Bemerkungen zum Liber Diurnus

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Bemerkungen zum Liber Diurnus. Von Leo Santifaller. Abkürzungen. Hs., Hss. — Handschrift, Handschriften LD — Liber Diurnus V — codex Vaticanus C — codex Claromontanus A — codex Ambrosianus Chronologisches Verzeichnis der wichtigsten und für das Folgende zugrunde gelegten Editionen und Literatur. Von der Zitierung im einzelnen wird abgesehen. Garnier Jean (Joannes Garnerius), Liber Diurnus Romanorum Pontificum ex anti- quissimo codioe nunc primum in lucem editus opera et studio ... (Paris 1680). — Neudruck: Migne, Patrologia Latina 105, (1864) Sp. 9—187. Sickel Th. R. v., Prolegomena zum Liber Diurnus I (Sitzungsberichte der phil.-hist. Kl. d. k. Ak. d. Wiss. in Wien 117 n. 7, 1889); II (117 n. 13, 1889). Neudruck 1966. Sickel Th. E. ab, Liber Diurnus Romanorum Pontificum (1889). Neudruck 1966. Wolf von Glanvell Victor, Die Kanonessammlung des Kardinals Deusdedit 1 (1905). Bresslau Harry, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien 1 (1912), 2 (1915). — Neudruck 1958—1960. Schmitz-Kallenberg Ludwig, Papsturkunden (Meisters Grundriß der Geschichts- wissenschaft 1/2, 2. Aufl. 1913). Peitz Wilhelm M., Liber Diurnus. Beiträge zur Kenntnis der ältesten päpstlichen Kanzlei (Sitzungsberichte der phil.-hist. Kl. d. k. Ak. d. Wiss. in Wien 185 n. 4, 1918). Steinacker Harold, Zum Liber diurnus und zur Frage nach dem Ursprung der Früh- minuskel (Miscellanea Francesco Ehrle 4, 1924, 195—276). Santifaller Leo, Über die Verwendung des Liber diurnus in der päpstlichen Kanzlei von der Mitte des 8. bis in die Mitte des 11. Jahrhunderts (Abhandlungen aus dem Gebiete der mittleren und neueren Geschichte ... Festgabe Heinrich Finke, 1925, 23—35). Leolercq H., Liber Diurnus Romanorum Pontificum (Dictionnaire d'Archéologie chrétienne et de Liturgie 9/1, 1930, Sp. 243—344). Santifaller Leo, Die Verwendimg des Liber diurnus in den Privilegien der Päpste von den Anfängen bis zum Ende des 11. Jahrhunderts. M3ÖG 49 (1936) 225—355. Peitz Wilh. M., Liber Diurnus: Das vorephesinische Symbol der Papstkanzlei (Mis- cellanea Historiae Pontificiae 1, 1939). Mohlberg C. L., Neue Erörterungen zum „Liber Diurnus" (Theologische Revue 38, 1939, Sp. 297—303). Peitz Wilh. M., Liber Diurnus. Methodisches zur Diurnusforschung (Miscellanea Historiae Pontificiae 2, 1940). Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/22/14 3:37 AM

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Bemerkungen zum Liber Diurnus. Von Leo Santifaller.

Abkürzungen. Hs., Hss. — Handschrift, Handschriften LD — Liber Diurnus V — codex Vaticanus C — codex Claromontanus A — codex Ambrosianus

Chronologisches Verzeichnis der wichtigsten und für das Folgende zugrunde gelegten Edit ionen und Literatur.

Von der Zitierung im einzelnen wird abgesehen.

G a r n i e r Jean (Joannes Garnerius), Liber Diurnus Romanorum Pontificum ex anti-quissimo codioe nunc primum in lucem editus opera et studio . . . (Paris 1680). — Neudruck: Migne, Patrologia Latina 105, (1864) Sp. 9—187.

Sickel Th. R. v., Prolegomena zum Liber Diurnus I (Sitzungsberichte der phil.-hist. Kl. d. k. Ak. d. Wiss. in Wien 117 n. 7, 1889); I I (117 n. 13, 1889). Neudruck 1966.

Sickel Th. E. ab, Liber Diurnus Romanorum Pontificum (1889). Neudruck 1966. Wolf von Glanve l l Victor, Die Kanonessammlung des Kardinals Deusdedit 1 (1905). B r e s s l a u Harry, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien 1 (1912),

2 (1915). — Neudruck 1958—1960. S c h m i t z - K a l l e n b e r g Ludwig, Papsturkunden (Meisters Grundriß der Geschichts-

wissenschaft 1/2, 2. Aufl. 1913). P e i t z Wilhelm M., Liber Diurnus. Beiträge zur Kenntnis der ältesten päpstlichen

Kanzlei (Sitzungsberichte der phil.-hist. Kl. d. k. Ak. d. Wiss. in Wien 185 n. 4, 1918).

S t e i n a c k e r Harold, Zum Liber diurnus und zur Frage nach dem Ursprung der Früh-minuskel (Miscellanea Francesco Ehrle 4, 1924, 195—276).

S a n t i f a l l e r Leo, Über die Verwendung des Liber diurnus in der päpstlichen Kanzlei von der Mitte des 8. bis in die Mitte des 11. Jahrhunderts (Abhandlungen aus dem Gebiete der mittleren und neueren Geschichte . . . Festgabe Heinrich Finke, 1925, 23—35).

Leo le rcq H., Liber Diurnus Romanorum Pontificum (Dictionnaire d'Archéologie chrétienne et de Liturgie 9/1, 1930, Sp. 243—344).

S a n t i f a l l e r Leo, Die Verwendimg des Liber diurnus in den Privilegien der Päpste von den Anfängen bis zum Ende des 11. Jahrhunderts. M3ÖG 49 (1936) 225—355.

P e i t z Wilh. M., Liber Diurnus: Das vorephesinische Symbol der Papstkanzlei (Mis-cellanea Historiae Pontificiae 1, 1939).

Mohlberg C. L., Neue Erörterungen zum „Liber Diurnus" (Theologische Revue 38, 1939, Sp. 297—303).

P e i t z Wilh. M., Liber Diurnus. Methodisches zur Diurnusforschung (Miscellanea Historiae Pontificiae 2, 1940).

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S a n t i f a l l e r Leo, Zur Liber Diurnus-Forschung (Historische Zeitschrift 161, 1940, 532—538).

S a n t i f a l l e r Leo, Saggio di un Elenco dei funzionari, impiegati e scrittori della Can-celleria Pontificia dall'inizio all'anno 1099 (Bullettino dell'Istituto Storico Italiano e Archivio Muratoriano n. 56/57, 1940, 1—865).

S a n t i f a l l e r Leo, Zur äußeren Geschichte der Vatikanischen Handschrift des Liber Diurnus (Anzeiger der phil.-hist. Kl. d. Ak. d. Wiss. in Wien 83, 1946, 171—212.)

S a n t i f a l l e r Leo, Über Döllinger und über den Liber Diurnus (Theodor von Sickel, Römische Erinnerungen, 1947, 167—187).

B a t t e l l i Giulio, Liber Diurnus (Enciclopedia Cattolica 7, 1951, Sp. 1262—1267). B u c h n e r Rudolf, Die Rechtsquellen. (Beiheft zu: Wattenbach-Levison, Deutsch-

lands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger, 1953, 55—57). S a n t i f a l l e r Leo, Beiträge zur Geschichte der Beschreibstoffe im Mittelalter mit be-

sonderer Berücksichtigung der päpstlichen Kanzlei. MIÖG Erg.-Bd. 16 (1953). — Darin S. 93 f. : Der sogenannte Liber Diurnus.

F o e r s t e r Hans, Liber Diurnus Romanorum Pontificum. Gesamtausgabe (1958). Bock Friedrich, Bemerkungen zu den ältesten Papstregistern und zum „Liber Diur-

nus Romanorum Pontificum" (Archivalische Zeitschrift 57, 1961, 11—15). H e r d e Peter, Beiträge zum päpstlichen Kanzlei- lind Urkundenwesen im 13. Jahr-

hundert (Münchener Historische Studien: Abteilung Geschichtl. Hilfswissenschaf-ten 1, 1961, 113). — 2. Aufl. (1967) 161 f.

F o e r s t e r Hans, Abriß der Lateinischen Paläographie, 2. Aufl. (1963) 181 A. 20. R a b i k a u s k a s Paulus, Diplomatica Pontificia (Pra«lectionum lineamenta). Adusum

auditorum (1964) 25—29. — Editio secunda (1968) 35—39.

1. Kurze Übersicht über den Gang der Forschung. Am 23. Juli 1646 entdeckte der damalige Kustos der Vatikanischen

Bibliothek, Lucas Holstenius (1596—1661), in der Sessorianischen Biblio-thek des Klosters S. Croce in Gerusalemme in Rom eine Handschrift, die später in den Vatikan kam und seither mit V bezeichnet wurde. Die Hs. wurde 1650 gedruckt, konnte aber damals nicht veröffentlicht werden.

Bereits vor der Entdeckung des Holstenius hatte sich Jacques Sir-mond (1559—1651) in Paris mit einer später mit C bezeichneten Hs., im wesentlichen des gleichen Inhaltes wie Hs. V, beschäftigt. Diese Pariser Hs. war dem Holstenius bekannt; er verwendete sie für seine Edition der Hs. V. Der Pariser Kodex wurde 1680 durch Jean Garnier (1612—1681) herausgegeben.

Beide titellosen Hss. erhielten im Druck den Titel „Liber Diurnus Ro-manorum Pontificum".

Die Bezeichnimg der beiden Hss. V und C als „Liber Diurnus Roma-norum Pontificum" sollte doch wohl zum Ausdruck bringen, daß diese Hss. das in der päpstlichen Kanzlei täglich gebrauchte (Formular-)Buch gewe-sen waren; als Entstehungsort dieser Hss. war damit Rom bzw. die päpst-liche Kanzlei sozusagen von selbst gegeben. Diese Annahme wurde in der Folge vor allem von Sickel, Peitz und Steinacker, die sich außerdem um die Entstehungsgeschichte, die Zusammensetzung und das Alter dieser Texte bemühten, unterbaut und weiterentwickelt : man nahm nicht nur an, daß es sich bei diesen Hss., insbesondere bei der Hs. V, um das vielleicht sogar bis ins 11. Jahrhundert täglich gebrauchte Kanzleibuch der Päpste

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handelte, man ging noch weiter : da die Hs. V in frühkarolingischer Minuskel geschrieben und in Rom entstanden war, folgerte man, daß die karolingi-sche Minuskel überhaupt in Rom oder zumindest mit in Rom entstanden wäre. Diese und verwandte Theorien und Thesen wurden allgemein aner-kannt, fanden Eingang in die Hand- und Lehrbücher, z. B. bei Bresslau (1912—1915) und Schmitz-Kallenberg (1913), und blieben lange die unwidersprochene Lehre.

Wenn es sich bei diesen Hss. nun wirklich um ein im täglichen Ge-brauch der Papstkanzlei gestandenes Formularbuch handeln sollte, lag es nahe, an Hand des überlieferten Urkunden- bzw. Privilegienmaterials konkret zu untersuchen bzw. zu überprüfen, ob und wieweit diese Hss. bzw. die darin enthaltenen Texte tatsächlich als Formulare für die Her-stellung von Papsturkunden Verwendung gefunden haben — so wie dies Sickel seinerzeit beabsichtigt hatte (Prolegomena I, S. 5 und II, S. 4, 42). Diese Vergleichung der Texte von Hs. V (Edition Sickel) mit dem über-lieferten Urkundenmaterial wurde nun an Hand der Urkunden der Zeit von Papst Silvester I. (314—335) bis auf Papst Urban II. (1088—1099) (Rege-sten Jaffé-K. +174 bis Jaffé-L. 5806 einschließlich der Neufunde des Kehr-schen Papsturkunden-Unternehmens) durchgeführt und hatte folgendes Er-gebnis (Santifaller 1925, 1936) : „Der uns heute überlieferte LD kann vom Beginn des 9. bis Ende des 11. Jahrhunderts nicht das wirklich verwendete Kanzleibuch der päpstlichen Kanzlei gebildet haben und es ist weiter auch höchst unwahrscheinlich, daß er vom Ende des 6. bis zum Beginn des 9. Jahrhunderts diese Funktion besessen hat." „Die uns überlieferten Hss. V, C und A waren demnach gar kein in Verwendung gestandenes Kanzlei-buch der Papstkanzlei, vielmehr waren sie ein Schul- und Übungsbuch für die Heranbildung des Kanzleipersonals und bildeten in der Folge eine Art kanonistischer Quellensammlung".

Mohlberg (1938) hat dann anschließend an frühere Untersuchungen von Lowe, Traube und Lindsay festgestellt, daß die drei überlieferten, in karolingischer Minuskel geschriebenen Hss. V, C und A im Norden bzw. im Nordosten Italiens in der Zeit vom Anfang des 9. bis zur Mitte des 10. Jahr-hunderts, nicht aber in Rom oder gar in der päpstlichen Kanzlei geschrie-ben wurden. Mohlberg hält die Texte dieser Hss. für eine literarische bzw. kanonistische Sammlung. Ergänzend wurde dann (1953) darauf hingewie-sen, daß im 9. Jahrhundert in der päpstlichen Kanzlei noch ausschließlich der Papyrus als Beschreibstoff im Gebrauch war, so daß es daher in höch-stem Grade unwahrscheinlich ist, daß in dieser Zeit ein im täglichen Ge-brauch der Papstkanzlei gestandenes Formularbuch auf Pergament ge-schrieben sein konnte.

Wieder anschließend an Mohlberg erklärte dann Peitz (1939), alle drei Hss., V, C und A, seien nur Abschriften, wurden niemals in der päpst-lichen Kanzlei gebraucht und stammten allen Anzeichen nach aus den Skriptorien norditalienischer Klöster (Nonantula, Bobbio usw.); die Vor-lage dieser Abschriften aber wäre das durch Jahrhunderte wirklich in der

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päpstlichen Kanzlei im Gebrauch gestandene amtliche Kanzleibuch, eben der LD, der Papstkanzlei gewesen.

1953 nimmt Buchner zum LD-Problem Stellung. Er nimmt auf Grund der Vergleichung der Hs. V mit dem überlieferten Urkundenmaterial an, daß der „LD" seit dem 9. Jahrhundert nicht mehr als Formelbuch der päpstlichen Kanzlei gedient habe und daß er im übrigen vorher doch ein unvollständiges Kanzleibuch gewesen sein kann. „Seiner Entstehung nach", schließt Buchner seine Ausführungen, „kann er (der LD) von der päpst-lichen Kanzlei und ihren praktischen Bedürfnissen schwerlich getrennt werden."

Batte l l i (1951) und Rabikauskas (1964) referieren kurz über den Stand der Forschung, ohne dazu näher Stellung zu nehmen. Foerster (1958) bietet außer der ersten Gesamtausgabe der drei Hss. V, C und A eine ausführliche Darstellung des Ganges der Forschung und stellt vor al-lem auf Grund der Forschungen der letzten Jahrzehnte zusammenfassend fest, daß V, C und A voneinander unabhängige Kopien sind und daß aber auch ihre unmittelbaren Vorlagen voneinander unabhängig waren — doch gingen alle drei Hss. auf einen gemeinsamen Archetypus zurück. Weder V noch C noch A sind Gebrauchshandschriften der päpstlichen Kanzlei ge-wesen, doch gehen alle drei Hss. auf solche Gebrauchshandschriften zu-rück — diese Gebrauchshandschriften, also die Vorlagen von V, C und A, aber wären in der päpstlichen Kanzlei in tatsächlicher Benützung gestan-den. Vielleicht hat die päpstliche Kanzlei drei stärker abgenützte Gebrauchs-exemplare, also die Vorlagen der drei Hss. ausgeschieden — vielleicht sind diese drei Hss. auf diesem Wege zu Schulbüchern geworden.

2. Die wichtigsten Merkmale der drei Handschriften V, C, A. a) Überlieferung

V = codex Vaticanus (Archivio Segreto Vaticano). 8./9. Jahrhundert (vielleicht Anfang des 9. Jahrhunderts). Zunächst im norditalienischen Zisterzienserkloster Nonantola, kam die Hs. spätestens in der ersten Hälfte der vierziger Jahre des 17. Jahrhunderts in das Zisterzienserkloster S. Croce in Rom und von da zu Ende des 18. Jahrhunderts in das Vatikanische Archiv.

C = codex Claromontanus (Bibliothek des Benediktinerstiftes Eg-mond-Binnen in Holland). Wird 1616 als im Besitz der Bibliothek des Jesuitenkollegs in Clermont zu Paris erwähnt. Seit der Aufhebung des Jesuitenordens in Frankreich (1763) und dem Verkauf der Bibliothek des Kollegs in Clermont war die Hs. verschollen und ist erst neuerdings wieder aufgetaucht.

A = codex Ambrosianus (Biblioteca Ambrosiana in Mailand). Wird wahrscheinlich in Bibliothekskatalogen des norditalienischen Benediktiner-klosters Bobbio aus dem 10. Jahrhundert und vom Jahre 1461 erwähnt. 1606 kam die Hs. durch den Begründer der Ambrosianischen Bibliothek, Kardinal Federico Borromeo, aus Bobbio an die Ambrosiana. Die Hs. A

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ist erst nach Erscheinen der Sickelschen Ausgabe von Hs. V (1889) wieder bekannt geworden.

Keine der drei Hss. mit Ausnahme von V, die aber erst im 17. Jahr-hundert nach Rom kam, ist vermutlich jemals in Rom aufbewahrt worden. Alle drei Hss. sind keine Originale, sondern Kopien.

b) Äußere Merkmale Beschreibstoff : alle drei Hss. sind Pergament-Kodizes. Schrift : alle drei Hss. sind in karolingischer Minuskel in Norditalien —

Mohlberg nimmt Friaul an — geschrieben; im besonderen vermutlich V in Nonantula, A in Bobbio.

c) Innere Merkmale, Rechts- und Sachinhalt Die inneren Merkmale sowie der Rechts- und Sachinhalt aller drei Hss.

sind eng verwandt, zeigen aber doch erhebliche Unterschiede. Bei allen drei Hss. handelt es sich nicht um innerlich und äußerlich einheitlich zu-sammenhängende Texte, vielmehr besteht jede einzelne Hs. aus ca. 100 Einzelstücken, die nach der Lehre Sickels nicht eine einheitliche Sammlung bilden, sondern entsprechend ihrer schichtenweisen Entstehung angeordnet sind.

Der Inhalt der drei Hss. besteht aus einer Reihe päpstlicher Urkunden bzw. Urkundenformulare. Es finden sich ferner Texte über die Erledigung und Wiederbesetzung des päpstlichen Stuhles, Glaubensbekenntnisse, Texte über die Wahl eines Bischofs, doch auch an den Papst gerichtete Urkunden sowie Urkunden und Texte privatrechtlichen Inhaltes. Die Kenntnis dieser Texte in ihrer Gesamtheit, also der Vorlagen für die Herstellung dieser Hss., erscheint daher nur im Wege der päpstlichen Kanzlei und durch diese möglich. Der Inhalt der drei Hss. ist daher römisch-kurialer Herkunft. Die früher angenommene Verwendung dieser Texte als Formularbuch der päpstlichen Kanzlei ist vornehmlich durch den Vergleich der Texte mit dem überlieferten Urkundenmaterial, doch auch aus anderen Gründen hinfällig geworden.

d) Chronologische Merkmale — Datierung Chronologische bzw. Datierungsmerkmale im eigentlichen Sinne ent-

halten die Texte der drei Hss. nicht. Eine annähernde Datierung ist daher nur mit Hilfe der äußeren und inneren Merkmale sowie des Rechts- und Sachinhaltes möglich. Es ergeben sich folgende Termine: V: 8./9. Jahr-hundert (Anfang des 9. Jahrhunderts) ; C: Mitte des 9. Jahrhunderts (vor Mitte); A: 9./10. Jahrhundert (um 860?).

e) Herstellung — Charakter der drei Hss. Zunächst Hs. V: Wir halten fest: die äußeren Merkmale weisen auf

eine Herstellung in Oberitalien hin und die Überlieferung bestätigt dies. Die Texte bzw. die inneren Merkmale sowie der Rechts- und Sachinhalt dagegen lassen einzig und allein Rom bzw. die päpstliche Kanzlei als Ort

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der Herstellung möglich erscheinen. Wie ist demnach die Entstehung bzw. die Herstellung der Hs. V zu erklären ?

Wie bereits oben angegeben sind die Hs. V sowie auch die Hss. C und A Kopien. Und in dieser Richtung dürfte vielleicht eine Klärung der Frage möglich erscheinen. Ein Mönch eines oberitalienischen Klosters, also im Falle der Hs. A Nonantula, hat im 8./9. Jahrhundert (Anfang des 9. Jahrhunderts), wohl im Auftrage seines Abtes in Bom auf dem von ihm mitgebrachten Pergament in der ihm bereits geläufigen karolingischen Minuskel die römische Vorlage abgeschrieben und in sein Kloster nach Oberitalien mitgebracht. Eine Entlehnung der römischen Hs. nach Ober-italien zum Zwecke der Herstellung einer Kopie erscheint wohl möglich, aber doch nicht sehr wahrscheinlich. Die Datierung dieser Kopie, also der Hs. V, ergibt sich aus dem äußeren Merkmal der Schrift (karolingische Früh-minuskel) und dem Alter der römischen Vorlage. — Bei den Hss. C und A dürfte der Vorgang ähnlich gewesen sein. Eine Kopierung der Hs. V durch C und A erscheint wegen der immerhin bedeutenden Unterschiede von C und A gegenüber V nicht möglich.

Das heute verlorene Original der Hs. V, also die Vorlage von Hs. V, wurde, wie sich aus dem Rechts- und Sachinhalt der Kopie V eigibt, im 8. und 9. Jahrhundert (Anfang des 9. Jahrhunderts) wohl mit Hilfe von älteren Sammlungen (Sickel) und unter Hinzufügung neuerer Stücke her-gestellt und auf dem damals in Rom, insbesondere in der päpstlichen Kanz-lei noch jahrhundertelang gebräuchlichen Beschreibstoff Papyrus in der da-mals ebenfalls noch lange Zeit üblichen Kurialkursive geschrieben. Die Sammlung sollte wohl für die geistliche und weltliche Regierung und Ver-waltung der römischen Kirche und der päpstlichen Kurie wichtige und be-deutsame Dokumente und Rechtsverfügungen enthalten und konnte in der Folge wohl auch als Schulbuch und als kanonistische Sammlung dienen. — Ahnlich wird es sich mit den Originalen bzw. Vorlagen von C und A ver-halten haben.

Diese römischen, wohl titellosen Kompilationen, also die Vorlagen von V, C und A, waren demnach keine Libri Diurni. Es hat aber daneben ein wirkliches Kanzleiformularbuch, das heißt, also einen wirklichen Liber Diurnus gegeben (siehe unten S. 48 ff. n. 4), der sehr wohl von den Kompi-latoren mitbenutzt worden sein mag.

3. Über den Titel „Liber Diurnus".

Die drei Hss. V, C und A hatten ursprünglich, das heißt zur Zeit ihrer Entdeckung keinen Titel. Holstenius und Garnier aber gaben den von ihnen entdeckten bzw. bearbeiteten und 1650 bzw. 1680 in Druck gegebenen Hss. V bzw. C den Titel „Liber Diurnus Romanorum Pontificum". Ob diese Titel Holstenius und Garnier den von ihnen in Druck gegebenen Hss. un-abhängig voneinander gaben oder ob dies im gegenseitigen Einverständnis erfolgte — Holstenius kannte ja auch die Hs. C — wissen wir nicht.

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Aber woher hatten Holstenius und Garnier den Titel „Liber Diurnus" ? Es ist bekannt, daß Kardinal Deusdedit in seiner 1087 abgeschlossenen

Kanonessammlung bei 11 Textstücken als Herkunftsort angibt „Ex Libro Romanorum Pontificum, qui dicitur Diurnus" bzw. „qui appellato" bzw. „qui vocatur Diurnus"; bei Gratian findet sich die Angabe „Ex Libro diurno" (Foerster S. 8 f., 68).

Wir wissen aber auch, daß beide, Holstenius und Garnier, die Kanones-sammlung des Deusdedit kannten: Holstenius zog die Kanonessammlung des Deusdedit sogar für seine Ausgabe des „LD" heran (Wolf von Glan-vell, S. XVII) und Garnier weiß, daß ein „LD" durch den Kardinal Deus-dedit benützt wurde (Migne PL 105, p. 9 f., Foerster S. 15) — und beide Gelehrte standen bekanntlich untereinander in wissenschaftlicher Ver-bindung.

Wir müssen daher doch wohl annehmen, daß beide Gelehrte oder doch einer von ihnen festzustellen vermochte, daß die 11 Stücke, die Deusdedit als aus dem LD stammend bezeichnete, sich in den ihnen vorliegenden Hss. V und C fanden. Garnier gibt dies, wie oben bemerkt, ja eigentlich ausdrücklich an. Aus diesem Grunde erscheint es doch wohl auch durch-aus möglich, daß die beiden Gelehrten bzw. mindestens einer von ihnen glaubten, die Hss. V und C wären nun der von Deusdedit zitierte LD und gaben daher den titellosen Hss. die Bezeichnung „LD".

Sollte diese Vermutung zutreffen — und ich wüßte augenblicklich keine andere Lösung — dann trügen die drei Hss. V, C und A seit der Zeit ihrer ersten Drucklegung (1650 und 1680) eine unrichtige Bezeichnung: alle drei Hss. und daher wohl auch ihre einst in Rom vorhandenen, heute verlorenen unmittelbaren Vorlagen haben bis dahin niemals die Bezeichnung LD getragen und sind auch niemals Libri Diurni im Sinne eines in der päpstlichen Kanzlei täglich gebrauchten Formularbuches gewesen.

4. Der Liber Diurnus.

Aus der bereits mehrfach zitierten Kanonessammlung des Kardinals Deusdedit von der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts (1079 vollendet) erfahren wir, daß es zu dieser Zeit in der päpstlichen Kanzlei ein, wie der Titel sagt, täglich gebrauchtes Kanzleibuch gegeben hat, welches Formulare für Papsturkunden enthielt und den Titel „Liber Diurnus Romanorum Pontificum" trug.

Der LD stammt aber nicht erst aus der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts, sondern gehört vielmehr bereits einer viel älteren Zeit an. Wir wissen, daß es schon in früher Zeit eine Art päpstliche Kanzlei gegeben hat und daß diese mindestens im 4./5. Jahrhundert so entwickelt war, daß sie bereits damals Kanzleiregister führte; im 9. Jahrhundert waren z. B. noch 14 Pa-pyrusbände des Kanzleiregisters Gregors d. Gr. (590—604) erhalten und aus der Kanzlei desselben Papstes sind uns mindestens 24 Kanzleibeamte dem Namen nach bekannt. Eine einigermaßen organisierte Kanzlei mit

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einem Arbeitsanfall, wie es bereits um diese Zeit die päpstliche Schreib-stube war, konnte für die Urkundenherstellung wohl kaum mehr mit Vor-urkunden, Konzepten und ähnlichen mehr einfachen Kanzleibehelfen ihr Auslangen finden. Vielmehr bedurfte sie für ihren Kanzleibetrieb Formular-behelfe, Formularbücher (LD) und ähnlicher Einrichtungen — wie sie be-reits griechische Papyri überliefern und wie sie auch bei den Römern und dann im Frankenreich im Gebrauch standen. Diese Formularbücher usw. wurden jedenfalls mit Hilfe von Originalen, Registern und Konzepten her-gestellt. So dürfte es daher ohne Zweifel bereits seit dem 5. Jahrhundert, wenn nicht schon früher, in der Papstkanzlei einen Kanzleibehelf, ein For-mularbuch, wohl mit dem Titel „LD", gegeben haben.

Selbstverständlich hat dieses Formularbuch, der LD, im Laufe der vielen Jahrhunderte immer wieder seine Gestalt bzw. seinen Inhalt geän-dert: viele alte und veraltete, nicht mehr verwendete Formulare wurden weggelassen, neue Formulare kamen hinzu, alte Exemplare wurden ausge-schieden, neue Bücher wurden hergestellt. So hat der LD Gregors d. Gr. anders ausgesehen als der LD etwa Leos III. oder Benedikt VIII., Leos IX. oder Gregors VII. usw. Der Inhalt, das heißt die einzelnen Formulare des LD für bestimmte Zeiträume bzw. Pontifikate, ließe sich wenigstens in der Hauptsache aus dem überlieferten Brief- und Urkundenmaterial ungefähr rekonstruieren.

Wie der LD zu verschiedenen Zeiten innerlich ausgesehen haben mag, ob die einzelnen Formulare etwa nach sachlichen oder chronologischen Gruppen geordnet oder wahllos aneinandergereiht waren, vermögen wir nicht anzugeben.

Äußerlich war der LD sicherlich bis ins 11. Jahrhundert auf dem kurialen Beschreibstoff, dem Papyrus, in kurialer Kursive (Kuriale) ge-schrieben. Erst seither kam in der päpstlichen Kanzlei allmählich das Per-gament in Gebrauch und wieder später als dieses die kuriale Minuskel. Die äußere Form des LD war, wie schon die Bezeichnung Liber angibt, das Buch, sei es nun in der älteren Zeit die Rolle oder später der Kodex; die chartacei libri Gregors d. Gr. waren sicherlich bereits Kodizes (Santifaller, Beschreibstoffe, S. 175); jedenfalls aber kann unter der Bezeichnung Liber doch wohl kaum, so wie Bock will, eine Mappe mit losen Konzeptblättern verstanden werden.

Erhalten ist uns, man darf wohl sagen begreiflicherweise, kein Exemplar eines LD. Wie bereits oben bemerkt, wurden vermutlich im Laufe der Zeit veraltete, inhaltlich nicht mehr brauchbare Exemplare des LD ausgeschie-den. Außerdem war der Papyrus an sich ein wenig widerstandsfähiger Be-schreibstoff, der durch die tägliche Verwendung sicherlich allmählich abge-nützt und unbrauchbar geworden sein mag, so daß derartige Exemplare praktisch nicht mehr verwendet werden konnten; dies traf schließlich auch bei Pergamentexemplaren, wenn auch in weitaus geringerem Maße, zu. Falls solche nicht mehr verwendbare Exemplare nicht überhaupt vernichtet wur-den, wird man auf die Aufbewahrung derselben sicherlich nicht allzuviel 4 MIÖG. Bd. 78.

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Sorgfalt verwendet haben. Die Ursachen für dieses vermutlich allmähliche Verschwinden von LD-Exemplaren lagen an den inneren und äußeren Merk-malen dieser Bücher. Nun aber wissen wir, daß das ganze alte päpstliche Archiv und mit diesem jedenfalls auch alle Kanzleibehelfe, Formularbücher (LD) usw., soweit sie jeweils noch vorhanden waren, im Laufe der Zeit in-folge äußerer Umstände, Unbilden, Verlagerungen, Brand usw. zugrunde ge-gangen sind; etwa abgesehen von einigen Sonderstücken, wie die Prunk-ausfertigung des Ottonianums, das sogenannte Register Gregors VII. u. a., die übrigens wahrscheinlich niemals zum eigentlichen Archivbestand gehör-ten, hat sich von den alten Archivbeständen und daher auch von den alten Kanzleibehelfen nichts erhalten. Die Bestände des heutigen päpstlichen bzw. vatikanischen Archivs beginnen — abgesehen von den oben angegebe-nen Sonderstücken — erst 1198 mit den Kanzleiregistern Innozenz' I II .

Das erste uns allerdings nur abschriftlich überlieferte Formularbuch der päpstlichen Kanzlei stammt erst aus dem 13. Jahrhundert. Es trägt aber nun nicht mehr die Bezeichnung „LD", sondern war eingebaut in den Liber provincialis bzw. in den Liber cancellariae.

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