­lins (Bd. I, 101 f., 233 ff.).

II. KAP I T E L:

DER ZUSAMMENHANG DER MOMENTE DES MENSCH­

LICHEN BETRAGENS.

S. 242, Anm. I.

James selbst war dieser Zwiespalt zwischen einer objektiven Tendenz und dem Fortwirken subjektivistischer Gesichtspunkte, die n e b e n ihr und in sie verschlungen, gleichfalls das ganze Buch durchziehen, nicht zum Bewußtsein gekommen. Die Betonung Jener Tendenz aber machte allererst aus J ames' P s y c h o 1 o g i e eine P h i l o s o p h i e.

Der englische Mathematiker und Philosoph A. N. Wh i t ehe a d (seit 1924 in Harvard) sagt in seinem Buch "Process and Reality" (preface): "it was reserved to the keen and ingenuous mind of John Dewey to detect and delineate in James' ,Psychology' a coherent and systematic philosophy."

I. T h e o r i e der Ge f ü h 1 s er r e g u n g e n (S. 247-259).

• S. 247, Anm. I. William James (Essays in radical empmc1sm, 1912, p. 191 n)

forderte Dewey dringend auf, diese Aufsätze zusammen mit einigen andern, ebenso versteckten, ebenso wichtigen, endlich ans Licht zu heben, d. h. in Buchform zu veröffentlichen. Dewey hat dies nicht getan und hat auch in späteren Schriften auf diese beiden Aufsätze sich niemals bezogen. Vielleicht aus seiner notorischen Interesse­losigkeit an allem, was er als Gedrucktes hinter sich gebracht hat, möglicherweise aber auch deshalb, weil ihm die hier rasch aufge­griffene Terminologie an mehreren Stellen noch in sich selbst zu problematisch, noch nicht durchaus geklärt und entwickelt erschien, vielleicht auch, weil ihm die da angegebenen Unterschiede zwischen menschlichem und tierischem Betragen einen zu einfachen Schnitt zogen und gegenüber den inzwischen rasch fortschreitenden tier­psychvlogischen und biologischen Forschungen nicht genau genug Stich hielten. Trotz dieser Unfertigkeiten, die unsere rohe, abge­kürzte Wiedergabe in der Wirkung noch wesentlich steigert, setzen wir uns für unsere fachlich-unstrengen Zwecke über Deweys eigene etwaige Bedenken hinweg und befolgen den Jamesschen Rat, die Genialität der Deweyschen Grundkonzeptionen in ihrer frühesten, frischesten, draufgängerischsten Gestalt zu zeigen.

29* 451

Page 76: Baumgarten Ueber Dewey

2. "Wissen im eigentlichen Sinn", d. h. Wissen auf Grund eines Befragen s des anderen als eines anderen: als eines Gegen­Ichs, das mir gegenüber seine eigenen (für mich ungewissen) Zwecke mit eigenen (für mich ungewissen) Mitteln verfolgt.

S. 250, Anm. 3· Spezifisch emotionale Gefühle (Gefühls e r regt h e i t e n) sind

also etwas wesentlich anderes als die Gefühlsweisen, die wohl­koordiniertes Betragen umspielen: z. B. Freudigkeit im Kampf oder beim Feiern, Ausruhen. Die letzteren sind ein Wo h 1 befinden, wie sie offenbar auch vom Tier vage empfunden werden, - sobald sie aber "bewußt" werden, d. h. zugleich "emotional" i. e. S., meldet sich in ihnen Diskoordination: irgend eine Sorglichkeit.

4· Vgl. eine ähnliche Darstellung bei Goethe: Brief an Friederike Brion, rs. X. 1770, mitgeteilt bei Lewes, Goethes Leben I, ISS (Schluß).

S. 257, Anm. 5· überall ist die entscheidende Idee, daß Emotionen etwas Ur­

sprünglicheres sind als bloß "inneres Gefühl", nämlich Handlungs­tendenzen. (Emotions II, 17): When we say that Mr. Smith is very resentful at the treatment he has received ... we do not simply, or chiefly, mean that he has a certain ,feel' occupying his consciousness. We mean he is in a certain practical attitude, has assumed a readiness to act in certain ways. I should not fear a man who had simply the ,feel' of anger nor should I sympathize with one having simply the ,feel' of grief. Grief means unwillingness to resume the normal occupation, practical discouragement, breaking up of the normal reactions etc. etc. -

Die im Text wiedergegebene Deutung des Lachens scheint sofort widerlegbar zu sein durch den einfachen Hinweis auf die zahllosen Fälle eines unmittelbaren, strahlenden Loslachens von kleinen Kin­dern sowohl wie von Erwachsenen. Aber es wird von Dewey natür­lich die Voraussetzung gemacht, daß "Spannung und Entspannung" nicht als ein grob-zeitlicher, datierbarer Vorgang beobachtbar ist, sondern daß unendlich f 1 ü c h t i g e Spannungsgestalten und m i -n im a 1 e Spannungsgefälle diejenige Verhaltenslabilität ausmachen, die wir als unmittelbares, scheinbar spannungsloses Lachen beob­achten.

S. 2 59, Anm. 6. Am vorstehenden Satz ("Erregt sucht etwa ein Ich ... ") ist die

452

sorgfältige Formulierung zu beachten, die bes<~gt, daß das_ Su~jekt vom Objekt nur insofern gereizt wird, als es schon vorgangtg zu solcher bestimmten "fragmentarischen" Reizung a k t i v (han­tierend) auf das betreffende 0 b j e k t im ganzen eingestellt war. Das Anhalten des Atems (als Voraussetzung des Lachens) setzt vor­sorgendes Interesse, Eingestelltheit auf den gesamten Bewa_n~tnis­zusammenhang voraus. Hier liegt Deweys entscheidende Knhk am Reflex-Bogen-Schema zugrunde, die ihm im gleichen Unter­suchungszusammenhang erwuchs. (Psychol. Revi~w, rSgs: ;r'he Re­flex-arc-concept): Das triftige Schema lautet me und mrgends: r. objektiver Reiz, 2. "Subjekt-Reaktion", sondern r. bestimmte aktive Zugewandtheit eines Subjekts zu einem Objekt; 2. Objekt­Reize auf dieser Basis, also von der Aktivitätsrichtung des Subjekts bereits aus g e w ä h I t e Reize. 3· Reaktion des Subjekts auf diese Reize. Das Reflex-Bogen-Schema ist hinmit durch das Schema eines Reflex-Kreisganges ersetzt. Die Koordination, die sich im Augen­blick des Lachens herstellt, ist somit die Wiederherstellung eines Kreislaufs, zugleich seine Erweiterung (erfolgreiche Einordnung der aufgetretenen Disruptionsmomente).

11. K r i t i k d e r T r i e b - u n d I n s t i n k t 1 eh r e

(S. 26o-268).

I. Vgl. die schöne Stelle über Selbstliebe, Selbstkontrolle, Selbst­vertrauen, usw. (deutsche Ausg. [Sakmann] S. 143).

2. Der Leser möge nicht glauben, daß sich Dewey in seinen Ka­piteln über die Gewohnheit mit ähnlichen wie den hier gebrauchten summarischen Wendungen begnügt. Es finden sich daselbst ge­naueste Analysen über "Gewohnheiten als physiologische Funk­tionen; als soziale Künste; das Verhältnis von Gewohnheit und Charakter; von Gewohnheit und Wille" (z. B. das Fortwirken alter Gewohnheiten in den Fällen willensmäßiger "Bekehrungen", "Re­volutionen" usw.). über das Verhältnis von Gewohnheiten zu Cha­rakter und Wille siehe den späteren Text (S. 288 ff.).

S. 263, Anm. 3·

Diese Sätze scheinen die Möglichkeit und die Gesichtspunkte j eglieher Vererbungs- und Rassentheorie ausschließen zu wollen. Das ist indessen nicht der Fall. Vgl. Dewey a. a. 0. ed. Sakmann S. 86: "Es ist kein Zweifel, daß physische und physiologische Eigen­tümlichkeit jedem entsprechenden Handeln seine F ä r b u n g ver-

453

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454

leiht und die F o r m beeinflußt, die Sitte und Brauch in der indi­viduellen Nachbildung annimmt." Vgl. auch S. 85; und S. 73 über das alle Erziehungschancen eingrenzende Moment des ,natural en­dowment', der "natürlichen Veranlagung".- Richtig ist, daß Dewey in Fragen der Vererbungs- und Rassentheorie und -Wissenschaft öfter zur Vorsicht rät; ein irgendwie betontes, waches eigenes theo­retisches Interesse hat er an ihnen nicht, vermutlich weil bei ihm wie bei den meisten Angelsachsen die alte angestammte, ruhige rassisch-orientierte politische P r a x i s keinerlei Bedürfnis nach expliziter Rassen-T h e o r i e entstehen ließ.

Ein etwas erregteres Rassebewußtsein meldet sich (nun aber erst recht verhüllt), in einigen Kriegsaufsätzen Deweys (z. B. Charac­ters II, 573, II, 444); überall in Amerika, so auch von Dewey, wird vorausgesetzt, daß sich die Volksgruppen innerhalb der Nation nach Rassen scheiden; daß aber a 11 e Gruppen die englische Philosophie, Pädagogik und Manieren gebrauchen als die Philosophie der f ü h -r e n d e n Rasse. Der Deweys Philosophie und Gesinnungen sehr nahestehende, führende amerikanische Nationalökonom und Sozial­philosoph John R. Commons spricht sich, gänzlich unsentimental, rein feststellend, folgendermaßen über diese Frage aus (Commons, Races und Immigrants in America, New Edition, New York 1930, p. 3, p. XVIII): "Hinsichtlich der rassisch Unterlegenen haben wir tatsächliche Oligarchie unter der Maske der Demokratie" (actual oligarchy disguised as democracy), "denn wir sind durch unsere Geschichte die Nation der Frontiersmen und Rauhreiter. Wir machen Zugeständnisse nur an unseresgleichen. Wenn zu unserer Bevölke­rung Neger hinzugefügt werden, fraternisieren wir mit ihnen nicht wie die Franzosen, sondern weisen ihnen den Platz an, den wir für angemessen halten, und das Lynchrecht widerruft das 14· Amend­ment" (verfassungsrechtliche Gleichstellung der Neger nach 1864). "Wenn wir nacheinander Iren, Chinesen, Slaven, Italiener hinzu­fügen, verwenden wir die späteren Rassen dazu, die Kinder der aufwärts strebenden früheren zu ersetzen und wenn auch sie nun gleiche Behandlung verlangen, dann vergessen wir, wie wir sie be­nützt haben, dann verurteilen wir sie als Ausländer, Fremde, un­amerikanisch, verführt von Anarchisten und Revolutionären, und greifen nach unseren Gewehren." (Vgl. E. Vögelin, über die Form des amerikanischen Geistes, S. 189 ff. und Andre Siegfried, Die Ver­einigten Staaten von Amerika, 2. Aufl., S. 65-116. Betreffs möglicher Freundschaft zum Negergemüt, -Humor, -Musik bei gleichzeitigem absolutem Distanzbewußtsein vgl. das klassische Epos b e i der Haltungen: Mark Twain, Huckleberry Fin.)

S. 267, Anm. 4· • · · t i n k t e s als solche

Ohne diese A n a 1 y s e d e s K r 1 e g s 1 n s F 1 ß d' 'h gezogenen o ge-

zu kritisieren, merke ich nur an, da 1e aus 1 r . 1

A rungen nicht triftig erscheinen. Wer will heute noc~ Kne~ a s . uhst-

1 .1. Alltag? H1er fixtert s1c -flucht aus einem grauen, angwet tgen · . lieh die Erinnerung an den besondersartigen letzten Kneg (19E14

. V t '1 d "ber wie der nächste verlaufen werde. s -r8) em orur e1 aru ' . . d h h . r h daß ein künftiger Kneg Wie erum

ist aber sehr unwa rsc em 1c • . . . . . 11 d unkoutrollierte Explosion setn wird, Wie es

eme so z1e ose un · 1 d d e s h a 1 b in einem allgemetnen, P an-

der letzte war, er nur D losen Weltkrieg ausartete. T h e o r e.t i s c h aber. h~t ;we~~ zwei f e 11 o s recht: der nächste Kneg, .so gu~ wte trgen .

f "h er wird f a 11 s er überhaupt ausbncht, mcht aus "k r t e­ru er • ' d 'ld " Nation ent-

g e r i s c h e n I n s t i n k e n" einer beson ers ":"1 en .. . d als Resultat komplizierter, soztaler und politischer

spnngen, son ern h . t die im Jahre Handlungsweisen - u. a. aus den D u m m e I e n ' I918/I9 in Versailles begangen wurden.

III. d Denkeils und der Wahrheit Theorie es

(S. 260-276).

I. Essays, p. 75 ff.

S. 27I, Anm. 2.

Der Titel "wohlgestaltete Umgangsweisen" umfaßt .nat~rli:h auch alle diejenigen Teile einer Wissens c h a f.t s praxts, dte liD Augenblick nicht in Frage stehen, sondern emfach vollzogen

d Nur wo solche Teile gegeneinander in Spannung gerat~n, wer en. .. ' d kommt es zu Erkenntnishandlungen Im - ,gestort wer en -eigentlichen Sinn.

S. 272, Anm. 3· d M .. 1' h " zum eigentlich-

D . "hnte Hypostasierung es " og tc en " te erwa d h f"hrt worden

Wirklichen" sei zum ersten Male von p 1 a t o urc ge u .

D Kritik an Plato die viele Kapitel seines Hauptwerkes (Ex-

eweys ' h · · e Plato . and Nature 1925) durchzieht, suc t zu zetgen, W1

penence • · d' · t beides getan habe: er entdeckte die ursprüngltche, . le ms rum~n-tale Funktion der Idealität; ihre freie Entwerf~ar~ett. E_r bet~eb andererseits die ,magische' Fixierung dieser Freiheit und threr . r-

. er erhob sie zu himmlischen Mächten absoluten Dasems, zeugmsse, E dl' hk 't seiner d. b · m Menschen, dank einer schlechten n tc el ..

te a er 1 E · " k men konnten Natur, nur zu einer approximativen" nnnerung om .

455

Page 78: Baumgarten Ueber Dewey

S. 27 3, Anm. 4·

456

Vgl. Max Scheler: "Arbeit und Erkenntnis" S h I . Dewey zu reden): hierarchisch-feudale Rangstufe~ d cWe .ers (fmlt men und d w h h · . er 1ssens or-

es a r ettsw1llens kehren in neuen da . 1 . h t · ' se1nsana yttsch

se r er ragreichen Perspektiven wieder bei Kar! Jaspe ( V f und Exi t " b d rs " ernun t

s enz ' . eson ers Kap. III: Stufen der Wahrheit) und i vollendeter Zuspttzung bei Martin Heidegger ("Sein und Zeit", sieh:­~:;elbst den Ge·g~nsatz zwischen dem durchschnittlichen, betriebs­S .ten ,Man-Setn und dem eigentlichen Existieren im einsame

' etn zum Tode': I. Abschn., 4· Kap.; 2. Abschn., 2. Kap.) währen~ Hans Heyses Bekenntnis in "Idee und Existenz" zu . ' d sehen politischen Platonismus und Alf d B I .emem eut-

hl h . ' re aeum ers emfache Ent ~ ~ssen ~lt, aus der Hinterlassenschaft von Nietzsches Leben un~ ~n en . etnen ,Pragmatismus' von deutscher Art zu erweck

(~leh~ tnsbeson~ere: "Nietzsche, der Philosoph und Po~~, ttker ), der Existenzphilosophie der beiden testen A 1·· f d vorgenannten spä-

. us .au e: es transzendentalen Idealismus den Rücken keh-r.en. Hier Ist ntcht der Ort, zwischen diesem Reichtum e enwär hger deutscher Gesichtspunkte einerseits und Dewey a:d g .t­eine Diskussion zu entfachen obwohl d" b erersel s

· d ' 1es e enso verlockend wäre Wie as andere: die vielen Berührungspunkte (und . . Unt~rschiede) festzustellen, die zwischen dem amerikan~~~~~c~r dl~ mattsmus und neuen p ä d · h ag land . . a g o g I s c e n Tendenzen in Deutsch-

' Wie Sie vor allem Ernst Krieck vertritt, bestehen.

III. KAPITEL:

GLAUBE ALS WILLE.

I. Vgl. vor allem Experience and Nature, eh. IX: Experience, Nature, and Art.

S. 278, Anm. 2.

Als dieser puritanische und antiromantische Schönheitsbegriff zum ersten Male von ihm deutlich formuliert wurde (!903), war er in der Tat in etwas gegen J ames gerichtet. Es :findet sich in der Erstausgabe der Chicago Studies in Logical Theory ein Absatz mit Fußnote, den Dewey später, wohl wegen seiner unfreundlichen Schärfe, mit der er sich gegen James aussprach, gestrichen hat: wo "Einheit" nicht verantwortlich und tätig (intelligent) er a r b e i -t e t werde, setze sie sich gegen den erklärten Pluralismus des Ro­mantikers, seiner spottend, dennoch durch, - nur freilich jetzt auf feudale Weise in dem früher genannten Sinn (vgl. S. 238), Studies, p. 81: "Experience insists on being itself, on securing integrity even through and by means of conflict." Dazu folgende Fußnote: "Professor James' satisfaction in the contemplation of bare plura­lism, of disconnection, of radical having-nothing-to-do-with-one­another, is a case in point. The satisfaction points to an aesthetic attitude in which the brute diversity becomes itself one interesting object; and thus unity asserts itself in its own denia!. When dis­cords are hard and stubborn, and intellectual and practical unifi­cation are far to seek, nothing is commoner than the device of securing the needed unity by recourse to an emotion which feeds on the very brute variety. Religion and art and romantic affection are full of examples.

J. Exp. & Nat. eh. V: Nature, Communication, and Meaning.

I. Werte, Z i e 1 e und M i t t e 1 (S. 282-296).

I. Exp. & Nat., p. 369. 2. ibidem eh. X: Existence, Value and Criticism. J. ibidem p. 406. 4· ibidem eh. III: Nature, Ends, and Histories. s. ibidem eh. VI: Nature, Mind, and the Subject, p. 242 f. 6. Ends and Means: HNC 269-272 (deutsch 275 ff.), Exp. & Nat. eh. IV: Nature, Means, and Knowledge. Dem. & Ed. 124, 402, 377, 149 f., II7 f. (deutsch: 167 f., 519, 195, 199 ff., 215, 158 ff., 537 f., 175 f.)- Quest for Cert. 37, 46, 49 f., 57 f.- 7· HNC 43 ff.,

457

Page 79: Baumgarten Ueber Dewey

(deutsch: 44 ff.). 8. HNC 223 ff 9· ibidem 23I ff., (deutsch: 237 ff.):• 3;I (deutsch.: 229 ff., 3~2?. -303 ff., (deutsch: 3I3 ff.) _ II H~C ., (deutsch. 4 ff.). IO. tbtdem

I I.

· · 278 ff. (deutsch: 288 ff.).

Deweys Auseinandersetzung mit

tischen Ethik (S. 296-3I3). der Kan-

I. Ethics, eh. I3, § I (Der gute Will K Theorie der praktischen V ft h e ants), eh. r6, § 2 (Kants

ernun c I7 § (K t' h der Pflicht) · ferner HNC ff ('d · ' 2 an tsc e Theorie & Ed ff (d 245 ., eutsch: S. 252-255). - 2. Dem eh. xi 2V95III., D eutsc&h:ES. 387-39!.- 3· So und ähnlich: Darwin.

' . em. d P 306 8 ff ' 429 ff., 40I, 352 ff. 436 ti' Q. ' pf. 32 ., Kap. 2I, 25, (deutsch: h ' ., uest or Cert eh III E & N

c . IX. - 4· HNC 246 (de t h. ) . : ' xp. at., u sc · 253 · - s. Ethtcs, 3I4.

S. JII, Anm. 6.

458

mal~~:a~~nd~~~~ s~:d n~~;ende;o~~~e~e~ee~ax::~; ~;c~ einer e.in-

"Mottve" allerdings nicht beurteilen wohl b h d und. detne Folgen, die sich an die all . 'r a er nac en typzschen

gemetne endenz mehrerer H dl von dir anschließen. HNC 49 (d t h· ) . an ungen

D' S ' eu sc . 47 . - 7 Ethtcs 474 3 te teile betreffs Demokratie im l'f h · ' 03'

Sinne lautet. demo . . po 1 tsc -staatstechnischen or thrown a~~Y lik;r:cy tstha pte.ce of machinery, to be maintained · ny 0 er ptece of mashine h b · lts economy and efficiency of workin " ry, on t e ~sts ~f uns hier nicht näher zu b h"f . g. Deweys Staatstheone, dte Th esc a ttgen hat, findet sich in d B h

" e Public and its problems" (I927) In "b t U . e~ uc folgendermaßen aus. I All h. . gro s em mnß steht sie

· · es mensc hche H d 1 · liehermaßen Gemeinschaftshandeln V b ;n e n tst ursprüng-hat zunächst "privaten", d. h ' ~ r an s handel~. Dasselbe Charakter: Ehe, Freundschaft Na~~:lttelbar vergc:nemschafteten usw. 2. Es entsteht p u b I l k um arschaft,. Arb~ttsgemeinschaft nämlich d ß d (Öffenthchkett) - dadurch

' a von en Folgen ver e · h f delns nicht in die Gemein h ft . ~ memsc a teten Verbandshan-werden. 3· S t a a t entste:tc a et~ e~ogene Dritte m i t betroffen nehmen d' B I ' wo machttge Personen es in die Hand

' te e ange von derarti t t d d h d' · 1 · g en s an enen Öffentlichkeiten Richtu~~ :; ~:~~::e~nter;ssen indirekt Betroffener, in bestimmte;

politischen Sinne) ents~e~t zu v~.walten. 4· Demo k rat i e (im treuer wachsam werden und wo te .. so Betre~ten gege~ ihre Be­Öfft>ntlichk 't d . nachprufen, ob dteselben wtrklich der

· . et 0 er nur wteder sich selbst untereinander _ · tim" - dtenen Dem k . "pnva-

. o ratte selbst mag wiederum ihre Kontroll-

apparatur zu Privatmächten, zu beutegierigen Parteiorganisationen verfallen lassen. Aber immer wieder kann sich Demokratie dem­gegenüber neuerdings herstellen.

Wo indessen die öffentlichen Interessen selber desorganisiert sind, richten demokratische Wiederherstellungen des Staates durch Staatsrevolutionen so gut wie nichts aus. Das Experiment einer solchen Revolution gelingt nur, wenn sie zugleich erziehungsmäßi­gen Einfluß gewinnt auf die innere Organisation der Öffentlichkeit.

So ist der Staat als guter Staat eigentlich nichts anderes als ein offiziel unternommenes Experiment, das die Aufgabe hat, zu ent­decken, was die öffentlichen Interessen sind, und wie sie sich integrieren lassen zum Wohle aller unmittelbar handelnden Gemein­schaftsverbände und zum Wohle aller mitbetroffenen Dritten.

Bei der theoretischen Durchführung dieses experimentellen Staatsbegriffs (der übrigens in ähnlichem Entwurf bei David H um e vorkommt, Treatise, Book III), gerät Dewey auf den Seitengedanken, den Nationalstaaten nur ein gleichsam pro v i so­r i s c h es Recht zuzuerkennen (z. B. Ethics 481). Nationen als Volksgruppen sind wie Familien und Kameradschaften unmittel­bare, enthusiastische Gemein s c h a f t e n: die ihnen entsprechen­den öffentlichkeiten (publics), d. h. die von ihrem enthusiastischen Handeln indirekt mitbetroffenen "Dritten", machen eine Welt­Öffentlichkeit aus, die das Bedürfnis nach einer Weltstaatsorgani­sation zwecks Betreuung ihrer Interessen in sich trägt. - Der Schluß von diesen Thesen auf einen daraus folgenden "provisori­schen" Charakter der Nationalstaaten ist theoretisch keineswegs zwingend, eher störend; trotzdem zieht ihn Dewey. Dicht neben diesem Fehlschluß aber sehen wir ihn auf dem rechten Gleise, wenn er fast gleichzeitig (Ethics, p. 41 r) unter den griechischen Tugenden die Tugend der Tapf!'!rkeit preist - in ihrer einfachsten Gestalt: "patriotism - willingness to brave the danger of death in facing the country's enemy from Iove of country. And this b a s i c largeness of spirit in which the individual sinks considerations of personal loss and harm in allegiance to an objective good remains a cardinal aspect of all right disposition. Diese zwei Seiten seiner Staatslehre, jene zentrifugale und diese bodenständige, hat er nicht ineinandergearbeitet, derart, daß die letztere auch staatstheoretisch (nicht nur ethisch) zur grundlegenden erklärt worden wäre. Vgl. meine Kritik dieser letzten Unschlüssigkeit Deweys in meinem Aufsatz über "Deweys Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus", Internat. Zeitschr. f. Erziehung, 1936, S. 427-430.

Einem ähnlichen Saltomortale Deweys aus ursprünglichen, boden-

459

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ständ~gen Einsichten in übertrieben gepriesene ideal . .. barkelten, werden wir gleich noch . 1 b oglsche Wunsch-cl emma egegnen wen ·

er staatstechnischen Seite der Demok t' d' .' . n wir von noch nicht näher zu . . ra le, le uns m diesem Bande· D . mteress1eren hat, wieder zurückk h cr:::~)s. ethIschem Begriff der Demokratie ("m o r ael r~:m:~

111. Die I d d e e er Demokratie (S. 313-332).

. I.h~· H. Mead, The philosophies of Royce James and D m t e1r America tt' ' • ewey n se mg. Intern. Journal of Eth' 1929/30, p. 2II ff. ICS, VOl. 40,

tr 2 ' :'gl. J. Edwards, Works: bes. Dissertation on the nature of

Fue Vlrtue; A treatise concerning religious affections S erner · 0 G U d . · ermons . . n race. n : Dlrections for judging of persons' e •

penences. x-

h 31· Vgl. Bd. I, u8.- 4· Characters II, 84!.- 5· Vgl. The Publi

c . ' p. 3-37· c,

S. 329, Anm. 6. "democracy is concerned not with f k . or d i v i n e 1 d rea s or gemuses or heroes each b . e a er~' but with associated individuals in which

Y mtercourse w1th others som h . more distinctive. (Characters II 8 ~ Sow makes the l.tfe of each

Di .. . • 55, perrung von mir.) ese murrtsehe Formulierung hat alle Fröhlichk 't J

treffs des munt S . e1 von ames be­gebracht . d eren plels, das durch große Individuen in die Welt

E Wir ' ausgemerzt. Humorlos ist nur d' . S .

mersons zum Dogma erhoben. Daß le eIne elte großer Individuen d · er vor der Ü b e r m a c h t die andere Seite a:n vor entmannter Jüngerschaft gewarnt hat-hat, wie Ein Ge:;l~e:ge;en: daß Emerson sehr wohl beherzigt zahllose einzelne daz! r f ~u~ schafft für viele und im Gefolge (höchst "distinktive") Roll relglbt, . llebhafte, vorher undenkbare

en zu sp1e en · verg · . son geschichtlich führe d M- ' essen Ist, wie Erner-

n e anner ohne S h f.. G sandte erklärt hat ( 'd c eu ur ottge-"prov1 ence seemed to s d h · . of need, qualified extraordinaril fo en . Im m our hour über Franklin J 1 y r an extraordmary service -: N t 1 ' ' 377). Vergessen ist Emersans Lehre d ß d'

a ur a s N a t u r despotische E . ' a le walt ihre Zwecke in die R 'h b ~ 1

s 0

den hat, wo sie mit Ge­immer sie in dieser W . el.he nngt, und daß die Natur, wenn

e1se 1 re Spr- " . freiheit sondern Ze b .. . " unge macht, mcht Presse-

' nsur egunsttgt· N t d . . J IX 8. d - · " a ure oes not hke cnticism" ' 12 , es naheren: VII, 308 f., VIII 7 f)

460 '9

..

Die Art aber, in der nicht nur durchschnittliche, zeitungslesende, sondern gerade auch wissenschaftlich und philosophisch höchst ge­schulte Amerikaner ihr eigenes System der ,social compulsion' (vgl. S. 341 f., Anm. 4), weil sie es gewöhnt sind, nicht bemerken, ein etwas abweichendes System von Befehls- und Gehorsamsverhält­nissen dagegen alsbald wie Mord und Totschlag für Individuum und Freiheit empfinden, ist nur ein Beispiel für Emersans traurigen und pessimistischen Satz: "One half of the world does not know

how the other half lives."

S. 331, Anm. 7· Max Weber, Politische Schriften, S. 450: "Alle geschichtliche

Erfahrung bestätigt es, daß man das Mögliche nicht erreichte, wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen

worden wäre." Eine wunderliche Paradoxie der Deweyschen Philosophie bleibt

als letzter Eindruck von ihr zurück. Er, der Nüchterne, der Fechter gegen alle offenen und versteckten Formen von romantischem Idea­lismus, ist zugleich von einem rechthaberischen idealistischen über.­glauben beseelt, der ihn manchmal wie einen frommen und über­triebenen Jünger bestimmter Leibnizscher Anschauungen und nicht mehr wie einen Spielgefährten von William J ames erscheinen läßt. Wohl ist die Jamessche Männlichkeit durchaus die seine, vor allem die Lehre von den vielfältigen, zum Teil diskontinuier­lichen, vitalen Interessen vor aller Vernunft und selbst noch in allen Unternehmungen und Aspirationen der Vernunft. Aber: die Jamessche Welt als "Abenteuer" soll zugleich bei Dewey ein Leibnizisch m oder i er t es Abenteuer sein. Wenn schon die Natur voller Diskontinuitäten sei, so habe doch der Mensch umso mehr Veranlassung, seinerseits keine ,Sprünge' zu machen: sein Leben soll ein hygienisch reguliertes Leben sein. Hält man Dewey von J ames her die Frage entgegen, ob nicht überall da, wo von Menschen abrupte Vorstöße unternommen werden, mehr Spannung, höheres Aktionsniveau (im Sinne von James), mehr Lebendigkeit in allen Eingeweiden, größerer Humor, spontanere Freundschaften sind, - Liebe und Haß, aus denen an einzelnen Orten und Stellen Mut, Schönheit, Gehorsam und Form gerät?, so hat er nur die trockene Antwort: solche Schönheit und Form wird teuer erkauft sein. Um ihre aufgereckte Gestalt wird ebenso viel Unform, Un­gehorsam, Unschönheit und Feigheit herumschleichen. Die heftigen Impulse werden in der Veralltäglichung zu einer besonders spröden, nicht lebensfähigen Härte erstarren. So wird der Rhythmus des

461

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Katastrophischen nur immer von neuem. anheben. Die heroische Impulsivität wird mit den Möglichkeiten des Guten einen laufenden Verschleiß treiben. - Theoretischer Streit hierüber ist müßig. Dewey scheint uns hier gegenüber der tatsächlichen E I a s t i z i­t ä t , die das Leben noch inmitten schärfster und härtester Kraft­anspannung bewahrt, kleingläubig zu sein. Was aber ist zu De­weys eigenem V b er- Glauben zu sagen? Wenn Dewey glaubt, den Konflikten der heutigen Welt lasse sich ihr katastrophischer Charakter nehmen durch eine allmähliche und vorsichtige Aus­bildung wissenschaftlicher Laboratoriumsmethoden für die Behand­lung sozialer und politischer Probleme, so scheint uns gegen diese Idee der j u g end I ich e Dewey recht zu haben, der r888 in sei­nem Buch über Leibniz, von dessen Versuch, die christlichen Reli­gionen untereinander auszusöhnen, dies sagte: "Es ist eine Frage, ob die Bedingungen, unter welchen Leibniz sich die Einigung vor­stellte, nicht einen Hinweis auf die größte Schwäche seiner Philo­sophie enthalten - die Tendenz, über Gegensätze hinwegzusehen und allen Widerspruch in Gradunterschiede aufzulösen."

S. 332, Anm. 8. Thomas Hobbes, Human Nature: or the fundamental Elements

of Policy, eh. IX, § 21: a view of the passions represented in a race.

* * *

Der dritte Band, der an den Beispielen großer theologischer Ge­meindeführer des 17. Jahrhunderts und einiger großer Staatsmänner des r8. und 19. Jahrhunderts die Gestalt der amerikanischen Commonwealth­und Unionsgeschichte im Detail ihrer politischen Praxis zeichnet, wird erst in einigem Abstand folgen. Das Ms. dieses abschließenden Bandes ist in den Jahren 1933-35 entstanden und bedarf einer Über­prüfung und Ergänzung an der Hand neu anzustellender Studien. -

An Werken, die zu einem rechten Auffassen der Geschichte der amerikanischen Menschen und ihres Gemeinwesens anleiten können, möchte ich hier, in Dankbarkeit, vor allem die folgenden nennen:

Alexis de Tocqueville, Democracy in America, r8so, 2 vls.

James Bryce, The American Commonwealth, r888 (und später), 2 vls.

Friedrich Ratze!, Physikalische, Politische und Wirtschaftsgeographie der Vereinigten Staaten von Amerika, 189;1, 2 Bde.

462

. . · th United States, Scrib-George Santayana, Character und Optmon 111 e

ner's New York, 1920. . ' . . A ·k . Volk. Wtrt-

A dre Siegfried, Die Veretmgten Staaten von mert a ' n schaft. Politik. Orell Füssli Verlag, Zürich, 1928.

Erich Voegelin, über die Form des amerikanischen Geistes, J. C. B.

Mohr, Tübingen, 1928. .. .

D. "k t"schen Revolutionsideale in ihrem Verhaltms

Otto Voßler te amen an d d

' ... hen untersucht an Thomas Jefferson. R. 01 en-zu en europatsc , bourg München 1929. .. ' D" V einigten Staaten von Amerika, 2 Bde., 1932·

F. Schonemann, te er Deutsche Verlags-Anstalt.

John w. Burgess, Reminiscenses Univ. Press, 1934·

of an American Scholar, Columbia

John R. Commons, Myself, MacMillan, New York, 1934· . A M moir in the Form of a Novel.

George Santayana, The Last Puntan, e B k h

S "b ' New York 1936 (deutsche übersetzung: ec sc e cn ner s, ,

Verlagsanstalt, München.

T 1 Adams The Epic of America, Little, Brown, & Co.,

James rus ow ' V 1 S "d 1 Wien New York, 1931, (deutsche übersetzung: er ag et e' '

1933)· Jame,; Truslow Adams, The Adams Family, ibidem, 1933·

Inhalt: F kl" · p ris Nach-G t . . John Adams (Nachfolger ran ms m a '

r enera wn. · . · S ) . folger Washingtons als Präsident der Veremtgten taaten .

G t. . John Quincy Adams (Staatssekretär unter Monroe,

2. enera ton. Urheber der Monroedoktrin). Generation: Charles Francis Adams (Botschafter in London wä~-

3· rend des amerikanischen Bürgerkriegs mit Sohn Henry a s

Privatsekretär). 4· Generation (unter anderen): H~nrY Ad~ms (Privatsekretär in

der Botschaft in London, Histonker, Phtlosoph).

Henry Adams: Mont Saint-Michel and Chartres (A Study of Thirteenth­

Century Unity). The Education of Henry Adams (A study of Tw.entieth-Centur~ Multiplicity.) Preface (in dritter Person von steh sprechen.d).

W"th the help of these two points of relation, he hoped to proJ~Ct his ~ines forward and backward indefini~~ly, subject to correctwn

from any one who should know better.

(Houghton Mifflin Company, Boston & New York, 1913-1927.) 463