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Uwe Timm, Autor großer Romane, Novellen undErzählungen, hat sein literarisches Schaffen immerauch essayistisch begleitet. Das Spektrum ist dabeivielfältig, der Ausgangspunkt aber immer das eigeneLeben und Interesse. Dieser Band versammelt Texteaus den letzten Jahren; es geht um Montaignes Ar-beitszimmer in einem Turm, um Begegnungen mitWolfgang Koeppen, um die Frage nationaler Iden-tität am Beispiel von Kafkas ›Amerika‹, um das Kee-telklopperplatt, um das Verhältnis von Kunst undHandwerk am Beispiel Bölls, um die Frage, ob dasSchreiben lernbar sei, und um Thomas Mann, vorallem um eine erneute Lektüre von ›Der Zauberberg‹.Der jüngste Text berichtet von einem Flüchtlingslagerim Tschad, von unfasslichen Schicksalen und demVersagen der Politik. Brillante Texte, ganz nah anihren Gegenständen und dabei sehr persönlich.

Uwe Timm wurde 1940 in Hamburg geboren. Er stu-dierte Philosophie und Germanistik in Münchenund Paris. Seit 1971 lebt er als freier Schriftsteller inMünchen. Für sein umfangreiches Werk wurde ervielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Heinrich-Böll-Preis, der Carl-Zuckmayer-Medaille, dem PremioNapoli, dem Premio Mondello und dem KulturellenEhrenpreis der Stadt München. Zuletzt erschienen›Halbschatten‹, ›Von Anfang und Ende‹, ›Freitisch‹,›Vogelweide‹. Zu Leben und Werk gibt der von Mar-tin Hielscher verfasste Band ›Uwe Timm‹ Auskunft.

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Uwe Timm

Montaignes Turm

Essays

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Ausführliche Informationen überunsere Autoren und Bücher

www.dtv.de

2017 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München© 2015, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

Umschlaggestaltung: dtv unter Verwendung des Bildes›Scent of Madness‹ (1986) von Cy Twombly (Gagosian Gallery)

Gesamtherstellung: Druckerei C.H.Beck, Nördlingen(Satz nach einer Vorlage des Verlag Kiepenheuer & Witsch)

Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in Germany · ISBN 978-3-423-14544-2

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Die Stummheit der Tierehat als Spur in uns überdauert.

– George Steiner –

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Montaignes Turm

Die Vorstellung von der Bibliothek als einem Speicher istnicht nur mir, dem Hamburger, vertraut, Säcke undKisten werden ja auch in Regalen verwahrt. Aller-dings gibt es einen entscheidenden Unterschied. Ta-bak, Stoffe und Teppiche ruhen sich im Speicher einwenig aus von der rastlosen Warenzirkulation. Bücherhingegen bleiben in der Bibliothek und verlieren hierihren Warencharakter. Sie sollen der Öffentlichkeitund der Forschung zugänglich sein. Lediglich der Bib-liotheksgroschen erinnert von fern noch an die WareBuch. Auch der entfällt in einer privaten Bibliothek,die ein Gedächtnis- und Wissensspeicher individuel-ler Interessen und Neigungen ist. Eine der ersten pri-vaten Bibliotheken gehörte einem Mann, der intensivund vielfältig über Individualität nachgedacht und ge-schrieben hat, Michel de Montaigne.

Im dritten Buch der Essais hat er seine Bibliothekrecht genau beschrieben: Meine Bücherei liegt im drittenStockwerk eines Turms. Der erste Stock ist meine Kapelle;eine Treppe hoch ein Schlafgemach mit seinem Nebenraum, woich mich niederlege, um allein zu sein. Darüber lag eine großedazugehörige Kleiderkammer. Sie war in vorigen Zeiten der un-

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genützteste Raum meines Hauses. Hier bringe ich die meistenTage meines Lebens und die meisten Stunden des Tages zu.(…) Das Zimmer ist rund, außer einem geraden Stück Wand,gerade lang genug für meinen Tisch und meinen Stuhl, und bie-tet mir, wenn ich mich umdrehe, mit einem Blick alle meine Bü-cher dar, die rundum in fünf Reihen übereinander aufgestelltsind. Es hat drei Fenster mit schöner und freier Aussicht undmisst sechzehn Schritt im Durchmesser. Im Winter halte ichmich nicht so dauernd darin auf: Denn mein Haus liegt, wiesein Name sagt, auf einem Hügel, und es ist darin kein windi-gerer Raum als dieses Turmzimmer; doch gefällt es mir, dass esein wenig beschwerlich und abgelegen ist, sowohl der Zuträglich-keit des Erkletterns wegen wie, um mir die Menge der Besuchervom Leibe zu halten. Hier ist meine Stätte.

Als ich diese Bibliothek betrat, in der heute seineBücher fehlen, war der erste Eindruck: Abgrenzung,Geborgenheit, ja der Raum hatte etwas Höhlenhaftes,was sich erst mit dem Blick aus einem der drei nichtbesonders großen Fenster in die Ferne änderte. DerRaum schien das zu verbinden, was die beiden ideal-typischen Formen einer entschiedenen Abgrenzungzur Welt sind: Turm und Höhle. Wer welche Formbevorzugt, hängt wohl von fernen kindlichen Erfah-rungen und Wünschen ab. Ein guter Freund, Mathe-matiker, sitzt in seinem wunderbaren Haus unten imKeller in einem kleinen Raum und geht seiner Arbeitnach. Er könnte durchaus in der Dachetage mit Blicküber Gärten und andere Wohnhäuser seinen Schreib-

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tisch aufbauen. Unbeirrt verbringt er seine Tage indiesem dunklen Raum mit der Aussicht auf die Gras-soden vor dem Kellerfenster. Mein Kinderwunsch wa-ren Baumhütten, waren Türme, und ein schöner Zu-fall brachte es mit sich, dass ich meinen Arbeitsraumin einem Turmzimmer gefunden habe, fast rechteckig,das sich nach zwei Seiten mit jeweils zwei Fensternöffnet und nach Westen den Blick über den Engli-schen Garten erlaubt. Spärlich möbliert, ein Schreib-tisch, ein Stuhl, ein Lesesessel und im Rücken eineausgewählte Bibliothek: Nachschlagewerke, darunterdas Wörterbuch der Brüder Grimm, Bücher, die mitder augenblicklichen Arbeit zusammenhängen, undeinige Werke, recht unterschiedliche, in die ich im-mer wieder hineinblättere, Goethe, Kleist, Hölderlin,Ovid, Homer, Gottfried Benn, Plato und die Bibel.Ein Raum, der beides erlaubt, die Abgeschlossenheitund die Konzentration, und dennoch die Möglichkeitbietet, in die Welt hinauszuschauen. Hin und wiederlasse ich mich stören, blicke hinunter, weil Rufe undStimmen laut werden. Es ist eine ruhige, wenig befah-rene Straße. Ich stehe am Fenster und denke, seit ichden Turm von Montaigne gesehen habe, dass er ver-mutlich ebenfalls aus einem seiner drei Turmfensterhinausblickte, um nach den Schweinen, Pferden oderGänsen zu sehen, die vorbeigetrieben wurden.

Ich beteure, dass ich mich nicht mit Montaigne ver-gleichen will, es gibt lediglich eine strukturelle Ähn-

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lichkeit seines Arbeitszimmers mit dem meinen. DieHöhle, das Gehäuse ist ja eher Fluchtort, ein Verber-gen, eine defensive Zurückgezogenheit, begleitet voneiner fernen atavistischen Furcht, der Feind könnteunbemerkt eindringen. Anders die Höhe, auf Bäumesteigen kann zumindest der Säbelzahntiger nicht, wäresogar von oben zu bekämpfen, wohl auch zu erlegen.Der Turm hat eine kriegerische Herkunft, ist nicht nurRückzugsort, sondern auch für den Ausfall geeignet.Er wurde an die Stellen in der Wehrmauer gesetzt, diean gefährdeten Knicks oder Kanten der Fortifikationlagen, oder auch dort, wo Ein- und Ausgänge zusätz-lich geschützt werden mussten. Und als Bergfried ister Ausblicks- und letzter Rückzugsort.

Montaigne hat in der Zeit der Religionskriege dieAnlage seines Schlosses vorsätzlich nicht verstärkenlassen. Er wollte nicht die unterschiedlichen durch dasLand streifenden Parteien des Bürgerkriegs zum An-griff reizen. Es hätte dem Feind keinen Ruhm, keineEhre gebracht, einen derart of fe nen Besitz – Montaignebeschreibt ihn ironisch als meinen Miststock – anzugrei-fen und zu erobern.

Seine Bibliothek im Turm ist, das war beim Betre-ten mein erster Eindruck, eine Verbindung von bei-dem: von Höhle und wehrhaftem Ausblick. Es istdiese massiv runde Abgrenzung vom Außen, die Ruheund Sicherheit verspricht. Hier ist eine geschützteEinkehr möglich. Einkehr in sich. Und zu dieser Ein-

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kehr, die bei Montaigne ja nicht nur meditativ ist, ge-hört gleichermaßen der Blick nach außen. Zunächstrichtet er sich auf die Hofhaltung, auf dieses feudale,an ein kleines Königtum erinnernde Schloss mit sei-nen Stallungen, Scheunen, Wiesen und Weinbergen.Der Blick des Türmers geht jedoch noch weiter, rich-tet sich auf die Gegenwart mit ihren Kriegsgräueln.1572 beginnt Montaigne, es ist das Jahr der Bartho-lomäusnacht, mit der Niederschrift des ersten Buchesder Essais. Der Türmer blickt in die Vergangenheit,in die für ihn vorbildliche griechisch-römische Klas-sik und in die imaginäre Welt der Literatur. Hier, imTurm, wird gedacht, gelesen, geschrieben. Die Einsam-keit des Orts lässt mich vielmehr, um die Wahrheit zu sagen,mich zerstreuen und in die Ferne schweifen …

Auch das fiel mir beim Betreten des Turmes auf, dieDecke ist nicht hoch, mit der Hand zu berühren, aberdie Fläche des Raumes ist recht groß, was für den be-wegungshungrigen Montaigne wichtig war: Meine Ge-danken schlafen ein, wenn ich sitze. Mein Geist geht nicht vo-ran, wenn ich nicht meine Beine in Bewegung setze.

Gibt es eine Homologie zwischen diesem rundenTurmraum und Montaignes Texten? Die Essais sindnicht systematisch auf eine Erkenntnisfindung aus-gerichtet, sondern assoziativ, kreisend, fallen sich oftwidersprechend ins Wort, ein gedankliches Schwei-fen durch die Buntheit der Welt, auch durch die derLektüre, eine suchende registrierende Bewegung, die

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letztlich immer wieder zurückführt in den Turm, woall die Überlegungen und Gedanken dann zu sichkommen. Der fragende, sich selbst befragende Tür-mer Montaigne. Wie beispielsweise in dem Essai Vonder Freundschaft, in dem er, wie immer vom Hölzchenaufs Stöckchen kommend, über den freien Willennachdenkt und ihn mit der Partnerwahl verbindet, mitGüter- und Erbschaftsteilungen unter Brüdern – hierwäre der Blick Montaignes aus einem der drei Fensterdenkbar –, wo er die beständige Freundschaft in Ge-gensatz zur Neigung zu Frauen setzt und das durchein Zitat Catulls belegt: neque enim est dea nescianostri / Que dulcem curis miscet amaritiem. (Dennauch uns nicht unbekannt ist die Göttin, die süßeBitterkeit in ihren Kummer mischt.) Wir dürfen unsMontaigne in Catulls Carmina blätternd vorstellen,und er schreibt über Mode, Konvention, Esskultur,Religion, Hass, Eifersucht und Beischlafvorlieben zuBett lieber die Schönheit als die Güte; zum geselligen Gesprächlieber die Schlagfertigkeit, sogar ohne Biedersinn. Montaignehat die ihn gedanklich leitenden lateinischen und grie-chischen Zitate in die Deckenbalken seiner Bibliothekeinbrennen lassen. So werden sie sichtbar als Verstre-bung seines durch Zweifel bestimmten Denkens. Ge-gen jeden Grund richtet sich ein gleichwertiger Grund. Ein Satzvon Sextus Empiricus, von dem allein zehn der sie-benundfünfzig Zitate stammen.

Etwa 1000 Bücher lagen, denn sie waren wie da-

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mals üblich aufeinandergestapelt, in fünf um dieWände laufenden Regalen. Die meisten hatte er vonseinem früh verstorbenen Freund La Boëtie geerbt.Ein Vermächtnis, das seinen Blick nicht nur auf einegeistige Welt, sondern auch auf den Tod lenkt, jeneunüberblickbare Mauer. Um das Sterben und den Todals Auslöschung der Individualität kreist das Denkenvon Montaigne. Warum und wie sterben wir? Und wasist der Tod? Das sind die ihn bewegenden Fragen, siesind der Grund für alle anderen Fragen. In diesemabgründigen Blick liegt etwas heroisch Vergebliches.Der Turm kann den Tod nicht abwehren und nichteinmal die Zeit. Ich fühle den Tod mir beständig an der Kehleoder im Nacken sitzen. Doch ich bin anders geschaffen: Er istmir überall ein Ding. Wenn ich indessen zu wählen hätte, soglaube ich, ich stürbe lieber zu Pferd als in meinem Bett, au-ßer meinem Haus und fern von den Meinen. Es ist mehr Her-zeleid als Trost im Abschiednehmen von seinen Freunden. Eswar dieses Herzeleid, das ihn beim Tod seines Freun-des La Boëtie überwältigte. Was über dessen Tod undauch über die Lebenszeit des Bibliothekbesitzers undSchreibers Montaigne hinausreichen wird, sind dieBücher. Sie stammen von Toten und aus ihnen spre-chen Tote. Wer sie in der Bibliothek des Turms er-griffen hat, der erfüllte sie lesend mit Leben, zugleichaber raubten sie dem Lesenden etwas von seiner Le-benszeit. Und so trieben die Bücher nicht nur in die-sem Turm ihr vampirhaftes Wesen, sondern tun es in

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jeder Bibliothek, so modern verglast und lichtdurch-flutet sie auch sein mag.

Allerdings verlieren der Turm und das Gehäuse inunserer Zeit an Bedeutung und mit ihnen auch diedort auf den Leser wartenden Bücher: In Zukunft,auf elektronische Dateien geschrumpft, wird man siezu Tausenden mit sich herumtragen können, buch-stäblich in der Tasche, zum beliebigen Zugriff auf al-les und jedes. Das hat seinen Preis: den Verlust jenersinnlich sinnhaften Spuren, die dem Papier und demBuch anhaften, und auch den Verlust der Aura der siebewahrenden Räume. Wer weiß, vielleicht werden dieBibliotheken in nicht zu ferner Zukunft zu musealenOrten – wie heute schon der Turm Montaignes.

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Ein Lichtspalt unter der Tür

Das Buch ist in rotes Leinen gebunden, trägt die inzwischenfast verschwundene Goldprägung Grimms Märchenund zeigt zwei Riesen, die über Tannen hinweg aufeinen kleinen lesenden Wanderer herabblicken. DieWidmung lautet: Meinem lieben kleinen Uwe. Weihnachten1944. Ein Geschenk des Vaters, das mich durch meineKindheit begleitet hat, vorgelesen von meiner Mut-ter, so wie es der Namensvetter der Brüder Grimm,Albert Ludwig Grimm, ebenfalls ein Märchenfor-scher, verlangte: Besonders seyen diese Blätter geweyeht, IhrMütter! Besonders dir, glückliche Mutter acht blühender Kin-der, die du in mütterlicher Brust noch rein bewahrest ein Herzaus den Tagen der goldenen Kindheit.

Und es sei hier gleich gesagt, sie lassen sich auchheute noch, und nicht nur von Müttern, gut vorle-sen, in ihrer ruhigen Parataxe, in dem Wechsel vonBeschreibung und wörtlicher Rede, den sinnfälligenWortwiederholungen, von Lautmalerei und Sprach-spielen und der Sprachmagie so eingängiger Reimewie: Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold undSilber über mich.

Die von Wilhelm Grimm geformte Sprache ist –

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weil so wortreich – flexibel, kunstvoll und bleibt dochdem mündlichen Erzählton nahe. Wobei wir wissen,dass dieser nicht dem Volke direkt vom Maul abge-schaut wurde. Die Zuträger der Märchen kamen ausdem Bürgertum, einige entstammten französischenEmigrantenfamilien. Aber Jacob und insbesondereWilhelm Grimm haben durch die Auswahl und dasAufschreiben des mündlich Erzählten diesen beson-deren Ton geprägt, der auch für den Vorleser, wasjede Generation wieder an sich selbst feststellen kann,durchaus lustvoll ist.

Die Lektüresituation heute ist, das darf ich als Vor-leser, der einmal Zuhörer war, sagen, eine ganz andereals 1945. Was damals mir, dem Kind, erzählt wurde,verharrte nicht in gleichnishafter Ferne, in sichererDistanz zur Wirklichkeit, wie dieses Es war einmal, wasdas Märchenhafte ausmacht, sondern es war nahe, fasteine Beschreibung der Wirklichkeit.

Zu den ersten Eindrücken des Kindes gehörte, wiees in nasse Tücher gehüllt im Kinderwagen durch dieStraßen Hamburgs geschoben wurde, deren Häuserbrannten, in der Luft kleine Flammen, die, das wurdedem Kind später erklärt, die brennenden Fetzen deraus den Fenstern herausgerissenen Gardinen waren.Links und rechts standen Bäume und loderten wie rie-sige Fackeln. In Decken gehüllte Wesen mit schwar-zen Rüsseln und übergroßen Augen hasteten vorbei.

Das Haus war abgebrannt, Mutter und Kind wur-

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den nach Coburg, einer kleinen thüringischen Resi-denzstadt, evakuiert. Ein abrupter Wechsel von derin drei aufeinanderfolgenden Tagen zerstörten Groß-stadt in eine intakte, mittelalterlich geprägte Klein-stadt. Eine Stadt, in der sich Lebensformen erhal-ten hatten, wie sie heute kaum mehr vorstellbarsind. Noch gab es, die meisten Autos waren von derWehrmacht requiriert, Reiter, Kutschen, Pferdewa-gen in den Straßen. Der Herzog, 1918 zur Abdan-kung gezwungen, wohnte mit Prinzen und Prinzes-sinnen im Schloss Callenberg. Er war, das muss hiererwähnt werden, ein bekennender Nationalsozialistund Inhaber hoher Ämter im Dritten Reich. Einigeder Geschäfte, Bäckereien, Schlachtereien, Buch-handlungen, Juweliere, trugen noch das herzoglicheWappen mit dem Hinweis, Hoflieferant gewesen zusein. In der Stadt mit ihren Fachwerkhäusern arbei-teten die Fassmacher, Tischler, Schmiede, Schuhma-cher, Schneider. Man konnte ihnen, wie heute nochim Orient, bei der Arbeit zuschauen. Der Onkel, deruns aufgenommen hatte, wohnte in einem aus dem16. Jahrhundert stammenden Fachwerkhaus, in des-sen kleinem Hof eine Werkstatt lag. In dem RomanDer Mann auf dem Hochrad ist dieser Ort beschrieben:Wir kamen in das verwinkelte Haus von Onkel Schröter, indem ich mich anfangs immer wieder verlief und nur durch meinkräftiges Schreien wiedergefunden wurde. Später, nach einigenWochen Eingewöhnung, bot es Verstecke, die den Erwach-

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senen unzugänglich waren, wie jene Nische unter der Holz-treppe, die ich nur kriechend durch einen engen, muffig rie-chenden Gang erreichen konnte. Dort saß ich und hörte dasdumme Treppauf-treppab-Tappen der rufenden und suchendenErwachsenen.

Das Haus war über die Jahrhunderte durch die beständigenAn- und Umbauten seiner Bewohner auf eine fast vegetativeWeise gewachsen. Es gab keine rechten Winkel und keine Sym-metrie. Alles hatte sich in einer langsamen Bewegung von Be-wohner zu Bewohner versetzt und verschoben. Die Innenwändewaren aus Weidenzweigen geflochten und dann mit Lehm be-worfen worden. Nachts, in der Zeit der Stromsperre, waren sieim leicht bewegten Kerzenlicht kleine senkrechte Landschaftenmit Tälern und sanften Hügeln, in denen sogar Schätze vergra-ben lagen. Onkel Franz hatte in den zwanziger Jahren diesesJahrhunderts zur Erweiterung des Wohnzimmers eine Zimmer-wand einreißen lassen. Zwischen den Lehmbrocken fand sichein kleiner steinharter Lederbeutel, der, nachdem ihn OnkelFranz aufgemeißelt hatte, 30 Goldstücke freigab. Die Goldstü-cke waren während des Dreißigjährigen Kriegs von den Bewoh-nern in der Zimmerwand eingemauert worden, weil die Schwe-den oder die Kaiserlichen oder die Franzosen oder wieder dieSchweden ins Haus standen. Was aber war aus den Besitzernder Goldstücke, den Juden, die in dieser Gasse vor dem Stadt-tor lebten, geworden?

Jedenfalls konnte Onkel Franz zu einer Zeit, als bank-rotte Bankiers aus den Bürofenstern ihrer Wolkenkratzer indie Wall Street sprangen und man zum Brotkauf das Papier-

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geld im Blockwagen zum Bäcker fahren musste, mit diesen30 Goldstücken die letzte und höchste Hypothek tilgen.

So hatte sich ihm, wie Onkel Franz sagte, das Haus selbstgeschenkt.

Das Merkwürdige, ja Geheimnisvolle an dem Hauswar die Werkstatt des Onkels, der, als wir bei ihm auf-genommen worden waren, schon die achtzig über-schritten hatte, aber noch immer seinem Handwerknachging. Ihm wurden tote Tiere gebracht, Vögel,Füchse, Hunde, sodann in die geheimnisvolle Werk-statt, die das Kind nicht betreten durfte, getragen undkamen nach zwei oder drei Tagen wie ins Leben zu-rückverwandelt wieder heraus. Der Hund saß da, hobdie Pfote, die er aber immer hob, nie absetzte; derBussard saß auf einem Ast, die Schwingen ausgebrei-tet, bereit zum Abflug, und doch flog er nie ab. DerOnkel, der Präparator war, hatte sie alle in ein Leben-und-doch-nicht-Leben verwandelt. Sie verharrten ineinem eigentümlichen Zwischenreich.

Ein solches Zwischenreich ist auch das Märchen,nicht von dieser Welt und doch von ihr. Und wennsie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute. Darin liegtdas Wissen von der Gefährdung und dem erwart-baren Tod, dem Ende jeder Existenz, und zugleichgegen jede Erfahrung die Hoffnung auf Dauer, aufÜberzeitlichkeit. Eine kindliche Naivität, die nicht lo-gisch fragt, sondern wünscht. Die unlogischen Brüche

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in den Märchen sind geradezu ihr Wesen. Der Wunschkennt nicht die Logik, sondern nur die Hoffnung:Man möge gesund bleiben, und so reiben die Men-schen dem Renaissancelöwen vor der Münchner Resi-denz die Schnauze, die glänzend poliert ist von all denstummen Wünschen. Denn den Wunsch darf man,damit er wirkt, nicht aussprechen.

Das Märchen kommt von weit her, und in ihm sindviele Bewusstseinsschichten und Erfahrungen abgela-gert. Sein Ort ist die Utopie. All dem Erzählen vonGewalt, Ungerechtigkeit, Herabsetzung, Erniedrigungwohnt das Versprechen inne, es werde durch das Wun-derbare, oft nur durch einen kleinen Eingriff, die Weltwieder zu-Recht-gerückt. Ein magisches Wort kanndie Welt verändern. Darin liegt die Macht und Schön-heit der Märchensprache. Bäumchen, rüttel dich und schüt-tel dich – und siehe da, der Schuh passt. Es hilft nichts,wenn sich die Stiefschwestern Zehen und Fersen ab-hacken, dann heißt es: Rucke di guck, rucke di guck, / Blutist im Schuck / der Schuck ist zu klein, / die rechte Braut sitztnoch daheim. Und am Ende werden den bösen Stief-schwestern von den Tauben zur Strafe die Augen aus-gepickt. Gerechtigkeit obsiegt, und das Glück stelltsich ein, jedenfalls für Aschenputtel.

Märchen psychologisieren nicht, sondern typisie-ren. Die Schwestern sind böse, grundböse, es wirdnicht relativiert, kein Versuch gemacht, deren Gehäs-sigkeit zu verstehen. Es gibt den Neid. Die Neugierde.