Baur. Boetius und Dante. 1873.

download Baur. Boetius und Dante. 1873.

of 54

Transcript of Baur. Boetius und Dante. 1873.

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    1/54

    MBHMHinNiHBinmmBHHaEMHHBaHHnnHHMHHKnHHHHHBHHHI

    BQ5863

    B3

    BAUR

    Boetius und Dante

    m

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    2/54

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    3/54

    w

    ZUR FEIERDES

    REFORMATIONSFESTESUND DES

    BERGANGS DES RECTORATSAUF

    D. ADOLF SCHMIDTLADET HIERMIT EIN

    DER RECTOR DER UNIVERSITT

    D. HERMANNBROCKHAUSDURCHDEN

    DESIGNIERTEN DECAN DER THEOLOGISCHEN FACULTT

    D. GUSTAV ADOLF LUDWIG BAUR.

    BOETIUS UND DANTE.

    LEIPZIG, 1873.VERLAG VON ALEXANDER EDELMANN,

    UNIVERSITTS - BUCHHNDLER.

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    4/54

    T INSTITUTE OF^DMCVAL S7UCIIS0 ELMSLEY PLACE

    TORONTO 8, OAflADA,

    SEP 2 4 J931

    2.3/

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    5/54

    Bei der am 31. October stattfindenden akademischen Feier des Re-formationsfestes wird nach beendigtem Gottesdienst der Student der Theo-logie P. G. Kummer aus Stntzsch eine lateinische Rede ber das imWesen der evangelischen Kirche liegende Interesse fr die Frderungdes Schulwesens halten, mit besonderer Bercksichtigung des Send-schreibens Luthers: ,,An die Rathsherrn aller Stdte deutschen Landes.' ;

    Hierauf wird in der Aula der Universitt der derzeitige RectorD. Hermann BROCKHAUS, ordentlicher Professor der ostasiatischen Sprachen,nach erstattetem Bericht ber das verflossene akademische Jahr das Rec-torat seinem erwhlten und besttigten Nachfolger D. Adolf SCHMIDT,ordentlichem Professor des rmischen Rechts, feierlich bergeben.

    Leipzig, 23. October 1873.

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    6/54

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    7/54

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    8/54

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    9/54

    strusitt der gewaltigen Dichtung schreckte. Zu meinen Erstaunen sahich, dass, wenigstens was das sprachliche Verstndniss anlangt, dieseSchwierigkeit so gross nicht sei, und zu meiner hchsten Freude, dassdas Original doch anders packte, als die Uebersetzung von Streckfuss,mit welcher ich es bis dahin versucht hatte. Um jedoch der Ueberwin-dung der Schwierigkeiten und der Ausdauer bei der Arbeit sicherer zusein, verband ich mich mit Max Rieger, welcher damals in Giessendocierte und seitdem namentlich als Herausgeber und Biograph Walthersvon der Vogelweide sich bekannt gemacht hat. Er meinte auf meineEinladung zur gemeinsamen Arbeit, wenigstens bis zur Francesca vonRimini wollten wir einmal mit einander lesen. Aber das unvergleichlicheGedicht fasste uns mit unwiderstehlicher Gewalt. Allein und gemein-schaftlich lasen wir es wiederholt von Anfang bis zu Ende durch, und zumBeweise, wie die Bewegung, zu welcher wir damals den Anstoss empfingen,bis heute noch nicht wieder zum Stehen gekommen ist. hat Rieger in diesemJahre ber Dante's Leben und Gttliche Komdie eine kleine, aber berallauf selbststndigen Studien beruhende und in jedem Worte erwogene Schriftverffentlicht, 5 ) deren nothgedrungene Oberflchlichkeit" zu entschuldigenihn nur jene den Germanisten von strengster Schule eigenthmliche Be-scheidenheit veranlassen konnte, die nichts fr grndlich und vollwichtiggelten lsst, was ein Anderer, als die eigentlichen Fachgenossen, ver-stehen und brauchen kann. Mir selbst aber war bei dem Lesen der Com-media die Erinnerung an so Manches, was ich in der Consolatio meinesalten Bekannten Boetius gelesen, wieder erweckt worden, und nachdemdiese Bekanntschaft an der Hand der neuesten Ausgabe von RudolfPeiper 6 ) grndlicher erneuert worden ist, versuche ich, ber den, wiemir scheint, bisher noch nicht hinreichend gewrdigten Einfiuss , welchenBoetius auf Dante gebt hat, einige Andeutungen zu geben, welche sichbei fortgesetzter Beschftigung mit beiden Dichtern leicht werden vermehrenlassen. Im Allgemeinen hat man jenen Einfiuss allerdings immer anerkannt,

    und wenn F. Chr. Schlosser in seiner Universalhistorischen Geschichteder alten Welt gerade dem Leben und den Schriften und namentlich der

    5) M. Rieger, Dante. Separat- Abdruck aus Altes und Neues", Erbauungsblatt

    fr gebildete evangelische Christen. Verlag von Julius Niedner in Wiesbaden.6) Anicii Manlii Severini Boetii Philosophiae consolationis libri quinque. Accedunt

    eiusdem atque incertorum opuscula sacra. Recensuit R. Peiper. Lipsiae. 1871.1*

    SS

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    10/54

    Consolatio des Boetius eine ganz besonders ausfhrliche und eingehendeDarstellung widmet, so ist diess offenbar der bekannten Begeisterung des

    Verfassers fr die Divina commedia zu verdanken, deren Zusammenhangmit jener Schrift des Boetius ihm nicht entgangen war. 7 ) Im Einzelnen

    finde ich diesen Zusammenhang am eingehendsten von Schund elen nach-gewiesen, 8 ) auf dessen Arbeit ich brigens erst aufmerksam geworden

    bin, nachdem ich mit der meinigen im Wesentlichen zum Abschluss ge-kommen war.

    Die alten Biographen Dantes fhren unter den Schriftstellern, welche

    er studirt habe, Boetius nicht ausdrcklich an. Bocaccio z. B. berichtet

    nur:Familiarissimo divenne di Virgilio, di Orazio, di Ovidio, e di Stazio,

    e di ciascuno altro poeta fanioso."9) Wenn aber der erste Ausleger der

    Commedia auf dem zu Florenz fr sie errichteten Lehrstuhl, anstatt seineaUgemeinen Bemerkungen ber ci; e Studien Dantes nvr durch namentlicheAnfhrung einiger berhmter Gattungsreprsentanten einigermassen rhe-

    torisch zu beleben, von einer genauen Bercksichtigung der geschicht-

    lichen Wirklichkeit sich htte leiten lassen, so wrde er unter den brigen

    berhmten Dichtern" auch den Boetius genannt haben. Denn dieser wares vor allen, welcher den Gedankeninhalt der Schriftsteller des classischen

    Alterthums, in die er sich, wie keiner seiner Zeitgenossen, mit hingeben-

    der Liebe versenkt hatte, in das Mittelalter herberleitete und auch mitder Darstellungsform der alten Muster in seiner Consolatio glcklicher

    als irgend ein anderer seiner Zeit wetteiferte,10

    ) und welcher darum im

    7) 3. Theil, 4. Abth. des angefhrten Werks, S. 91 f. 188. 190. 199 bis 244 und

    besonders 214.8) Theologie und Philosophie bei Dante. Von dem Pfarrer Schund elen in

    Spellen, Dicese Mnster. Jahrbuch der Deutschen Dante-Gesellschaft, III. Leipzig.

    1871, S. 50 und bes. S. 53 ff. Von demselben Verfasser rhrt offenbar der Aufsatz:Dante am Arno und am Rheine" her im 57. Band der Historisch-politischen Bltter

    (1866), S. 3361, u. 109127.9) Auch diese Bemerkung findet sich nur in der lngeren Recension der Vita di

    Dante von Bocaccio und fehlt in der krzeren, welche u. a. im 5. Bande der Floren-

    tiner Ausgabe der Werke Dantes. 1830. S. 344 abgedruckt ist.,u

    j J. (.'. Scaliger, welcher seine Abstammung auf die hochangesehenen Scaligerioder della Scala in Verona, die grossmthigenV Beschtzer Dantes, zurckfhrte (J.

    Bernays, Joseph Justus Scaliger. Berlin. 1855, S. 31 u. 107), und welcher auch frBoetius, der in Verona die gegen "den rmischen Senat erhobenen Verdchtigungenmit khnem Freimuth vor Theodorich zurckgewiesen hatte, ein locales Interesse

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    11/54

    Mittelalter, dessen wissenschaftliche Bildung wesentlich auf ihm beruhte,in ununterbrochener Tradition erhalten und mit besonderer Emsigkeit ab-geschrieben und benutzt worden ist. Dante aber wurde zu ihm nichtbloss durch ein allgemeines Bildungsinteresse hingezogen. Dem grossenFlorentiner legten schon seine Zeitgenossen neben dem Ruhm des Dichtersden des Philosophen und Theologen bei. Schon jene Aufschrift, welcheGiovanni del Virgilio fr Dantes Grab in Ravenna verfasst hatte, welcheaber, weil der Beschtzer des Dichters, Guido Novello da Polenta, baldnach jenes Tode aus Ravenna vertrieben wurde, nach Bocaccios Zeugnisswenigstens frs erste nicht zur Ausfhrung kam, verkndete von ihm:

    Theologus Dantes, nullius dogmatis expers,Quod foveat claro Philoso phia sinu,Gloria Musarum, vulgo gratissimus auctoi,

    Hie iacet et fama pulsat utrumque polum. 11 )

    hegte, hat sein oben angefhrtes Urtheil ber die Gedichte des Letzteren allerdingszu einiger Ueberschwenglichkeit eniporstilisiert. Gleichwohl drfte es gerechter sein,als das neuerdings von Teuf fei (Gesch. der rm. Literatur. 2. Aufi. Leipzig. 1872,S. 1085 1088) ausgesprochene, welcher von der Consolatio philosophiae sagt: DieSprache ist die gezierte und manierirte seiner Zeit, doch temperirt durch ein nchtern

    syllogistisches Element." Dass ein Schriftsteller dieser Zeit gegen die ursprnglicheKlarheit, Kraft und Eleganz der classischen Literaturperiode absticht, versteht sichvon selbst. Aber man braucht nur einige Variae Cassiodors, oder ein paar Briefe undReden des Ennodius zu lesen und sie mit der Poesie und Prosa der Consolatio zuvergleichen, um sich zu berzeugen, wie entschieden und hoch Boetius, im Anschlssean die classischen Muster, ber die gezierte und manierierte Sprache jener Zeitgenossensich erhebt.

    X1) So lauten die zwei ersten von den sieben ursprnglichen Distichen dieser

    Grabschrift nach der krzeren Recension von Bocaccios Vita di Dante im 5. Bandeder Florentiner Ausgabe der Werke Dantes, S. 18, und nach Fraticelli, Storiadella vita di Dante Alighieri. Firenze. 1861, S. 318. Die an deren Statt in den

    meisten Ausgaben der lngeren Recension berlieferten dreizehn Hexameter beginnen

    mit demselben Anfangsverse, schliessen aber mit den sechs gereimten Hexametern,

    welche seit der letzten Hlfte des 15. Jahrhunderts die Aufschrift des Grabmals bilden

    und anfangen:Jura monarchiae superos Phlegetonta lacusqueLustrando cecini voluerunt fata quousque.

    Die brigen sechs Verse ruhen auf Motiven und Worten, welche jenen Distichen

    entlehnt sind- Uebrigens bezeugen Filippo Villani, welcher zu Anfange des 15.

    Jahrhunderts mit der Erklrung der Divina Commedia in Florenz betraut war. und

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    12/54

    6Die hchste Autoritt fr die Philosophie jeuer Zeit aber, ,.il maestro

    di color che sanno", wie ihn Dante selbst in der Commedia nennt, 1 -) warAristoteles. Sein Organon bot die Sttzen und Bnder fr den Auf-bau, wie die Waffen fr die Verteidigung des dogmatischen Systems dermittelalterlichen Scholastik; und diese Rstkammer war den Theologenund Philosophen des Abendlandes damals einzig und allein in den Ueber-setzungen und Bearbeitungen aufgeschlossen, welche Boetius von den dia-lektischen Schriften des Aristoteles verfasst hatte, und ausser welchen esbis zum Ende des 12. Jahrunderts berhaupt keine lateinischen Ueber-setzungen aristotelischer Schriften gab. 13 ) Wie darum schon Cassiodor,nachdem er sich, der Staatsgeschfte mde, in die Stille seines Mona-sterium Vivariense in Calabrien zurckgezogen hatte (539), seinen Mnchenfr ihre dialektischen Studien fast nur Schriften von Boetius empfehlenkonnte, 14 ) so blieb es bis in Dantes Zeit. Ging doch der die ganze Scho-

    Manetti, der 1459 in Neapel starb, dass diese sieben Distichen zu ihrer Zeit wirk-lich auf den Grabmal geschrieben standen. VgL Fraticelli a. a. 0. S. 323 u. 324;Paur, Ueber die Quellen der Leidensgeschichte Dantes. Grlitz. 1862, S. 11 u. 46.

    12) Inferno. IV, 131.

    13j Jourdain, Recherches critiques snr l'age et l'origine des traductions Latines

    d'Aristote. Nouv. ed. Paris. 1843, S. 209 u. 211: Les ouvrages (d'Aristote) relatit-Part du raisonnement etaient employes avant le XII e siecle, car on possedait lesversions de Boece: les autres etaient ignores . . . En 1272, epoque de la mort de.saint Thomas, on possedait des versions faites, soit de l'arabe, soit du grec, de tousles ouvrages d'Aristote."

    u) Diese am Schlsse von Cassiodor s Dialektik stehende Empfehlung ist fr

    die hervorragende Bedeutung, welche Boetius fr das philosophische Studium derFolgezeit hatte, zu bezeichnend, als dass ich sie hier nicht mittheilen sollte: ,,. . . iu-dicavimus recapitulare breviter, quorum labore in Latium eloquium res istae pervene-rint, ut nee auetoribus gloria sua pereat, et nobis plenibsime rei veritas innotescat.Isagogen transtulit patricius Boetius, commentaque eius gemina derelinquens. Cate-

    gorias idem transtulit patricius Boetius, cuius commenta tribus libris ipse quoqueformavit. Peri hermenias supra memoratus patricius Boetius transtulit in Latinum,cuius commenta ipse duplicia minutissima disputatione traetavit. Apuleius veroMadaurensis syllogismos categoricos breviter renodavit. Supra memoratus vero patri-cius Boetius de syllogismis hypotheticis lucidissime pertraetavit. Topica Aristote-lis ano libro Cicero transtulit in Latinum, cuius commenta prospector atque amatorLatinorum j^atricius Boetius octo libris exposuit. Nam et praedictus Boetius pa-tricius eadem Topica Aristotelis octo libris in Latium vertit eloquium." Vgl. den vonCassiodor im Namen Theodorichs an Boetius geschriebenen Brief, Variae. I, 45.

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    13/54

    lastik beherrschende Gegensatz zwischen Realismus und Nominalismuswesentlich von einer Stelle der von Boetius bearbeiteten Isagoge desPorphyrius zu den logischen Schriften des Aristoteles aus. 15 ) Wer alsozu einer so grndlichen und ausgebreiteten Bekanntschaft mit der Schul-theologie, wie sie durch die Commedia, und mit der philosophischen Me-thode jener Zeit gelangen wollte, wie sie neben jener durch die Vitanuova, das Convito, die Schrift De Monarchia und den Dedicationsbriefan Can Grande della Scala bezeugt wird, der konnte um Boetius nichtherumkommen, er musste durch ihn hindurch. Dass Boetius gleichwohlvon Dante zur Empfehlung der dialektischen Methode, deren dieser sich

    Also neben einer Schrift von Apulejus neun von Boetius: das war der fr die Folge-zeit typische Bestand der philophischen Bibliothek des Monasterium Vivariense. Denuns nicht erhaltenen Commentar des Boetius ber die Topica des Aristoteles scheintauch Cassiodor nicht gekannt, wenigstens nicht besessen zu haben, wie er auch der vierBcher De differentiis topicis nicht gedenkt, in deren Einleitung Boetius selbst jenenCommentar erwhnt hat. Dass brigens die 1831 von A. Mai als neue Funde heraus-gegebenen Schriftchen De rhetorica cognatione und De locorum rhetoricorum distinc-tione nichts sind als Bruchstche aus dem 4. Buch der oben genannten Schrift Dedifferentiis topicis, das ist in meiner Schrift ber Boetius von 1841 (S. 11) nicht blossals eine

    wohlbegrndete Vermuthung"ausgesprochen (F. Xitzsch, das System des

    Boethius. Berlin. 1860, S. 23), sondern es ist eine Thatsache, von deren Richtigkeit sichjeder durch den Augenschein berzeugen kann, wie sie denn auch spter von F. Halm(Museum fr Philologie, XVIII. 1863. S. 463 f.) besttigt worden ist, dessen Vermuthung, eshabenoch Niemand bemerkt, dass beide Schriften lngst gedruckt sind, nach Vorstehendemauf einem Irrthum beruht: diese, bereits 1841 gemachte, Bemerkung war schon 1843von Obbarius in seiner Ausgabe der Consolati S. XVII, wie sj)ter von Nitzscha.a. 0., als richtig anerkannt worden. Die angefhrte Ueberzeugung zu gewinnen, istnunmehr durah die Migne'sche Ausgabe der Schriften des Boetius (Patrologiae cur-sus completus. Tom. 63 u. 64. ParisJ 1860) besonders leicht gemacht. Da folgennmlich im 2. Band, S. 1215 1224 unmittelbar auf den Schluss der Schrift De dif-ferentiis topicis die beiden Schriftchen, wie sie Mai herausgegeben hat, um unterWeglassung einzelner Stze noch einmal zu sagen was dort S. 1207 1214 schon zulesen ist. Ebenso folgen sie brigens nach Halms Mittheilung auch in zwei dem10. Jahrhundert angehrenden Freisinger Handschriften der Mnchener Bibliothek,und zwar von derselben Hand geschrieben, unmittelbar auf jene grssere Schrift, auswelcher man sie offenbar wie selbststndige Abhandlungen herausgehoben und mitbesonderen Ueberschriften versehen hatte.

    15) Die Stelle steht in Migne's Ausgabe tom. 2, S. 82; vgl. dazu Ueberweg, Grund-

    riss der patristischen und scholastischen Zeit. 4. Aufl. Berlin. 1873, S. 115 u. 117 u.Nitzsch a. a. 0., S. 70 u. S. 175 ff.

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    14/54

    8

    bediente, nicht ausdrcklich citiert wird, kann nicht Wunder nehmen, weileben seine Autoritt als die auf diesem Gebiete massgebende sich vonselbst verstand, und die allgemein anerkannten dialektischen Principien,Lehren und Regeln im Einzelnen der Zurckfhrung auf ihre Quelle nichtbedurften.

    Anders verhlt es sich mit der Consolatio philosophiae. Empfahlsich diese schon durch sich selbst, indem sie das ehrenwerthe Wirkenund tragische Geschick eines edeln Mannes und das innere Leben einesernsten und reichen Geistes in eigenthmlicher und ansprechender Formdarstellte ; so wurde das Interesse an ihr noch dadurch erhht, dass sie ein

    Werk des Mannes war, dem man lange Zeit so gut wie Alles verdankte, wasman von der Philosophie des Meisters der Dialektik wusste, ja dessenName manchen glnzender erschien, als der des Plato oder Aristotelesselbst, und den man berdiess als einen Mrtyrer des orthodoxen Glaubensverehren zu mssen glaubte. Der mystische Zug, welcher dem berwiegendplatonisch und neuplatonisch gefrbten Eklekticismus l ) der Consolatioeigen ist, sprach insbesondere das Gemth germanischer Leser an: siewurde im 9. Jahrhundert von Knig Alfred ins Angelschsische, im 11.von dem St. Gallischen Mnch Notker ins Althochdeutsche bersetzt.Aber auch in Spanien und namentlich in Frankreich fehlte es weder an

    Uebersetzungen und mannigfaltigen Nachahmungen des Buches, noch anCommentaren darber, unter welchen letzteren der flschlich dem Thomasvon Aquino zugeschriebene, in Wahrheit aber von Thomas Walleys oderAnglicus (um 1332) verfasste, durch die ersten Drucke der Consolatio dieweiteste Verbreitung fand; und die Schriftsteller, zumal die Dichter, desMittelalters sind reich theils an ausdrcklichen Anfhrungen, theils anunverkennbaren Reminiscenzen aus dem vielgelesenen Buch. 17 ) Der Um-stand, dass der Eifer fr die Uebersetzung desselben in Italien sich weniger

    frh und fruchtbar bethtigte, berechtigt noch nicht zu dem Schlsse, dassdas Studium des Boetius dort lssiger betrieben worden sei; denn einer-seits wurde dort das lateinische Original noch leichter und allgemeinem

    16) Teuffei a. a. 0.

    17) Vergl. in der Vorrede zu Peipers Ausgabe die Abschnitte: De commenta-

    toribus Consolationis (S. XXXXIXXXXVIl, De interpretibus, De imitatoribus Philo-sophiae consolationis, Boeti quae olim fuerit auctoritas aliis documentis comprobatur(S. LILXVri.

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    15/54

    verstanden, und andererseits gebhrt eben erst Dante wesentlich das Ver-dienst, die italienische Volkssprache zur Schriftsprache benutzt und aus-gebildet zu haben. Aber -als erster Uebersetzer der Consolatio unterden Italienern wird gerade der Lehrer Dantes, Brunetto Latini (f 1295),genannt, und wenn diese Angabe auch gerechtem Zweifel unterliegt, l$ ) sobezeugt doch Brunetto seine Vorliebe fr die Schrift des Boetius undseine genaue Vertrautheit mit ihr durch ihre hutige Anfhrung und Be-nutzung in seinem Hauptwerke, dem Tesoro, welchen er in der Zeitseiner fnfundzwanzigjhrigen Verbannung aus seiner Vaterstadt Florenz(1260 1284) zu Paris in franzsischer Sprache, bestimmter in der langued'oil, verfasste. 19 ) Nach diesem Allen muss man voraussetzen, dass auchDante mit der Consolatio wohlbekannt war: abgesehen von der allgemeinenBedeutung, welche die Schriften des Boetius fr seine Zeit hatten, undvon dem Interesse, welches man insbesondere der Consolatio zuwandte,

    18) So viel ich sehe, grndet sich die Annahme, dass Brunetto Latini die

    Consolatio bersetzt habe, auf eine Angabe von Melius in der Vita Ambrosii Tra-versarii vor dessen Epistolae, ed. Carmetus. Florentiae. 1759, S. 157 ff. Melius selbstaber sttzt sich wohl auf Argelatis (f 1755) Bibliotheca de' volgarizzatori italiani, und

    vondiesem sagt

    Tiraboschi(Storia della lelteratura italiana, t. 4, 1. 3, c.

    5,2.

    L'Argelati avea gi asserito (t. 1, p. 170) che Brunetto avea ancora tradotto la Con-

    solazione di Boezio; ma questo errore si e poscia emendato, avvertendo (t. 5, p. -J29)che solo diconsi in qualche codice tradotti da Brunetto i Motti de' Filosofi antichiaggiunti alla stessa Consolazione."

    19) Vor mir liegt die italienische Uebersetzung dieser Encyklox)die: II Tesoro di

    Brunetto Latini volgarizzato da Bono Giamboni. Nuovamente publicato secondol'edizione del MDXXX. Venezia. 1839. 2 voll.; der 1803 von P. Chabaille nach denPariser Handschriften herausgegebene altfranzsische Urtext ist mir nicht zur Hand.

    In jener Ausgabe nun wird die Consolatio citiert: Vol. II, S. 113 (zweimal), 170, 21G, 218,219, 225 (zweimal), 258. Dass Brunetto, obwohl Italiener, sein Hauptwerk in fran-zsischer Sprache geschrieben, rechtfertigt er in der Vorrede: Se aleuno domandasse,

    perche questo libro e scritto in lingua francesca , poiehe noi siamo dltalia, io gli

    risponder che ci e per due cose: l'una, perche noi siamo in Francia, e l'altra perci

    che la parlatura francesca e pi dilettevole e pi comune che tutti li altri linguaggi."Den letzten dieser beiden Grnde wrde sein Schler nicht mehr haben gelten lassen,nachdem er auch auf eigene Werke in der Muttersprache hinweisen durfte mit demstolzen: Lo bello stile, che m'ha fatto onore," Inferno. I, 87, womit man vergleiche,was er im Convito (I, 11) ber die unpatriotische und thrichte Unterschtzung der

    Muttersprache sagt.2

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    16/54

    10

    war ihm diese durch den Vorgang eines hochverehrten Lehrers 20 ) empfohlen.

    Dazu kamen aber noch seine persnlichen Erlebnisse und Erfahrungen,welche ihn zu dieser Trostschrift in ein besonders inniges persn-

    liches Yerhltniss brachten. Es kann nicht fehlen, dass in seinen

    Schriften ausdrckliche Beziehungen auf sie, oder wo solche, wiein der Commedia. durch die dichterische Haltung der Sprache ausge-schlossen sind doch deutliche Anklnge an das ehrwrdige Vermcht-niss eines Schicksals- und Gesinnungsgenossen sich finden.

    Dante selbst berichtet uns, wie er durch ein sein ganzes Wesen aufstiefste erschtterndes persnliches Erlebniss zu einer eingehenderen Be-

    schftigung mit der Schrift des Boetius hingefhrt wurde. Es ist aus

    dem Berichte Bocaccios und auf die unmittelbarste und zuverlssigsteWeise aus der Vita nuova des Dichters selbst bekannt, wie dieser in seinem

    neunten Lebensjahre von der liebreizenden Erscheinung der um ein Jahrjngeren Beatrice Portin ari wunderbar ergriffen wurde. Der Mann be-zeugt von diesem Erlebniss des Knaben, dass damit jener Abschnitt imBuche seines Gedchtnisses beginne, welcher den Titel fhre: Incipit vitanova! Er hatte die himmelan ziehende Macht des Ewig-Weiblichen erfahren,wie es der deutsche Dichter tiefbedeutsam nennt. Beatrice war ihm die Ver-krperung alles gttlich Reinen, Edelen und Schnen; die Neigung zu ihr eine

    religise Hingebung und Erhebung, durch welche er aus dem gemeinenWesen und Treiben der Menge sich bestimmt ausgeschieden wusste. 21 )Dieser selbstlosen idealen Liebe konnte es keinen Eintrag thun, dass

    Beatrice sich nachher mit einem Herrn Simone de' Bardi vermhlte. DieVita nuova gedenkt dieses Ereignisses nicht einmal, und die Geliebte bliebdem Dichter fortwhrend ,,eine Zerstrerin aller Laster und eine Kniginaller Tugenden", deren Herrschaft er pries, weil sie ihren Getreuen von

    20) Inf. XV, 8287:

    Che in la mente m' e fitto ed or m' accuoraLa cara e buona imagine paternaDi voi, quando in mondo ad ora ad ora

    M' insegnavate, come V uom s' eterna;E quant' io V abbo in grado, mentr' io vivo

    . Convien che nella mia. lingua si scerna.'21

    ) Inf. II, 103: . . . Beatrice, loda di Dio vera,

    Che non socorri quei, che t'am tanto,Cli'uscio per te della volgare schiera? ; '

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    17/54

    11

    Allem abziehe, was bse ist. Aber der Herr der Gerechtigkeit rief jeneAdeligste (gentilissima) zu sich, auf dass sie zur Herrlichkeit eingingeunter der Fahne Marias, deren Name in tiefster Ehrerbietung von dieserseligen Beseligerin (questa Beatrice beata) genannt wurde." Mit demHinscheiden der Geliebten (9. Juni 1200) verlor Dante den Halt, der ihnbisher ber die Nichtigkeit, Verwirrung und Leidenschaft des Weltlebenserhoben und mit dem Ewigen und Gttlichen in Verbindung erhalten hatte.Nichts ist natrlicher, als dass er, Trost suchend, zu dem Buche zurck-kehrte, dessen Titel schon, was er suchte, ausdrcklich verhiess. ,,Als ich,"so erzhlt er im Convito (II, c. 13), das erste Entzcken meiner Seele,dessen ich oben gedacht (II, c.

    2),verloren hatte, blieb ich zurck, von

    solcher Traurigkeit getroffen, dass kein Trost mir frommte. Indessen nach

    einiger Zeit war mein Geist, der nach Genesung strebte, darauf bedacht,da weder mein eigener, noch der eines Andern zu trsten vermochte, mich

    zu dem Wege zurckzuwenden, welchen irgend ein anderer Trostlosereingeschlagen hatte. Und so schickte ich mich an, jenes nicht vonvielen gekannteBuch des Boetius 22 ) zu lesen, in welchem er, gefangenund verbannt, sich getrstet hatte." Nachdem er weiter erzhlt hat, wieer daneben auch Cicero's Llius gelesen habe, fhrt er fort: Und wie eszu geschehen pflegt, dass ein Mensch Silber sucht und, ohne es zu beab-

    sichtigen, Gold findet, welches eine verborgene Ursache ihm darbietet,wohl nicht ohne gttliches Walten; so fand ich, der ich mich zu trsten

    suchte, nicht allein ein Heilmittel fr meine Thrnen, sondern Worte von

    Autoren und von Wissenschaft und von Bchern, bei deren Betrachtung

    ich wohl urtheilen musste, dass die Philosophie, welche die Herrin dieser

    Autoren und dieser Wissenschaften und dieser Bcher war, eine Sache

    von dem hchsten Werthe (somma cosa) sei. Und ich dachte sie mirgestaltet wie eine edle Frau; und ich konnte sie mir in keinem anderen

    Verhalten, als in dem der Barmherzigkeit denken, wesshalb der Sinn fr

    die Wahrheit sie so gerne anschaute, dass ich ihn kaum von ihr weg-wenden konnte." Im 16. Capitel werden noch einmal Boetius und Tullius

    1 "

    22) Quello non conosciuto d.i molti libro di Boezio." Das conoseiuto" ist hier

    vielleicht in einem engeren und hheren Sinne zu verstehen: auch Dante hatte das

    Buch schon frher gekannt, aber erst, nachdem er durch das Schwere, was er erlebt,

    auf sein Verstndniss vorbereitet war, lernte er es in seinem vollen Sinn und Werth

    recht erkennen.2*

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    18/54

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    19/54

    1Q

    Als Theo de rieh unter der Zustimmung, wenn nicht geradezu aufVeranlassung des Kaisers Zeno, mit seinen Ostgothen von der unterenDonau zum Kampfe gegen Odoaker nach Italien gezogen war (489) unddiesen nach mehreren siegreichen Schlachten und dreijhriger Belagerungseiner Residenzstadt Ravenna im Jahre 493 zur Uebergabe gezwungen undbald darauf getdtet hatte, war Anicius Manlius Severinus Boetius,vermuthlich ein Sohn jenes Flavius Boetius, welcher 487 Consul war. undein Enkel des Praefectus praetorio Boetius, welcher 455 unter Valentinian III.getdtet wurde, etwa fnfundzwanzig Jahre alt. Der stolze Amalersprss-ling, in seiner von den Italienern angestaunten Flle mnnlicher Kraftund Schnheit und von seinen ersten Jnglingsjahren her mit reichemSiegesruhm geschmckt, zeigte doch, dass er die unbesiegte Kraft seinerGothen nicht trotzig zu missbrauchen gedachte, sondern dass er in jahre-langem Verkehr mit dem Byzantinischen Hofe die wilde Kraft durchpolitische Erwgungen zgeln und berhaupt bestimmte Ziele eines geord-neten Staatslebens verfolgen gelernt hatte. Gegen aussen musste in einerZeit, in welcher die wilden Wogen der Vlkerwanderung sich noch nichtgelegt hatten, sein Volk in steter Schlagfertigkeit und Kampfbereitschafterhalten werden; im Innern aber sollte das eroberte Land Frieden habenund seinen alten Bewohnern die gewohnte Ordnung des brgerlichen Lebens

    so viel als mglich bewahrt bleiben. Man kann darber streiten, ob eswohlgethan war, dass Theoderich auf diese Weise den Todeskampf eines dochnicht mehr lebensfhigen Volkes und Staatswesens nur verlngerte, anstattnach der Art anderer germanischer Eroberer durch rcksichtslose Unter-

    drckung den Process zu beschleunigen und zugleich das Aufgehen derReste der unterdrckten Bevlkerung in das herrschende Volk zu erleich-

    tern. Jedenfalls lag den Rcksichten der Menschlichkeit jener andere

    Weg nher, und es macht der besonnenen Milde des Gothenknigs alleEhre , dass er ihn eingeschlagen hat. 24 j So wurden denn die Gothen in

    24) Durch eine im Jahre 1S09 von der historischen Classe des Franzsischen In-

    stituts gestellte Preisaufgabe ber die Regierung der Ostgothen in Italien undinsbesondere die Gesetzgebung Theoderichs sind mehrere grndliche Mono-graphien ber diesen Gegenstand unmittelbar, oder mittelbar veranlasst worden.

    Ausser der mit dem Preise gekrnten Schrift von G. Sartori us: Versuch ber dieRegierung der Ostgothen whrend ihrer Herrschaft in Italien und ber die Verhltnisseder Sieger zu den Besiegten im Lande. Hamburg. 1811. verdankt ohne Zweifel der-selben Veranlassung auch die treffliche Abhandlung von A. Schleiermacher: Ge-

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    20/54

    14

    jenes Drittel der Lndereien eingewiesen, dessen schon Odoakers Heer sich

    bemchtigt hatte. Freilich nicht, damit sie es selbst bebauen sollten. DieWehrhaftigkeit des Volkes sollte ebensowenig durch Betrieb des Acker-

    baus als durch Schulunterricht beeintrchtigt werden, in Bezug auf wel-chen der Knig meinte, wer als Knabe vor der Ruthe gezittert habe, derwerde auch als Mann vor dem Feinde zittern : der Gothe hatte sein Hausauf dem Grundstck und erhielt dessen Ertrag, whrend die Rmer esbebauten. Aber es war Theodorich Ernst mit dem Grundsatze, welchenCassiodor spter im Namen Athalarichs ausgesprochen hat, 2 ') dass zwischenGothen und Rmern kein Unterschied stattlinden solle, als der, dass jenezum allgemeinen Besten der Arbeit des Krieges sich zu unterziehen, diesein Ruhe die segensreichen Werke des Friedens zu betreiben htten. DieRmer wurden von ihren eigenen Richtern nach ihren alten Gesetzen, dieGothen von ihren Grafen gerichtet; bei Rechtsstreitigkeiten zwischenRmern und Gothen entschied eine gemischte Commission. Die altenrmischen Aemter und Wrden mit ihren stolzen Namen bestanden fort,wenn sie auch ihre alte Bedeutung verloren hatten, und wurden nach Um-stnden mit neuen vermehrt. Eine besondere Schonung liess Theodorichden Vorurtheilen der Bewohner Roms angedeihen, die ihre frhere Grssenoch nicht vergessen konnten. Dem Senat erwies er am meisten dadurch

    seine Achtung, dass er tchtige Mnner zu seinen Mitgliedern befrderte,und das Ansehen dieses Collegiums war unter ihm grsser, als es unterden Kaisern gewesen war. Die Wrden des Consulats und des Patriciats

    schichte Theoderichs des Grossen, Knigs der Ostgothen, ihren Ursprung, welche sichin den Grossherzoglich Hessischen Hofkalender. Darmstadt. 1810 (S. 221 332) verirrthat; und auch das fnfzehn Jahre spter erschienene Werk von Manso: Geschichtedes Ost-Gothischen Reiches in Italien. Breslau. 1624, knpft trotz der umfassenderenAufgabe, welche es sich gestellt hat, an jene Preisaufgabe ausdrcklich an. AufManso hauptschlich grndet sich die ausfhrliche Darstellung, welche Schlosser inder Universalhistorischen Uebersicht III, 4, S. 79

    242 von den fraglichen Verhltnissen

    gegeben hat. Von lteren Geschichtsschreibern verdient neben Gibbons geistvollerDarstellung (c. 39) besonders Mascou (Geschichte der Teutschen bis zu Abgang derMerovingischen Knige iu sechs Bchern fortgesetzet. Leipzig. 1737, 11. Buch, III VIund XXXVIXLIIIj Erwhnung, der mit seiner zuverlssigen Nchternheit bndigund durchaus quellenmssig alles Wesentliche gibt.

    2r,j Variae, VIII, 3: . . . nee aliud inter vos esse divisum, nisi quod Uli labores

    bellicos pro communi utilitate subeunt, vos autem civitatis Romanae habitatio quietamultiplicat.

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    21/54

    15/

    behielt er bei, ja selbst die Wache des kaiserlichen Palastes in Koni heber nicht auf. obgleich er selbst in Ravenna residierte. Und als er im Jahre500 zum erstenmal Rom besuchte, versumte er nicht, wie ein alterTriumphator, das Volk durch ,.panem et Circenses" in jubelnde Freudezu versetzen. Daneben gab er durch zahlreiche Bauten, die er auffhrte,Gelegenheit zu Verdienst und erhhte durch sie, wie durch eine reicheHofhaltung, den Glanz seiner Regierung; und es geschah nicht allein aufAntrieb seines Ministers Cassiodor, sondern auch aus eigenem Interesse,dass er, zumal in Rom, ffentliche Unterrichtsanstalten freigebig frderte,wenn er auch fr seine Gothen keinen Gebrauch von ihnen machte. Ganzbesondere Anerkennung aber verdient die Weisheit, mit welcher er, ob-gleich Arianer, die rmische Kirche einerseits innerhalb ihrer Sphre ge-whren Hess und andererseits ihr gegenber die Rechte des Staatsoberhaupteszu wahren wusste, so dass ihm selbst im Lager der Gegner das Zeugnissnicht versagt werden konnte, er habe niemals ein Glied der orthodoxenKirche genthigt, zur arianischen Partei berzutreten. Boetius nun, derFamilie der Anicier entsprossen, welcher anzugehren selbst Kaiser sichzur Ehre rechneten, und durch Ehrenhaftigkeit der Gesinnung und einewissenschaftliche Bildung, durch welche er alle seine Zeitgenossen ber-ragte, der ausgezeichnetsten unter seinen Ahnen vollkommen wrdig, genoss

    im reichsten Masse alle die Vortheile und Vorzge, welche unter den dar-gestellten Verhltnissen das rcksichtsvolle Wohlwollen des Gothenknigseinem edelen und hochverdienten Rmer gewhren konnte. Noch in jugend-lichem Alter wurde er zum Senator Illustris und zum Patricius, im Jahre510 zum Consul ernannt, spter verwaltete er das Amt des Magisterofficiorum. Mag man auf die uns erhaltenen Schreiben, welche Cassio-dor in Theoderichs Namen und Auftrage an ihn richtete, 26 ) als auf Be-weise von der freundlichen und vertrauensvollen Gesinnung, welche derKnig gegen ihn hegte, keinen zu grossen Werth legen, weil sie eben derMinister in seinem eigenen berschwenglichen Curialstil verfasst hat, in

    welchem die verknstelte Phrase nur zu leicht mit dem Gedanken durch-geht; so haben wir doch das vollwichtige Zeugniss von Boetius selbst,

    wenn er, im Kerker schmachtend und niedergeschlagen ber die Grau-samkeit seines Geschickes, von der Philosophie an die ausserordentliche

    Gunst sich erinnern lsst, durch welche das Glck ihn frher vor allen

    26, Variae, I, 10. 45. u. II, 10.

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    22/54

    16

    ausgezeichnet hatte. Wrden, nach welchen Greise vergeblich verlangen,

    hat es ihm in der Jugend verliehen, und insbesondere hat es ihm jenenglnzendsten Ehrentag bereitet, an welchem er die Freude hatte, seinebeiden aus der glcklichen Ehe mit Rusticiana, der trefflichen Tochterdes Patriciers Symmachus, entsprossenen Shne, mit der Wrde des Con-sulats geschmckt (522), im Geleite der Senatoren und unter dem Jubeldes Volkes zur Curie fahren zu sehen, wo er selbst durch seine Festredezum Lobe des Knigs die allgemeine Bewunderung erregte, um dann imCircus, inmitten zweier Consuln sitzend, die Erwartung der ihn umfluten-den Volksmenge mit der Freigebigkeit eines Triumphators zu befriedigen. 27 )Wie kam dieser Gnstling des Glckes und seines Knigs dazu, dass erauf kniglichen Befehl von der Hhe seines Glckes pltzlich in den Kerkerhinabgestrzt und zum Tode verurtheilt wurde? Die gewhnliche Antwortauf diese Frage hat meines Bednkens doch noch zu viel von derjenigenan sich, welche schon der sogenannte Anonymus Valesianus, ein gleich-zeitiger Berichterstatter geistlichen Standes, der ein entsetzliches Latein

    schreibt, aber das Thatschliche mit unschtzbarer Treue berliefert, ge-

    geben hat: der Teufel habe Gelegenheit gefunden, den Knig zu beschleichen,einen Menschen, welcher bis dahin den Staat tadellos regiert habe.

    2s) Es soll

    eben ber Theoderich in seinen letzten Regierungsjahren | 523 526) auf unbe-greifliche Weise ein bser Geist gekommen

    sein,der

    ihn verleitete, der ge-

    wohnten weisen Besonnenheit und Milde zu vergessen und gegen die edelsten

    27) Consolatio philosophiae, II, prosa 3.

    2S) Dieser Anonymus ist zuerst von H. de Valois im Anfange zu seiner 1636

    zu Paris erschienenen Ausgabe des Ammianus verffentlicht und seitdem auch vonspteren Herausgebern diesem Schriftsteller beigegeben worden. Sartorius, a. a. 0.S. 352. sagt von ihm: Dieser anonymu s Valesii, wie er gemeinhin bezeichnet wird,hat zwar einen Stil, der unter aller Critik ist, allein man fhlt, indem man ihn lieset,dass er die Wahrheit sagt, er ist unschtzbar in Bezug auf die Thatsachen , welcheer erzhlt, es ist nur zu bedauern, dass er so sehr kurz ist." Dieses Urtheil wird

    von Waitz, Gttinger Gel. Anz. 1805, S. 81 ff., und von Wattenbach, DeutschlandsGeschichtsquellen im Mittelalter, 2. Aufl. Berlin. 1866, S. 44, besttigt. Die oben an-gedeutete Stelle lautet: ,,Ex eo enim invenit diabolus locum, quemadmodum hominembene rempublicam sine querela gubernantem subreperet." Zur psychologischenErklrung des pltzlichen Umschlags in Theoderichs Stimmung enthlt der etwaswillkrlich construierende Aufsatz von Woltmann : Theoderich, Knig der Ostgothen(Kleine historische Schriften. Jena. 1707. II, S. 151212), doch auch manchesTreffende.

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    23/54

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    24/54

    18

    byzantinischen Hof als den Mittelpunkt des noch bestehenden ostrniischen

    Reiches sich anknpfen, und gegen Ende der Regierung Theoderichs gabihnen eine dort sich vollziehende Restauration belebende Nahrung. Be-

    kanntlich war damals (seit 484) die Gemeinschaft zwischen der abend*lndischen und morgenlndischen Kirche aufgehoben, weil man hier umdes ussern Friedens willen eine Vermittelung zwischen den Bestimmungendes chalcedonischen Symbolums und den Lehren der Monophysiten her-gestellt hatte, whrend die rmische Kirche jene Bestimmungen, welchewesentlich von ihrem Bischof Leo I. ausgegangen waren, in aller Strengefesthielt. Wie der Kaiser Zeno, unter welchem sie zu Stande gekommenwar, so erhielt auch sein Nachfolger Anastasius (491

    518) jene Ver-

    mittelung in Kraft. Im Jahre 518 aber folgte Justin I. Von Haus ausein illyrischer Bauer und dann aus einem Befehlshaber der Leibwache

    durch die blichen unsaubern Mittel zum Kaiser geworden, berliess erdie Sorgen der Regierung seinem Schwestersohn Justinian. Dieser be-

    gann sofort das Werk der Kirchenreinigung durch feierliche Anerkennungder chalcedonischen Beschlsse und Verdammung der Irrlehrer, auch derbeiden vorigen Kaiser, so dass519die zerrissene Verbindung mit Rom wiederhergestellt werden konnte. Insbesondere aber fand es Justinian seit 523

    angemessen, die Toleranz, welche Theoderich gegen die katholische

    Kirche gebt, dadurch zu vergelten, dass er in seinem Reiche die Arianerauf alle Weise bedrckte, sie zum Uebertritt in die katholische Kirchezwang, oder ihre Kirchen ihnen entriss, um sie den Katholiken zu ber-geben. Um dem Bedrngniss seiner Glaubensgenossen Einhalt zu thun,sandte Theodorich den rmischen Bischof Johannes nach Constantinopel

    mit dem Auftrage, den Kaiser zu grsserer Milde zu bewegen und insbe-sondere den mit Gewalt bekehrten Arianern die Erlaubniss zum Rcktrittzu erwirken. Johannes ging ungern, auch wird berichet, dass er dem letzt-genannten Auftrag ein entschiedenes Non possunius" entgegengesetzt habe.

    In Constantinopel aber wurde er mit einem Pompe empfangen, als ob erder heilige Petrus selbst wre. 29 ; Diese offenbare Demonstration musste

    2! '; Der Anonymus berichtet: .. rex . . . clicit ad eum: Anitiula Constantino-

    polim ad Justinum Iraperatorem et die ei inter alia, ut lvconciliatos haereticos in

    catholica restituat religione. Cui papa Johannes respondit: Quod facturus es, rex,

    facito citius. Ecce in conspectu tuo adsto. Hoc tibi non promitto nie facturum,nee i 1 1 i dicturus sum. >'am in aliis causis, quibus mihi iniunxeris. obtinere ab

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    25/54

    19

    Theoderich um so mehr empren, als in seiner Umgebung auch Anzeichenaufgetaucht waren von staatsgefhrlichen Verbindungen, welche dieSchwrmer fr die Wiederherstellung der altrmischen Herrlichkeit mitByzanz angesponnen hatten. Er sah sein in der besten Absicht unter-nommenes und gepflegtes Werk des Friedens und der Ordnung aufsusserste gefhrdet. Es half ihm nichts, dass er Italien whrend einesganzen Menscheralters einen Friedensstand geschaffen und erhalten hatte,wie ihn viele vorausgegangene Generationen nicht gesehen und die nach-folgende ihn nicht wieder sehen sollte: statt von Anerkennung sah ersich von Feinden umgeben, in deren Augen er trotz einer musterhaften

    Regierung nur der Barbar geblieben war, welchen loszuwerden man schonnicht mehr bloss hoffte. Es brauchte nach solchen Erfahrungen wahrlichkein Wunder zu geschehen, um das Herz des Knigs mit dem Gefhlebitterer Krnkung zu erfllen und eine persnliche Gereiztheit in ihm zu er-zeugen, welche ihm die Klarheit des Blickes trbte und ihm die Besonnenheitim Handeln raubte. Der Referendar Cyprianus glaubte, dass jetzt der rechteZeitpunkt gekommen sei, um seine persnliche Feindschaft 30 ) gegen denmit Boetius befreundeten Consular und Patricius Albinus zu befriedigen.Er denuncierte ihn wegen hochverrtherischer Briefe, die er an den KaiserJustinus gesandt habe. Ob die Anklage irgend begrndet war oder nicht,vermgen wir nicht zu entscheiden. Jedenfalls war Boetius von der Un-schuld seines Freundes wie von seiner eigenen berzeugt. Wohl hatte Boetius,und ohne Zweifel ganz im Sinne des Knigs selbst, seinen Einfluss be-nutzt, um seine Landsleute gegen die Gewaltttigkeiten einzelner Gothen,oder auch gegen im Namen des Knigs erlassene Verordnungen zu be-schtzen, welche fr den Wohlstand des Landes verderblich waren. Auchvermochte er eben so wenig wie ein anderer Rmer seiner Zeit in diesengermanischen Eindringlingen die Keime des neuen Lebens zu entdecken,

    eodem annuente Deo potero. Jubet ergo rex iratus navem praeparari et superimposi-tum eum cum aliis episcopis, id est Ecclesium Ravennatem et Eusebiuni Fanestrem,Sabinum Campanum et alios duos simul et senatores, Theodoro, Importuno, Agapitoet alio Agapito. Sed Deus, qui fideles cultores suos non deserit, cum prosperitateperduxit. Cui Justinus Imperator venienti ita occurrit ac si Beato Petro:cui data legatione omnia repromisit facturum praeter reconciliatos, qui se fidei catho-licae dederunt, Arianis restitui nullo modo posse."

    30) Das wird mit dem actus cupididate" des Anonymus wohl gemeint sein.

    3*

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    26/54

    -- 20welches auf den Trmmern der alten Welt erblhen sollte. Sein Auge war dervergangenen Grsse Roms zugewandt; aber er hatte Klarheit und Besonnen-heit genug, um sie eben als eine unwiederbringlich vergangene anzusehen 31 ).So wagte er denn, als er vor dem damals zu Verona weilenden Knigseinen Freund Albinus mit rcksichtslosem Freimuth vertheidigte, umCyprians Anklage als durchaus falsch darzustellen, das khne Wort:"Wenn Albinus schuldig ist, so bin auch ich es und ist es der gesammteSenat!" Der schlaue Denunciant aber fasste ihn bei diesem raschen Worte.Er brachte das Zeugniss dreier bel berchtigter Subjecte und geflschterBriefe bei, um zu beweisen, dass in der That auch Boetius mit Hoffnungen

    auf Wiederherstellung der rmischen Freiheit sich getragen habe. Auchseine Collegen im Senat vergalten ihm seinen Eifer fr Verteidigungihrer Unschuld nicht mit eben so muthiger Frsprache 32 ). Der Grundsatz,welcher ihn sein Lebenlang geleitet hatte, dass man suchen msse, denSchlechten zu missfallen 33 ), hatte ihn dahin gefhrt, dass er in der

    Stunde der Gefahr sich von allen verlassen fand. Die Gunst des gereizten

    Knigs schlug in den heftigsten Zorn um. Boetis wurde ohne Verhrzum Tode und zur Proscription verurtheilt, zuerst in Verona gefangen ge-halten, dann dem Prfecten von Ticinum bergeben, der ihn nach dem be-nachbarten Calvenzano (ager Calventianus) in Haft brachte. Dort ver-

    fasste er seine fnf Bcher vom Trste der Philosophie, in deren Anfanger bittere Klage darber fhrt, dass er, auf immer getrennt von derVaterstadt, von Gattin und Kindern, von seinem edlen SchwiegervaterSymmachus und dem Kreise der trefflichsten Freunde, von seiner lieben

    81) Consolatio, I, prosa 4: Nam de compositis falso literis quibus libertatem

    arguor sperasse Roraanam quid attinet dicere? . . . Nam quae sperari reliqua liber-tas potest? Atque utinam posset ulla! Kespondissem Canii verbo, qui cum a GaioCaesare Germanici fio conscius contra se factae coniurationis fuisse diceretur: Si ego,

    inquit, scissem, tu nescisses."3 -) Ibid.: An optasse illius ordinis salutein nefas vocabo? Ille quidem suis de

    nie decretis, ut hoc nefas esset, effecerat . . . . Nunc quingentis fere passu-um milibus procul muti atque indefensi ob Studium propensius in senatum morti pro-scriptionique damnamur: o meritos de simili crimine neminem posse con-vinci!" Auf diese Klage bezieht sich in der folgenden Prosa die Bemerkung derPhilosophie: Increpuisti etiam vehementer iniusti factum senatus."

    33) Consolatio, I, prosa 3: ,, Quibus hoc maxime propositum est, pessimis dis-

    plicere."

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    27/54

    21

    Bibliothek, fr Giundstze bssen msse, die seine Lehrerin ihm einge-pflanzt. Etwa nach Verlauf eines Jahres wurde er im Kerker auf marter-volle Weise hingerichtet. 34 ) Bald darauf liess Theoderich auch Symmachustdten, weil er frchtete, dass dessen Schmerz ber den Tod des Schwieger-sohns seiner Herrschaft gefhrlich werden knne, und auch der BischofJohannes fand nach seiner Rckkehr aus Constantinopel im Kerker seinenTod. Die Consolatio aber enthlt nicht die geringste Andeutung da-von, dass auch Boetius um eines kirchlichen Gegensatzes willen mitdem Knig in Conflict gerathen sei: er wurde der unschuldige Mrtyrerdes Geda?ikens an die einstige Herrlichkeit des rmischen Staates, einerIdee, zu welcher freilich die ihn umgebende Wirklichkeit

    im schroffstenGegensatze stand, auf deren Verwirklichung aber er selbst die Hoffnungaufgegeben hatte. Er fand seinen Trost darin , dass er ber die ver-wirrende Unsicherheit und Ungerechtigkeit irdischen Regimentes zu derruhig und fest beharrenden Ordnung der gttlichen Weltregierung sicherhob und statt der verlornen Frstengunst die verlssigere Gemeinschaftmit dem Knig aller Knige suchte. 35 )

    34J Die oben stehende kurze Darstellung von des Boetius Verklagung, Ver-

    urtheilung und Hinrichtung hlt sich vor allem an die Angaben der Consolatioselbst, wie sie namentlich in der 4. Prosa des 1. Buches sich finden, demnchst an diedes Anonymus Valesianus. Daimachist insbesondere auch die Oertlichkeit der erstenGefangennehmung, der nachherigen lngeren Haft und des Todes bestimmt. Ueberdiese Oertlichkeit, oder diese Oertlichkeiten, ber welche sich noch in Schriften neuestenDatums ungenaue, oder falsche Angaben finden,- insbesondere ber den ager Calven-tianus des AnonjTnus, d. i. Calvenzano, zwischen Pavia und Mailand im Gebiete derletzteren Stadt am linken Ufer des Lambro gelegen, gibt die Schrift von Biraghi:Boezio filosofo, teologo, martire a Calvenzano Milanese. Milano. 1865, einige brauch-bare Notizen. Sonst bietet sie zum Besten der gegenwrtigen Eigenthmerin vonCalvenzano, welcher sie dediciert ist, im Grunde nur eine legendenhafte [Aus-

    staffierung der letzten Schicksale des Boetius dar. Dagegen ist C. Bon-Compagniin seinen Notizie sulla vita di Severino Boezio e sulla storia de'suoi tempi (in denMemorie della Reale Academia delle scienze di Torino. Ser. II. tom. V. 1841, S. 137)auf anerkennenswerthe Weise bemht, die Stellung des Boetius zu den politischenVerhltnissen und Bewegungen seiner Zeit nach den Quellen aufzuklren.

    35j Vergl. Consolatio, I, metrum 5., V. 4648:

    Rapidos, rector, comprime fluctusEt quo caelum regis immensumFirma stabiles foedere terras!

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    28/54

    22

    Und zu einer hnlichen Sinnesart hat Dante aus dem von feind-lichen Gegenstzen bewegten politischen Leben, welches ihn umgab, sichemporgerungen. In dem Kampfe zwischen Ghibellinen und Guelfen,welcher damals das ffentliche Leben von ganz Italien mit all seinengrsseren und kleineren Gemeinwesen beherrschte, sah er sich auf dieSeite der letzteren gestellt. Durch seine Geburt gehrte er einer guel-fischen Familie an. In seinem zweiten Lebensjahre wurde in seiner Vater-stadt durch Karl von Anjou die guelsche Partei zur Herrschaft erhoben,als deren eigentlicher Vorort Florenz von nun an galt, und an derensiegreichen Kmpfen gegen die Ghibellinen bei Campaldino und Caprona(1289) er persnlich theilnahm. Sein Lehrer Brunetto Latini war ent-schieden guelfisch gesinnt, und durch seine Vermhlung mit Gemma de*Donati wurde er mit einem der mchtigsten guelfischen Geschlechter ver-schwgert. Aber sein Sinn war zu gross und frei, um sich in die selbst-schtige Beschrnktheit eines Parteiinteresse bannen zu lassen. Es konnteseinem ernsten, eindringenden, durch historische und philosophische Studiengebildeten Geist auf die Dauer nicht verborgen bleiben, dass die Guelfen-partei ihrer grossen Mehrzahl nach den Schutz der ppstlichen Autorittauf der einen und den Beistand der Masse auf der anderen Seite nursuchte, damit sie, von einem hheren politischen Gedanken und von

    einer umfassenderen politischen Ordnung ungestrt, ihre eigenen Sonder-interessen verfolgen knne. Je mehr er, seit der Mitte der neunzigerJahre etwa, in der Praxis der Staatsgeschfte das politische Leben undTreiben kennen lernte, desto mehr befestigte er sich in der Ueberzeugung,dass seinem zerrissenen Vaterlande nur durch die Wiederherstellung eines,zwar mit dem Papste als dem hchsten Trger der geistlichen Gewalt ein-trchtig, aber auf dem Gebiete der weltlichen Macht selbststndig wirkendenund krftigen kaiserlichen Regiments geholfen werden knne. So kam dasJahr 1300 heran, in welchem er das fnfunddreissigste Lebensjahr, die

    Und besonders ibid. III, metrum 9., V. 2228:Da pater augustam menti conscendere sedem,Da fontem lustrare boni, da luce repertaIn te consjncuos animi defigere visus.Dissice terrenae nebulas et pondera molisAtque tuo splendore mica: tu namque serenum,Tu requies tranquilla piis, te cernere finis,Principium, vector, dux, semita, terminus iderti.

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    29/54

    23Mitte auf dem Wege unseres Lebens," erreichte, und mit ihm jenes wunder-bare Gesicht, welches seine durch die wieder erwachte Macht seiner hei-ligen Jugendliebe vollzogene politische, wie religise und sittliche Wieder-geburt bezeichnet, Mit der Erwhnung dieser Vision schliesst seine balddarauf vollendete Vita nuova : Nach diesem Sonett erschien mir ein wunder-bares Gesicht, in welchem ich Dinge sah, die mich zu dem Entschlssebrachten, nicht mehr von jener Gebenedeieten zu singen, bis ich wrdigervon ihr handeln knne. Dahin zu gelangen bemhe ich mich so viel ichkann, wie sie wahrhaftig weiss. Wenn es dem , durch den alle Dingeleben, gefllt, dass mein Leben noch einige Jahre dauere, hoffe ich vonihr zu dichten, was noch von keiner gedichtet worden ist. Und dann ge-falle es dem, der der Herr der Tugend ist, dass meine Seele hingehenmge, um die Herrlichkeit ihrer Herrin zu sehen, nmlich jener gebene-deieten Beatrice, die in Herrlichkeit das Angesicht dessen sieht, der ge-lobt ist in Ewigkeit." Das Gedicht, in welchem Dante der verklrten Ge-liebten so herrlich Wort gehalten hat, ist die Divina Commedia. DasGesicht, das ihm erschien, ist eben das, welches die Grundlage diesesGedichtes bildet, das Gesicht von dem finstern Wald des Irrthums undder Snde, aus dessen Verderben der Dichter dadurch erlst worden ist,dass er weiter die Qual der Verdammten, die Luterung der Bussfertigen

    und die Herrlichkeit der Seligen schaute. Vor Ablauf des folgendenJahres waren die sieben ersten Gesnge vollendet, in welchen der Plandes Ganzen in seinen Grundzgen bereits deutlich vorgezeichnet ist. Auchdem Preise des rmischen Kaiserthums begegnen wir hier schon, welchesdem Dichter als der berechtigte Trger des weltlichen Schwertes galt,das Gott selbst zur Beschirmung der Christenheit auf dem Erdreich ihmverliehen hat; und zumal als der Snger des rmischen Kaiserthums istVirgil geschickt, ihm als Fhrer zu dienen. Vom 15. Juni bis zum 15.August 1300 war Dante mit dem Priorate betraut und hatte somit Ge-legenheit seiner politischen Ueberzeugung praktische Geltung zu ver-schaffen. Er that es, indem er mit unparteiischer Energie dem wstenParteitreiben zu steuern und eine edelere Gesinnung zu pflanzen suchte.Die Guelfen aber vertrauten auf die Hlfe des von dem Papst begnstigtenKarl von Valois und schickten, um dessen Intervention zu betreiben, eineGesandtschaft nach Rom. Um diesen Umtrieben zu begegnen, wurde vonder Regierung mit andern auch Dante dahin abgesandt. Das stolze Wort,welches er nach Bocaccios Bericht damals (September 1301) gesprochen

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    30/54

    24

    haben soll: Wenn ich gehe, wer bleibt, und wenn ich bleibe, wer geht?"wrde durch die bald folgenden Ereignisse seine Rechtfertigung gefundenhaben. Seiner Partei fehlte nun seine Einsicht und seine Kraft. Siewiderstand nicht den lgenhaften Versprechungen des Franzosen, undnachdem diesem die Thore der Stadt geffnet wordpn waren (November1301), sttigte die guelfische Partei unter der Fhrung des wilden CorsoDonati in grausamer Gewaltthtigkeit ihre Rachsucht an den Gegnern undbemchtigte sich der Regierung. Am 27. Januar des folgenden Jahreswurde ber Dante ein Urtheil gefllt, welches, da seine Rckkehr antheils aus usseren, theils aus sittlichen Grnden unerfllbare Bedingungengeknpft wurde, thatschlich schon der Verbannung gleich kam. Am 10.Xlrz folgte ein zweites, welches diese Strafe ber Dante und vierzehnAndere ausdrcklich verhngte und die Verurtheilten fr den Betretungsfallmit dem Feuertode bedrohte. 30 ) Xach dem Tage, an welchem er, um nachRom zu gehen, Florenz verlassen hatte, sah er seine Vaterstadt nichtwieder, an welcher er, wie viele Stellen seiner Commedia beweisen, 37 )trotz alles Bitteren, was er in ihr und durch sie erfahren, mitrhrender Liebe hing. Wie oft mag er da gedacht haben an seinesBoetius: An optasse illius ordinis salutem nefas vocabo/ Ille quidemsuis de me decretis, uti hoc nefas esset, effecerat. . . . Nunc quingentisfere passuum milibus procul muti atque indefensi . . . morti proscriptio-nique damnamur!" Hatte er auch nicht in Banden den nahen Tod zu er-warten, so musste er doch mit Boetius beklagen, dass er von Weib undKind getrennt sei, die er nicht zu Genossen seines Schicksals machen

    36) Beide Decrete (condepnationes, sive condepnationum sententiae) stehen bei

    Fraticelli, Storia della vita di Dante Alighieri, S. 147 ff. u. 151 f., das zweite auchbei Tiraboschi, a. a. 0. t. 5, 1. 3, c. 2, 5, wie das erste bei Wegele, a. a 0. S. 588 ff.

    37) Aus dem Convito gehren hierher die innigen und ergreifenden Worte des

    3. Cap. im 1. Tractat: Poiehe fu piacere de' cittadini della bellissima e famosissimafiglia di Roma, Fiorenza, di gettarmi fuori del suo dolcissimo seno, nel qule nato enudrito fui fino al colmo della mia vita, e nel qule con buon pace di quella desiderocon tutto il cuore di riposare l'animo stanco e terminare il tempo che m' e dato; pei-le parti quasi tutte, alle quali questa lingua si stende, peregrino quasi mendicandosono andato, mostrando contro a m'a voglia la piaga della fortuna, che suole ingiusta-mente al piagato molte volte essere imputata. Veramente io sono stato legno sanzavela e sanza governo portato a diversi porti e foci e liti dal vento secco che vapora

    la dolorosa poverta."

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    31/54

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    32/54

    26

    schlgt ihm nichts, dass ein Kaiser deutschen Stammes Scepter und

    Schwert des rmischen Weltregiments fhrte. Er erhebt bittere Anklagengegen Rudolf und Albrecht von Habsburg, dass sie, nur um ihre Hauspoli-tik bekmmert, Italien, den Garten des Reichs, der Verwstung durch diewilden Parteikmpfe berlassen haben, anstatt das strrige Ross mit

    fester Hand zu zgeln, und erkennt in Albrechts blutigem Tode die ge-rechte Strafe fr dieses schwerste Versumniss. 40 ) Und als im Jahre 1309Heinrich von Ltzelburg zu seinem Rmerzug sich rstete, da begrsstDante in ihm den politischen Heiland seines unglcklichen Vaterlandesund wird selbst zum krftigsten Wirken fr ihn begeistert. Frsten undVlker Italiens mahnt er im Prophetenton an ihre Pflichten gegen den

    herannahenden Herrn. Er selbst eilt ihm entgegen und freut sich, demgottgesandten Helfer die Fsse zu kssen. Das in seinem Widerstndebeharrende Florenz straft und warnt er wegen dieser schweren Verschul-dung gegen menschliches und gttliches Recht mit flammenden Worten.Dem Kaiser selbst sendet er Rath und Ermahnung zu ausharrender Ver-folgung seines von Gott ihm anvertrauten Berufes. 41 ) Unter dem anre-genden Einflsse dieser Zeit hat er denn auch seine Schrift De monar-chia verfasst, in welcher er seine politische Theorie als ein Glaubensbe-kenntniss im eigentlichen Sinne ausfhrlich darlegt und begrndet. Und alsZeuge fr die von Gott verordnete Weltherrschaft Roms tritthier neben Virgil, Lucan und dem Evangelisten Lucas auch Boetius auf. 42 )

    40) Purgartario, VI, 01105.

    41) Die drei Sendschreiben Dantes, auf welche oben Beziehung genommen

    ist, an die Frsten und Vlker Italiens , an die Florentiner (Dantes AllagheriusFlorentinus et exul immeritus, scelestissimis Florentinis intrinsecis") und an den Kaiser,oder genauer: den Knig Heinrich, denn die Kaiserkrone erhielt er erst im Jahrenachher, stehen in Fraticellis Ausgabe der Opere minori Dantes im 3. Bande, S. 440ff.; 450 ff.; 464 ff.

    42) De Monarchia; II, . 9: ,,Et Boetius in secundo, cum de Romanorum prin-

    cipe lo

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    33/54

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    34/54

    28

    glck zerstrt hatte, inusste sich Dante durch die Aehnlichkeit seines

    Schicksals mit dem des Verfassers der Consolatio mit erneuter und erhhterTheilnahme zu diesem hingezogen fhlen, und jetzt erst wurde Itete im

    vollen Masse ein Lieblingsschriftsteller Dante V45 ) Von der eingehendenBeschftigung und innigen Vertrautheit mit Boetius und insbesondere mit

    dessen Trostschrift zeugen denn auch die beiden Hauptwerke, welche

    Dante verfasst hat, nachdem er die Mittagshhe des menschlichen Lebensberschritten hatte und nun in der Bedrngniss seines wechselvollen

    usseren Lebens eines festen inneren Haltes sich zu versichern suchte,

    das Convito und die Divina Commedia; beide aber auf verschiedeneWeise. Abgesehen nmlich von dem formellen Unterschiede, dass aus-drckliche Citate, wie sie dort die Prosa der philosophischen Abhandlunggestattet, hier durch den hheren Stiel der Poesie ausgeschlossen sind,

    wird Boetius in einem jeden der beiden Werke nach einer anderen Rich-tung seiner Lehre vorzugsweise benutzt, Im Convito kommt der wesentlichauf Aristoteles fussende Ethiker zu Wort, wogegen auf die Commedia jeneshchste philosophische Streben Einfluss bt, welches Boetius von Plato

    und den Neuplatonikern ererbt hat, welches auch von den christlichenGedanken nicht unberhrt geblieben ist, und in welchem die ber dieNichtigkeit des Irdischen zur Gemeinschaft mit Gott als dem einzig wahrenGut sich erhebende Speculation mit der Mystik sich berhrt.

    Es ist hier nicht der Ort, die vielbesprochene und dadurch nur umso verwickelter gewordene Frage zu errtern, ob die Canzonen, an welche

    Dante die philosophischen Ausfhrungen in seinem Gastmahl anknpft, ur-

    sprnglich wirkliche Minnelieder gewesen sind, wofr der Augenschein

    spricht, oder ob die Dame, welche sie feiern, von Anfang an als eineAllegorie der Philosophie gedacht war, wie es der Dichter in den jene

    Lieder commentierenden philosophischen Tractaten darstellt, und ob dieGrundanschauung des Convito der der Commedia entgegengesetzt ist, odermit ihr bereinstimmt. 4 ") Uns gengt die Thatsache zu constatieren, dass

    * 6) Philalethes zu Paradiso, X, 128.

    16) Fr die erstere Ansicht: Witte, Dantes Trilogie (in den Danteforschungen

    S. 141 182); Delffs, Ueber das Verhltniss des Gastmahls" zu der Gttlichen Ko-mdie" (Jahrbuch der Dante-Gesellschaft, III, S. 5978); auch Rieger, a. a. 0.S. 36 ff. Fr die letztere: Ruth, Studien ber Dante. Tbingen. 1853, S. 43 ff.;S. 220 ff.; Wegele, Dante Alighieris Leben und Werke, 2. Aufl. Jena. 1865. S. 92 ff.u. 181 ff.; Schndelen, a. a. 0.

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    35/54

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    36/54

    30

    wodurch er zugleich die Rckkehr in die geliebte Vaterstadt zu erzwingen

    gedachte, die harmonische Stimmung, die Fassung und Erhebung des Ge-mthes verloren, in welcher er sein grosses Gedicht begonnen und fortge-setzt hatte. Er Hess es liegen und whlte eine Form des Gedankenaus-drucks, die sich eher commandieren lsst, als die Poesie. Wir aber werdenes nicht beklagen, dass er anstatt 14 nur 3 seiner Canzonen in jenerForm behandelt hat, indem bald durch den Rmerzug Heinrichs seinekhnsten Hoffnungen wieder neubelebt wurden, und nachdem sie zernichtetwaren, er einen krftigeren Trost , als ihn die Beschftigung mit philoso-phischen Begriffen und knstlichen Syllogismen gewhren konnte, wiederbei jener Beatrice suchte, die ihn einst aus dem dunkeln Walde des Irr-sais zu der sonnigen Hhe des wahren Lebens berufen hatte und ihn vonnun an, bis er, fast gleichzeitig mit seiner irdischen Laufbahn, auch dasHauptwerk seines Lebens beendet hatte, auf ihrem lichten Pfade voneiner Klarheit zur anderen emporleitete. Und wir begreifen, wie er vonder so wiedergewonnenen Hhe seiner Lebensanschauung herab auch die ein-seitige Vertiefung in philosophische Speculationen, von welcher das Con-vito zeugt, zu jenen Verirr ungen rechnen konnte, welche ihn von demrechten Wege abgefhrt hatten; denn wenn der Mensch Alles mit seinernatrlichen Vernunft erreichen knnte , so htte es der hchsten Offen-barung der Wahrheit und Gnade Gottes nicht bedurft. 48

    )Gehen wir nun dem Einflsse nach, welchen Boetius auf das Convito

    lsj Auch Schndelen gesteht den relativen Gegensatz zwischen den Convito

    und der Commedia zu, a. a. S. 51 f.: Eine ganz andere Frage ist es, ob er nichtvorbergehend griechische, rmische, arabische Philosophen und Poeten einzeln undim Ganzen viel zu hoch geschtzt, ihre Regeln, Tugendlehren und Tugendbungenviel zu gnstig beurtheilt, d. h. mehr Annherung ans Christenthum und Verbreitungauf dasselbe in ihnen gefunden habe, als wir darin zu finden geneigt sind. Und damuss ich gestehen, ich bedauere es nicht, dass der Verfasser sein Gastmahl mit demvierten Gange abgebrochen und nicht, wie er in Aussicht gestellt, bis zum vierzehntenoder fnfzehnten fortgesetzt hat. Er ist eben auch als Philosoph doch zu sehr noch der-selbe Poet, der die Vita nuova geschrieben hat. Zur vollen Klrung der ghrendenElemente, zu einer rechten Scheidung und Einigung von Gttlichem und Menschlichemsehen wir ihn erst in der Div. Comm. gelangt." Abgesehen von den Hauptbelegender letzteren fr das energische Sndenbewusstsein Dantes berhaupt, Purg. XXX, 115145 u. XXXI, 190, ist es insbesondere die Stelle Purg. XXXIII 8590, welche am natr-lichsten auf das in den Speculationen des Convito bewiesene einseitige Vertrauen aufdie Philosophie bezogen wird:

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    37/54

    31

    gebt hat, so hatte schon der Wechsel zwischen poetischen und prosaischenAbschnitten, welcher diesem Werke mit der Vita nuova gemeinsam ist,an der Consolatio philosophiae ein Vorbild, wenn auch das Verhiiltnissder beiderseitigen Abschnitte zu einander hier und dort ein verschiedenesist; denn whrend bei Boetius die Gedanken der vorausgegangenen Dich-tung durch die nachfolgende Prosa fortgeleitet, oder die Hauptgedankendieser durch die sich anschliessenden Verse bndig und anschaulich zu-sammengefasst werden, lsst Dante auf seine Gedichte nur einen prosai-schen Commentar folgen. Auch fr die Art, wie er die gentilissima donnaseiner Canzonen als eine Allegorie darstellt, hatte er, wie wir bereits ge-sehen habun, in der Personifikation, nach welcher die Philosophie in der

    Consolatio als eine hohe Frau auftritt, eine Anregung und einen Anhaltgefunden. Im Einzelnen aber beruft er sich gleich im Anfange des Con-vito auf das Beispiel des Boetius, um zu entschuldigen, dass er von sichselbst rede. Ein Urtheil ber sich selbst abzugeben, sei dann erlaubtund pflichtmssig, wenn es das einzige Mittel sei, um einer grossen Gefahroder Schande zu entgehen. Wie darum Boetius seine Consolatio geschrie-ben habe, um seine Unschuld und die Ungerechtigkeit seiner Verdammungnachzuweisen, so rede auch er von sich, damit die Leidenschaft, welche

    in seinen Canzonen sich auszusprechen scheine, nicht unrichtig gedeutet

    werde. 49 ) Weiterhin gibt er vom 5. bis zum abschliessenden 13. Capitel

    Perche conosca, disse (Beatrice), quella scuola,C'hai seguitata, e veggia sua dottrina

    Come pu seguitar la mia-parola;E veggia vostra via dalla divina

    Distar cotanto, quanto si discorda

    Da terra '1 ciel che piti alto festina.

    Und schon III, 3439 hiess es:Matte- e chi spera che nostra ragione

    Possa trascorre l'infinita via,

    Che tiene una sustanzia in tre persone.

    State contenti, umana gente, al quia:Che se potuto aveste veder tutto,Mestier non era partorir Maria.

    49) Convito I, 2: Questa necessit mosse Boezio di se medesimo a parlare;

    accioche sotto pretesto di consolazione scusasse la perpetuale infamia del suo esilio,

    mostrando quelle- essere ingiusto; poiehe altro scusatore non si levava."

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    38/54

    82

    des 1. Tractats eine hchst interessante Beweisfhrung dafr, dass es

    nicht Knauserei, sondern wahre Freigebigkeit sei. wenn er sein philoso-phisches Gastmahl nicht in lateinischer Sprache, sondern in der seinesVolkes auftische. Wenn er da schliesslich, zur ewigen Schani und Schandeder schlechten Italiener, welche eine fremde Volkssprache empfehlen unddie eigene herabsetzen." als den ersten von fnf Grnden dieser Verkehrt-heit die Blindheit des Urtheils der Menge anfhrt; so fllt ihm wiederein Wort seines Boetius ein, worin dieser die Volksgunst als absolutwerthlos darstellt, weil sie eben auf keinem klaren Urthe beruhe. 5 ") Im2. Tractat werden zuerst nur Belegstellen fr einzelne Gedanken aus derConsolatio hergenommen, so der Satz, dass der Mensch, welcher von seiner Be-

    stimmung zur Gemeinschaft mit Gott abfalle, eigentlich zum Thier werde, zurBesttigung des Gedankens, dass jedes Ding nach seiner wesentlichen Eigen-thmlichkeit genannt werden msse, der Mensch also nach der Vernunft, alsdem ihn auszeichnenden Organ zur Herstellung jener Gemeinschaft; 51 ) und danndie Bemerkung ber den verwirrenden Einfiuss pltzlicher Vernderungen zurBegrndung der Erfahrung von der die Seele lhmenden Kraft des Missge-schicks. 5

    '2) Im 13. Capitel aber folgt die bereits erwhnte Erzhlung von der

    Art und Weise, wie Dante durch die Consolatio fr den Verlust der verstor-benen Geliebten bei seiner neuen Herrin, der Philosophie, Trost gefundenhat. Und nachdem er im Schlusscapitel dieses Tractats noch einmaldarauf zurckgekommen ist, rechtfertigt er gleich am Anfange des nchsten,sein Unternehmen, von der Geliebten zu reden, wieder unter Berufung aufBoetius. mit der Vorsicht, welche ihm gebiete, ungerechten Tadel ber

    50) Convito, I, 2: Onde Boezio giudica la popolare gloria vana perche la

    vede sanza discrezione." Consolatio philos. III, prosa 6, lin. 16 ff. (beiPeiper):Populrem gratiam ne commemoratione quidem dignam puto, quae nee iudicio pro-venit nee umquam firma perdurat."

    51) Convito, II, 8: Chi dalla ragione si parte e usa pur la parte sensitiva, non

    vive uomo, ma vive bestia; siecome dice quello eccelentissimo Boezio, asinovive." Consolatio, IV, pros. 3, lin. 60 ff.: Segnis ac stupidus torpit? asinunivivit." In Kannegiessers Uebersetzung des Convito ist aus der Nichtbercksich-tigung des lateinischen Grundtextes des Citates die drollige Uebersetzung hervorge-gangen: Sowie jener treffliche Boetius sagt: Der Esel lebt,""

    52J Convito, II, 11: ,.E qui e da notare che. siecome dice Boezio nella sua

    consolazione, ogni subito uiovimento di cose non avviene sanza aleuno discorrimentod'animo." Consolatio, II, pros. 1, lin. 15 f.: Omnis subita mutatio rerum nonsine quorlam quasi flueta contingit animorum.'-

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    39/54

    33

    leichtsinnigen Abfall von seiner ersten Liebe zu begegnen. 53 ) Im 2. Ca-

    pitel wird der Satz, dass derGeist oder das Denkvermgen nur von Gott

    und von dem Menschen prdiciert werden knne, mit zwei Stellen der Con-solatio bewiesen. 54 ) Der vierte und letzte Tractat endlich findet fr seineausfhrliche Darlegung der Hinflligkeit und Verderblichkeit des Reich-

    thums und der Hassenswrdigkeit des Geizes (Cap. 1013) im 2. Buchejener Trostschrift besonders zahlreiche Belege. 55 ) Und noch die letztenGedanken, welche Dante im Convito niedergelegt hat, dass die Philosophienicht bloss bei den Wissenden, sondern da, wo man sie liebt, wohnt,dass sie Seelenadel voraussetzt und diesem das Allergeheimste des gtt-

    lichen Geistes aufschliesst, erinnern an jene Philosophie, welche den ge-

    fangenen Boetius zum Trste erschienen ist.

    53) Convito, 111, 1: Siccome dice Boezio, uon basta di guardare pur quello

    ch'e dinanzi agli occhi, cioe il presente; e per n'e data la providenza che riguarda

    a quello che pu avvenire." Consolatio, II, pros. rl, lin. 43 ff.: Neque enimquod ante oculos situm est, suffecerit intueri: rerum exitus prudentia metitur.

    54) Convito, III, 2: Solamente delPuomo e delle divine sustanze questa mente

    si predica, siccome per Boezio si pu apertamente vedere, che prima la predica degliuomini ove dice a la Filosofia: Tu e Dio, che te nella mente degli uomini mise;"

    poi la predica di Dio, quando dice a Dio: Tutte le coseproduci dal superno esemplotu bellissimo, hello mondo nella mente portante."" Consolatio, I, pros. 4, lin.24 f: Tu mihi et qui te sapientium mentibus inseruit deus conscii." Ib. III, metr.

    9, V. 7 ff.

    Tu cuncta supernoDucis ab exemplo, pulcrum pulcerrimus ipse

    Munduni mente gerer. s.

    B5) Convito, IV, 12: E per questo le (richezze) chiama Boezio in quello di

    Consolazione pericolose, dicendo: Oime! Chi fu quel primo che li pesi dell'oro co-

    perto e le pietre che si voleano ascondere, preziosi pericoli cav."" Und balddarauf: E a maggior testimonianza di questa imperfezione ecco Boezio in quellodella Consolazione dicente: Se quanta rena volge lo mare turbato dal vento, sequante stelle relucono, la Dea della richezza largisca, l'umana generazione non ces-ser di piangere." " Dann im 13. Cap.: E per dice il Savio: Se voto cam-minatore entrasse nel cammino, dinanzi a' ladroni canterebbe." Ferner: E perBoezio nel secondo della sua Consolazione dice: Per certo l'avarizia fa liuomini odiosi" " Und endlich: Onde Boezio nel medisimo libro dice: Allorae buona la pecunia, quando, trasmutata negli altri per uso di larghezza pi non

    si possiede." Die entsprechenden Stellen der Consolatio sind II, metr. 5>V. 2730:

    5

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    40/54

    34

    Obwohl in der Commedia Boetius nirgends mit Namen genannt wird,so begegnet man doch berall in ihr Spuren seiner Einwirkung auf denDichter. Xur an der einen Stelle Paradiso, X, 121 129 56 ) wird Boetiusauf unzweifelhafte Weise direct erwhnt. Dante hat sich unter BeatricensFhrung bis zur Sphre des Sonnenhimmels erhoben. Hier umgibt ihneine Krone von zwlf Sternen, welche die Seelen von grossen Kirchenlehrerneinschliessen. Der Bewohner eines von ihnen, Thomas von Aquino, nenntsich dem Dichter selbst und macht ihn mit den brigen bekannt. DemAquinaten zur Rechten reiht sich zuerst sein Lehrer, Albert der Grosse,an ; dann folgen Gratian, Peter der Lombarde, Salomo, Dionysius der Areo-pagit, Orosius, Boetius, Isidor, Beda, Richard von St. Victor, bis der Dia-lektiker Siger von Brabant, an Thomas zur Linken sich anreihend, denKreis schliesst. Wie Salomo, Dionysius und Orosius, wird auch Boetiusnicht mit Namen genannt; aber er ist deutlich genug bezeichnet als die

    Heu prinius quis fuit illeAuri qui pondera tectiGemmasque latere volentesPretiosa pericula fodit?

    II, metr. 2, Y. 18:Si quantas rapidis flatibus incitus

    Pontus versat arenas,Aut quot stelliferis edita noctibus

    Coelo sidera fulgent,

    Tantas fundat opes nee retrahat manumPleno Copia cornu,

    Humanuni miseras haud ideo genusCesset flere querellas.

    II, pros. 5. lin. 96 ff. : Si vitae huius callem vaeuus viator intrasses, coram latroneeantares." Ib. lin. 9 f.: Si quidem avaritia semper odiosos, claros largitas facit."Ib. lin. 11 ff.: Tunc est pretiosa peeunia, cum translata in alios largiendi usu de-init possideri."

    56) Or se tu l'oechio della mente trani

    Di luce in luce, dietro alle mie lode,Gi dell' ottava con sete rimani.

    Per veder ogni ben dentro vi godeL'anima santa, che'l mondo fallaceFa manifesto a chi di lei ben ode.

    Lo corpo, ond'ella fu cacciata, giaceGiuso in Cieldauro ; ed essa da martiroE da esilio venne a questa pace.

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    41/54

    35

    heilige Seele, welche dem, der auf sie hrt, die falsche Welt bekannt

    macht, und welche aus Marter und Verbannung zum ewigen Frieden ein-gegangen ist, whrend der Leib, aus dem sie gewaltsam vertrieben wurde,im Cield'auro begraben liegt, d. h. in jener Kirche zu Pavia, in welcherdie Gebeine des Boetius von dem ager Calventianus" herbergebrachtworden waren. 57 ) Boetius weilt also nicht mit den Helden, Dichtern undWeisen des Heidenthums im ersten Kreise des Inferno, wo jene nichtunter positiver Strafe, sondern nur unter der Entbehrung des von ihnenersehnten wahren Heiles leiden 58 ): er ist unter die Zahl ausgezeichneterLehrer der christlichen Kirche in das Paradies aufgenommen. Dante stehteben innerhalb jener Tradition, durch welche Boetius um der Verbindungseines Schicksals mit dem des Papstes Johannes und um des grossenDienstes willen, den er durch seine Schriften der Theologie leistete, lngst

    zu einem Mrtyrer der christlichen Orthodoxie geworden war. Auch ander im ganzen Mittelalter nicht bestrittenen Aechtheit der dem Boetiuszugeschriebenen theologischen Abhandlungen, in welchen die Lehren vonder Trinitt und von dem Verhltniss der beiden Naturen in Christusdialektisch begrndet werden, hat Dante ohne Zweifel festgehalten. 59 ) Eine

    57) Vgl. Biraghi, a. a. 0., S. 62 ff., wo unter einem Schwall von haltlosen Ueber-

    schwenglichkeiten doch auch die bezglichen positiven Augaben zu finden sind.58

    j Inferno, IV, v. 3142.50

    ) Dass Boetius, schon durch die Taufe, ein Mitglied der rmischen Kirche ge-wesen sei, ist nach der Umgebung, nach den Verhltnissen und nach den persnlichenVerbindungen, in welchen er lebte, mit Bestimmtheit vorauszusetzen, und wird jetztvon Niemand mehr geleugnet, der jene Umstnde gehrig in Erwgung zieht; neuer-dings hat es G. Bosisio (Sul Cattolicismo di A. M. T. S. Boezio. Pavia. 1867) insbe-sondere durch Berufung auf die intimen Beziehungen der Anicier zu Christenthum undKirche nher zu begrnden versucht. Ebenso gewiss ist, dass er im Angesichte desTodes seinen Trost nicht in eigenthmlich christlichen Lehren, sondern bei der Philo-sophie gesucht hat. Und diese beiden Thatsachen stehen in der damaligen Zeit ebenso wenig unvereinbar neben einander, als es heut zu Tage der Fall sein wrde.Schwieriger ist die Frage zu entscheiden, ob die ihm zugeschriebenen theologischenSchriften wirklich von ihm verfasst sind. Veranlasst durch das etwas summarischeUrtheil von Hand, dass Boetius ein Heide gewesen und die Unchtheit dieser erstvon dem 12. Jahrhundert an bezeugten Schriften ausser Zweifel sei, habe ich frherdie inneren und usseren Grnde zusammengestellt, welche sich fr ihre Aechtheit an-

    fhren lassen, ohne dass ich selbst von derselben vllig berzeugt gewesen wre. Dass aber

    auch durch die grndliche Untersuchung, mit welcher F. Nitzsch die entgegengesetzteUeberzeugung zu begrnden unternommen hat, der Process noch nicht entschieden

    5*

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    42/54

    36

    bestimmte Bezugnahme auf diese wsste ich indessen in der Commedia nicht

    nachzuweisen; vielmehr erweist sich auch hier wieder die Consolatio philo-sophiae als die Schrift des Boetius, von welcher der Dichter Anregungund Belehrung empfangen hat; und somit freilich von einer Philosophie,welche nicht in theoretische Lehren und Schlussfolgerungen aufgeht, son-dern zugleich in der Erhebung ber das Vergngliche und in der Ver-einigung mit dem weisen, gerechten und gtigen Gott das wahre Ziel dermenschlichen Bestimmung erkennt und dadurch mit dem Christenthumund mit der Theologie in jenem Sinne verwandt ist, in welchem sie Dantein der verklrten Beatrice personificiert hat. Der ganze Gang, welchenDante in der Commedia nimmt, ist im Grossen und Ganzen in der Con-solatio vorgezeichnet. Auch den Verfasser dieser Schrift finden wir zuAnfange in einem Zustande geistiger Verirrung und tiefer Niedergeschlagen-heit. Zunchst versinkt er in der Erinnerung an sein frheres Glck undim Gedanken an die Ungerechtigkeit und Bosheit, welche ihn dessen be-raubt hat, noch tiefer in die Hlle seiner Seelenqual. Dann aber beginntdie Philosophie das Werk der Heilung. Sie lutert zuerst seine Seele vondem Gelste nach vergnglichen Gtern und zeigt ihm, dass Gott daseinzig wahre Gut ist, in dessen Besitz allein das wahre Glck besteht,und ohne welches auch der Reichste, Geehrteste und Mchtigste zeitlich

    und ewig unglcklich ist.60

    ) Und so fhrt sie ihn endlich zu der Hhe

    ist, beweist schon der Umstand, dass der neueste Herausgeber der Consolatio, der ge-wiss ausserhalb des Verdachtes theologischer Voreingenommenheit steht, wenigstensdrei von jenen vier Schriften dem Boetius glaubt zuschreiben zu mssen. Die Philo-sophie der Consolatio steht dem Christenthum nahe genug, um eine Beschftigung desVerfassers mit theologischen Fragen denkbar zu machen, und andererseits ist die dia-lektische Methode in jenen theologischen Abhandlungen usserlich genug, um sich miteinem solchen philosophischen Standpunkte zu vertragen; mit welcher Unbefangenheitaber bis in das spte Mittelalter hinein Elemente der antiken Philosophie und Poesiemit specifisch christlichen Dogmen verbunden wurden, dafr ist gerade Dante dassprechendste Beispiel. Meines Bednkens

    mssendie

    Grndefr die Entscheidung

    des fraglichen Streites noch in hherem Grade, als es bisher geschehen ist, in derVergleichung der Sprache jener theologischen Schriften mit der Sprache der Bcher,welche dem Boetius unzweifelhaft angehren, gesucht werden.

    60) Consolatio, IV, pros. 4, lin. 71 ff: Nullam animarum supplicia post defunctum

    morte corpus relinquis? Et magna quidem, inquit (Philosophia) , quorum alia poenaliacerbitate, alia vero purgatoria dementia exerceri puto" eine Stelle, an welche dieArt, wie Dante zwischen den Strafen im Inferno und den Bussen im Purgatorio unter-scheidet, fter erinnert.

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    43/54

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    44/54

    38

    sondere hat ihm das 1. Gedicht des 4. Buchs der Consolatio. in welchem

    die Philosophie von sich sagt

    Sunt enim pinnae volucres mihi,

    Quae celsa conscendant poli,

    zahlreiche Motive fr die Darstellung der Erscheinung und des Wirkensseiner Fhrerin im Paradiso gegeben.

    Verfolgen wir, ohne auf Vollstndigkeit irgend Anspruch zu machen,die Anklnge der Commedia an die Trostschrift des Boetius etwas im Ein-zelnen, wie sie eben beim Lesen sich darbieten, so weisen gleich im]. Canto des Inferno die drei Thiere, welche den Weg des verirrtenDichters hemmen, der stolze und grimmige Lwe, der geschmeidige undlsterne Panther und die gierige Wlfin, wie auf eine Stelle bei dem Pro-pheten Jeremia (5, 6), so auf die Consolatio zurck. 6

    '2 In dieser heisst

    es (IV, pros. 3, lin. 54 ff.): Avaritia fervet alienarum opum violentus ereptor:lupi similem dixeris . . . Irae intemperans fremit: leonis animum gestarecredatur . . . Levis atque inconstans studia permutat: nihil avibus differt.

    Foedis immundisque libidinibus immergitur: sordidae suis voluptate detine-tur." Die Eigenschaften der Vgel und des Schweines hat Dante in denPanther zusammengefasst, um diesen, nach Jeremias Vorgange, als passen-deren Genossen dem Lwen und der Wlfin zuzugesellen. Wenn dann derzur Fhrung des Verirrten berufene Virgil dem vor dem Gange in dieHlle Zagenden sagt (Inf. II, 43 ff.): Se io ho ben la tua parola intesa,. . . Tanima tua e da viltate ofTesa." so ist das eine offenbare Reminiscenzan das: ,,Te, ut video, Stupor oppressit," womit die Philosophie den vonSchmerz betubten Boetius anredet (I, pros. 2, lin. 6). Wie diese vondem Himmelspol sich hernieder gesenkt hat (Cons. I. pros. 3, lin. 7: ..superocardine delapsa'-), so kommt auch Beatrice, die den Virgil ausgesandt,von den seligen Hhen, nach welchen sie zurckverlangt (Inf. II, 71: Vengodi loco, ove tornar disio"), und beide, um ihrem Freunde in seiner Bedrng-niss beizustehn:

    03) und wie gleich bei der Erwhnung des ersten Erscheinens

    2) Vgl. Wegele, a. a. 0., S. 411 f.

    63) Consolatio, I. pros. 3, lin. 9 ff.: An, inquit illa, te alumne desererem ......

    Atqui Philosophiae fas non erat incomitatum relinquere iter innocentis." Und danjitvergleiche man die Worte, mit welchen Lucia Beatrice auffordert, ihrem verirrtenFreunde zu helfen (Inf. II, 103 ff.):

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    45/54

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    46/54

    40

    sehung und Schicksal und ber das Wesen des Glckes empfangen hat.**)

    Ja der vielbesprochene Ausruf, mit welchem der diesen Hllenkreis be-wohnende Pluto die Eintretenden empfngt (Inf. VII, V. 1): PapeSatan, pape Satan aleppe !" drfte seine Form einer Einwirkung der Con-solatio verdanken, indem hier die bei den Komikern bliche, bei denSchriftstellern der classischen Periode aber ausser Gebrauch gekommeneInterjection ,,Pape u oder Papae" fter vorkommt, und zwar gerade auchzu Anfang der Errterungen ber die angefhrten Lehren. Auch beiSchilderung der Giganten (Inf. XXXI, V. 2033; 130-145), welche, denAbsichten Gottes dienstbar, die unterste Hllenabtheilung bewachen mssenwird Dante an das Wort der Philosophie (Consol. III, 12, lin. 64 ff.) ge-dacht haben: Accepisti, inquit, in fabulis lacessentes coelum Gigantas;

    sed illos quoque, uti condignum fuit, benigna fortitudo disposuit." Aufdem Gange durch das Purgatorio, in welchem die bussfertigen Sndersich freuen, durch die von der ,,purgatoria dementia" verhngten Bussenzur Seligkeit hinangelutert zu werden, geleitet dann den Dichter der

    Satz der Consolatio (IV, pros. 4, lin. 63 ff.): Multo igitur infeliciores

    improbi sunt iniusta impunitate donati quam iusta ultione puniti." ImEinzelnen schliesst sich was im 11. Canto von der Nichtigkeit des Ruhmesgesagt wird an Consolatio, III, pros. 6 an, welche mit den Worten be-

    ginnt : Gloria autem quam fallax, saepe quam turpis est." Die baldnachher folgende Bezeichnung des Ruhmes als eines ,,popularis rumor u

    hat auf den Ausdruck der Hauptstelle bei Dante, derselben, welchePio IX. im Jahr 1857 bei seinem Besuche in Ravenna in das Gedenkbuchbei dem Grabe des Dichters eingeschrieben hat (V. 100 ff'.), offenbar eingewirkt

    Xon e il mondn romore altro ch'un riatoDi vento, ch'or vien quinci ed or vien quindi,

    E muta nome, perche muta lato.Die rhrend sinnige Antwort, welche im 13. Canto, im Kreise, in welchemdie Neidischen bssen, die Sanesin Sapia auf die Frage des Dichters gibt,

    66) Consolatio IV, pros. 6, lin. 24 ff.: Haec (divina mens) in suae simplicitatis

    arce composita multiplicem regendi modum statuit, qui modus cum in ipsa divinaeintelligentiae puritate conspicitur, Providentia nominatur; cum vero ad ea quae movetatque disponit refertur, fatum a veteribus appellatum est. . . Nam Providentia est ipsailla divina ratio in summo omnium principe constituta, quae cuncta disponit: fatumvero inhaerens rebus mobilibus dispositio, per quam Providentia suis quaeque nectitordinibus." Darnach Inferno, VII, 73 ff.:

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    47/54

    4L

    ob Niemand aus Italien unter ihnen sei, 7 ) erinnert an die Art, wie oetiusim 1. Gedichte des 4. Buchs (V. 25) den Himmel als das wahre Vaterlandder Seele bezeichnet. Wenn im folgenden Gesnge (V. 3154) Dantedie entarteten Toscaner, welche das Arnothal bewohnen, mit den von derCirce verwandelten Gefhrten des Ulysses vergleicht und sie als Schweine,Hunde, Wolfe und Fchse nher kennzeichnet, so hat ihm dabei das 3.Gedicht des 4. Buches der Consolatio vorgeschwebt, aus welchem er auchden einzelnen Zug von der Eichelmast der Schweine sich angeeignet hat.Im 16. Canto, 7578, und im 18., 6769, sowie im 5. des Para-cliso wird die Freiheit des Willens als der wesentlichste Vorzug der

    menschlichen Natur dargestellt, ganz wie es in der Consolatio, V, pros. 2geschieht. Im Paradiso nun, in welchem Dante das von der Materieund der Snde ungetrbte reine Wesen und Wirken der Gottheit nach

    Colui, lo cui saver tutto trascende,

    Fece li cieli e die lor chi conduce,Si ch'ogni parte ad ogni parte splende,

    Distribuendo egualmente la luce:Similimente agli splendori mondaniOrdin general ministra e duce,

    Che permutasse a tempo li ben vaniDi gente in gente, e d'uno in altro sangue,Oltre la difension de' senni umani.

    Ferner: Consolatio, II, pros. 1, lin. 26 ff.: Tu fortunam putas erga te esse mu-tatam: erras. Hi semper eius mores sunt, ista natura. Servavit circa te propriampotius in ipsa sui mobilitate constantiam;" und im darauf folgenden Gedicht, V. 7 ff:

    Non illa miseros audit, aut curat fletusUltroque gemitus, dura quos fecit, videt;Sic illa ludit, sie suas probat vires.

    Und Inferno, VII, 88 ff.:Le sue permutazion non hanno triegue:

    Necessit la fa esser veloce;

    Si spesso vien, chi vicenda consegue.

    Quest e colei, che tanto e posta in crocePur da color, che le dorrian dar lode,Dandole biasmo a torto e mala voce.

    Ma ella s'e beata e ci non ode.* 7

    ) V. 94 ff.:

    fratel mio, eiaseuna e cittadina

    D'una vera citt; ma tu vuoi dire,Che vivesse in Italia peregrina.

  • 8/6/2019 Baur. Boetius und Dante. 1873.

    48/54

    42

    seinen ewigen Gesetzen darzustellen hat, mehren sich der Natur der Sachenach die Beziehungen auf die Schrift, in welcher Boetius fr seine durch

    die Wechsel des Erdenlebens erschtterte Seele durch Versenken in jene-Tiefen der Gottheit (mens profunda, III. metr. 9, V. 16) Ruhe gesucht hat.Besonderer Nachweisungen bedarf es hier kaum: zumal die grundlegendenersten Gesnge ruhen durchaus auf den Anschauungen, welche die Con-solatio verkndigt, hauptschlich in ihrem 3. Buche, welches eigentlich dasPrincip jener Anschauungen darlegt und ihm in dem bereits hervorge-hobenen 9. Gedicht in der Form eines Gebetes an die Gottheit den prg-nantesten Ausdruck gibt: einige Verse dieses Gebetes hat Dante, wie

    Philale th es bemerkt, in den 2. Canto, 130138, fast wrtlich auf-genommen. Wie Boetius, so erkennt Dante in der wesentlichen LiebeGottes den Grund der Schpfung der Welt und der Harmonie ihrerSphren. 8 ) In drei Abstufungen ist durch den einen Schpfungsact die

    Welt in das Dasein gerufen, uni in verschiedenem Grade spiegelndarin die Geschpfe die Herrlichkeit des Schpfers ab. 60 ) Zwischen den

    reinen Geistern und den blossen Xaturwesen in der Mitte steht der Mensch rin welchem Geist und Natur sich vermhlt haben. 7 ) Missbraucht er daskostbarste Gut seiner Willensfreiheit, um sich in den Dienst des Vergng-lichen zu begeben, so fllt er von Gott ab und sinkt unter das Thier

    . Consolatio, III. metr. 9, V. 4-G; IV, metr. 6, V. 16 ff.; II. metr. 8. V. 1315.Hier heisst es:

    Hanc reruni seriem ligatTerras ac pelagus regens

    Et caelo imperitans amor.Damit vergleiche man. was Dante Parad. I, 73 von dem ..Amor, che '1 ciel go-

    verna" sagt.09