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W ährend des letzten Treffens von Fliegern des Ersten Weltkrieges im November 1981 in Paris war der Autor als Übersetzer tätig. Dabei wurde er Zeuge des bemerkens- werten Zusammentreffens zweier ehemaliger Gegner: Antal Boksay, ein ungarischer Aufklärer der Fliegerkompanie 24, und Gerald Birks, ein Sopwith-Camel-Pilot. Dieser hatte seine zwölf Luftsiege über Italien erzielt und dabei auch den besten ungarischen Jagdflieger, József Kiss, bezwungen. Dies war eine sehr ungewöhnliche Konversa- tion, denn der Autor musste die Äußerungen von Boksay ins Englische übersetzen und für Birks niederschreiben. Dieser war fast völlig taub. Die geschriebeneAntwortwurdedannfürBoksayinsFranzösischeübersetzt. Als Boksay erfuhr, sein Freund Kiss sei damals von Birks tödlich abge- schossen worden, überraschte er den verblüfften Kanadier. Er habe nie einen Vorbehalt gegen den Piloten gehabt, der seinen Freund bezwun- gen habe, denn es sei ein fairer Luftkampf gewesen. Andererseits sei es für ihn sehr bewegend, diesen Mann jetzt 73 Jahre später persönlich zu treffen. Als die beiden früheren Gegner schließlich auseinander gingen, taten sie dies als Freunde. Ein begabter Jagdflieger mit Sehfehler Nicht unbedingt einer der Jagdflieger mit den meisten Abschüssen, war Gerald Birks jedoch einer der begabtesten. Um Pilot zu werden, musste er eine schwere Fehlsichtigkeit verstecken und besiegte dennoch zwei ausgesprochene Jagdfliegerasse im Luftkampf. Dabei flog er in einem von nur drei britischen Jagdverbänden, die in Italien eingesetzt wurden. Gerald Birks wurde am 30. Oktober 1894 in Montreal in Kanada geboren. Als Sohn wohlhabender Eltern studierte er Agrarwissen- schaften und war begeisterter Wintersportler. Am 31. August 1915 meldete er sich freiwillig zur Infanterie, musste aber vor dem Kriegs- einsatz erst einen Offizierslehrgang absolvieren. Als seine Einheit 1916 nach Europa ausrückte, blieb Birks zurück, man hielt ihn mit 21 Lebens- jahren für zu jung. So versuchte er es auf eigene Faust und fuhr nach England und schlug sich als Organisator von Unterhaltungsveran- staltungen für die Truppe durch. Bis ihn ein Telegramm seiner Einheit erreichte – er wurde benötigt. Im Juni 1916 ging es nach Flandern und dann an die Somme. Dort tobte gerade eine der großen Schlachten und Birks wurde prompt verwundet. Nach einem Monat im Hospital wurde er auf eigenen Antrag zurück nach Kanada geschickt. Bei den Fliegern Schon in Frankreich hatte er darüber nachgedacht, sich zu den Flieger- truppen zu melden. Sein Arzt im Hospital hatte ihm damals abgeraten. Seine medizinische Akte mit dem eingetragenen Sehfehler würde ver- hindern, dass er auch nur als Anwärter in Frage käme. Jetzt in Montreal las er einen Aufruf an junge Männer, sich freiwillig als Flieger zu melden. Der Anwerber warnte ihn, als Flieger werde er seinen Offiziersrang aus der Infanterie verlieren und müsse ganz unten anfangen. Das schien Birks kein zu hoher Preis. Doch zuvor musste er die körperliche Über- prüfung überstehen. Die Untersuchung durch einen Arzt verlief prob- lemlos, doch dann musste der angehende Flieger in einen Nebenraum zur Sehprüfung. Durch höchste Konzentration konnte er den Sehtest bestehen und wurde angenommen. Foto: Les Rogers Collection via Aaron Weaver Das Wrack der Sopwith Camel B4628 von Birks Staffelkameraden der 66. Squadron. Captain Kenneth B. Montgomery, Die Maschine wurde im Februar 1918 durch Flak bei Rustignè, Oderzo abgeschossen und Montgomery dabei schwer verwundet. Gerald Birks, aufgenommen 1918 in London, kurz vor seiner Rückkehr nach Kanada. Foto: G. A. Birks via Jon Guttman 30 Jagd über Italien

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W ährend des letzten Treffens von Fliegern des ErstenWeltkrieges imNovember1981 inPariswarderAutoralsÜbersetzer tätig. Dabeiwurde er Zeugedes bemerkens-werten Zusammentreffens zweier ehemaliger Gegner:

Antal Boksay, ein ungarischer Aufklärer der Fliegerkompanie 24, undGeraldBirks, ein Sopwith-Camel-Pilot. Dieser hatte seine zwölf Luftsiegeüber Italien erzielt und dabei auch den besten ungarischen Jagdflieger,József Kiss, bezwungen. Dies war eine sehr ungewöhnliche Konversa-tion, denn der Autor musste die Äußerungen von Boksay ins EnglischeübersetzenundfürBirksniederschreiben.Dieserwar fastvöllig taub.DiegeschriebeneAntwortwurdedannfürBoksayinsFranzösischeübersetzt.

AlsBoksayerfuhr,seinFreundKissseidamalsvonBirkstödlichabge-schossenworden, überraschte er den verblüfften Kanadier. Er habenieeinenVorbehaltgegendenPilotengehabt,der seinenFreundbezwun-genhabe, dennes sei ein fairer Luftkampfgewesen.Andererseits sei esfür ihn sehrbewegend,diesenMann jetzt 73 Jahre späterpersönlich zutreffen.Alsdiebeiden früherenGegner schließlichauseinandergingen,taten siedies als Freunde.

Ein begabter Jagdflieger mit SehfehlerNicht unbedingt einer der Jagdflieger mit den meisten Abschüssen,war Gerald Birks jedoch einer der begabtesten. Um Pilot zu werden,musste er eine schwere Fehlsichtigkeit verstecken und besiegtedennoch zwei ausgesprochene Jagdfliegerasse im Luftkampf. Dabeiflog er in einem von nur drei britischen Jagdverbänden, die in Italieneingesetztwurden.

Gerald Birks wurde am 30. Oktober 1894 in Montreal in Kanadageboren. Als Sohn wohlhabender Eltern studierte er Agrarwissen-schaften und war begeisterter Wintersportler. Am 31. August 1915meldete er sich freiwillig zur Infanterie, musste aber vor dem Kriegs-einsatzersteinenOffizierslehrgangabsolvieren.Als seineEinheit1916nachEuropaausrückte,bliebBirkszurück,manhielt ihnmit21Lebens-jahren für zu jung. So versuchte er es auf eigene Faust und fuhr nachEngland und schlug sich als Organisator von Unterhaltungsveran-staltungen für dieTruppe durch. Bis ihn einTelegramm seiner Einheiterreichte–erwurdebenötigt. ImJuni1916gingesnachFlandernunddann an die Somme. Dort tobte gerade eine der großen Schlachtenund Birks wurde prompt verwundet. Nach einemMonat im Hospitalwurde er auf eigenenAntrag zurück nach Kanada geschickt.

Bei den FliegernSchon in Frankreich hatte er darüber nachgedacht, sich zuden Flieger-truppen zumelden. SeinArzt imHospital hatte ihmdamals abgeraten.Seinemedizinische Aktemit demeingetragenen Sehfehler würde ver-hindern, dass er auchnur als Anwärter in Frage käme. Jetzt inMontreallasereinenAufrufan jungeMänner, sich freiwilligalsFliegerzumelden.Der Anwerber warnte ihn, als Flieger werde er seinenOffiziersrang ausder Infanterie verlieren und müsse ganz unten anfangen. Das schienBirks kein zu hoher Preis. Doch zuvor musste er die körperliche Über-prüfung überstehen. Die Untersuchung durch einen Arzt verlief prob-lemlos, dochdannmussteder angehendeFlieger in einenNebenraumzur Sehprüfung. Durch höchste Konzentration konnte er den Sehtestbestehenundwurdeangenommen.

Foto:LesRogersCollectionviaAaronW

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Das Wrack der SopwithCamel B4628 von Birks

Staffelkameraden der 66.Squadron. Captain Kenneth

B. Montgomery, Die Maschinewurde im Februar 1918durch Flak bei Rustignè,Oderzo abgeschossen

und Montgomery dabeischwer verwundet.

Gerald Birks, aufgenommen1918 in London, kurz vor

seiner Rückkehr nach Kanada. Foto:G.A.BirksviaJonG

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30 Jagd über Italien

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Sofort wurde Birks nach Toronto befohlen: „Ich sollte dem Nach-wuchs die infanteristische Grundausbildung beibringen. Bald erhieltich einenWinkel – ich wurde Lance Corporal. Kurz darauf gab es denzweitenWinkel für denCorporal. Dannwolltemanmich zumSergeantbefördern,aber ich lehnteab.Dadurchwürde ichzuengandieOffizieregebundenundwäredamitkeinermehrvonden‚Jungs‘gewesen.“Dannging es zur Flugausbildung nach Camp Mohawk bei Deseronto. „Beimeinemersten Flugüberhaupt erklärtemir der Fluglehrer, ich solle dieFingervondenKontrollen lassen,erwollemirnurdieGegendzeigen, inderichmichdemnächstbewegenwerde. Ichhattedanninsgesamt2:20Stunden imFlugbuch, als ich zumAlleinflug startete. Nach 35 Stundenwurde ich zum Fluglehrer ernannt und nach Camp Borden geschickt.Dort schulte ich den ganzen Sommer hindurch, bis ich am16. Novem-ber 1917denMarschbefehl nachÜberseeerhielt.“

InEnglandflogBirksmitAvro504KundSopwithPubundschließlichmitderCamel im54.TrainingSquadroninCastleBromwichbeiBirming-ham. Der britische Fluglehrer schnauzte uns an, wir Kanadier würdeneinen sanften Gleitflug schon für einen Sturzflug halten. Aber er habezwei Planen auf dem Boden ausgelegt, darauf würden wir jetzt Sturz-flügeüben: „Als ichüberdemZielwar,bewegte ichdenKnüppeletwasnachvorn.Daswaraberschongenug,umdieMaschineaufdenRückenzudrehen.Sohingich indenGurtenundhieltmeinSitzkissenzwischenden Knien fest. Der Versuch, mit einem halben Looping in Normallagezu kommen, scheiterte.Wennnichtmit einemLooping, dannmit einerhalbenRolle,dachteich.DieBäumeuntermirkamenschnellnäher.AberdiehalbeRolle funktionierte.Dasprobierte ichmehrereMale,bevor ichzur Landung ansetzte. Erst im Einsatz bei der 66. Squadron hörte ich,dass man sich auch durch Gasgeben mit dem Motor aus dieser Lagebefreienkonnte.“

Mit der 66. Squadron über ItalienAlsBirksam10.März1918beiseinemEinsatzverband,der66.Squadron,in Norditalien eintraf, hatte er 138 Flugstunden auf dem Konto, davon10:30 Stunden auf der Camel. Das war mehr als das Doppelte, was eintypischerCamel-Pilotnachweisenkonnte.DerVerbandlag inSanPietroöstlich von Vicenza, zwischen Venedig und Verona. Der KommandeurwarMajor J. TudorWhittaker und Birks wurde demC-Flight unter dem19-jährigenCaptainJohnMaxwellWarnockzugeteilt.Zuerst floger fünfverschiedene Camel, bis er sich die B6424mit demKennbuchstaben PalspersönlicheMaschine sichernkonnte.

Am 18. März entdeckten Warnock und Birks bei einem Überwa-chungsflug eine Rumpler über Pravisdomini und griffen an. Eines derbeidenMGvonWarnockhatte Ladehemmungen,dochmitdemande-ren feuerte er aufdenGegner, bis dieMunitionausging. Er behauptete,gesehen zu haben, wie ein Beobachter zusammenbrach. Dann setztesich Birks etwa 30Meter hinter dieMaschine und feuerte, bis das Flug-zeug nahe beim Flugplatz aufschlug. Tatsächlich handelte es sich umeine Hansa-Brandenburg C-I mit demKennzeichen 161.69 der Flieger-kompanie (Flik) 43/D, deren Pilot verwundet wurde. Dies wurde Birks

als erster Luftsieg angerechnet. „Heute noch verwundert es mich, wiewenig wir über gegnerische Flugzeugewussten.Wir hatten nur kleineSkizzen der anderen Maschinen. In meinem Flugbuch stehen meineersten beiden Luftsiege als Rumpler- und als Aviatik-Flugzeuge. Jetzt,aufgrund der österreichisch-ungarischen Dokumente, weiß ich, dassbeidesBrandenburgC.Iwaren.“

„ObwohlmeinersterLuftsiegeinzweisitzigesFlugzeugwar,befandsich nur der Pilot an Bord. Ich beabsichtigte nicht, ihn zu verwunden

Zeitweilig Birks Staffelka-pitän war Captain WilliamGeorge Barker, der hier nebenseiner Camel B6313 steht,deren Äußeres verschiedenenÄnderungen unterworfenwurde, als Barker in der 28.,66. und 139. Squadron flog.

Sopwith Camel der No. 66Squadron des RFC sind aufdem Flugfeld von San Pietroim Frühjahr 1918 abgestellt.

Foto:Sam

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Foto:Sam

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Unten: Mit dieser Sopwith Ca-mel B6424 der No. 66 Squad-ron erzielte Gerald Birks, derhier vor der noch nicht voll-ständig montierten Maschinesteht, fünf Luftsiege.

Foto:G.A.BirksviaJonG

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31Jagd über Italien

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Die Amerikaner kommenMitdemEintreffenderU.S.ArmyAirForceimFrühjahr1942verschobsichdasGleichgewicht nicht sofort zur Seite der Alliierten. Zusätzlich zudenNachtbombern,diemitdenRadaranlagenanvisiertwurden, flogenjetzttagsüberZiele,diemitoptischenMittelnerfasstwerdenkonnten.BiszumJahresende 1942 blieb die Flakartillerie ein kritisches Teil im RäderwerkderLuftverteidigung.DerJahresbeginn1943entwickeltesichdannnichtsehr vorteilhaft für die Luftwaffe. Der Rückzug aus Nordafrika und dieEinkesselungder6.ArmeeinStalingradzeigtendasEndedesdeutschenVormarschesan.DerBeschlussderAlliierteninCasablanca,strategischesBombardement zu nutzen, um die deutscheMilitärmaschinerie zu zer-stören, führtezumgrößtenLuftkrieg,dendieWelt jegesehenhat.

AbMärz 1943 konnte die amerikanische Luftwaffe zu jedemgeflo-genenAngriff bis etwa 100Bomber entsenden. Das RAFBomber Com-mand war aber in der Lage, über 400 Bomber tief nach Deutschlandhineinfliegenzulassen.DiedeutscheFlakwaffebegannnunihregrößtenSchlachten auszufechten. In den ersten drei Monaten des Jahres 1943zählte die Flak 90 abgeschossene Bomber, verglichen mit 96, welchedurch Jäger vom Himmel geholt wurden. Hitler förderte die FlakwaffeundfordertemehrGeschützeundBedienungen.WegendergroßenPer-sonalverlusteinAfrikaundanderOstfrontwurdenjetztJugendlicheundFrauen zur Flak eingezogen. 1943 wurden 116 000 Flaksoldaten durchjunge Frauen ersetzt. Gezwungenermaßen wurde die Ausbildung derFlakbesatzungenverkürztunddiezurAusbildungnotwendigenAusrüs-tungenzumgroßenTeilanaktiveEinheitenabgegeben.DieWaagschalebegannsichzuGunstenderAlliiertenzuneigen,aberdieFlakwaffewur-deweiterausgebaut.EndeJuni1943gabes1089schwereFlakbatterien,verglichen mit 659 im Januar. Seit 1941 hatte sich die Produktion vonFlakgeschützen fast verdreifacht. Zusätzlich wurden erbeutete Flakka-nonen eingesetzt und, wenn keine Beutegranaten vorhanden waren,für deutsche Munition umgerüstet. Die Luftwaffe übernahm allein imJanuar 1943 285 ehemals russische Kanonen. Zwischen 1939 und 1944wurden9504BeutegeschützeindieFlakwaffeintegriertund14MillionenerbeuteteGranatenzurVerfügunggestellt.

AlseinesderambestenverteidigtenZielewarBerlinbisandieZähnemit Flugabwehrkanonen und Suchscheinwerfern bewaffnet. Die alliier-ten Besatzungenmussten schnell erkennen, dass ein Angriffsflug nachBerlinvollerGefahrensteckte. InderNachtvom23.zum24.August1943beganndieRAFdie sogenannte „Schlacht umBerlin“.Mit 710 schwerenBombern wurde die Stadt angegriffen. Der Funker Flight LieutenantAllanBallvonder35.SquadronwareinerfahrenesBesatzungsmitgliedinseinemBomber.Nach58NachtangriffenwardieserFlugnachBerlinseinletzterEinsatz: „Wir trafenachtMinutenzu frühein.Dawirwussten,dassunser Flugplatzkommandeur in einer anderen Maschine saß, wolltenwir unbedingtpünktlich sein. So flogder Pilot einenBogennachSüdenbevorwiraufdasZieleindrehten.BeimBombenanfluggabeskeineProb-leme,trotzheftigemVerteidigungsfeuers.WirmachtenunsereZielfotos.Dann,kaumeineMinutespäter,gabeseingewaltiges ‘Whumpf’! IchsahgeradeausmeinerkleinenPlexiglaskuppelhinterdemH2S-Bodenradar.Da kametwas aufmich zuund schlugmir den Schädel auf. Ich erinneremich noch an ein helles Licht und an eineweitere Explosion. 23 Löcherwurdeninmichhineingebohrt–fünfMetallstücketrageichnochimmerin mir. Das schlimmste aber war ein Metallsplitter, der direkt in meinGehirn eindrang. Ich hörte gerade noch über die Bordkommunikation,dasswirdieMaschineverlassensollten,diebegann, inSpiralenzuBodenzustürzen.“ IndieserNachtwurden62RAF-Bomberabgeschossen.

Bis EndeMai 1943hattedieRAF imRuhrgebiet einerheblichesMaßanZerstörungenangerichtet.AberdasBomberCommandmusstedafüreinenhohenPreisbezahlen.DurchFlakwurdenimzweitenQuartal1943insgesamt 229 Flugzeuge abgeschossen undweitere 1496 beschädigt.Nachtjäger schossen im gleichen Zeitraum 348 Bomber ab. Wärenderartige Verluste früher ein herber Schlag für das Bomber Commandgewesen,strömtenjetztsovieleneueBesatzungenundFlugzeugenach,dassdieEinsatzstärke trotzdieserVerlustesogarnochzunahm.

Während die Flak einerseits einige Bomber abschoss, brachte siegleichzeitig viele andere Besatzungen dazu, ihr Ziel zu verfehlen. ImMärz berichtete das Bomber Command, nur 48 Prozent der Bomberwürden ihreLast imUmkreis von fünfKilometernumdasZiel abwerfen.

Ein Nahtreffer hat dieser B-26das Leitwerk zerfetzt.

Foto:U.S.AirForce

40 Flak – der Albtraum für Bomber

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Dafür wurden die heftigen Ausweichmanöver zur Täuschung der Flakverantwortlich gemacht. Auch die amerikanischen Bomber musstentagsüber Schlangenlinien fliegenund streuten ihre Bombendeswegensogarnochweiter.ColonelCurtisE.LeMaybestrafteBesatzungenwegenzuheftiger Ausweichmanöver beimBombenanflug. AberwährenddesEndanfluges hatten die Besatzungen keine Wahl. Besonders für neueBesatzungen war das Flakfeuer faszinierend und ängstigend zugleich:„Plötzlich rief der Bombenschütze ‘Flak auf neun Uhr unten!’ GroßeWolkenausschwarzemRauchexplodierten rundumunsereFormation.Dawir uns imBombenanflug befanden,musstenwir streng geradeausfliegen. Für einige Minuten brauchte der Bombenschütze eine stabileBasis für sein Norden-Zielgerät. BAM!! DieMaschine schüttelte sich undeine orangeWolke entfaltete sich ganz nahe, gefolgt von brodelndemschwarzenRauch.Unshattemangesagt,eineNahexplosionwürdemannichthören.Diesehabeichgehört!MeistsahichnureineschwarzeWolkeexplodierenundhörtedanndieGranatsplittergegendasFlugzeugpras-seln.“ (JohnCommer,Flugingenieur inder381.Bombergruppe.)

Der „Schwarze Donnerstag“ der US-BomberEinen der größten Siege errang die deutsche Flak während des ameri-kanischen Angriffs auf die Ölraffinerien im rumänischen Ploesti. Am 1.August 1943machten sich 176 amerikanische Bomber auf denWeg zueinemÜberraschungsangriff imTiefflug.WährenddesHinfluges führteein Navigationsfehler dazu, dass die deutsche Flak vorgewarnt wurde.Fünfzehn schwere und zwölf leichte Flakbatterien feuerten auf dieangreifendenB-24.AusdemVerbandwurden41Bomberabgeschossen,weitere13FlugzeugeschaffteneswegenSchädennichtmehrzueinemFlugplatz. Bei diesem berühmten Luftangriff sahen die Flugzeugbesat-zungennichtnurdieFlakgranatenringsumherexplodieren,siekonntenim Tiefflug sogar die Flakkanoniere dabei beobachten, wie sie ihreGeschützenachluden.

Im gleichen Monat griff die amerikanische 8. Luftflotte erstmalsdas Ruhrgebiet an. Von den 243 eingesetzten Bombern wurden 25abgeschossen – eineVerlustrate von zehnProzent. Damit bliebdies dereinzigeTageseinsatzdesJahres1943gegendieRuhr.DasRuhrgebietwarsostarkmitFlakstellungengesichert,dassdenmittlerenBombernder9.Luftflotte sogarverbotenwurde,dasGebietanzusteuern.

Am14.Oktober flogendieTagbombereinenzweitenAngriffgegendieKugellagerfabrikenbei Schweinfurt, die sie am17.August schonein-mal angegriffen hatten. 291 Bomber vomTyp B-17 starteten zu diesemEinsatz, 229erschienenüberdemZielundwarfen ihreBomben.Beidie-sem Einsatz wurden 60Maschinen abgeschossen, 17 Bombermusstenwegen starker Schäden abgeschrieben werden, während weitere 121beschädigt waren, aber repariert werden konnten. Hier erwies sich diedeutsche Luftverteidigung als harter Gegner. Doch die amerikanischenFliegerverbände lernten aus den Erfahrungen dieses „schwarzen Don-nerstags“undauchdieStärkederbritischenBomberkräftewuchsweiteran.DieLagederdeutschenVerteidiger,PersonalundMaterialbetreffend,wurdedagegen immerschwieriger.

Zwar erreichte die deutsche Flakwaffe im Februar 1944 ihre größ-te Stärke während des Krieges, doch resultierte daraus keine ent-sprechend gestiegene Zahl an abgeschossenen Feindflugzeugen. Vonden etwa 13 500 schweren Flakgeschützen, 21 000 leichten Kanonen,7000 Suchscheinwerfern und 2400 Sperrballonenwarendiemeisten inDeutschland und im Westen eingesetzt. Rumänien und Griechenlandwaren am schlechtesten verteidigt. Die geringere Abschussrate ist aufneueAbwehrmaßnahmender Alliierten zurückzuführen. Insbesonderewurde das deutsche Zielradar durch abgeworfene Chaff-Metallstreifen(ursprünglichWindowgenannt) und elektronischeGegenmaßnahmendurch Störgeräte wie das Carpet-System ausgeschaltet. Bemerkbarmachte sich auch ein Mangel an Flakmunition und an ausgebildetenGeschützbedienungen. Die enormen Personalverluste im Osten undSüdosten zwangen zum Abzug von Flaksoldaten, die durch freiwilligeHelfer ersetzt wurden. Viele waren internierte Soldaten aus Italien undKroatien,währendauch51000sowjetischeKriegsgefangenemehroderwenigerfreiwilligalsHelferbeiderFlakdienten. ImJahr1944wardieFlaknichtmehr die Elitewaffe, als die sie einst in den Krieg gezogenwar. Bei

Kriegsendewaren35ProzentderGeschützmannschaftenüber49 JahrealtundmeistauskörperlichenGründenwehrunfähig.

Die Jagdflieger gehen zu Tiefangriffen überAber das Frühjahr 1944 brachte noch eine andere Änderung der Luft-kriegssituation.DieEinführungvonamerikanischenLangstreckenjägern,erst der P-38 Lightning, dann der P-51Mustang und P-47 Thunderbolt,verschobdasGleichgewicht imLuftkampf undbesiegelte das SchicksalderdeutschenLuftverteidigung.

DiedeutscheJagdwaffewardurchdieKriegsjahreausgeblutet. EiligausgebildeteNeulingesaßenindenFlugzeugen,diesichjetztgegendiealliiertenLangstreckenjägerundgegendiewachsendeZahlanBombernbehaupten mussten. Da diese jungen Flugzeugführer ihre Maschinenkaum sicher starten und landen konnten, lag die Hauptlast der Vertei-digung jetzt auf den Schultern der Flakkanoniere. Als Reaktion auf diestärkerwerdenden Tagangriffewurden schwereGeschütze inGroßbat-terien zusammengefasst. Verfügte eine Batterie bei Kriegsbeginn übervier Geschütze, so waren es jetzt bis zu 24 Kanonenmit Besatzung, dievoneinemBatteriechefbefehligtwurden.SolcheGroßbatterienwurdenumwichtige Punkte wie Raffinerien oder Flugzeugwerke gruppiert. ImStadtbereich von Berlin gab es 24 Großbatterien. Dabei waren sogarzwölf Exemplare der doppelläufigen 128-mm-Kanonen, die auf denFlakbunkernstationiertwaren.

Die massierte Feuerkraft dieser Batterien forderte ihren Tribut beiden Bombern, die solchermaßen geschützte Ziele angreifen mussten.Von Januar bis April 1944 verloren die 8. und 15. Luftflotte 315 Bomberdurch die Flak, 10 563Malwurde eineMaschine beschädigt. Aber nichtnurBombererlittenVerluste.Die8.LuftflottehattedieDoktrindesengenBegleitschutzes für die Bomber durch die Jagdflieger im Januar 1944aufgehoben. Jetzt durftengegnerischeFlugzeugeangegriffenwerden,„woauch immersiesichbefanden“.Dieshießnichtsanderes,alsdassdieJagdflieger ermächtigt wurden, im Tiefflug deutsche Flugplätze anzu-greifen.Um ihre Flugzeugführer zu solchenTiefangriffen zumotivieren,

Die dramatischen letztenSekunden einer B-26 nacheinem Flaktreffer.

Foto:U.S.AirForce

41Flak – der Albtraum für Bomber

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EinVergleichderdrei indenletztenKriegsjahreneingesetztendeutschenschwerenFlakgeschütze:8,8cmFlak41 Granate 9kg 11800mZielhöhe 20Schuss/min10,5cmFlak38 Granate 14,6kg 10300mZielhöhe 15Schuss/min12,8cmFlak40 Granate 25,8kg 10600mZielhöhe 10Schuss/min

Vereinzelt wurde Beutewaffen eingesetzt, wobei die Schwie-rigkeiten bei der Beschaffung der speziellen Munition deren Ein-satzwert minderten. So wurden etwa russische Kanonen vomKaliber7,62cmund8,5cmaufgebohrt,damitdiedeutschen8,8-cm-Geschossebenutztwerdenkonnten.Die immer stärkerePanzerungder alliierten Bomber führte zu speziellen Granaten, bei denen dieSplitter durch eine InnenrillungderWandunggrößer gehaltenwur-den. Bei Kriegsende wurden auch Granaten mit Brandschrapnell-Ladungen verschossen, welche den Treibstoff der Zielflugzeugeentzünden sollten.

Flak im EinsatzDie Meldung des Einflugs eines gegnerischen Flugzeugverbandeserfolgte zu Beginn des Krieges durch optische Erfassung oder nachtsdurch Horchgeräte. Mit der Einführung von anfangs eher rudimentä-ren, später sehr ausgefeilten Radargeräten konnten Bomberverbändeschon über England beim Sammeln erfasst und verfolgt werden.Bewegte sich der feindlich Verband im Bereich einer Flakbatterie, sowurdemitdemFeuerleitgeräteinbestimmtesFlugzeugangepeiltundder Kurs, Fluggeschwindigkeit und -höhe ermittelt. Erschwert wurdediese Flugbahnanalyse durch Abwehrbewegungen der Flugzeuge,die versuchten, keinen geraden Kurs einzuhalten. Vor Einführung desRadars gaben nachts die Horchgeräte den Flakscheinwerfern eineungefähre Position vor, die dann durch Schwenkbewegungen ver-suchten, dort ein Flugzeug zuerfassen.DiesebeleuchtetenFlugzeugewurdendannwieamTagevondenFeuerleitgerätenoptischangepeilt.Diese Feuerleitgeräte hatten zweiOptiken in vierMeternAbstand,mitdenen der Höhenwinkel und die Entfernung durch stereoskopischesScharfstelleneinesDoppelbildesbestimmtwurde.Abetwa1942warendie meisten Flakstellungenmit einem Radargerät vom TypWürzburgD ausgerüstet, welches eine Reichweite von ungefähr 25 Kilometernhatte. Ein Rechengerät ermittelte aus den vom Feuerleitgerät oderRadargeliefertenDatendieFlughöheundausmehrerenMesspunktenschließlichdenKurs.

Besonders schwierig war die Ermittlung des Vorhaltewinkels.Eine Flakgranate braucht zur Erreichung der Flughöhe der Flug-

Ladeschützen einer 8,8-cm-Flak bereiten die Granaten

am Zündereinstellgerät zumVerfeueren vor. Die

Zünderlaufwerte kommenvom Rechengerät.

Links: Eine 8,8-Batteriefeuert eine Salve in den

Nachthimmel.

Rechts: Nachladen der 8,8mit dem Ladehandschuh

54 Die deutsche Flakwaffe im Krieg

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zeuge etwa 25 bis 30 Sekunden. Das lässt den Bombern Zeit, durchabrupte Abwehrbewegungen im sogenannten „Flakwalzer“ vondem am Boden vorberechneten Kurs abzuweichen. Auch mete-orologische Einflüsse, wie Wind, Temperatur, Luftdruck und Luft-feuchtigkeit beeinflussen die Flugbahn. Alle diese Werte musstenvom Rechengerät berücksichtigt werden. Letztlich lieferte dasRechengerät für die Geschütze der Batterie die Richtwerte desGeschützrohres und die Angaben für das Zündereinstellgerät zurBestimmung der Detonationshöhe der Granate. Diese Aufgabensind selbst für heutigeComputer nicht trivial, wurden aber imZwei-ten Weltkrieg allein durch eine hochpräzise Mechanik mit Zahnrä-dern und Reibwalzen gelöst.

Waren die Ziele erfasst und die Batterien feuerbereit, wurdeder Feuerbefehl der Division abgewartet. Auf Anweisung der Divi-sion gab der Batterieführer den Befehl zur Feuereröffnung (oder-einstellung), dann schossen die Geschütze einer Batterie synchronin Salven oder wenn etwa die Bedienungen unterschiedlich guteingespielt waren, im Einzelfeuer.

Waren eigene Jagdflugzeuge, speziell Nachtjäger am Gegner,wurde in Absprache mit den Jägerleitoffizieren die Feuerhöhe derFlak auf eine bestimmteHöhe begrenzt. Darüber konnten dann dieeigenen Jäger angreifen. Konntendie Feuerleitgeräte ausbestimm-ten Gründen keine Richtdaten liefern, etwa weil das Radar gestörtwurde, hieß der Befehl „Sperrfeuer“. Die Batterie schoss dann nacheigenem Ermessen in den Feindverband.

Luftverteidigung in DeutschlandDer Tradition der kaiserlichen Armee folgend, wurde nach demErsten Weltkrieg die Entwicklung der Flakgeschütze vom Heeres-waffenamt betrieben. Auch als die Flakartillerie nach 1935 Teil derLuftwaffe wurde, entwarf und erprobte das Heer weiterhin dieLuftabwehrkanonen.

In seiner Rede zur Eröffnung der Luftkriegsakademie in Berlin-Gatow am 1. November 1935 führte Generalmajor Walther Weverüber die Flak aus: „Es erscheint insbesondere dem Flakartilleristenselbstverständlich, dass er dank der ungeheuren technischen

Entwicklung seiner Waffe und dank des Geistes, der sie beseelt,jedes ihm anvertraute Objekt unbedingt schützen kann unter derVoraussetzung, dassgenügend starkeKräfte zu seiner Verteidigungverfügbar sind.

Und wenn Sie sich vorstellen, dass zum Schutz solcher Objekteneben der Flakartillerie noch Geschwader modernster Jagdfliegerund Flugzeugzerstörer zur Verfügung stehen, so erscheinen unsdiese Gebiete als Festungen, die unangreifbar sind.“

Auch der Leiter des Heereswaffenamtes, also des Amtes, wel-ches die Flakgeschütze entwickelte, General der Artillerie KarlBecker, resümierte bei einem Vortrag 1938. „Unsere Flakartillerie istin dem heutigen Stand der Entwicklung der Aufgabe, die aus derBekämpfung moderner Flugzeuge hervorgeht, in jeder Beziehunggewachsen.“

Durch diese arrogante Haltung und völlige Fehleinschätzungder tatsächlichen Fähigkeiten der Luftwaffe und speziell ihrer Flak-waffe war der Kern des Versagens in der defensiven Rolle schonangelegt.

Am 1. Oktober 1937 zählte die Flakartillerie 1013 Offiziere undetwa 46 000 Unteroffiziers- und Mannschaftsdienstgrade, Ende1938 schon insgesamt 70 000 Mann und am 1. Juli 1939 ungefähr100 000Mann. Die Flakwaffe bestand 1938 aus 46 Flakabteilungen,14 Leichten Flakabteilungen und 16 Flakscheinwerferabteilungen.Jede Flakabteilungbestand aus drei Batterien zu je vier Geschützenvom Kaliber 8,8 cm oder 10,5 cm und zusätzlichen zwei 2-cm-Geschützen. Ferner gehörten zwei Batterien mit je zwölf 2-cm-Geschützen und ein Scheinwerferzug zur Abteilung. Die Leichten

Links: Die 8,8-cm-Flak18 inmaximaler Überhöhung von85 Grad. Spätere Versionenkonnten bis 90 Grad anlegen.

Oben: Geschossreichweitenund -flugzeiten der Achtacht-Flak. Im Oktober 1944wurden3 175 400 Stück 8,8-cm-Granaten verschossen.

Splitterverteilung für die8,8-cm-Flakgranate. DieZiffern geben die Zahl derwirksamen Splitter proQuadratmeter an.

55Die deutsche Flakwaffe im Krieg

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A uf Basis des im Februar 1941 in den Vereinigten Staatenverabschiedeten Lend-Lease-Acts (Leih- und Pachtgesetz)erhielt die UdSSR ab November 1941 Waffenlieferungenaus den USA und Großbritannien. Waren, die durch den

Krieg unbrauchbar wurden, mussten nicht bezahlt werden. Dabeiwurden Flugzeuge, Panzer, Kanonen, Munition, technische Geräteund Lebensmittel geliefert. Die Flugzeuge wurden entweder mitFrachtschiffen über den Atlantik oder den Pazifik in die Sowjetuniongebracht oder über die hier beschriebene Route aus Alaska überSibiriennachMoskauundvondort andie Front geflogen. NebenderLängeder FlugstreckeundMängeln inderAusbildungder Besatzun-gen oder bei der Flugzeugtechnik bereiteten die Witterungsbedin-gungennahe demNordpol diemeisten Schwierigkeiten.

Flüge unter schwierigen WinterbedingungenDiehartenBedingungen,welchendieÜberführungspiloten inAlaskabegegneten, trafen natürlich auch auf Sibirien zu, nur dass die Flug-strecke hier doppelt so lang war. Zäher Schmierstoff, gelierendesBenzin, Notlandungen imGebiet des Kältepols begleiteten die Flügeauf der Route Alaska–Sibirien. Sehr oft konnte nur nach Instrumen-ten geflogen werden. Es dauerte seine Zeit, bis sich die Pilotendaran gewöhnt hatten und ihren Bordinstrumenten vertrauten. S.Bogatko schildert in seinem Buch „Die Sondergruppe des NKWD“die Bedingungen so: „Fast kein Jagdflugzeughatte eineHeizung. Beieinem vier- bis fünfstündigen Flug froren die Kabinenscheiben ein,die Steuerung ohne Autopilot war eine ernste Herausforderung fürPiloten. Die amerikanischen Flugzeuge „froren“ bei dieser Kälte ein:Der Schmierstoffwurde fest, dieGummischläucheund -reifen rissen,die Hydraulik versagte. Die Zusatzbehälter, ohne die man es nichtbis zum nächsten Flugplatz geschafft hätte, beeinträchtigten dieAerodynamikdes Flugzeugesunderschwertendamit die Steuerung.Eswar alsonicht verwunderlich, dass imersten JahrdiemeistenFlug-vorkommnisse, Havarien undKatastrophen zu verzeichnenwaren.”

Im Bordjournal einer Besatzung steht: „Keine Funkverbindung.In den Kopfhörern nur starkes Rauschen und Krachen. Der Funk-kompass empfängt kein Signal. Das Flugzeug wird durch Eisansatzimmer schwerer, die Geschwindigkeit sinkt auf 190 km/h. Der Kom-mandant entschließt sich, die Höhe zu verringern, was natürlich beiunbekanntemGeländenichtungefährlich ist.DasKabinendachver-eist, der Kommandant versucht, durch die geöffnete Seitenluke dasEis mit einemWinkelmesser abzukratzen. Der zweite Pilot versuchtdas gleichemit einemAlukamm”.

Mit welchen Schwierigkeiten die Piloten während dieser Jahrezu kämpfen hatten, sollen die Erinnerungen von Oberst Masurukverdeutlichen: „ImFebruar 1943musstedie vonmirgeführteGruppeaus zwölf Airacobra auf dem Eis des zugefrorenen Flusses Kolymanahe beim Dorf Syrjanka landen, da der Landeplatz in Semtschanwegen dichten Nebels geschlossen war. In Syrjanka zeigte das Ther-mometer 46 Grad Frost. Am nächsten Tag musste wieder gestartetwerden. Der Bordmechaniker des führenden Bombenflugzeuges

Amerikanische und sowje-tische Piloten posieren aufdem Flugplatz Ladd Fieldin Fairbanks vor einer Bell

P-63 Kingcobra.

In Alaska drehen russische undamerikanischeMechanikereinen Sternmotor durch.

Foto:DmitriDebabow

62 Amerikanische Hilfe für die Rote Luftflotte

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holte die Bewohner des Dorfes zu Hilfe. Die Piloten übernachtetenin den Hütten. Die ganze Nacht musste die Bevölkerung des Dorfesunter den mit großen Zeltbahnen abgedeckten Flugzeugmotoreneiserne Öfen, die aus den Hütten geholt wurden, mit Holz beheizen.AmMorgen startetenwir dann aber ohne Probleme”.

Um das Überführungstempo zu erhöhen und die Flugvor-kommnisse zu senken, führte das Oberkommando ab 1. Juni 1943ein monatliches Prämiensystem ein, dessen Höhe von der Zahl derhavarielosen Überführungen abhing. Die Angehörigen des 1. PAPerhielten die Prämie in Dollar. Nicht vergessen werden soll hier, dassauchweibliche Piloten an denÜberführungsflügenbeteiligtwaren.

Das 45. Reserve-BombenfliegergeschwaderDie übernommenen Flugzeuge erhielt das 45. Reserve-Bombenflie-gergeschwaderderFliegerkräftedesSibirischenMilitärbezirks,dasabAugust 1942 inKrasnojarsk stationiertwar.Am26. Juni 1943wurdeesin 9. Überführungsfliegergeschwader umbenannt. ZudenAufgabengehörte die Umschulung des fliegenden und technischen Personalsauf die importierte Technik und die Überführung der Bomben- undTransportflugzeugeaufderStreckeKrasnojarsk–Nowosibirsk–Omsk–Swerdlowsk–Kasan–Moskau. 1943 betrug der Personalbestand 982Personen, darunter 21 Besatzungen für Bombenflugzeuge. 1944waren es dann 20 Bomben- und 25 Jagdflugzeugbesatzungen.Interessant ist, dass die erste A-20 Boston für die Vorbereitung desPersonals des Geschwaders nicht von Fairbanks sondern aus Persienkam. Den Piloten stand damals nur ein gerade einmal vierseitigesDokumentmit knappenHinweisen als Einweisung zur Verfügung.

„Auf diesem Flugzeug”, erinnert sich einMechaniker, „schulten diePilotendesGeschwadersum.BaldbeganndieRouteAlaska–Sibirienzuarbeitenundwir erhieltendieneueTechnik.Wir schultendanndasPer-sonalderGeschwader,dievondenFrontengekommenwaren.EinKursdauertezweiMonate.Geflogenwurdetagsundnachts.Dannübernah-mendiese Piloten ihre Flugzeuge und flogen zurück andie Front. 1943war die Situation sehr angespannt. Es kamen derart viele Flugzeuge,dass sie in vier Reihen auf dem Flugplatz standen. Ichweiß nichtmehrwereswar,abereinerderVerantwortlichenausderamerikanischenBot-schaftausMoskauwolltewissen,warumsienichtandieFrontüberführtwerden. Es gab das Gerücht, dass sie für einenmöglichen Krieg gegenJapanzurückgehaltenwerden–wiegesagt, eswarnureinGerücht”.

Die Piloten des Geschwaders überführten in den Kriegsjahren2148 Flugzeuge. Leutnant Turok z.B. flog sechs A-20 bis nach Mos-kau, 21 bis nach Swerdlowsk, Leutnant Isafotowüberführte 16A-20,sechs davon über eine Strecke von 3880 km.

In den Dokumenten des 9. PAP heißt es: „Vom 26. Juni 1943 bis1. Juni 1945wurden vonKrasnojarsk 2148 Flugzeugemit einer Flug-zeit von 13 351 Stunden überführt: darunter: 1512 P-63 Kingcobraund 636 A-20 Boston. Es gab sieben Katastrophen, bei denen 16Angehörige des fliegenden Personals getötet wurden. Vom 1. Junibis 1. Oktober 1945 wurden 259 Flugzeuge P-63 Kingcobra über-führt. 52Angehörige erhielten staatlicheAuszeichnungen: fünf denRotbanner-Orden, einer den Orden des Vaterländischen Krieges 1.Stufe und 23 den Orden des Roten Sterns”.

Die 12. Besondere Fliegergruppe der ZivilluftflotteKrasnojarsk war nicht nur der Endpunkt der Route Alaska–Sibirien,sondern auf dem Streckenabschnitt von Irkutsk überführte die 12.Besondere Fliegergruppe der Zivilluftflotte auch die in den Flug-zeugwerken in Irkutsk und Komsomolsk-am-Amur produziertenFlugzeugeandieFront.DasWerkNummer39 in Irkutskproduzierte:

- Sturzkampfflugzeuge Pe-2 (1941 - 1943),- Langstreckenjagdflugzeuge Pe-3 (1941 - 1944),- Fernbombenflugzeuge Il-4 (1942 - 1944),- Fernbombenflugzeuge Jer-2 (ab 1944).

In Komsomolsk-am-Amur wurden im Werk Nummer 126 in denKriegsjahren ausschließlich Il-4 produziert.

DieBesondereFliegergruppewaram15.März1942mitZivilpilotenaus dem ganzen Land, sogar aus Usbekistan oder Kasachstan, aufge-stelltworden.Bereits imAprilbegannendieÜberführungendurchdie1.

Havarie einer P-39Q-5-BE inNome, Alaska, etwa 1943/44.Die roten Kreuze an Rumpfund Flächen identifizierendas Flugzeug als Lieferungnach dem Lend-Lease-Ab-kommen, der Zusatzbehälterunter dem Rumpf wurde beider Havarie beschädigt.

Sowjetische Piloten auf demFlugplatz Krasnojarsk vorihren Bell P-39 aus den USA

Fotos:Wennnichtandersangegeben-Sam

mlungDr.Rain

erGöpfert

63Amerikanische Hilfe für die Rote Luftflotte

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Hindernisse am Boden in niedrigen Flughöhen hinwegfliegen. Im Flugsollten Geschwindigkeiten bis etwa 400 km/h erreicht werden. DamitwardasFluggerätwesentlichflexiblerimEinsatzalsLuftkissenfahrzeuge.

Nachdem deutsche Zeugen behaupteten, eine solche FliegendeUntertasse im Krieg entwickelt oder sogar gebaut zu haben, flog JohnFrost 1953 zur Befragung eines solchenZeugennachDeutschland. DiedeutscheFlugscheibesollebenfalls inniedrigerFlughöhedenBodenef-fektgenutzthaben.DerPrototypmitallenPlänenseivernichtetworden,um den Entwurf nicht in alliierte Hände fallen zu lassen. Leider ist derName des befragten Deutschen nicht überliefert. Da die Arbeiten am

Avrocarschonweit fortgeschrittenwaren, isteinEinflussderdeutschenAngabenaufdaskanadischeProjektwohlunwahrscheinlich.

DermilitärischeEinsatzvonFrostsAvrocarwarinEuropazurAbwehrrussischer Panzer geplant.Mittels rückstoßfreier Raketenwaffen solltendiePanzerbeschossenwerdenunddieFlugscheibesollteschnellwiederhinter einerDeckungverschwinden.Der Baueiner hölzernenAttrappeder VZ-9AV Avrocar wurde umgehend begonnen und das seltsameFahrzeug überzeugte optisch alle Besucher. AVRO Canada gelang esdann, die amerikanische Luftwaffe und Armee von ihrem Projekt zuüberzeugen.VondreiStrahltriebwerkenangetrieben,wardasFluggerätmit seinen 620 Zentimetern Durchmesser aber nur schwer zu steuern.Zwei Prototypen wurden gefertigt und in den USA untersucht. DurcheinenzentralenLufteinlaufwurdeLuftangesaugtundübereinenRing-schlitz am äußeren Rand der Scheibe nach unten ausgeblasen. Auchnach mehreren Modifikationen ließ sich das Gefährt selbst gefesseltnicht beherrschen. Im Cockpit wurde es so heiß, dass sich alle Kunst-stoffteile braun verfärbtenundverformten. 1954 stellte die kanadischeRegierung die Förderung des Projektes ein und die USA übernahmenallein dieWeiterentwicklung. Erst imNovember 1959 konnte ein Avro-car erstmals knapp über dem Boden frei, aber nur taumelnd fliegen.ImMärz1961wurdedasAvrocar-Projekt schließlicherfolglosbeendet.

Parallel zum kleinen Avrocar arbeitete das Frost-Team ab 1952an einem größeren Luftfahrzeug unter der internen Bezeichnung„Project Y“. Senkrecht startend, sollte es in Europa auch nach einemErstschlag gegen Flugplätze einsatzbereit bleiben. Wie ein Zwitteraus Kreis- und Deltaflügel geformt, sollte Luft an der Vorderkante ein-gesaugt und am hinteren Ende ausgeblasen werden. Eine Attrappedes Einsitzers wurde ab 1953 gefertigt. Fotos davon gelangten auf

Bei der (auch auf der dop-pelseitigen Abbildung auf

den Seiten 70/71 gezeigten)Variantemit sechs Viper-Triebwerken, presste ein

großer Impeller in der Rumpf-mitte Luft in außen liegende

Stautrahltriebwerke.Rechts: Der Einbau der

Viper-Triebwerke

Bei dieser Version des „Pro-ject 1794“ kommen kleinereStrahltriebwerke zum Ein-

satz. Die Fächer-Verteiler, diehohe Schubverluste erzeu-gen, können so entfallen.

76 Fliegende Untertasse „Project 1794“

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unbekannten Wegen an die Presse. Vermutungen gehen dahin, dieFirma selbst habe für die Veröffentlichung gesorgt. Auch technischeDaten,wiediegeplanteHöchstgeschwindigkeitvon2400km/hwurdenpubliziert. Die Maschine sollte eine Gipfelhöhe von fast 20 Kilometernerreichen und mit Luft-Luft-Raketen bewaffnet sein. Jedoch wurdedie Förderung für „Project Y“ 1954 eingestellt. Das Konzept hielt einergenauerenUntersuchung einfach nicht stand. Besondere Kritik rief derAntrieb hervor, der aus einem riesigen Zentrifugalverdichterrad beste-hensollte,welcherhorizontal imRumpf rotierte.NachBemerkungen ineinem amerikanischen Dokument sollen Windkanaluntersuchungenzum „Project Y“ in England durchgeführt und sogar einModell in Flugerprobt worden sein. Leider gingen alle Dokumente dazu in England1959bei einemBrandverloren.

Endlich eine richtige Fliegende UntertasseNachdemzweiverschiedeneAuslegungeneinerFliegendenUntertassenicht zum Erfolg geführt hatten, sollte ein radikal geänderter Entwurf(„ProjectY2“)beweisen,waseinesolcheFlugmaschine leistenkann. ImJahr 1954 standen die USA unter großemDruck, endlich eine Antwortauf die mögliche Herkunft der immer zahlreicher beobachteten UFOszufindenunddemSpukderungestörtenmöglichenfeindlichenAufklä-rungsflügeüberdemLandeinEndezubereiten.SolltendieUntertassenwirklich aus der Sowjetunion kommen, so mussten deren Flugprinzipentschlüsselt undselbst solcheFluggeräte zurAbwehrgebautwerden.Darum zog das amerikanische Verteidigungsministerium die Leitungder gemeinsamen kanadisch-amerikanischen Arbeitsgruppe an sich.Die besten Wissenschaftler der USA wurden in die Forschung einge-bunden.DasMassachusetts InstituteofTechnology(MIT)unddasAmesResearch InstitutewurdenanderEntwicklungbeteiligt.

DasAntriebskonzeptdesAvrocarwurdeverfeinertund fürwesent-lich höhere Leistungen ausgelegt. Acht oder sechs konventionelleStrahltriebwerke wurden sternförmig um ein zentrales Cockpit in derScheibe platziert und bliesen jeweils einen Sektor am Außenrand deskreisförmigen Flugkörpers an. Klappen am Rand steuerten den Luft-strom. Unter verschiedenen Bezeichnungen wie Project Y2, Silver Bug

(Silberkäfer), Ladybird (Marienkäfer), Project 1794 oder MX 1794 undPR89221 wurde jetzt viel Geld in die Hand genommen. Die zu erwar-tenden Flugleistungen glichen denen der beobachteten UFOs. DasFluggerät sollte senkrecht starten, auf der Stelle schweben, nach allenSeitenausweichenundschnell inhorizontaler Lagesteigenkönnen. ImFlugmitderdünnenKantevoran, solltemehrfacheSchallgeschwindig-keit erreichtwerdenund radikale, abrupteFlugmanövermöglich sein.

Der Haupteinsatzzweck war der eines Abfangjägers. Eine Bewaff-nungmitKanonenoderRaketenwurdedafürvorgesehen.Auchder fürPiloten wenig verlockende Vorschlag, Gegner einfach mit mehrfacherSchallgeschwindigkeit zu rammen, wurde vorgebracht. Als Aufklärerund Bomber sollten die Flugscheiben ebenfalls genutztwerden, sogar

Im Abgasstrahl der Stau-strahltriebwerke liegen dieSteuerklappen, die den Luft-strahl zumManövrieren undals Antrieb in die gewünschteRichtung lenken.

Bei dieser weiteren Versiontreiben vier senkrecht ste-hende Rolls-Royce-TurbinenRB-108 den zentralen Im-peller (gelb) an. DessenDruckluft wird zu den amRand liegenden Staustrahl-triebwerken geleitet.

Auf unserer Homepagefinden Sie zu diesemBeitrag kostenlosesBonus-Materialzum Herunterladen

Bonus-Material

www.FliegerRevueX.aero

77Fliegende Untertasse „Project 1794“

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esweiter zuAviaexport, einemsowjetischenAußenhandelsunterneh-men, ebenfallsmit Sitz inMoskau.HiergingesumPreise, Lieferfristen,Umschulungsfragenfür technischesundfliegendesPersonal, allesaufden aktuellen Standbezogen, alsomehr oderweniger unverbindlich.EineVorstellungdesHubschraubersmitderMöglichkeitmitzufliegenundauch selbst zu steuern,war imProgrammenthalten. Beiminus27Grad Celsius zeigte sich der kleine Ka-26 sehr leistungsstark und dieKabinen gut durchgeheizt. Offen blieb allerdings die Frage, wie denndie Leistungbei plus 27Grad aussehenwürde?

Den bisherigen Aktivitäten folgte bald ein Liefervertrag überzwei Ka-26 und schon Anfang März 1970 reiste eine GruppeMitarbeiter des Spezialfluges in die Sowjetunion. Ihr Ziel war Kre-mentschuk, eine größere Stadt amDnjepr. An der dort ansässigenFlugschule der Zivilluftfahrt sollte die Umschulung auf den neuenHubschraubertyp erfolgen. Nach drei Wochen war alles vorbei.Nun ging es erwartungsvoll zurück in die Heimat. Das lange War-ten auf den Kleinhubschrauber fand nun endlich sein Ende.

Die bereits am 17. Februar 1970 im zivilen Luftfahrtregister derDDR eingetragene DM-SPZ stand am 23. April 1970 in Moskau zurÜbernahme bereit und traf schließlich am 11. Juni 1970 auf demFlughafen Berlin-Schönefeld ein. Einige Tage später folgte dieDM-SPY, die am 2. April 1970 den Eintrag ins Register erhielt und

am 23. Juni 1970 in Moskau übernommen worden war. Die Über-führungen in die DDR erfolgten durch sowjetische Besatzungen.

Nach einem Jahrzehnt geduldigenWartens standen nun endlichKleinhubschrauber zur Verfügung. Jetzt lag es in den Händen desSpezialfluges,dieseneueFlugtechnik schnell indenAngebotskatalogder Interflug einzufügenunderfolgreich zu verkaufen.

Ein Zwischenspiel mit KameraEine Episode aus den Wartejahren sollte unbedingt noch berichtetwerden. Es war im Frühjahr 1966, als der damaligeWirtschaftflug zweiMitarbeiter zur BetreuungeinesDEFA-Filmteams abstellenmusste. DieWahlfielaufdiebeidenfrischgekürtenFlugzeugmechanikerKarl-HeinzBahrke und Ullrich Kohl. Was war geschehen? Den damals bekanntenDokumentarfilmern Annelie und Andrew Thorndike war es gelungen,einen tschechischen Kleinhubschrauber vom Typ HC-3 für Filmauf-nahmen chartern und mit der tschechischen Mannschaft in der DDRarbeiten zu dürfen. Das war wohl einmalig. Für den Film „Du bist min–eindeutschesTagebuch“, solltenquerdurchdieDDRLuftaufnahmengemachtwerden. Unsere Betreuer begleiteten diese Leute vonMai bisOktober. ImDresdnerFlugzeugwerkwareine schwingungsgedämpftePlattform gefertigt worden, auf welcher der Sitz für den Kameramannund die 35 kg schwere Filmkamera angebracht waren. Der Einbau imHubschrauber rechtsseitig erforderte das Abnehmen der linken undrechtenKabinentür, sodassderKameramannwährenddesFluges,halbimFreiensitzend,hervorragendeAufnahmemöglichkeitenerhielt.ZumGewichtsausgleich ragte linksseitig ein Gestänge heraus, an dem sichein Ausgleichgewicht befand. So tourte die Hubschrauberbesatzungdurch die DDR, bis sie das Sperrgebiet West erreichte. Hier hieß esumsteigen. EineMi-4 der Grenztruppen übernahm ab hier dieWeiter-führungderAufnahmen.SchließlichgingdiesesZwischenspielzuEnde.Diese „AktionHC-3“blieb inderDDReinEinzelfall.

DerPilotdesHubschrauberswareinWerkspilot,dessenFlugkünsteörtlich wohl auch etwas Ärger hervorriefen, was schließlich bis zurstaatlichen Luftaufsichtsbehörde der DDR vordrang, aber wohl keineFolgen hatte. Die eingesetzte Kameraplattform wurde in ähnlicherAusführung, angepasst an die Lastplattformvariante des KA-26, spätervon der Interflug/Spezialflug angeboten und über mehrere Jahreerfolgreicheingesetzt.

Die Einführung des Ka-26 im Bereich SpezialflugNach dem Eintreffen der beiden Ka-26 begann unverzüglich dieUmschulung der in der DDR schon theoretisch ausgebildeten Pilotenund Stationsmechaniker, um kurzfristig kommerzielle Aufträge über-

Eine Ka-26 beim Anflug desTankplatzes. Vorsicht ist

geboten! Die Kamow tanktVergaserkraftstoff FOK 78.

Ein Traktor RS-09 ist alsBeladegerät, speziell für dieKa-26 mit langer Belade-schnecke ausgerüstet. DieBeladung erfolgt innerhalbweniger Minuten bei lau-

fenden Triebwerken.

96 Hubschrauber-Spezialflug der Interflug

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nehmen zu können. Den fliegerischen Teil übernahm der in derSowjetunion umgeschulte Hubschrauberpilot Günter Jähnichen,der von der NVA bereits die Fluglehrerlizenz mitgebracht hatte unddiese nach Abschluss der Ausbildung sofort erweitert bekam. Diepraktische Einweisung der Stationsmechaniker übernahm der in derSowjetunion zumLehrmechaniker umgeschulte Peter Kirst.

Die Umschulungder Piloten begann am18. Juni, nachdem techni-scheArbeitenamHubschrauberDM-SPZabgeschlossenwaren.Am29.Juni1970,währendderSchulflügeamFlughafenBerlin-Schönefeld,kamdieAnforderung für einendringendenRettungsflug vonPlauen/Vogtl.nach Frankfurt/Oder. Ein 18-jähriger Patient musste wegen eines Gas-brandes im linkenBein schnellstens in eine Spezialklinik überführtwer-den.Die schulendeBesatzunggingumgehendauf StreckeunderfülltedenAuftrag, der somit zugleich zumersten kommerziellen Einsatz desKa-26wurde. Einweiterer Einsatz erfolgte in der Zeit vom10. bis 12. Juli1970 imAuftragderVolkspolizei amSachsenringbeiHohenstein-Ernst-thalzurVerkehrsüberwachungwährendeinesMotorrad-Rennens.Demgingein technischerVersuchsflugam6. Juli imBerlinerRaumvoraus.Durch den zügigen Ausbildungsverlauf erhielten bereits im Juli 1970die ersten Umschüler ihre Fluglizenzen, sodass beide Ka-26 parallelzum Einsatz kommen konnten. In der Auftragspalette erscheinenanfangs Luftbild- und Filmflüge, Krankentransporte, und Flüge zurVerkehrsüberwachung.

Am 14. Oktober 1970 folgten noch erste avio-chemische Ver-suchsflüge in Kyritz, denen sich 1971 weitere anschlossen. Bis zumEndedesJahres1970konntendievorgesehenUmschulungensowievier fliegerische Grundausbildungen von Flugschülern für den spä-teren Einsatz im Agrarflug abgeschlossenwerden.Mit dem Vorlauf aus dem Jahr 1970 konnten beide Hubschrauber

bereits für verschiedene Verwendungen eingesetzt werden. AlsSchwerpunkt des Jahres 1971 galt allerdings die Erprobungder avio-chemischen Variante des Ka-26. Das Streuverfahren und vor allemdasSprühverfahren in seinerhubschrauberspezifischenWirksamkeitsollte getestet werden. Da zu diesem Zeitpunkt der Kleinhubschrau-ber strukturell noch mit zwei Piloten geflogen wurde, dienten dieseFlüge gleichzeitig der Qualifizierung des fliegenden und auch desBodenpersonals, die allesamt keinerlei Agrarflugerfahrungen mitHubschraubern besaßen. Wissenschaftliche Unterstützung erhieltdieMannschaft des Spezialfluges u.a. durch das Institut für Pflanzen-schutzforschungKleinmachnow,durchdasInstitutfürMineraldüngerLeipzig unddurch das Institut für Forstwissenschaften Eberswalde.

Die avio-chemische Erprobung und AusbildungDer kommerzielle Einsatz des Ka-26 im avio-chemischen Bereichbegann am 5. April 1971 bei Marienberg. In der Umgebung von Hein-zebank versprühte ein Ka-26 innerhalb von drei Tagen Herbizide zur

Ka-26 in der Rüstvariante„Streuen“ im Landeanflug.Der Streufächer ermöglichtenur Arbeitsbreiten von etwa10m. Er fand Verwendungbeim Ausbringen von Fest-stoffen, z.B. beim Düngen.

Flugschüler besichtigen dieDM-SPZ bei einer Zwischen-landung in Leipzig-Mockau.Im Hintergrund stehendoppelsitzige Z-37 zur Aus-bildung von Agrar-Piloten.

97Hubschrauber-Spezialflug der Interflug