Bayerische Staatsbibliothek München: Zwischen Utopie und Wirklichkeit

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Die Vielsprachigkeit – an sich ein Zeichen für die Kreativität und perspektivenreiche Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen – wird immer dann als Hindernis empfunden, wenn in multilingualen Kontexten Verständigung realisiert werden muss. Die Bayerische Staatsbibliothek widmet historischen Entwürfen zur Lösung der Problematik des Multilingualismus eine Ausstellung und ein Symposium (14./15. 6.–9.9.2011) Die Themen der Beiträge: Konstruierte Sprachen im 17. Jahrhundert, Johann Martin Schleyer und Volapük, Geschichte des Esperanto, Einführung in die Interlinguistik, Plansprachen-Rezeption in der Sprachwissenschaft, die Plansprachensammlung und das Esperanto-Museum an der Österreichischen Nationalbibliothek. Eine Auswahlbibliographie zur Interlinguistik und Esperantologie sowie ein farbiger Bildteil ergänzen die Aufsätze.

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Allitera Verlag

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Dieses Buch erscheint anlässlich der Ausstellung »Zwischen Utopie und Wirklichkeit: Konstruierte Sprachen für die globalisierte Welt« vom 14. Juni bis 9. September 2012 und des gleichnamigen Symposiums am 15. Juni 2012 in der Bayerischen Staatsbibliothek.

Bayerische Staatsbibliothek. Ausstellungskataloge. 85

Ausstellung und Katalog: Andrea Pia Kölbl und Jennifer Bretz (Praktikantin) mit freundlicher Unterstützung durch Irmi und Reinhard HaupenthalGestaltung der Ausstellung: Frank Bebenroth

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Zwischen Utopie und Wirklichkeit

Konstruierte Sprachen für die globalisierte Welt

Begleitband zur Ausstellung an der Bayerischen Staatsbibliothek

(14. Juni bis 9. September 2012)

Allitera Verlag

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Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter www.allitera.de

Juni 2012Allitera VerlagEin Verlag der Buch&media GmbH, München© 2012 Bayerische Staatsbibliothek, München und Buch&media GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: Frank Bebenroth, München und Kay Fretwurst, FreienbrinkUmschlagmotiv: Steine des Letramix-Spiels der Schmidt Spiele GmbH, Berlin (mit freundlicher Genehmigung)Herstellung: Kessler Druck + Medien GmbH & Co. KG, BobingenPrinted in Germany · ISBN 978-3-86906-310-2

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Inhalt Rolf GriebelVorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Reinhard HaupenthalWas ist und zu welchem Zweck betreibt man Interlinguistik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Gerhard F. StrasserAnsätze zu internationaler Verständigung durch konstruierte Sprachen im 17 . Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

Reinhard HaupenthalJohann Martin Schleyer (1831–1912) und seine Plansprache Volapük . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

Ulrich LinsDie ersten hundert Jahre des Esperanto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

Heiner EichnerKonstruierte Intersprachen: Herausforderung und Chance für die Sprachwissenschaft? . . . 123

Herbert MayerDie Sammlung für Plansprachen der ÖNB: Geschichte und Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

Irmi und Reinhard HaupenthalAuswahlbibliographie zur Interlinguistik und Esperantologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Exponate der Ausstellung: eine exemplarische Auswahl . . . . 199

Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

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Rolf GriebelVorwort

Weltweit werden Tausende verschiedene sogenannte hereditäre Sprachen gesprochen. Die Schätzungen schwanken zwischen 3.000 und 10.000, je nachdem, wie »Sprache« definiert wird. Diese Viel-falt bezeugt den Ideenreichtum des Menschen, seine differenzierte Wahrnehmungsfähigkeit und Ausdruckskraft sowie einen beein-druckenden Gestaltungswillen. Im Reichtum an Sprachen manifes-tiert sich eine enorme Bandbreite an Weltanschauungen, Erfahrun-gen und Seinsmöglichkeiten.

Sprachen sind ihrerseits wirkmächtig; sie können ethnisches, natio-nales, kulturelles und soziales Bewusstsein stiften.

Vielsprachigkeit wird jedoch nicht selten als Kommunikationshin-dernis empfunden und birgt zudem – im wörtlichen Sinne – den Aspekt der Verständnislosigkeit in sich. Sie kann das Trennende zwi-schen Gruppen stärker ins Bewusstsein heben und damit die Gefahr von Feindseligkeit verstärken. Der biblische Mythos des »Turmbaus zu Babel« geht sogar so weit, den Multilingualismus als Strafe zu interpretieren, mit der Gott die Menschen erfolgreich daran hinder-te, ihm gleich zu werden (Gen 11, 1–9).

Im sozialen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Alltag – also jenseits aller metaphysischen Bestrebungen – resultiert aus der Vielsprachigkeit die Notwendigkeit, fremde Sprachen zu ler-nen oder sich durch Übersetzer bzw. Übersetzungen zu behelfen. Die Komplexität der Verständigung zwischen Angehörigen unterschiedli-cher Sprachen wird exemplarisch deutlich in supranationalen Organi-sationen wie der Europäischen Union. Der Aufwand zur Überwindung der Sprachbarrieren ist dabei finanziell beträchtlich: So werden in der EU jährlich ca. 300 Millionen Euro für Übersetzungen ausgegeben.

In der Geschichte Europas ermöglichten sogenannte Verkehrsspra-chen die Kommunikation zwischen Angehörigen verschiedener Sprachgemeinschaften: Die Funktion einer solchen »Lingua Franca« übernahm beispielsweise im christlichen Mittelalter in gebildeten

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Rolf Griebel

Kreisen und beim Klerus das Lateinische; als Sprache der Diplomatie fungierte später das Französische; seit Ende des Zweiten Weltkriegs dient faktisch das Englische als Verkehrssprache. Im Zuge der Globa-lisierung hat die Bedeutung des Englischen zugenommen, was sich nicht zuletzt an der modernen wissenschaftlichen Publikationskul-tur ablesen lässt. Entscheidet man sich für eine hereditäre Sprache als Verkehrssprache, ist damit jedoch meist ein Kompetenz-Gefälle zwischen denjenigen verbunden, die diese Sprache entweder als Muttersprache oder als Fremdsprache erlernt haben. Das Kompe-tenz-Gefälle impliziert Ungleichheit.

Angesichts der existierenden Sprachenvielfalt und der damit einher-gehenden Problematik scheint es erstaunlich, dass über die Jahrhun-derte hinweg immer auch neue Sprachen bewusst und planmäßig erfunden wurden. Paolo Albani und Berlinghiero Buonarroti nennen diese die »lingue immaginarie«. Sie unterscheiden dabei zwischen sakralen und profanen Sprachen. Bei den profanen differenzieren sie zwischen solchen, die der sozialen Kommunikation dienen, und anderen, die rein spielerischen oder expressiven Charakter haben.

Zur ersten Kategorie gehören die Plansprachen, wie sie in der heu-tigen Linguistik genannt werden, die »lingue ausiliarie internaziona-li« nach Albani und Buonarroti. Plansprachen werden nicht trotz der Sprachenvielfalt, sondern wegen ihr erfunden. Mit der Institutiona-lisierung einer einzigen, weltweit zu erlernenden Fremdsprache soll die internationale Kommunikation effizienter gestaltet werden.

Mit ihrer Ausstellung »Utopie oder Wirklichkeit: Konstruierte Spra-chen für die globalisierte Welt« und dem gleichnamigen Symposium möchte die Bayerische Staatsbibliothek das Augenmerk exempla-risch auf einige dieser Sprachen lenken.

Das Jahr 2012 bietet dafür konkret zwei Anlässe: Zum einen jährt sich der 100. Todestag des Prälaten Johann Martin

Schleyer (1831–1912). Schleyer hat die Plansprache Volapük erfunden, die in den 1880er-Jahren von Süddeutschland ausgehend weltweit Anhänger und Befürworter fand.

Zum anderen wird die Plansprache Esperanto 125 jahre alt: 1887 publizierte Lazar Markovi Zamenhof (1859–1917) in Warschau unter

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Vorwort

dem Pseudonym »Dr. Esperanto« die »Internationale Sprache« in einer russischen, einer deutschen, einer polnischen und einer fran-zösischen Ausgabe.

Beide Autoren lebten in einer Epoche, in der der technische Fort-schritt neue Transport- und Kommunikationsmittel erschloss und damit die internationale Mobilität intensivierte. Die weltweite Ein-führung einer Plansprache versprach vor diesem Hintergrund eine signifikante Vereinfachung der sprachlichen Verständigung. Im Kon-text der das ausgehende 19. Jahrhundert prägenden weltanschau-lichen und politischen Bewegungen erhofften sich beide Planspra-chen-Autoren, durch die Verbreitung einer Plansprache zudem den Weltfrieden zu fördern.

Während Volapük kein nachhaltiger Erfolg beschieden war, wird Esperanto heute noch gesprochen. Eine Institutionalisierung der Sprache – etwa durch die Einführung als Schulfach – erfolgte jedoch nicht.

Für die Konstruktion von Plansprachen lassen sich auch in früheren Epochen Beispiele finden. Im 17. Jahrhundert etwa können zwei Stra-tegien unterschieden werden: Zum einen wurden Codesysteme ent-wickelt, die – aufbauend auf dem Lateinischen – den schriftlichen Austausch ohne Kenntnis weiterer Sprachen ermöglichen sollten. Zum anderen bemühte man sich um eine umfassende, hierarchisch strukturierte, philosophisch begründete Erfassung des Wissens, um davon ausgehend eine rational begründete Sprache abzuleiten.

Auf diese Traditionen wird in der Ausstellung und im Begleitband ebenfalls eingegangen.

Die Bayerische Staatsbibliothek verfügt in Ergänzung eigener histo-rischer Sammlungen aufgrund zweier Schenkungen über einen viel-fältigen und umfassenden Bestand zum Thema »Plansprachen und Interlinguistik«.

Im November 2010 haben die Söhne von Hanns Martin Schleyer (1915–1977) der Bayerischen Staatsbibliothek den deutschsprachigen Teil der Bibliothek von Johann Martin Schleyer übereignet. Diese wertvolle Sammlung umfasst über 500 Titel sowie die 23 Tagebü-cher Johann Martin Schleyers.

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Rolf Griebel

Bereits vier Jahr zuvor überließen Irmi und Reinhard Haupenthal ihre einzigartige Plansprachen-Sammlung der Bayerischen Staats-bibliothek. Diese Sammlung besteht aus mehr als 10.000 bibliogra-phischen Einheiten. Darunter finden sich Bücher, Zeitschriften, Kor-respondenzen, Objekte, Plakate und Photos. Vermittelt wurde diese Schenkung durch den langjährigen Direktor der Universitätsbiblio-thek Eichstätt, Dr. Hermann Holzbauer. Er setzte sich seit 2002 dafür ein, dass diese wertvolle Spezialsammlung in einer bayerischen Bib-liothek für die Nachwelt erhalten bleibt.

Mein aufrichtiger Dank gilt deswegen in erster Linie den Donato-ren für ihre großzügigen Schenkungen sowie Herrn Dr. Holzbauer für seine erfolgreiche Vermittlungstätigkeit.

Herzlich danken möchte ich an dieser Stelle auch der Kuratorin der Ausstellung, Frau Dr. Andrea Pia Kölbl, die unter hohem Einsatz auch die Konzeption sowie die Redaktion des hier vorliegenden Begleit-bands zu dem Symposium »Utopie oder Wirklichkeit: Konstruierte Sprachen für die globalisierte Welt« übernahm.

Irmi und Reinhard Haupenthal haben das gesamte Ausstellungs-projekt, insbesondere aber die Ausrichtung des Symposiums, von Beginn an fachkundig begleitet; dafür danke ich ihnen ganz herzlich.

Die Probleme und Fragen, die die Gelehrten im 17. Jahrhundert zu Sprachschöpfern werden ließen und die Johann Martin Schleyer und Lazar Markovi Zamenhof um die Jahrhundertwende zur Konstruk-tion von Plansprachen veranlassten, sind in zeitgenössischer Ausprä-gung wieder hochaktuell. Die nunmehr in großer Breite und Tiefe an der Bayerischen Staatsbibliothek verfügbaren Materialien können diese Diskussion beleben und zu weiterführenden wissenschaftli-chen Forschungen einladen.

Wenn auch die Veranstaltungen dazu Impulse geben, wird die Bay-erische Staatsbibliothek ihrem Auftrag in bester Weise gerecht.

Dr. Rolf Griebel

Generaldirektor der Bayerischen Staatsbibliothek

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Reinhard HaupenthalWas ist und zu welchem Zweck betreibt man Interlinguistik?

Mitten in den Wirren des 2. Weltkrieges hat der nachmals internatio-nal bekannt gewordene dänische Pflanzenpathologe Paul Neergaard (1909–1987)1 einen Forschungsbericht unter dem Titel »Die Esperan-tologie und ihre Disziplinen. Aufgaben und Ergebnisse« vorgelegt.2 Eine der von ihm als »vergleichende Esperantologie« bezeichnete Disziplin würden wir heute (und auch schon damals) eher als »Inter-linguistik« bezeichnen.

Wenn 70 Jahre nach Neergaards frühem Fazit die Bayerische Staats-bibliothek sich mit einer Ausstellung und einem Symposium diesen jungen Wissenschaftszweigen zuwendet, darf wohl behauptet wer-den, dass beide Disziplinen akademisch salonfähig geworden sind und das Odium des Amateurhaften und Dilettantischen abgelegt haben.

Es soll zunächst auf die Begrifflichkeit und den Gegenstand von Interlinguistik und Esperantologie eingegangen werden, dann auf den aktuellen Forschungs- und Dokumentationsstand, um schließ-lich einige wissenschaftliche Desiderate aufzuzeigen.

1 Zur Person Neergaards vgl. Seed Pathology News. Copenhagen 1988, Nr. 19. (Mit Fotos und Nachrufen.)

2 Paul Neergaard: La esperantologio kaj ties disciplinoj. Taskoj kaj rezultoj. In: Tra densa mallumo. Esperanto-eseoj pri movado kaj lingvo. Kopenhago 1942. S. 37–64. Auch als Sonderdr. Kopenhago 1942. [Nachdr.] Saarbrücken 1979. (Mit Ergänzungen von Reinhard Haupenthal.)

»Eine Weltsprache liegt durchaus in der Richtung unserer praktischen Bedürf-nisse; sie erscheint als die Ergänzung, als die Krönung unserer internazionalen Einrichtungen. Aber eine Weltsprache ist auch – weit entfernt den Spott der Gelehrten zu verdienen – ein wissenschaftliches Desi-derat.«(Hugo Schuchardt, Auf Anlass des Volapüks, 1888.)

Paul Neergard. Sammlung für Plansprachen. ÖNB.

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Reinhard Haupenthal

1. Zur Begrifflichkeit

Der Begründer der Terminologielehre, der österreichische Indus-trielle Eugen Wüster (1898–1977)3, ist 1955 in einem Aufsatz den Begriffen »Esperantologie« und »Interlinguistik«4 nachgegangen. Er schloss sich dabei der klassisch gewordenen Definition des däni-schen Sprachwissenschaftlers Otto Jespersen (1860–1943) an, der 1931 feststellte:

»Eine neue Wissenschaft kommt auf: die Interlinguistik, der Zweig der Sprachwissenschaft, der sich mit der Struktur und den Grundide-en aller Sprachen beschäftigt mit dem Ziel, eine Norm für Planspra-chen aufzustellen, d. h. für Hilfssprachen, die zum schriftlichen und mündlichen Gebrauch für Menschen bestimmt sind, die sich nicht mit Hilfe ihrer Muttersprachen verständigen können.«5

Wüster hat bereits in seiner Dissertation von 19316 Begriffe wie (Welt)Hilfssprache, Kunstsprache usw. durch den von ihm geschaffe-nen Terminus »Plansprache« (engl. planned language, franz. langue planifiée) abgelöst. Leider geistern archaische Bezeichnungen noch

3 Zu Wüster vgl. Ehrung für Eugen Wüster zu seinem 60. Geburtstag am 3. Oktober 1958. In: Sprachforum 3. 1959/60, S. 81–95. Helmut Felber, Friedrich Lang, Gernot Wersig (Hrsg.): Terminologie als angewandte Sprach-wissenschaft. Gedenkschrift für Eugen Wüster. München u. a. 1979. Erhard Oeser, Christian Galinski (Hrsg.): Eugen Wüster (1898–1977). Leben und Werk. Ein österreichischer Pionier der Informationsgesellschaft. Vienna 1988. (Proceedings of the International Conference in Professional Communication and Knowledge Transfer. 1.)

4 Eugen Wüster: La terminoj »esperantologio« kaj »interlingvistiko«. In: Esperantologio 1. 1949/55: 4. S. 209–214. Wieder abgedr. in: Eugen Wüster: Esperantologiaj Studoj. Memor-Kolekto. Ed. de Reinhard Haupenthal. Antverpeno, La Laguna 1978. S. 209–215. (Popularscienca eldonserio. 5.) Dt. Übers. (Die Benennungen »Esperantologie« und »Interlinguistik«) in Reinhard Haupenthal (Hrsg.): Plansprachen. Beiträge zur Interlinguistik. Darmstadt 1976. S. 271–277. (Wege der Forschung. 325.)

5 Otto Jespersen: A New Science: Interlinguistics. In: Psyche. London 11. 1930/31: 3. S. 54–67; auch in: Herbert Shenton, Edward Sapir, Otto Jespersen: International Communication. A Symposium of the Language Problem. London 1931. S. 95–120. Dt. Übers. von Irmtraud und Reinhard Haupenthal in Haupenthal (wie Anm. 4), S. 148–162.

6 Eugen Wüster: Internationale Sprachnormung in der Technik besonders in der Elektrotechnik. (Die nationale Sprachnormung und ihre Verallgemeinerung.) Berlin 1931. 3., abermals erg. Aufl. Bonn 1970. (Sprachforum. Beiheft Nr. 2.)

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Was ist Interlinguistik?

immer in heutigen Publikationen herum und werden auch noch zur Beschlagwortung von Fachliteratur verwendet.Auch der Begriff »Esperantologie« wurde 1921 von Wüster in einem Aufsatz geprägt.7 Er verstand darunter jenen Zweig der gestaltenden (= synthetischen) Sprachwissenschaft, der auf das System Esperanto angewandt wird, d. h. die Sprachwissenschaft des Esperanto, wobei Wüster sich 1955 ausdrücklich auf Neergaard bezieht.

Diese Festlegung auf die »Sprachwissenschaft des Esperanto« greift allerdings zu kurz, da man das Phänomen Esperanto nicht auf den linguistischen Aspekt reduzieren kann. Als praktizierte Sprache einer internationalen Sprechergemeinschaft weist es darüber hinaus wei-tere relevante Aspekte auf: soziale, historische, literarische, pädago-gische (Didaktik und Methodik des Sprachunterrichts).

Hatte Wüster noch 1955 bemerkt, er wisse nicht, wer den Terminus »Interlinguistik« eingeführt habe, so korrigiert er dies beim Wieder-abdruck seines Beitrages in meinem 1976 von der Wissenschaftli-chen Buchgesellschaft vorgelegten Plansprachen-Band8, indem er auf Jules Meysmans verweist. Bei meinen Recherchen zur Geschichte des Begriffes war ich auf Jules Meysmans gestoßen – offensichtlich ein belgischer Stenographielehrer, der 1911/12 in Brüssel eine kleine Zeitschrift »Lingua Internationale«9 herausgab und dort den Begriff verwendete. Er schreibt:

»Wir möchten wissen, ob es nicht möglich wäre, eine neue Wissen-schaft zu schaffen, die sich z. B. Interlinguistik nennen würde und die die natürlichen Gesetze der Bildung gemeinsamer Hilfssprachen stu-dieren würde.«10

7 Eugen Wüster: Esperantologio kaj Esperantologoj. In: Esperanto Triumfonta 2. 1921: 41. S. 1–2; 42. S. 1–2. Wieder abgedr. in Wüster 1978 (wie Anm. 4.), S. 17–25.

8 Vgl. Haupenthal 1976 (wie Anm. 4).9 Lingua Internationale. Revue mensuelle consacrée à l’élaboration de la langue

auxiliaire internationale. 1. 1911/12: 1–12.10 Jules Meysmans: Une science nouvelle. In: Lingua Internationale 1. 1911/12:

8. S. 14–16. Dt. Übers. (Eine neue Wissenschaft) von Reinhard Haupenthal, in Haupenthal 1976 (wie Anm. 4), S. 111–112, hier S. 111.

Eugen Wüster.Plansprachensammlung Haupenthal.

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Reinhard Haupenthal

Dabei schließt Meysmans auch Ethnosprachen ein, »die von ver-schiedenen Völkern mit verschiedenen Sprachen angenommen werden«.11

Man sieht, dass Meysmans 1911 den Begriff weiter fasst als 20 Jah-re später Jespersen, für den Interlinguistik Plansprachenwissen-schaft (kreativ und deskriptiv) ist. Wenn also spätere Autoren den Begriff wieder inhaltlich erweitern, so ist dies letztlich ein Rückfall hinter die Position Jespersens. So schreibt z. B. der Wiener Romanist Mario Wandruszka (1911–2004) 1971: »Linguistik der Mehrsprachig-keit, der Sprachmischungen und Mischsprachen, der Übersetzung und des Übersetzungsvergleichs, des ›Gesprächs zwischen den Sprachen in uns‹, die neue vergleichende Sprachwissenschaft, die noch ihren Namen sucht, das alles kann man zusammenfassen als I n t e r l i n g u i s t i k.«12

Wandruszka ist sich allerdings bewusst, dass er neuen Wein in alte Schläuche füllen will. Er hebt auf ein Referat des Schweizer Indoger-manisten Albert Debrunner (1884–1958) ab, das dieser 1948 beim 6. Internationalen Linguistenkongress in Paris gehalten hatte, in dem er eindeutige Festlegungen vornimmt: »Da nun die Erforscher der Lingua ›Linguisten‹ heißen und ihre Wissenschaft ›Linguistik‹, so sind zu Interlingua [Abkürzung für Internationale Hilfssprache, R. H.] die Bezeichnung ›Interlinguist‹ und ›Interlinguistik‹ gebildet wor-den.13

2. Der Gegenstand von Interlinguistik und Esperantologie

1931 konnte Jespersen als eines der ausgemachten Ziele der Inter-linguistik noch die Schaffung einer idealen Plansprache im Visier haben, ihr also kreative Aufgaben zuordnen, während die Esperanto-logie eine feststellende bzw. deskriptive Wissenschaft sei.

11 Ebd. S. 111.12 Mario Wandruszka: Interlinguistik: Umrisse einer neuen Sprachwissenschaft.

München 1971. S. 10.13 Ebda S. 10, Anm. 2.

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Was ist Interlinguistik?

Noch bei Umberto Eco (»La ricerca della lingua perfetta nella cultura Europea«, 1983)14 schwingt dies nach. Tatsächlich lehrt die Geschich-te der Plansprachen, dass alle mit dem Anspruch auftraten, die beste Lösung zu bieten und die Vorgänger zu übertrumpfen. Einzig und allein dem Prälaten Schleyer wird man attestieren können, dass er autonom war. Sein Volapük hat eine Fülle von Ablegern hervorge-rufen. Dazu zählen z. B. die Projekte von Émile Dormoy (1829–1891) (Balta, 1887), Juraj Bauer (Spelin, 1888), Julius Fieweger (Dil, 1893), Wil-helm von Arnim (Veltparl, 1896) und Joseph Marchand (Dilpok, 1898). Selbst Zamenhof, der Autor des Esperanto, konnte für sein Projekt von 1887 aus Fehlern Schleyers lernen.15 Das Esperanto seinerseits war Anlass zu Reformen, die sogar von Zamenhof betrieben wur-den.16 Die bekannteste ist die des französischen Mathematikers und Leibniz-Forschers Louis Couturat (1868–1914)17, der 1907 mit seinem Ido (= Esperanto reformita) an die Öffentlichkeit trat. Auch spätere Projekte wie das Occidental (später in Interlingue umbenannt) des Deutschbalten Edgar von Wahl (1867–1948) oder in der frühen Nach-kriegszeit (1951) das Interlingua des Deutschamerikaners Alexander Gode (1906–1970) liegen in diesem Trend, Besseres zu produzieren. Konsequenterweise hat auch Jespersen 1928 ein eigenes Planspra-chenprojekt Novial vorgelegt.18

14 Umberto Eco: La ricerca della lingua perfetta nella cultura Europea. Roma, Bari 1993. Dt. Übers. von Burkhart Kroetzer: Die Suche nach der vollkommenen Sprache. München 1994.

15 Vgl. hierzu Reinhard Haupenthal: Über die Startbedingungen zweier Plansprachen. Schleyers Volapük (1879/80) und Zamenhofs Esperanto (1887). Schliengen 2005.

16 Vgl. hierzu: Otto Back: Bemerkungen zu Zamenhofs reformiertem Esperanto von 1894. In: Cyril Brosch, Sabine Fiedler (Hrsg.): Florilegium Interlinguisticum. Festschrift für Detlev Blanke zum 70. Geburtstag. Frankfurt a. M. u. a. 2011. S. 263–269.

17 Zu Couturat vgl.: Louis Couturat 1868–1914. Coulommiers [1915]. Louis de Beaufront: Doktoro Louis Couturat. 1868–1914. Frankfurt a. Main [1923]. Claro C. Dassen: Vida y obra de Louis Couturat. In: Anales de la Academia Nacional. Buenos Aires 4. 1939. S. 73–204. L’Œuvre de Louis Couturat (1868–1914) … de Leibniz à Russell … Paris 1983. Ubaldo Sanzo: L’artificio della lingua. Louis Couturat 1868–1914. Mi lano 1991. (Collana di epistemologia. 28.)

18 Otto Jespersen: An International Language. London 1928. Dt. Übers. von Siegfried Auerbach: Eine internationale Sprache. Heidelberg 1928. Ders.: Novial lexike. Heidelberg 1930.

Otto Jespersen.Bayerische Staatsbibliothek München.