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Üben: Vielfältige Lernwege im Spannungsfeld der unterschiedlichen Methoden und wissenschaftlichen Disziplinen Diplomarbeit im Fach Instrumental- und Gesangspädagogik Dr. Hoch‘s Konservatorium Frankfurt am Main Vorgelegt am 17. 12. 2010 von Stephan Johannes Berg Prüferin: Evelyn Wentz Stephan Berg Friesengasse 23 60487 Frankfurt am Main

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Üben: Vielfältige Lernwege im Spannungsfeld der unterschiedlichen Methoden und wissenschaftlichen Disziplinen

Diplomarbeit im Fach Instrumental- und Gesangspädagogik

Dr. Hoch‘s Konservatorium Frankfurt am Main

Vorgelegt am 17. 12. 2010 von Stephan Johannes Berg

Prüferin: Evelyn Wentz

Stephan Berg

Friesengasse 23

60487 Frankfurt am Main

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1. Einleitung…....…………………………………………………………………… …...1

2. Musikpsychologie………………………………………………………………… …..5 2.1 Musikpsychologie – ein Überblick…………………………………………… …..5 2.2 Geschichte der Musikpsychologie – eine alte Disziplin……………..………… …6 2.3 Die verschiedenen Disziplinen der modernen Musikpsychologie………...…… …8

2.3.1 Psychophysik……...………………………………………………… …....8 2.3.2 Phänomenologie und Gestaltpsychologie…………………………… …....8 2.3.3 Ganzheitspsychologie……..……………..………………………… ……..9 2.3.4 Amerikanische empirische Forschung………………………………… ...10 2.3.5 Der Weg zur kognitiven Musikpsychologie……………………………...11 2.3.6 Musiktherapie…………………………………………………………….12

2.4 Musikpsychologie heute – aktuelle Fragestellungen……………………………..14

3. Üben……………………………………………………………………………… …..16 3.1 Methoden des Übens………………………………………………………… …..18 3.2 Motorisch dominierte Übemethode………………………………………………21

3.2.1 Über die Schwierigkeiten des Automatisierungsprozesses……………….23 3.2.2 Zusammenfassung………………………………………………………...24

3.3 Der Klang führt die Bewegung…………………………………………………...26 3.3.1 Die Resonanzlehre (nach Thomas Lange)………………………………..26 3.3.2 Musikalische Muskulatur ………………………………………………...27 3.3.3 Die musikalische Körperarbeit der Resonanzlehre……………………….28 3.3.4 Grundlegende Prinzipien der Körperübungen……………………………28 3.3.5 Üben im Sinne der Resonanzlehre………………………………………..31 3.3.6 Zusammenfassung………………………………………………………..33 3.3.7 Improvisation als Lernweg (nach Volker Biesenbender)………………...34

3.4 Das Prinzip der rotierenden Aufmerksamkeit (nach Gerhard Mantel)…………...38 3.4.1 Das Prinzip der rotierenden Aufmerksamkeit – angewendet

bei der Erarbeitung schwerer Stellen……………………………………..41 3.4.2 Zusammenfassung – oder: Vor- und Nachteile von variablem

gegenüber geblocktem Lernen……………………………………………44 3.5 Mentales Üben ……………………..…………………………………………….46

3.5.1 Mentales Üben in der musikalischen Praxis (nach Christian Pohl).……...48 3.5.2 Mentale Texterarbeitung………………………………………………….49 3.5.3 Instrumentale Ausarbeitung………………………………………………55 3.5.4 Instrumentale Ausarbeitung der eigenen werkimmanenten Emotionen….55 3.5.5 Stabilisierung der Spieltechnik…………………………………………...55 3.5.6 Zusammenfassung………………………………………………………..56

4. Üben und Muskeln…………………………………………………………………...58

4.1 Struktureller Aufbau und Funktionsweise der Muskeln………………………….58 4.2 Wie entstehen muskuläre Ermüdung und Schmerzen?...........................................60 4.3 Muskuläre Anpassungsvorgänge durch Krafttraining……………………………60 4.4 Erkenntnisse aus dem Sport………………………………………………………62

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4.5 Trainingspläne für Musiker?...................................................................................63 4.6 Zusammenfassung………………………………………………………………..65

5. Üben und Neurologie…………………………………………………………………68

5.1 Der Aufbau des menschlichen Gehirns…………………………………………...68 5.2 Für das Üben relevante neurophysiologische Grundlagen………………………..71 5.3 Neuronal sinnvolle Übebedingungen………… …………………………………73

6. Üben und der Umgang mit Fehlern………………………………………………...75

6.1 Gründe für die negative Bewertung von Fehlern…………………………………76 6.2 Zusammenfassung………………………………………………………………...78

7. Resümee………………………………………………………………………………79

8. Literaturverzeichnis....……………………………………………………………….82

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Abbildungsverzeichnis:

Abb. 1: Altenmüller, Eckhart: Hirnphysiologische Grundlagen des Übens. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 61

Abb. 2: Bauer, Ernst W.: Humanbiologie. Berlin: Cornelsen Verlag. 1987, S. 152

Abb. 3: Mozart, W. A.: Violinkonzert Nr. 5 in A-Dur, KV 219. Kassel, Bärenreiter-Verlag. 2003, S. 7

Abb. 4: Biesenbender, Volker: Von der unerträglichen Leichtigkeit des Instrumentalspiels. Aarau, Schweiz: Musikedition Nepomuk. 1992, S. 53    Abb. 5:  Mozart, W. A.: Violinkonzert Nr. 5 in A-Dur, KV 219. Kassel, Bärenreiter-Verlag. 2003, S. 7  Abb. 6: Mantel, Gerhard: Cello üben. Mainz: B. Schott’s Söhne. 1987, S. 173

Abb. 7: Mantel, Gerhard: Cello üben. Mainz: B. Schott’s Söhne. 1987, S. 181

Abb. 8: Mantel, Gerhard: Cello üben. Mainz: B. Schott’s Söhne. 1987, S. 181

Abb. 9: Mantel, Gerhard: Cello üben. Mainz: B. Schott’s Söhne. 1987, S. 181

Abb. 10: Mantel, Gerhard: Cello üben. Mainz: B. Schott’s Söhne. 1987, S. 183

Abb. 11:  Pohl, Christian: Mentales Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 292  Abb. 12: Pohl, Christian: Mentales Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 294

Abb. 13: Pohl, Christian: Mentales Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 294

Abb. 14: Pohl, Christian: Mentales Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 294

Abb. 15: Pohl, Christian: Mentales Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 294

Abb. 16: Pohl, Christian: Mentales Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 295

Abb. 17: Pohl, Christian: Mentales Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 295

Abb. 18: Pohl, Christian: Mentales Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 296

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Abb. 19: Pohl, Christian: Mentales Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 299

Abb. 20: Pohl, Christian: Mentales Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 299

Abb. 21: Campbell, Neil A., Reece, Jane B.: Biologie. München: Pearson Studium. 2006, S. 1090

Abb. 22: Ritschel, Maria: Techniktraining für Speerwerfer. In: Leichtathletiktraining. Philippka Sportverlag. 3/08, S. 6

Abb. 23: Altenmüller, Eckhart: Hirnphysiologische Grundlagen des Übens. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 48

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1. Einleitung

Welche Gründe gibt es, eine Diplomarbeit mit interdisziplinärem Ansatz über das Thema

Üben zu schreiben? Ist es überhaupt sinnvoll, verschiedene Übemethoden vorzustellen,

deren Vor- und Nachteile abzuwägen und Hintergrundwissen für eine Umgestaltung des

Übens zu sammeln? Ist Üben nicht in erster Linie ein intuitives Handeln, ein durch Wie-

derholung erfolgter Lernfortschritt, der sich auch ohne die fortwährende Interaktion eines

kritisch-reflektierenden Verstandes vollzieht? Hemmt nicht sogar prüfendes Nachdenken

über das eigene Üben den persönlichen Lerngewinn? Gilt nicht gerade für die Tätigkeit

des Übens der Satz aus Heinrich von Kleists Marionettentheater: „Ich sagte, daß ich gar

wohl wüßte, welche Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewußt-

sein anrichtet.“1 Viele Musiker werden die Beobachtung gemacht haben, dass die instru-

mentalen Bewegungsabläufe am besten, mühelosesten und zuverlässigsten gelingen, wenn

der Übende die komplizierten Bewegungsfolgen einfach geschehen lässt. Wenn sich also

das Spiel der Muskeln, Nerven und Sehnen ohne bewusste Reflexion und geistige Kon-

trolle entfalten kann. „Jeder Sportsmann weiß, daß man schon einige Tage vor dem Wett-

kampf das Training einstellen muß, und das geschieht aus keinem anderen Grund, als da-

mit Muskeln und Nerven untereinander die letzte Verabredung treffen können, ohne dass

Wille, Absicht und Bewusstsein dabei sein oder gar dareinreden dürfen. Im Augenblick

der Tat sei es dann auch immer so.“2

Ob auch für Musiker gilt, dass „im Augenblick der Tat“, wenn es sich um eine Konzertsi-

tuation handelt, „Wille, Absicht und Bewusstsein“ nicht „dabei sein oder gar dareinreden

dürfen“, ist eine äußerst schwer zu beantwortende Frage. Die Antwort wird sicherlich in

Musikerkreisen unterschiedlich ausfallen. Faktoren wie die Persönlichkeit des Musikers,

seine musikalische Sozialisation, seine individuellen Ansichten über Musik oder der mu-

sikalische Kontext beeinflussen die Antwort, die aber in dieser Diplomarbeit nicht thema-

tisiert werden sollen. Gilt aber auch für den „Augenblick der Tat“, wenn es sich um die

„Tat des Übens“ handelt, dass der Verstand möglichst schweigen oder sogar abwesend

sein sollte? Auch auf diese Frage wird die Antwort wahrscheinlich höchst unterschiedlich

ausfallen. Für manche Musiker und Künstlerpersönlichkeiten mag tatsächlich ein intellek-

tuelles Erfassen der spieltechnischen Zusammenhänge negative Folgen haben. Die „natür-

liche Grazie“ und intuitive Sicherheit der Spielbewegungen kann bei ihnen verloren ge-

                                                                                                                         1 Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke. München: Droemersche Verlagsanstalt. 1951, S. 886 2 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. 2010, S. 28

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hen, wenn sie beginnen, über ihr Üben nachzudenken. Für sie kann der Ansatz dieser Ar-

beit, verschiedene Übemethoden miteinander zu vergleichen, im Gegensatz zu ihrer per-

sönlichen Art des Übens stehen und daher von geringem Nutzen sein. Für andere Musiker

wiederum ist das intellektuelle Verstehen der instrumentalen Gesetzmäßigkeiten ein wich-

tiger Teil des Übens oder – wie folgendes Zitat des berühmten Geigers Yehudi Menuhin

belegt – zu einem notwendigen Teil geworden: „Während der anderthalb Jahre […] wur-

de ich immer ratloser: […] Folgendes war geschehen: der Zusammenhang zwischen mu-

sikalischer Vorstellung und ihrer Verwirklichung, den ich bislang intuitiv erfaßt hatte, war

unterbrochen – nicht vorhersehbar und auch nicht immer, aber doch eine latente Gefähr-

dung. Ich konnte mich nicht mehr auf die Intuition allein verlassen; der Verstand mußte

an ihre Stelle treten […] Wie jede musikalische Vorstellung durch bewußte Analyse der

Komposition gerechtfertigt sein muß, so war es nun unerläßlich, mit derselben Gründlich-

keit jenen Prozeß zu ergründen, der musikalische Gedanken und Gefühle in Aktion, Vor-

stellung in unzählige körperliche Bewegungsvorgänge übersetzt.“3 Die Ergründung „jenes

Prozesses“ – mit dem sich die Umwandlung der inneren musikalischen Vorstellungen,

Gedanken und Gefühle in Musik vollzieht – kann zu einer anderen Betrachtungsweise des

Übens führen. Das verstandesmäßige Erfassen der Vor- und Nachteile von unterschiedli-

chen Übemethoden gewinnt an Bedeutung und wird zu einem wichtigen neuen Teil des

instrumentalen Lernens. Üben bedeutet demnach nicht nur ein durch Wiederholung erfolg-

tes Erlernen einer praktischen Tätigkeit. Die Tätigkeit des Übens beinhaltet eben auch das

Sammeln von Wissen, Kenntnissen und Methoden, mit denen eigene künstlerische Vor-

stellungen am Instrument realisiert werden können, ohne dass die Gegenwart des Verstan-

des dabei einen grundsätzlich störenden Einfluss ausübt. So beschreibt Menuhin, dass

„viele Menschen diesen selben Kreislauf von Intuition über verstandesmäßige Analyse bis

zur wiedererlangten Spontaneität durchlaufen müssen.“4 Im günstigen Fall können so die

gesammelten Erkenntnisse zu einer neuen mühelosen Ausdrucksfähigkeit auf dem Instru-

ment führen. Wenn demnach nicht nur intuitives Erfassen der instrumentalen Gesetzmä-

ßigkeiten zu instrumentaler Spontanität und Leichtigkeit führen, sondern auch umfangrei-

che Kenntnisse derselben, so ergeben sich daraus andere Fragestellungen, Zielsetzungen

und Lerninhalte für das tägliche Tun. Die Tätigkeit des Übens mit all ihren emotionalen,

motorischen und kognitiven Facetten wird zum Gegenstand der Betrachtung. Eine Art

Selbstbeobachtung beginnt Teil des Übens zu werden, gepaart mit einem persönlichen

Abwägen und In-sich-hinein-Fühlen. Dies betrifft Fragen wie: Welche Art des Übens be-                                                                                                                          3 Menuhin, Yehudi: Unvollendete Reise. München: R. Piper & Co. 1976, S. 291 4 Ebd. S. 292

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reichert die musikalische Ausdrucksfähigkeit? Welches Wissen über beispielsweise men-

tale Zusammenhänge hilft bei der Lösung spieltechnischer Schwierigkeiten? etc.

Im Zentrum dieser Arbeit steht die Vorstellung von vier unterschiedlichen, aus der musi-

kalischen Praxis bewährten Übemethoden (siehe Kapitel 3.1 Methoden des Übens). Den

Rahmen für die Darstellung und den Überblick auf verschiedene Übemethoden und Wis-

sensbereiche liefert in dieser Diplomarbeit die Musikpsychologie. Sie bietet auf Grund

ihres interdisziplinären Ansatzes (siehe Kapitel 2.1 Musikpsychologie – ein Überblick) die

Möglichkeit, unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen unter einem Dach zu verei-

nen. Des Weiteren wurde die Musikpsychologie gewählt, da hier nicht vorrangig der Ver-

such unternommen wird, die Vermittlung zweckmäßiger Übestrategien von Instrumental-

lehrern an ihre Schüler zu thematisieren (z.B. in Form von musikpädagogischen Unter-

richtskonzepten für den Instrumentalunterricht). Anliegen dieser Arbeit ist es viel mehr,

Chancen aufzuzeigen, den persönlichen Übeprozess unter Gesichtspunkten der Neurolo-

gie, Physiologie und pädagogischen Psychologie zu betrachten und zu verbessern.

(Dadurch kann, als Folge, auch die Lehrertätigkeit eine Veränderung erfahren.) In diesem

Rahmen erfolgt daher in den letzten drei Kapiteln (Kapitel 4-6) eine Vorstellung von aus-

gewähltem interdisziplinärem Wissen, das der Bereicherung des instrumentalen Übens

dienen kann. Diese Kapitel Üben und Muskeln (Kapitel 4), Üben und Neurologie (Kapitel

5) und Üben und der Umgang mit Fehlern (Kapitel 6) sind als Ergänzung zu den unter-

schiedlichen Übemethoden zu betrachten und stehen teilweise in enger Verbindung zu

ihnen. So bietet beispielsweise das Kapitel Üben und Neurologie ausgewähltes Hinter-

grundwissen, welches eine Reihe von Argumenten für die Vor- und Nachteile der ver-

schiedenen Übemethoden liefert.

Die dargestellten Übemethoden und (veranschaulichenden instrumentalen) Notenbeispiele

sind als allgemeingültige Prinzipien zu betrachten und mit leichter Veränderung auch auf

die meisten Instrumentengruppen übertragbar. In der vorliegenden Arbeit werden jedoch

häufig Beispiele für Streichinstrumente gewählt, da der Verfasser selbst Geiger ist und für

diesen Bereich das meiste Wissen und Verständnis besitzt. Die „Instrumentengruppe“

Sänger wird in diesem Text nicht miteinbezogen, da Gesangsunterricht, das Üben von

Gesang und der Umgang mit der eigenen Stimme ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten unter-

liegt. Schon alleine die Unsichtbarkeit der Klangerzeugung (anders etwa als bei Strei-

chern) und die durch die innerlich erzeugten Töne veränderte Klangwahrnehmung erfor-

dern spezifische Methoden und Vorgehensweisen.

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Für die bessere Lesbarkeit und einen flüssigen Textverlauf wird in der Diplomarbeit auf

die Unterscheidung Musiker/Musikerinnen, der Übende/die Übende usw. verzichtet.

Selbstverständlich sind immer Menschen beiderlei Geschlechts gemeint.

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2. Musikpsychologie

2.1 Musikpsychologie – ein Überblick

Musikpsychologie ist eine wissenschaftliche Disziplin, welche bei vielen Menschen das

Gefühl auslöst, sie könnten mitreden, da es ja schließlich um die Wirkung und das eigene

Erleben von Musik gehe. Somit zieht im Grunde jeder seine eigenen Schlussfolgerungen

aus seinen Musikerlebnissen, so gesehen ist „jeder Mensch ein «naiver Musikpsycholo-

ge».“5 Wird jedoch z.B. die Wirkung des Musikhörens beim Autofahren untersucht – ei-

nem Thema das sowohl im persönlichen Kreis als auch in der breiten Öffentlichkeit gerne

diskutiert wird – müssen die komplexen Wechselwirkungen zwischen Aufmerksamkeit,

physiologischer Belastung und individueller Gewohnheit betrachtet werden. Diese inei-

nander greifenden Wechselwirkungen erklären, warum das Gebiet der Musikpsychologie

so weit verzweigt ist. Es gibt keinen „einheitlichen Wissenschaftsbegriff und damit auch

keine stringente zusammenhängende Theoriebildung.“6 Stattdessen fließen Grundwissen

aus Entwicklungspsychologie, Persönlichkeitspsychologie, Pädagogik, Medizin – insbe-

sondere der Neurologie – bis hin zu Kultur- und Wirtschaftswissenschaften zusammen.

Musikpsychologie wird seit den Anfängen der Psychologie betrieben. Durch die hohe

Vernetzung der Gebiete ist der Erkenntnisstand allerdings noch unbefriedigend, da die

komplexen Wechselwirkungen mit anderen Gebieten eindeutige Erkenntnisse erschweren.

Aufgabe der Musikpsychologie ist die Erforschung universeller Gesetzmäßigkeiten beim

Hören von Musik und ihrer praktischen Ausführung. Eine Eigenart dieses Wissenschafts-

zweiges liegt darin, dass Musik als Gegenstand der Betrachtung zwar schriftlich fixiert ist,

sich jedoch in ihrem Wesen erst bei ihrer Aufführung zeigt. Der Gegenstand der Betrach-

tung ist also äußerst flüchtig. Die Musik wird erst als Gegenstand der Wahrnehmung bzw.

der Vorstellung zum Forschungsobjekt.

Zusätzlich untersucht die Musikpsychologie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen,

die es dem Einzelnen ermöglichen, Musik zu machen und zu hören und befasst sich mit

dem Musikgeschmack verschiedener Bildungsschichten. Musik wird als soziales Phäno-

men mit einer gesellschaftlichen Funktion innerhalb einer Kultur betrachtet. Komponist,

Interpret und Hörer beziehen sich in gegenseitig beeinflussender Weise auf Musik, so dass

sich durch Übereinstimmungen bestimmte Musikrichtungen gesellschaftlich durchsetzen,                                                                                                                          5 Bruhn, Herbert; Oerter, Rolf; Rösing, Helmut: Musikpsychologie – ein Handbuch. Hamburg: Rowohlts Enzyklopädie. 1993, S. 13 6 Ebd. S. 13

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ersichtlich z.B. an den Richtlinien eines Hörfunkprogrammes oder der Verteilung von

Subventionen im Kulturbereich.7

2.2 Geschichte der Musikpsychologie – eine alte Disziplin

Die Erforschung der Wirkung von Musik auf den Menschen reicht vermutlich bis zu den

Anfängen der Musik zurück. Die ältesten überlieferten Aufzeichnungen, die die heilende

Wirkung der Musik auf den Menschen beschreiben, wurden in ägyptischen Papyrusrollen

und chinesischen Dokumenten aus der Zeit um 1500 v. Chr. gefunden. Geprägt von dem

jeweils vorherrschenden Weltbild einer geschichtlichen Epoche ergaben sich unterschied-

liche Ansichten und Erklärungsversuche über die Wirkungsweise der Musik. „So wurden

die frühen magischen und mythischen Erklärungsmuster in der Antike abgelöst von ge-

setzmäßigen Erklärungen, die Mensch und Musik als wesensverwandt betrachten.“8 Für

die Pythagoreer (4. Jahrhundert v. Chr.) waren Körper und Seele des Menschen von den-

selben Zahlenverhältnissen bestimmt wie die Intervalle der Musik. Nur so war zu erklären,

dass die Musik „unmittelbar Gedanken, Gefühle und körperliche Gesundheit beeinflussen

und mit Hilfe der ihr innewohnenden Harmonie die gestörte psychophysische Ordnung

des Menschen wieder herstellen“9 konnte. In seinen antiken Schriften beschrieb Aristote-

les (um 350 v. Chr., im 8. Buch der „Politik“), dass die heilende Kraft der Musik in ihrer

reinigenden Wirkung (Katharsis) auf den Menschen liege. Krankmachende Emotionen

und Affekte würden durch ekstatische Musik übersteigert, bis sie in ihrem Höhepunkt zur

Entladung kommen und den Menschen erlösend verlassen.10 Von Herophikos sind Unter-

suchungen über den Zusammenhang zwischen dem Hören von Musik und dem menschli-

chen Puls überliefert (296 v. Chr.). Kennzeichnend für die griechische Antike bleibt aber

im Wesentlichen ein mathematisch-physikalischer Ansatz, bei dem die psychische Wir-

kung der Musik in erster Linie auf die genau definierten Zahlenverhältnisse der Oberton-

reihe zurück zu führen waren.

Auch über das Mittelalter hinaus bis in die Neuzeit hatten die antiken Schriften Bedeu-

tung. Mit der Schrift „Compendium musicae“ (1618) baute René Descartes auf Ansichten                                                                                                                          7 Vgl. Bruhn, Herbert; Oerter, Rolf; Rösing, Helmut: Musikpsychologie – ein Handbuch. Hamburg: Ro-wohlts Enzyklopädie.1993, S. 16 8 Plahl, Christine: Musiktherapie – Praxisfelder und Vorgehensweisen. In: Bruhn, Herbert; Kopiez, Rein-hard; Lehmann, Andreas: Musikpsychologie – Das neue Handbuch. Hamburg: Rowohlts Enzyklopädie. 2008, S. 630 9 Ebd. S. 631 10 Vgl. ebd. S. 631

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der griechischen Philosophen auf und schuf eine „physikalistisch orientierte Affektenleh-

re“.11 Diese besagt vereinfacht, dass die Zahlenverhältnisse der Musik den Wahrneh-

mungsmöglichkeiten der Sinne angepasst sein sollen, so dass durch die Wesensverwandt-

schaft beider beim Hörer Freude und Wiedererkennung ausgelöst werden. Auch Gottfried

Wilhelm Leibniz äußerte sich 1712 zur Musik. Er sprach vom „unbewussten Zählen der

Seele“12 beim Hören von Musik. Im Zuge der wissenschaftlichen Fortschritte in Medizin,

Physik und Physiologie des 19. Jahrhunderts verloren die überwiegend theoretischen An-

sätze früherer Zeiten allerdings an Reiz und Überzeugungskraft, und so kam es im Jahre

1879 zum eigentlichen Beginn der modernen Musikpsychologie durch Wilhelm Wundt

(1832-1920). Dieser eröffnete in Leipzig ein psychologisches Laboratorium, mit dem zum

ersten Mal Hypothesen experimentell bestätigt oder widerlegt werden konnten. Über meh-

rere Jahrzehnte wurden so Themenfelder der sich gerade entwickelnden Wahrnehmungs-

psychologie auch auf das Gebiet der Musikpsychologie übertragen und dort experimentell

erarbeitet.

Bis heute hat es allerdings „eine kontinuierliche Theorieentwicklung [...] in der Musikpsy-

chologie [...] nicht gegeben.“13 Stattdessen lassen sich „unterschiedliche Schwerpunkte des

Erkenntnisinteresses und dadurch bedingte Forschungsmethoden erkennen“14, die als

Grundlage für die aktuelle Forschung dienen und bis zum heutigen Tag ihre Bedeutung

und ihren Einfluss behalten haben. So bildet beispielsweise die im folgenden Kapitel be-

schriebene Psychophysik die Grundlage für die aktuelle Neurophysiologie. Darüber hin-

aus kennzeichnet die Musikpsychologie, dass sie sehr stark an die Interessen und Aktivitä-

ten einzelner Wissenschaftler gebunden war, wie z.B. Kurt Huber (Musikwissenschaftler,

Philosoph und Psychologe, bekannt auch als Mitglied der „Weißen Rose“ in München)

oder Peter Faltin (Hauptwerk: Phänomenologie der musikalischen Form), deren Ansätze

aber nicht weiterverfolgt wurden.

                                                                                                                         11 Bruhn, Herbert; Oerter, Rolf; Rösing, Helmut: Musikpsychologie – ein Handbuch. Hamburg: Rowohlts Enzyklopädie. 1993, S. 21 12 Kurth, E.: Musikpsychologie. Berlin: Hesse. 1931, S. 167f. Zitiert in: Bruhn, Herbert; Oerter, Rolf; Rö-sing, Helmut: Musikpsychologie – ein Handbuch. Hamburg: Rowohlts Enzyklopädie. 1993, S. 21 13 Bruhn, Herbert; Oerter, Rolf; Rösing, Helmut: Musikpsychologie – ein Handbuch. Hamburg: Rowohlts Enzyklopädie. 1993, S. 22 14 Ebd. S. 22

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2.3 Die verschiedenen Disziplinen der modernen

Musikpsychologie

Im folgenden Kapitel sollen nun die unterschiedlichen Schwerpunkte, Denkweisen und

Grundlagen der modernen Musikpsychologie näher dargestellt werden.

2.3.1 Psychophysik

Die Psychophysik war Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem antiken Verständnis der Musik

heraus entstanden. Sie untersuchte die Zusammenhänge zwischen physikalischen Reizen

und psychischen Empfindungen mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden und Geset-

zen. Den Versuchen der Psychophysik wurden meistens einfache Reiz-Reaktions-Modelle

zugrunde gelegt. Man nahm an, dass physikalische Reize isomorph in der Psyche des

Menschen abgebildet würden, also physikalische Reize ihre psychische Entsprechung im

Gehirn des Menschen fänden.15 Hierzu wurden Methoden wie etwa die Messung der Ge-

hirnströme, des Blutdruckes oder des Hautleitwiderstandes usw. angewendet. Traditionelle

Themen der Psychophysik waren die Grenzbereiche der Wahrnehmung von Tonhöhe,

Lautstärke und Klangfarbe bzw. die Wahrnehmung von Proportionen zwischen zwei oder

mehreren Reizen. Die bedeutendsten Vertreter der psychophysikalischen Forschung in den

letzten Jahrhunderten waren Gustav Theodor Fechner (1801-1887), Hermann von Helm-

holtz (1821-1894), die Brüder Ernst (1795-1878) und Wilhelm Weber (1804-1891). Auch

Wilhelm Wundt, der Begründer des ersten musikpsychologischen Laboratoriums (siehe

oben) stand in der Tradition von Helmholtz. Die Psychophysik ist bis heute ein bedeuten-

der Forschungsbereich der Musikpsychologie geblieben. Da sich die Methoden in den

letzten Jahrzehnten aber stark verfeinerten und komplexer wurden, ist die Erforschung

psychophysikalischer Phänomene im Wesentlichen in den Bereich der Neurophysiologie

übergegangen.

2.3.2 Phänomenologie und Gestaltpsychologie

Bedeutende Anstöße für die moderne Musikpsychologie (und Psychologie) gingen von

der Gestaltpsychologie aus. Diese ging in ihren Ansätzen auf Carl Stumpf (1848-1936)

zurück, der eine philosophische Zeitströmung aufgriff und auf neue Weise die Ganzheit

der Wahrnehmung zu erfassen suchte (Phänomenologie). Er baute dabei auf die Ansichten

                                                                                                                         15 Vgl. Bruhn, Herbert; Oerter, Rolf; Rösing, Helmut: Musikpsychologie – ein Handbuch. Hamburg: Ro-wohlts Enzyklopädie. 1993, S. 22

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von Ehrenfels’ Gestaltqualitäten16 auf, der im Jahre 1880 davon ausgegangen war, dass

etwa der Verlauf einer Melodie als ganze Gestalt wahrgenommen und „nach innen“ trans-

portiert werde und mehr beinhalte als nur die Summe seriell ablaufender Einzelwahrneh-

mungen. Als Beispiel nannte Ehrenfels die Transponierbarkeit von Melodien, deren Ge-

stalten trotz ihrer Transformation für den Hörer wiedererkennbar bleiben. Durch Stumpfs

frühen Berufswunsch, Musiker zu werden, entstand eine enge Verbindung zu Themen der

Musik (Hauptwerk: Tonpsychologie, 1883/1890). Er wandte sich gegen rein elementaristi-

sche und empirische Untersuchungsmethoden und sah sich eher als Mittler zwischen die-

sen Methoden und der damals wieder verstärkt in den Fokus der wissenschaftlichen Dis-

kussionen rückenden Erkenntnistheorie.17 Auch die damals gängige Trennung zwischen

Perzeption (Aufnahme von Sinnesreizen) und Apperzeption (Beurteilung und Bewertung)

lehnte er ab und entwickelte stattdessen eine Verschmelzungstheorie, die besagt, dass bei

der Wahrnehmung die Sinnesempfindung unmittelbar anschließe.18 Aus Carl Stumpfs

Schule gingen bedeutende Psychologen hervor, wie etwa Max Wertheimer (1880-1943),

Kurt Koffka (1887-1941) und Wolfgang Köhler (1887-1967), die als Begründer der Ge-

staltpsychologie gelten.

2.3.3 Ganzheitspsychologie

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte sich eine Gruppe von Psychologen von der Gestalt-

psychologie ab, die ursprünglich mit der Tradition von Stumpf verbunden war. Die wich-

tigsten Vertreter dieser neuen Strömung waren Felix Krueger (1874-1948) und sein Assis-

tent Albert Wellek (1904-1972). Zunächst arbeitete Krueger mit Zweiklängen und knüpfte

damit an die Forschung von Stumpf an. Beispielsweise erzeugte er bei seinen Versuchen

mit zwei Stimmgabeln Zweiklänge und wertete anschließend die Selbstbeobachtungen der

Versuchspersonen aus. Die Ergebnisse waren umfangreiche Protokolle zu Summations-

und Differenztönen (d.h. Wechselwirkungen zwischen Schallereignissen). Spätestens in

den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts trennte sich allerdings die Ganzheitspsychologie

(vertreten von Krueger und Wellek) aufgrund von unterschiedlichen Auffassungen über

die Art der Gestaltqualitäten (siehe Ehrenfels) von der Gestaltpsychologie. Es bildeten                                                                                                                          16 Ehrenfels, Christian von: Über Gestaltqualitäten. Erschienen in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie. Leipzig: 1890 17 Die Erkenntnistheorie ist eine philosophische Disziplin, die sich der Untersuchung menschlicher Erkennt-nisfähigkeit hinsichtlich ihrer Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen widmet. Seit der Antike haben sich bedeutende Philosophen wie Aristoteles, Descartes, Kant uvm. zu diesem Thema geäußert. Vgl.: Hügli, Anton; Lübcke, Poul (Hrsg.): Philosophielexikon. Reinbek: Rowohlts Taschenbuch Verlag GmbH. 1997, S. 183 18 Vgl. Bruhn, Herbert; Oerter, Rolf; Rösing, Helmut: Musikpsychologie – ein Handbuch. Hamburg: Ro-wohlts Enzyklopädie. 1993, S. 24

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sich zwei Schulen: die Leipziger Schule19 – Krueger übernahm den Lehrstuhl in Leipzig

von Wundt – und die Berliner Schule20 mit den Schülern von Stumpf (Anhänger der Ge-

staltpsychologie). Kruegers Ansichten entwickelten sich dahingehend, dass alle Vorgänge

beim Hören von Musik von „nicht-figuraler und nicht-rationaler Gefühls- bzw. Diffus-

ganzheitlichkeit“21 und damit nicht rational reduzierbar seien. Somit waren für ihn die

Hörerlebnisse eine Einheit bzw. eine Ganzheit und daher nicht teilbar in Empfindungen,

Assoziationen und Reaktionen. Er orientierte sich zunehmend an irrationalen und mysti-

schen Konzeptionen und propagierte am 11. November 1933 das Bekenntnis der Professo-

ren an deutschen Hochschulen zu Adolf Hitler. Damit wurde die Ganzheitspsychologie zu

einer der wegbereitenden Schulen für nationalsozialistisches Gedankengut an deutschen

Universitäten und wendete sich beispielsweise Themen wie der Erforschung rassenorien-

tierter Begabungskonzepte (u.a. durch Albert Wellek in: Typologie der Musikbegabung im

Deutschen Volke, 1939) zu. Da die Psychologen der Berliner Schule nach dem Jahr 1933

fast vollständig zur Auswanderung gezwungen waren, wurde die Ganzheitspsychologie

der Leipziger Schule bestimmend für die weitere Entwicklung der Psychologie im

Deutschland der 30er und 40er Jahre. Nach dem zweiten Weltkrieg aber verlor die Ganz-

heitspsychologie an Bedeutung, da es ihr an experimenteller Exaktheit fehlte.

2.3.4 Amerikanische empirische Forschung

Anders als deutsche Psychologen, bei denen musikpsychologische Fragestellungen auch

immer den Hintergrund allgemeiner und grundlegender Wahrnehmungsmechanismen hat-

ten, beschäftigten sich amerikanische Forscher schon früh mit der Wirkung ganzer Musik-

stücke. Bereits vor der Jahrhundertwende versuchten Ives Gilman (1852-1933) und June

Downey (1875-1932) die Ausdrucksgebundenheit von Musikstücken experimentell zu

belegen, indem sie Versuchspersonen gezielte Fragen stellten, während ihnen Musik vor-

gespielt wurde. Schon bald wurden aber die Musikstücke auf kürzere Abschnitte be-

schränkt, damit musikalische Ereignisse gezielt und systematisch variiert werden konnten.

In diesem Zusammenhang entstand durch den Einfluss der Arbeiten von Charles S. Myers

(1873-1946) und Ralph H. Gundlach (1902-1978) im Jahre 1935 das erste musikpsycho-

logische Experiment mit Faktorenanalyse. Für die amerikanische empirische Forschung

                                                                                                                         19 Bruhn, Herbert; Oerter, Rolf; Rösing, Helmut: Musikpsychologie – ein Handbuch. Hamburg: Rowohlts Enzyklopädie. 1993, S. 27 20 Ebd. S. 27 21 Wellek, Albert: Die genetische Ganzheitspsychologie der Leipziger Schule und ihre Verzweigungen. Neue psychologische Studien, 15, Heft 3. 1954, S. 2. Zitiert in: Bruhn, Herbert; Oerter, Rolf; Rösing, Helmut: Musikpsychologie – ein Handbuch. Hamburg: Rowohlts Enzyklopädie. 1993, S. 27

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war außerdem die Entwicklung musikalischer Testverfahren bedeutsam. Der erste und

immer noch bekannteste Test stammt von Carl Seashore (1866-1949) und wurde von die-

sem im Jahre 1919 entwickelt. Der Test prüft mit Hilfe – besonders aus heutiger Sicht –

komplizierter mechanischer Apparaturen fünf Kriterien musikalischer Begabung. Diese

waren für Seashore die Fähigkeit zur Unterscheidung von musikalischen Einheiten, Dis-

sonanzen, Rhythmen, Lautstärken und die Fähigkeit, Melodien zu memorieren. Der Test

wurde mehrfach überarbeitet und auch seit 1966 im deutschsprachigen Raum verwendet.

Auch Seashores Testreihen (1938) über akustische und wahrnehmungspsychologische

Aspekte des Vibratos und der Klangfarbe erlangten internationale Bedeutung. Einen aus-

führlichen Überblick über die weitere Entwicklung musikalischer Leistungs- und Bega-

bungstests lieferte Rosamund Shuter-Dyson (1982).22 Sie erweiterte die Kriterien für mu-

sikalische Begabung auf fünf Bereiche, bei denen tonale, rhythmische, kinästhetische,

ästhetische und kreative Fähigkeiten untersucht wurden. Obwohl durch diese Erweiterung

der Testverfahren auch kreative und persönlich-gestalterische Fähigkeiten eine größere

Bedeutung erlangten, erfassen Begabungstests immer nur einen Teil musikalischer Leis-

tungsfähigkeit. Trotzdem haben sie sich für viele empirische Studien als wertvoll erwiesen

und sind somit zu einem nicht unwichtigen Teil der modernen Musikpsychologie gewor-

den.

2.3.5 Der Weg zur Kognitiven Musikpsychologie

Von wesentlicher Bedeutung für die Musikpsychologie war die Entwicklung behavioristi-

scher, d.h. naturwissenschaftlich und möglichst objektiv betrachteter Reiz-

Reaktionsmodelle. Musikalische Reize wurden als eine Menge bzw. Dichte und Beschaf-

fenheit von Informationen definiert, die vom Menschen wahrgenommen und verarbeitet

werden müssen. Somit wurde die ästhetische Schönheit eines Musikstücks mit seinem

Informationsgehalt erklärt.23 Da Kunstwerke über eine Fülle von Informationen verfügen,

jeder Mensch aber nur eine bestimmte Menge davon aufnehmen kann – die sog. Ap-

perzeptionsgrenze – lässt sich für jeden Hörer ein Komplexitätsniveau finden, bei dem er

ein Musikstück als „schön“ empfindet. Dieser Theorie folgend untersuchte Hans Werbik24

den Zusammenhang zwischen Informationsgehalt und Ausdrucksqualitäten von musikali-

schen Kunstwerken.                                                                                                                          22 Vgl. Bruhn, Herbert; Oerter, Rolf; Rösing, Helmut: Musikpsychologie – ein Handbuch. Hamburg: Ro-wohlts Enzyklopädie. 1993, S. 28 23 Vgl. Moles, Abraham: Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung. Köln: DuMont. 1971, S. 202 24 Werbik, Hans: Österreichischer Psychologe, 1941 in Hollabrunn geboren. Beschäftigte sich u.a. mit dem Informationsgehalt und der emotionalen Wirkung von Musik (so auch der gleichnamige Titel seiner Habili-tation).

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Der Einfluss der informationstheoretischen Richtung auf die deutsche Forschung lässt sich

in erster Linie auf ein spezielles Untersuchungsverfahren zurück führen – das semantische

Differenzial (auch Polaritätsprofil genannt), 1957 von Charles E. Osgood und seinen Mit-

arbeiter an der Universität von Illinois entwickelt.25 Bei dieser Untersuchungsmethode

sollen Versuchspersonen gegensätzliche Adjektivpaare wie etwa schnell/langsam Begrif-

fen wie Algebra oder Liebe zuordnen. Hans-Peter Reinecke führte diese Methode in den

60er Jahren am musikwissenschaftlichen Institut in Hamburg ein und begann, damit ästhe-

tische Sachverhalte zu untersuchen. Eine Vielzahl an musikpsychologischen Untersu-

chungen sind dadurch angeregt worden, so dass man heute von der Reinecke-Schule

spricht. Wichtige Vertreter dieser Schule sind u.a. Klaus-Ernst Behne, Ekkehard Jost und

Helga de la Motte-Haber.

Ende der 60er Jahre verdrängte in der psychologischen Theoriebildung ein neuer Ansatz

die behavioristischen Reiz-Reaktionsmodelle: Die Kognitive Psychologie. Sie widmete

sich der Erforschung und Entwicklung von Lerntheorien, bei denen die Informationsver-

arbeitung durch das Gehirn – also die sog. kognitiven Prozesse – im Mittelpunkt standen.

Da nicht direkt beobachtbare, kognitiv ablaufende Prozesse gut an elementaren musikpsy-

chologischen Grundfragen wie der Verarbeitung von Tonfolgen und Melodien erforscht

werden konnten, wurde die Musikpsychologie zu einem wichtigen Bereich der kognitiven

Psychologie. „So kam es, dass die junge Musikpsychologin Carol Krumhansl 1983 mit

dem begehrten Forscherpreis der Amercian Psycological Association (APA) für Wahr-

nehmung ausgezeichnet wurde.“26 Seit dem Ende der 70er Jahre wurde dieser Bereich

dementsprechend auch kognitive Musikpsychologie genannt und verfolgt bis heute vor

allem neurowissenschaftliche Ansätze.27

2.3.6 Musiktherapie

Im Verbund der Musikpsychologie ist die Musiktherapie ein sehr junges Fach, obwohl

schon seit Jahrtausenden die Wirkung der Musik zu Heilungszwecken eingesetzt wurde.

In der Antike betrachtete man die Zahlenverhältnisse der Musik – also die Zahlenverhält-

nisse der Intervalle und der Obertonreihe – sowie die der Seele und des menschlichen

Körpers als wesensverwandt. Aus Sicht der Griechen besaß die Musik die Fähigkeit, mit

ihrer mathematischen Ordnung und ihrer ihr innewohnenden Harmonie die Gedanken,                                                                                                                          25 Vgl. Bruhn, Herbert; Oerter, Rolf; Rösing, Helmut: Musikpsychologie – ein Handbuch. Hamburg: Ro-wohlts Enzyklopädie. 1993, S. 30 26 Stoffer, Thomas: Kurze Geschichte der Musikpsychologie. In: Bruhn, Herbert; Kopiez, Reinhard; Leh-mann, Andreas: Musikpsychologie – Das neue Handbuch. Hamburg: Rowohlts Enzyklopädie. 2008, S. 661 27 Vgl. ebd. S. 661

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13  

Gefühle und physische Gesundheit des Menschen unmittelbar zu ordnen und zu heilen

(siehe Kapitel 2.2 Geschichte der Musikpsychologie – eine alte Disziplin). Im 17. und 18.

Jahrhundert wurde im Zuge der sich entwickelnden Naturwissenschaften die Wirkung der

Musik vor allem mechanisch erklärt und wie ein Medikament ergänzend zu den ver-

schiedensten Krankheiten verabreicht. Im Laufe des 19. Jahrhunderts bis in die erste Hälf-

te des 20. Jahrhunderts hinein verschwand der Einsatz von Musik immer mehr aus der

medizinischen Behandlung, da man ihre Wirkung mit wissenschaftlichen Theorien nicht

hinreichend erklären konnte. Erst als traumatisierte Kriegsveteranen aus dem Zweiten

Weltkrieg in den USA zunächst von Musikern mit einigem Erfolg behandelt wurden, kam

es im Jahre 1950 zur Gründung der National Association of Music Therapy, um das erfor-

derliche musikalische, psychologische und medizinische Wissen zu sammeln und weiter-

zuvermitteln. In Deutschland wurden erste Ansätze musiktherapeutischer Behandlung in

den 60er Jahren an der Psychiatrischen Klinik der Universität Leipzig angewendet. Mitte

der 70er Jahre begannen auch an der Universität Mailand Psychologen und Mediziner die

Musiktherapie als Fachgebiet zu organisieren, wie etwa Loredano M. Lorenzetti und

Marcello Cesa-Bianchi.28 Von anderen Ländern sind bisher nur Einzelinitiativen bekannt,

die aber nicht unter dem Dach einer Institution zu finden waren. Im Wesentlichen arbeitete

die Musiktherapie anwendungsorientiert und griff dabei auf Erkenntnisse der Musikpsy-

chologie und der Allgemeinen Psychologie zurück – systematische Grundlagenforschun-

gen waren eher selten. Lediglich in den USA ging die Musiktherapie eine engere Bindung

zur Musikpsychologie ein, und war somit auch direkt an Forschungsarbeiten beteiligt. In

Österreich gab es in den Jahren um 1970 Ansätze systematischer Grundlagenforschung,

bei der die Wirkung von Musik auf den Menschen untersucht wurde. Die wichtigsten Im-

pulse für diese Arbeiten gingen von dem Psychologen Wilhelm Josef Revers (1919-1987)

und dem Neurologen Gerhart Harrer (geb. 1917) aus, die 1969 im Rahmen der Herbert-

von-Karajan-Stiftung das Forschungsinstitut für experimentelle Musikpsychologie am

psychologischen Institut der Universität Salzburg gründeten. Bestrebungen zur Grundla-

genforschung kamen in den 1980er Jahren auch in Deutschland auf, wie beispielsweise

durch die Arbeiten von Heiner Gembris (geb. 1954) zu den Beziehungen zwischen Emoti-

on und Musikerleben. Mittlerweile haben sich Ansätze wie die Schöpferische Musikthera-

pie nach Nordoff und Robbins, die Integrative Musiktherapie nach Frohne-Hagemann

(2001), die Regulative Musiktherapie nach Schwabe und Röhrborn (1996), die Entwick-

lungsorientierte Musiktherapie nach Schumacher (1999) und die Systemische Musikthera-                                                                                                                          28 Vgl. Bruhn, Herbert; Oerter, Rolf; Rösing, Helmut: Musikpsychologie – ein Handbuch. Hamburg: Ro-wohlts Enzyklopädie. 1993, S. 33

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14  

pie nach Zeuch, Hänsel und Jungaberle (2004) etabliert. Eine eingehendere Behandlung

der verschiedenen Schulen würde hier allerdings den Rahmen eines Überblickes über die

Musiktherapie sprengen.

2.4 Musikpsychologie heute – aktuelle Fragestellungen

Mittlerweile hat sich die Musikpsychologie als eigenständige Forschungsrichtung interna-

tional etabliert. Ein festes Berufsbild und einen eigenen musikpsychologischen Studien-

gang gibt es bislang (aber) noch nicht.29 „Im deutschsprachigen Raum kommen die meis-

ten Fachvertreter aus der Musikwissenschaft oder der Musikpädagogik, im englischen

Sprachraum ist das Fach dagegen hauptsächlich in der Psychologie und der Musikpäda-

gogik verankert.“30 Aufgrund dieser Fachtraditionen galt das Interesse der deutschen Mu-

sikpsychologie auch bis Mitte der 1980er Jahre eher Forschungsgebieten wie der musika-

lischen Sozialisation, dem Beziehungsgeflecht zwischen Musik, Medien und Lebenswel-

ten und dem subjektiven Erleben von Musik. Auch Bereiche wie etwa der Musikge-

schmack Jugendlicher oder die Medienwirkung von Musik31 standen hierzulande weit

eher im Interesse der Musikpsychologie als im angloamerikanischen Sprachraum. Dort

konzentrierte sich seit den 1970er Jahren die Forschung verstärkt auf neurowissenschaftli-

che Ansätze, die in enger Verbindung zur Psychophysik standen (siehe Kapitel 2.3.1

Psychophysik). Eine Öffnung der deutschen Musikpsychologie für Themengebiete der

internationalen Forschung erfolgte erst mit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für

Musikpsychologie e.V. im Jahre 1983. Seither erlangten neurowissenschaftliche Methoden

auch in Deutschland immer mehr an Bedeutung.

Inzwischen ist die Erforschung der neuronalen Strukturen im Gehirn zu einem der wich-

tigsten Gebiete der modernen Musikpsychologie geworden. Die Fragestellungen der aktu-

ellen Forschung widmen sich häufig der neuronalen Steuerung von Spielbewegungen, der

Repräsentation motorischer Abläufe im Gehirn oder der Lokalisierung von Verarbeitungs-

prozessen in bestimmten Hirnarealen (siehe Kapitel 5 Üben und Neurologie). Eine vor-

sichtige Definition der modernen Musikpsychologie liefert Thomas Stoffer: „Der Termi-

                                                                                                                         29 Vgl. Bruhn, Herbert; Kopiez, Reinhard; Lehmann, Andreas: Musikpsychologie – Das neue Handbuch. Reinbek: Rowohlts Enzyklopädie. 2008, S. 665 30 Ebd. S. 665 31 Besonders Klaus-Ernst Behne beschäftigte sich mit Musikpräferenzen. Sein 1986 erschienenes Werk „Hörertypologien. Zur Psychologie des jugendlichen Musikgeschmackes“ gilt als Standardwerk in diesem Bereich.

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nus «Musikpsychologie» stellt heute eine theoretisch neutrale Bezeichnung für den Be-

reich von Psychologie und Systemischer Musikwissenschaft dar, der sich mit psychologi-

schen Fragestellungen musikalischen Verhaltens beschäftigt.“32

                                                                                                                         32 Bruhn, Herbert; Kopiez, Reinhard; Lehmann, Andreas: Musikpsychologie – Das neue Handbuch. Rein-bek: Rowohlts Enzyklopädie. 2008, S. 665

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3. Üben

Grundlage jeder musikalischen Tätigkeit ist das Üben; in welcher Form es praktiziert wird

und wie die genaue Ausführung aussieht, ist individuell äußerst verschieden.

Was allgemein unter Üben verstanden wird, lässt sich zunächst relativ leicht beschreiben:

„Ein in Wiederholung erfolgtes Lernen und Vervollkommnen einer praktischen Tätig-

keit.“33 So einfach diese Beschreibung auch klingen mag, in seiner Ausführung ist das

Üben äußerst vielfältig und der Weg zu einem lustvollen Eintauchen in Übeinhalte, frei

von dauerhaft quälender Selbstdisziplinierung ist mitunter lang. Anliegen dieses Kapitels

ist es, einen Überblick über eine Reihe von Übemethoden zu liefern, um die Möglichkei-

ten aufzuzeigen, sich „leibhaftig handelnd in die Musik und in sich selbst zu vertiefen.“34

Üben ist keine immer gleich ablaufende Tätigkeit, sondern ist von physischer, mentaler

und emotionaler Verfassung täglich neu geprägt, variiert in seiner zentralen Fragestellung

und verändert sich – besonders bei Musikern mit täglichen Übeerfahrungen – zum Teil

grundsätzlich innerhalb der Monate und Jahre der Praxis. Wohl (fast) jeder Musiker be-

fasst sich mit dem Thema: Wie gestaltet man das eigene Üben produktiv? Um auf diese

Fragestellung eine Antwort geben zu können, sind zwei große Themenbereiche bedeut-

sam.

Erstens: die Frage nach dem Individuum. Die Frage muss also lauten: Wie gestaltet man

für sich persönlich sinnvolles und erfolgreiches Üben? Die Antwort darauf wird im Laufe

eines Musikerlebens sicherlich unterschiedlich ausfallen, sie setzt aber in jedem Fall eine

Beschäftigung mit sich selbst, den eigenen Vorlieben, den eigenen körperlichen Gegeben-

heiten, dem eigenen Wissen, der eigenen Biografie usw. voraus. Näher beleuchtet wird

diese Thematik von Ulrich Mahlert in Handbuch Üben35. In diesem werden einzelne

„Übebiographien“36 ausführlich zitiert und anschließend die individuellen Lernwege und

„Übekulturen“37 beschrieben. Mit dieser Diplomarbeit sollen aber nicht persönliche Lern-

wege von professionellen Musikern untersucht und ausgewertet, sondern unterschiedliche

Übemethoden und das dazugehörende Hintergrundwissen dargestellt werden.

                                                                                                                         33 Mahlert, Ulrich: Was ist Üben? In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 9 34 Ebd. S. 7 35 Ebd. S. 11 36 Ebd. S. 11 37 Ebd. S. 11

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Zweitens: Wie sieht die Gestaltung produktiven Übens aus? Natürlich gibt es kein Patent-

rezept, keine allgemeingültige Methode (der Begriff „Methode“ wird im folgenden Kapi-

tel behandelt) für gutes Üben, somit ist auch diese Frage im Grunde nur individuell zu

beantworten. Daher wundert sich auch mancher Lehrer darüber, dass seine methodisch

durchdachten Anweisungen, seine durch Erfahrung gewonnenen Hilfestellungen zum Teil

so wenig Erfolg zeigen. Mittlerweile gibt es jedoch bezüglich dieser Frage viele wissen-

schaftliche Erkenntnisse und Forschungsergebnisse aus den unterschiedlichen Bereichen

wie etwa Medizin, Psychologie, Sport oder Philosophie. Dadurch hat jeder interessierte

Musiker die Chance, seine Kenntnisse und damit auch seine Übemethoden zu erweitern

und fruchtbarer zu gestalten. Aber auch die anregende Miteinbeziehung anderer Themen-

felder räumt eine Schwierigkeit nicht aus dem Weg: Den Übergang vom Wissen zum Tun.

Jeder Musiker kennt den Sachverhalt, dass nach dem Erwerb von deklarativem Wissen38

(benennbares Wissen) die anschließende Umwandlung in prozedurales Wissen (nicht-

beschreibbares, ausführbares Wissen und Können) eine große Herausforderung ist. Erst

die tägliche Erprobung mit wachem Gefühl und freundlich–kritischen Verstand kann zu

den notwendigen Erkenntnissen führen, welche Übeart sich gut anfühlt, das Üben berei-

chert, die musikalischen Möglichkeiten erweitert und die motorischen Fähigkeiten verfei-

nert. Ulrich Mahlert schreibt dazu:

„Wer so übt, findet tiefe Befriedigung darin, eine Musik schrittweise zu erschlie-

ßen, sie sich und sich ihr anzuverwandeln, ihre Gestaltungsspielräume ebenso wie

die eigenen Kräfte zu erproben, die Resultate fortwährend kritisch zu prüfen, zu

verfeinern und zu verbessern. Wie kaum eine andere Tätigkeit ermöglicht und er-

fordert ein differenziertes Üben, bewusst und intensiv zu sich selbst in Beziehung

zu treten und an sich zu arbeiten. Denn erfolgreiches Üben basiert auf Selbstwahr-

nehmung, Selbstkritik und Bereitschaft zur Selbstveränderung. Solches Üben, das

gleichermaßen musikalisch und persönlich bildet, wird zu einem einzigartigen, un-

ersetzlichen Bedürfnis.“39

Vielleicht entsteht so auch immer verlässlicher und abrufbarer das viel beschriebene Ge-

fühl des „Flow“40 – des Einswerdens mit der musikalischen Tätigkeit, dem Glücksgefühl

des Gelingens (siehe auch A. Burzik: Üben im Flow in: Handbuch Üben) oder wie Kant es

                                                                                                                         38 Vgl. Anderson, J.R. In: Bruhn, Herbert; Kopiez, Reinhard; Lehmann, Andreas: Musikpsychologie – Das neue Handbuch. Reinbek, Rowohlts Enzyklopädie. 2008, S. 107 39 Mahlert, Ulrich: Was ist Üben? In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 7 40 Csikszentmihalyi, Mihaly: Flow. Stuttgart. Klett-Cotta. 2007, S. 61ff.

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18  

beschreibt, eine „glückliche Übereinkunft“41 von Verstand, Gefühl und Bewegung. Diese

Übereinkunft gelingt bei jedem Musiker sicherlich unter anderen Voraussetzungen. Der

Eine übt eher intuitiv und improvisierend (siehe Kapitel 3.3 Der Klang führt die Bewe-

gung), der Andere wendet sich mehr dem mentalen Üben zu (siehe Kapitel 3.5 Mentales

Üben) und der Dritte findet eben genau in der Verbindung von Intellekt, Emotion und Mo-

torik seinen Übefluss.

Da es nicht möglich ist, alle gegenwärtig bekannten Übemethoden in dieser Arbeit vorzu-

stellen, werden vier bewährte, äußerst unterschiedliche herausgegriffen und näher vorge-

stellt. Anschließend wird dargestellt, wie nicht nur unterschiedliche Methoden den Übe-

prozess bereichern, sondern auch das Wissen um die Funktionsweise von Muskeln und

Sehnen dem Musikausübenden die Möglichkeiten an die Hand geben, seinen eigenen

Körper besser wahrzunehmen und zu verstehen, und mit ihm als einem fein gestimmten

Instrument bewusst und regenerativ zu üben. Daher folgt in Kapitel 4 Üben und Muskeln

ein Einblick in den Aufbau der Muskeln und den Umgang mit ihnen. Im anschließenden

Kapitel 5 Üben und Neurologie werden die neuronalen Hintergründe des Musizierens nä-

her beleuchtet, da ein praxisorientiertes Wissen über die Funktionsweise und den Aufbau

neuronaler Strukturen zu einer sinnvollen Veränderung des Übens führen kann, z.B. bei

dem Thema der zeitlichen Einteilung oder der Anzahl der Wiederholungen. Im letzten

Kapitel, dem Kapitel 6 Üben und der Umgang mit Fehlern erfolgt dann ein Überblick auf

die möglichen Ursachen für die negative Bewertung von Fehlern und das dem Fehlerma-

chen innewohnende Potential, größere Lernfortschritte im eigenen Üben zu machen.

3.1 Methoden des Übens

Der Begriff „Methode“ dient hier als Sammelbegriff für eine Lehrmeinung, die ein plan-

mäßiges Vorgehen beschreibt. Der Begriff „Methode“ kommt aus dem Griechischen (me-

thodos) und bedeutet so viel wie: „Erkenntnisweg, planmäßiges Vorgehen zur Erlangung

oder Begründung von Wissen.“42 Dies bedeutet für den Lernenden (und auch für den Leh-

renden), dass „die Erreichung jedes Ziels eigene Wege erfordert – und ebenso, dass alle

Zielsuchenden ein und dasselbe Ziel nur auf individuellen Wegen erreichen können, da ja

                                                                                                                         41 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Werke in 6 Bänden, Bd. 5, Darmstadt 1963 S.418, zitiert in: Renate Wieland: Repressives und gewaltfreies Üben. In: Mantel, Gerhard (Hrsg.): Querverbindungen. Mainz: Schott Musik International. 2000, S. 48 42 Hügli, Anton; Lübcke, Poul (Hrsg.): Philosophielexikon. Reinbek: Rowohlts Taschenbuch Verlag GmbH. 1997, S. 426

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jeder Zielsuchende von einem eigenen Ausgangspunkt ausgeht.“43 Daher sind auch – um

dem bekanntlich äußerst vielgestaltigen Lerngebiet des Musizierens gerecht zu werden –

spezielle und individuelle Wege des Lernens und Lehrens notwendig.44 Diese Wege, also

Methoden, lassen sich noch einmal in unterschiedliche Begriffsverwendungen unterteilen.

So gibt es beispielsweise instrumentalübergreifende Gesamtkonzepte von Methoden wie

die Kodaly-Methode, instrumentalspezifische Methoden (Schulen) wie das Geigenschul-

werk von Erich und Elma Doflein (engl: The Doflein Method) und lernbereichsspezifische

Methoden (z.B. Solmisation als Mittel, tonale Strukturen zu verinnerlichen).45 Bei den

Bedeutungsmöglichkeiten handelt es sich in erster Linie um den jeweiligen Blickwinkel,

aus der eine Methode betrachtet wird und nicht um ein strikt trennendes Entweder/Oder.

Eine ausführliche Darstellung dieses Themas liefert Ulrich Mahlert in: „Die Frage nach

dem Wie.“46 Von den in den folgenden Kapiteln (3.2 – 3.5) vorgestellten Übemethoden

orientieren sich die ersten beiden mit dem Titel „Motorisch dominierte Übemethode“ und

„Der Klang führt die Bewegung“ eher an instrumentalübergreifenden Gesamtkonzepten.

Die dritte Übemethode – „Das Prinzip der rotierenden Aufmerksamkeit“ – lässt sich nur

schwer einem Konzept zuordnen und die vierte, das „Mentale Üben“ ist mehrheitlich eine

lernspezifische Methode.

Die gedanklichen und praktischen Ansätze zu Methoden des Übens sind äußerst vielfältig

und reichen weit auseinander. Die „Publikationen zum Themenbereich «Üben» reichen

von rein mechanistischen Bewegungsanweisungen einerseits, in denen vor lauter Technik

und «Know–how» der künstlerische Mensch kaum noch vorkommt, bis hin zu ideologisch-

ganzheitlich ausgerichteter Denkweise andererseits, denen eine genaue Bewegungsbe-

schreibung schon suspekt ist.“47 Die Einen (wie etwa der Geiger Volker Biesenbender)

sind der Meinung, „die Bewegungsausbildung eines Instrumentalisten müsse im Prinzip

darin bestehen, sich in einer offenen Bereithaltung des «Bewegtseins vom Ganzen» immer

bewusster und genauer von Klang und Klangvorstellung selbst justieren und ausbalancie-

ren zu lassen.“48 Üben ist demnach „ein immer neues Tasten, Umkreisen, Oszillieren,

«Improvisieren» auf das jeweilige Bewegungsziel hin“49, bei dem sich durch Aussieben

                                                                                                                         43 Mahlert, Ulrich: Die Frage nach dem Wie. In: Üben & Musizieren. 5/09, S. 6 44 Vgl. ebd. S. 8 45 Vgl. ebd. S. 8 46 Ebd. S. 8ff 47 Mantel, Gerhard: Einfach Üben. Mainz: Schott Musik International. 2001, S. 11 48 Biesenbender, Volker: Aufforderung zum Tanz. Motorische Mutmaßungen eines bewegten Geigers. In: Üben & Musizieren. 3/04, S. 13 49 Ebd. S. 18

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20  

des «Falschen» sich «das Richtige» in geduldigem Ausprobieren von selber entfaltet.“50

Die Anderen (z.B. der Cellist Gerhard Mantel) sehen genau in dieser Art „offenen Bereit-

haltens der Bewegungen“ beim Üben eine verführerische und gefährliche Halbwahrheit:

„Es stimmt zwar, dass man sich beim Üben sehr genau in seinem Körpergefühl beobach-

ten muss, aber andererseits müssen beim Üben völlig neue, noch nie erlebte Bewegungs-

kombinationen aufgebaut werden. Wenn ich eine Sprache lerne, dann kann ich auch nicht

durch ein wie immer geartetes Mich-Entspannen und In-Mich-Hineinhorchen Wörter und

Grammatikregeln «freilegen», sondern ich muss sie neu lernen. Das gilt selbstverständ-

lich auch für motorische Abläufe.“51

Die Auswahl der hier vorgestellten Methoden folgte dem Ansatz, möglichst unterschiedli-

che, teilweise sogar gegensätzliche Arten des Übens darzustellen. Wie im Titel der Dip-

lomarbeit schon benannt, soll das „Spannungsfeld“ zwischen den Übemethoden beschrie-

ben werden. Die am weitesten voneinander entfernt liegenden Pole dieses Feldes sind auf

der einen Seite das motorisch dominierte Üben und auf der anderen Seite der Übeansatz,

bei dem der Klang die Bewegung führt. Die deutliche Abgrenzung dieser beiden Positio-

nen dient hier der Übersichtlichkeit, in der musikalischen Praxis gibt es natürlich Über-

schneidungen und Übereinstimmungen.

Der zuerst beschriebene Ansatz ist die motorisch dominierte Übemethode. Diese stark von

der Wiederholung motorischer Abläufe geprägte Methode dient häufig als Bezugspunkt

oder Gegenpol für viele andere Übearten.52 So hebt sich insbesondere die an zweiter Stelle

dargestellte Methode – der Klang führt die Bewegung – ganz bewusst von den sog. „alten

Drillschulen“ ab. Gewissermaßen als Synthese zwischen den beiden Polen steht an dritter

Stelle der Versuch mit dem Prinzip der rotierenden Aufmerksamkeit möglichst unter-

schiedliche emotionale, kognitive und spieltechnische Aspekte (Parameter) in den Übe-

prozess einzubinden (nach Gerhard Mantel). Die zuletzt beschriebene Methode befasst

sich vor allem mit der persönlichen Vorstellungskraft und den damit verbundenen vielfäl-

tigen musikalischen Möglichkeiten und Gegebenheiten – das mentale Üben nach Christian

A. Pohl.

                                                                                                                         50 Biesenbender, Volker: Aufforderung zum Tanz. Motorische Mutmaßungen eines bewegten Geigers. In: Üben & Musizieren. 3/04, S. 18 51 Mantel, Gerhard: Musikalisches Üben. Dokumentation der Tagung vom 13.-15. Februar 1991, HfMDK Frankfurt am Main, S. 21 52 Vgl. Altenmüller, Eckhart. Hirnphysiologische Grundlagen des Übens. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Hand-buch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 63

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21  

3.2 Motorisch dominierte Übemethode

„Ferner gibt es für den Spieler keine nothwendigere und wichtigere Eigenschaft, als eine

wohlentwickelte grosse Geläufigkeit, Leichtigkeit und Geschwindigkeit der Finger.“53

Damit diese Virtuosität auch erreicht werden kann, sind viele Studienwerke, Etüden-

Sammlungen und Schulen der Geläufigkeit entstanden, wie beispielsweise Carl Czernys

„Schule der Geläufigkeit“ (vier Etüdenbände für Klavier aus den 1830er Jahren), Otakar

Sevčiks „Schule der Bogentechnik“ für Violine (sechs Bände von 1903) und Carl Fleschs

„Skalensystem“ für Violine (1923). Ein Grundprinzip dieser Schulen ist der Aufbau gut

automatisierter motorischer Fähigkeiten, die dann anschließend ohne bewusste Aufmerk-

samkeit und Kontrolle fehlerfrei in einem musikalischen Kunstwerk angewendet werden

können. Die Folge war, dass die Entwicklung der Virtuosität von anderen Teilgebieten der

instrumentalen Ausbildung abgespalten wurde und in den Vordergrund rückte. Noch

schärfer formuliert lässt sich die These aufstellen, dass eine Trennung zwischen Technik

und Musik vorgenommen wurde, wie folgendes Zitat des berühmten Violinpädagogen

Rudolf Kreutzer (1766-1831) belegt: „Die Violine ist ein schweres Instrument, wo das

kleinste Versehen die grössten Fehler nach sich zieht; man kann daher das Studium des

Mechanischen Anfängern nicht genugsam empfehlen.... Ehe sie sich an den Ausdruck wa-

gen, müssen sie sich gänzlich dem Studium des Mechanischen widmen“54 Geprägt von den

technischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts sollten beispielsweise die Hände durch

Geläufigkeitsübungen in Verbindung mit einem Metronom so ausgebildet werden, dass sie

mit der Zuverlässigkeit einer Maschine alle erdenklichen Schwierigkeiten meistern konn-

ten. Im Zuge dieser Entwicklung entstanden ein ganzes „Arsenal mechanischer Geräte

von Fingertrainern über «Gradhalter» bis hin zu «Handleitern» [..., die] gegen Ende des

19. Jahrhunderts NachwuchspianistInnen technische Voraussetzungen zum Klavierspiel

vermitteln sollten.“55 Bekannt ist auch das Schicksal Robert Schumanns, der nächtelang

seine Fingergeläufigkeit mit einer mechanischen Apparatur trainierte. Die Folge war aller-

dings nicht eine größere Geläufigkeit, sondern eine Sehnenscheidenentzündung mit an-

schließender Bewegungsunfähigkeit. Ähnlich wie bei einer Maschine sollte der „Spielap-

parat“ möglichst präzise und unveränderlich eingerichtet werden, damit Bewegungen iso-

liert und mitunter auf ein Gelenk beschränkt werden konnten. Carl Czerny schrieb in sei-

                                                                                                                         53 Czerny, Carl: Briefe über den Unterricht auf dem Pianoforte. Wien: Bei A. Diabelli und Comp. Repro-technischer Nachdruck. 1988, S. 15 54 Zitiert in: Biesenbender, Volker: Von der unerträglichen Leichtigkeit des Instrumentalspiels. Aarau, Schweiz: Musikedition Nepomuk. 1992, S. 20 55 Klug, Heiner: Man spielt nicht mit den Fingern, sondern mit dem Kopf. In: Üben & Musizieren.1/07, S. 38

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nem Vorwort zu den 40 täglichen Übungen – sicherlich auch aufgrund der vorherrschen-

den Gedankenströmungen der damaligen Zeit und der zu spielenden Klavierliteratur –

über den Tastenanschlag Folgendes: „Der Anschlag auf die Tasten geschieht nur mit den

Fingern, [...] ohne das die Hand oder gar der Arm dabey eine unnöthige Bewegung ma-

che.“56 In einer „nur technischer Arbeit gewidmete(n) tägliche(n) Uebungsstunde“57 stand

nicht die Wahrnehmung von Körperbewegungen, das sensomotorische Feedback von

komplexen Bewegungen oder die Erlebnisqualität der Musik im Vordergrund, sondern das

Lernen durch Wiederholung. „Nichts ist für den ausübenden Künstler wichtiger, als die

gemeinnützigsten Schwierigkeiten unverdrossen zu üben, bis er dieselben vollkommen

beherrscht.“58 Arthur Rubinstein nannte seinen Schülern den irischen Pianisten und Kom-

ponisten John Field (1782-1837) als Vorbild, der schwierige Passagen bis zu 2000mal

wiederholte.59 Um die notwendige Zahl an Wiederholungen pro Tag und die mechanische

Beweglichkeit der Finger zu erreichen, ging der Klavierpädagoge Friedrich Kalkbrenner

(1785-1849) in seiner Empfehlung sogar so weit, das tägliche Skalenüben während des

Zeitunglesens zu erledigen.60

Auch wenn sich seitdem sicherlich vieles geändert hat, so ist die Vorstellung mit Sicher-

heit gedankliches Allgemeingut unter professionellen Musiker, dass man zuerst eine

Technik entwickeln und sie dann täglich pflegen muss (mit Hilfe von Fingerübungen, Bo-

genexerzitien, Tonleitern usw.), damit man als Ausübender in der musikalischen Interpre-

tation nicht über technische Hindernisse stolpert. Um die geforderte technische Brillanz zu

erreichen, ist das motorisch dominierte Üben durchaus ein gangbarer und viel benutzter

Weg. Häufige Wiederholungen ohne größere Variationen sind für die Automatisierung

von Bewegungsabläufen wichtig und führen zu einem prozeduralem Wissen bzw. Kön-

nen, d.h. der Fähigkeit, motorische Prozeduren ausführen zu können. Wird viel Zeit auf

das motorisch dominierte Üben verwendet, so steigern sich naturgemäß die manuellen

Fähigkeiten.61 Diese Fähigkeiten werden aber in erster Linie als Bewegungsmuster im

motorischen Gedächtnis abgespeichert und meist wenig mit auditiven, visuellen, struktu-

rellen, sensomotorischen oder emotionalen Informationen eines Werkes verknüpft.

                                                                                                                         56 Czerny, Carl: Vorwort zu 40 tägliche Übungen, Opus 337. Peters, revidierte Ausgabe, 1959 57 Cortot, Alfred: Grundbegriffe der Klaviertechnik. Paris: Editions Salabert. 1928, S. 2 58 Czerny, Carl: Vorwort zu 40 tägliche Übungen, Opus 337. Peters, revidierte Ausgabe, 1959 59 Vgl. Gellrich, Martin: Üben mit Lis(z)t. Wiederentdeckte Geheimnisse aus der Werkstatt der Klaviervirtu-osen, Frauenfeld 1992, S. 40. Zitiert in: Klöppel, Renate: Üben ja – aber wie? In: Mantel, Gerhard (Hrsg.): Ungenutzte Potentiale. Mainz: Schott Musik International. 1998, S. 116 60 Vgl. Wolters, Klaus: Handbuch der Klavierliteratur. Zürich: Atlantis Musikbuch-Verlag. 1977, S. 31 61 Vgl. Zusammenhang zwischen Übeaufwand und Erfolg. In: Klöppel, Renate: Üben ja – aber wie? In: Mantel, Gerhard (Hrsg.): Ungenutzte Potentiale. Mainz: Schott Musik International. 1998, S. 123

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Dadurch können zum Beispiel beim Auswendigspielen momentane Lücken im motori-

schen Gedächtnis nicht durch spontan abrufbares „architektonisches Wissen“ oder „inner-

liches Hören“ der Melodie überbrückt werden. Die Fokussierung auf motorische Abläufe

liefert auch eine Erklärung dafür, warum bereits gekonnte Stücke häufig nicht an einer

beliebig gewählten Stelle begonnen oder nicht detailliert formal und tonal beschrieben

werden können. Sind allerdings die Bedingungen (z.B. die emotionale Verfassung oder

der Muskeltonus des Musikers) in einer Konzertsituation ähnlich wie beim Üben, so lau-

fen die motorisch erlernten Bewegungsabläufe auch ohne kognitive Kontrolle fehlerfrei

ab. Sie können in diesem Fall – wenn sie also gut automatisiert wurden – auch bei menta-

ler Ablenkung durch Nervosität oder störende Gedanken einwandfrei abgerufen werden.

3.2.1 Über die Schwierigkeiten des Automatisierungsprozesses

Die Schwierigkeit eine Spielbewegung zuverlässig zu automatisieren liegt darin, bei der

häufigen Anzahl der Wiederholungen möglichst wenig Fehler zu machen, damit der rich-

tige Bewegungsablauf eingeübt wird und nicht viele verschiedene, z.T. auch falsche Ver-

sionen (gemeint ist nicht eine gezielte Variante des zu übenden Materials) im motorischen

Gedächtnis gespeichert werden. Dies erfordert deutlich mehr Konzentration als von man-

chen Musikern angenommen wird und kann nicht „während des Zeitunglesens“ geleistet

werden. Auch aus Sicht der Neurologie weiß man heutzutage, dass es schwer ist, sich über

einen längeren Zeitraum ohne Abwechslung auf einen Parameter zu konzentrieren. Dar-

über hinaus gibt es auch für die Anzahl der Wiederholungen ein persönliches Optimum,

das von vielen individuellen Faktoren wie muskulärer Ausdauer, technischem Können und

persönlicher Konzentrationsfähigkeit abhängt und bestimmt nicht bei 2000maliger Wie-

derholung liegt. Die folgende Abbildung 1 zeigt, dass es ein Optimum für den Zugewinn

an feinmotorischen Fähigkeiten gibt, sich dieses Optimum aber nicht einfach durch ein

möglichst langes Training erreichen lässt. In einer aus dem Jahre 1975 stammenden Studie

des Sportphysiologen Theodor Hettinger trainierten Sportstudenten 14 Tage lang ihre Fin-

gergeschicklichkeit an einem Steckbrett. Die Studenten wurden in acht Gruppen mit un-

terschiedlicher Anzahl an Übungsbewegungen pro Tag eingeteilt. Nach zwei Wochen

ergab die Studie, dass für die geforderte feinmotorische Aufgabe das Optimum bei 150

Wiederholungen pro Tag lag. Wurde länger trainiert – bis zu 300 Wiederholungen pro Tag

– so nahm die feinmotorische Leistungsfähigkeit nicht etwa zu oder stagnierte, sondern

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nahm sogar wieder ab.62 Über die Gründe dieses Effekts kann derzeit aber nur spekuliert

werden. „Vermutlich führt Üben mit nachlassender Aufmerksamkeit zu einer Verschlech-

terung der zuvor optimierten neuronalen Repräsentationen von Bewegungen.“63 Darüber

hinaus werden aufgrund von muskulärer Ermüdung ungünstig koordinierte Bewegungs-

muster ebenfalls im motorischen Gedächtnis gespeichert (siehe oben).

Abb. 1: Abhängigkeit des Zugewinns an feinmotorischen Fertigkeiten von der Anzahl der

täglich durchgeführten Übungseinheiten (aus Hollmann/Hettinger)64

Instrumentalspezifische feinmotorische Aufgaben benötigen wahrscheinlich eine weit ge-

ringere Anzahl an Wiederholungen, um optimal gelernt zu werden. Gerhard Mantel ver-

weist auf eine Zahl von ca. 20 Wiederholungen, die aufgrund allgemeiner Erfahrungen

auch von anderen namhaften Instrumentalpädagogen genannt wird.65 Allerdings lassen

sich in der Literatur auch angegebene Wiederholungszahlen finden, die von der Zahl 20

stark abweichen. Die persönliche optimale Anzahl an Wiederholungen wahrzunehmen, ist

daher eine der entscheidenden Faktoren für erfolgreiches motorisches Üben66, und kann

keinem noch so guten Übehandbuch entnommen werden.

3.2.2 Zusammenfassung

Automatisierungsprozesse sind mit Sicherheit ein sehr wichtiger Faktor beim Erlernen

eines Instrumentes. Jedes Instrument erfordert das Aneignen und Trainieren ganz spezifi-                                                                                                                          62 Hollmann, H.; Hettinger, T.: Sportphysiologie, Heidelberg. 2000. In: Altenmüller, Eckhart: Hirnphysiolo-gische Grundlagen des Übens. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 61 63 Altenmüller, Eckhart: Hirnphysiologische Grundlagen des Übens. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 61 64 Ebd. S. 61 65 Vgl. Mantel, Gerhard: Einfach üben. Mainz: Schott Musik International. 2001, S. 49 66 Vgl. Altenmüller, Eckhart: Hirnphysiologische Grundlagen des Übens. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Hand-buch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 61

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scher Bewegungsabläufe, damit die Bewegungsfolgen auch innerhalb des überaus kom-

plexen Vorgangs von Bewegen, Wahrnehmen, Fühlen und Gestalten beim Musizieren

automatisiert ablaufen können. Müssten Musiker alle Spielbewegungen bewusst kontrol-

lieren, so wäre es beispielsweise überhaupt nicht mehr möglich, beim Zusammenspiel auf

den Partner zu hören oder die Intonation zu kontrollieren. Darüber hinaus nimmt eine be-

wusst kontrollierte Bewegung zu viel Zeit in Anspruch und hemmt den Bewegungsfluss.

Man stelle sich einmal vor, man müsste beim Radfahren ständig das Gleichgewicht und

die Bewegungsabläufe kontrollieren. Von der Landschaft, durch die man radelt, würde

man nichts sehen und in einer verkehrsreichen Stadt wäre man hoffnungslos überfordert.

Das Automatisieren von Bewegungen ist daher eine Grundvoraussetzung für das Erlernen

von motorischen Fähigkeiten und erfolgt durch vielfache Wiederholungen. Diese Wieder-

holungen sollten aber mit höchster Aufmerksamkeit und ständigem Zuhören ausgeführt

werden67, damit Bewegungsabläufe verfeinert werden können und keine physiologische

Probleme durch Überüben entstehen. Darüber hinaus sollten eigene physiologische und

konditionelle Grenzen der Muskulatur anerkannt werden, und nicht beispielsweise eine

noch unbefriedigend gelingende schwere Stelle bei bereits vorhandenen Schmerzen weiter

automatisiert werden (ein ausführlicher Überblick über den Umgang mit den eigenen

Muskeln erfolgt in Kapitel 4). Statt einfach mechanisch weiter zu üben, sind eine genaue

Analyse des Bewegungsablaufes – wie etwa im Kapitel 3.4 Das Prinzip der rotierenden

Aufmerksamkeit dargestellt – oder mentale Übetechniken (siehe Kapitel 3.5) sinnvoller.

Des Weiteren ist es sicherlich zweckmäßig, motorisch dominiertes Üben in einen Kanon

von musikalischen Grundfähigkeiten einzubinden. Dies scheint jedoch bis heute auch bei

den an renommierten Hochschulen und Konservatorien ausgebildeten Musikern nicht im-

mer zu gelingen. Immer wieder wird beschrieben, dass durch die starke Fokussierung auf

die Motorik andere Aspekte der musikalischen Tätigkeit wie musikgeschichtliches Wis-

sen, Blattspiel, formale Analyse oder persönliche Interpretationsfähigkeit weniger gut

ausgebildet werden. So äußerte sich etwa der Dirigent Thomas Beecham (Gründer u.a. des

London Philharmonic Orchestra) schon Mitte des 20. Jahrhunderts zu dieses Thema:

„Noch nie hatten wir so zahlreiche Musiker mit perfekter Technik, aber auch noch nie eine

derartige Menge an langweiligen Interpreten.“68 Aber nicht nur das Ergebnis ist in den

Augen einzelner Musiker fragwürdig, sondern die gesamte Fokussierung auf mechanisch

abrufbare Bewegungen und deren Zergliederung in Teilbewegungen wird von ihnen als                                                                                                                          67 Vgl. Klug, Heiner: Man spielt nicht mit den Fingern, sondern mit dem Kopf. In: Üben & Musizieren. 1/07, S. 41 68 Zitat des Dirigenten Thomas Beecham (1879-1961). Zitiert in: Biesenbender, Volker: Von der unerträgli-chen Leichtigkeit des Instrumentalspiels. Aarau, Schweiz: Musikedition Nepomuk. 1992, S. 21

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Holzweg betrachtet. „Auch wenn die alten Drillschulen heute weitgehend verschwunden

sind: Die gedanklichen Grundlagen sind meines Erachtens mehr oder weniger die glei-

chen geblieben – wenn wir es differenziert betrachten, ist unsere Schulmethodik immer

noch so etwas wie eine detaillierte Gebrauchsanweisung für ein besonders kompliziertes

technisches Gerät: für den Menschen!“69 Alternative, bewegungsoffenere Konzepte sollen

nun im folgenden Kapitel dargestellt werden.

3.3 Der Klang führt die Bewegung

In diesem Kapitel folgt nun die Darstellung zweier Lernwege, die im Hören den wesentli-

chen Steuerungspunkt des Musizierens sehen und weniger in der Kontrolle von Bewe-

gungsfolgen. Die erste Methode nennt sich Resonanzlehre, begründet von Thomas Lan-

ge70, und bildet den Hauptteil dieses Kapitels. Die am Ende des Kapitels (im Unterkapitel

3.3.7) beschriebene Methode nach Volker Biesenbender besitzt nicht unbedingt den Cha-

rakter einer mehr oder weniger klar umrissenen Methode, sondern ist eher eine Sammlung

von Gedanken zum Lernen am Instrument und über musikalische Grundfähigkeiten. Vol-

ker Biesenbender bezeichnet seine Veröffentlichungen mitunter selbst als „geigerische

Selbstgespräche.“71 Sie dienen in diesem Kapitel als Ergänzung, bilden also keine der vier

beschriebenen Übemethoden. Ihrer Bedeutung ist jedoch insofern sehr wichtig, da sie eine

alte Grundfähigkeit des Musizierens ausführlich thematisieren: Die Improvisation.

3.3.1 Die Resonanzlehre (nach Thomas Lange)

„Klang und Bewegung werden innerhalb der Resonanzlehre als Einheit aufgefasst. Ein

Kernsatz hierzu lautet: Je resonanzreicher der Klang, um so müheloser und effektiver die

musikalische Bewegung.“72 Das jeweilige „Klangbild“73 eines Musikers gibt daher ein

unmittelbares Feedback über die Bewegungsqualität der ausgeführten Musizierbewegun-

gen. Verspannte oder verkrampfte Muskelbewegungen gehen in der Regel mit einem

dumpfen, gepressten und resonanzarmen Klang einher. Müheloses und entspanntes Musi-

                                                                                                                         69 Biesenbender, Volker: Von der unerträglichen Leichtigkeit des Instrumentalspiels. Aarau, Schweiz: Mu-sikedition Nepomuk. 1992, S. 20 70 Thomas Lange ist Geiger und studierte bei Saschko Gawriloff, Thomas Brandis und Gerard Poulet. Er besitzt eine langjährige Orchestererfahrung, u.a. beim Deutschen Symphonie Orchester Berlin und den Ber-liner Philharmonikern. 71 Biesenbender, Volker: Von der Wiedereroberung des Offensichtlichen. In: Aufforderung zum Tanz. Aarau, Schweiz: HBSNepomuk. 2005, S. 169 72 Lange, Thomas: www.resonanzlehre.de, Aufruf 5.11.2010 73 Ebd.

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zieren hingegen erzeugt ein offenes, tragfähiges und resonanzreiches Klangbild. Somit

dient die Resonanzqualität des Klanges als musikalisches Kriterium für die Einschätzung

der eigenen Bewegungsqualität und nicht etwa die visuelle Kontrolle der Spielbewegun-

gen. „Bei vollendeter musikalischer Bewegung konzentriert sich der Musiker in erster Li-

nie auf den Klang, den er erzeugt und weniger oder nur im Hintergrund auf die Bewegung

selbst.“74 In der Resonanzlehre übernimmt daher beim Musizieren das Hören die Füh-

rungsaktion, d.h. die Bewegungsdosierung und die Bewegungsführung erfolgen über das

Ohr und nicht über den Tastsinn oder den Sehsinn. Das Hören als den wichtigsten Faktor

für das Musizieren zu betrachten scheint für Musiker eine Selbstverständlichkeit zu sein,

in der Praxis erlebt man oft aber Gegenteiliges. „Das Hören ist den MusikerInnen so nah,

so selbstverständlich, dass es selten und manchmal auch gar nicht in den eigenen Auf-

merksamkeitsfokus gelangt.“75 Für die Resonanzlehre gilt aber, da Klang und Bewegung

eine Einheit bilden, dass die Muskulatur direkt und in jeder gewünschten Dosierung auf

gehörte Klänge reagieren sollte. Thomas Lange verwendet für diese Kopplung von Hören

und Bewegen den Begriff Audiomotorik (lat. hören/bewegen).76 Alle anderen beim Musi-

zieren beteiligten Faktoren wie etwa Atmung, Tastsinn und Sehsinn werden in die audio-

motorische Organisation integriert bzw. ordnen sich ihr unter. Dadurch ergibt sich für den

Spieler eine Hierarchie im Gebrauch der Sinne: 1. Hörsinn, 2. Kinästhetischer Sinn ( d.h.

die Wahrnehmung der Bewegungen) und 3. Sehsinn.77

3.3.2 Musikalische Muskulatur

Damit allerdings auch wirklich eine Einheit zwischen Klang und Bewegung entstehen

kann, benötigt der Musizierende eine flexible und sensible Muskulatur, sozusagen „musi-

kalische Muskeln“ – wie Thomas Lange sie bezeichnet. Was aber sind nun im Sinne der

Resonanzlehre musikalische Muskeln? „Musikalische Muskeln sind solche Muskeln, die

direkt in Reaktion auf den gehörten Klang die adäquaten und angemessenen Bewegungen

finden, welche erforderlich sind, um dem Klang seine optimale Gestalt zu geben.“78 Diese

Reaktionsfähigkeit ist jedoch nur möglich, wenn sich die Muskulatur in einem mittleren

Muskeltonus befindet, d.h. Spannung und Entspannung stufenlos dosiert und variiert wer-

den können. In der Spannung sollte demzufolge Entspannung anwesend sein und in der

Entspannung Spannung. Des Weiteren brauchen Musiker eine kraftvolle und konditions-

                                                                                                                         74 Lange, Thomas: www.resonanzlehre.de, Aufruf 5.11.2010 75 Ebd. 76 Ebd. 77 Vgl. ebd. 78 Ebd.

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starke Muskulatur, damit ganze Konzertprogramme gespielt werden können und gleich-

zeitig eine sensible, sich selbst wahrnehmende und fein bewegliche Muskulatur. Häufiges

Problem allgemeiner Kraft- und Ausdauertrainingsmethoden ist der Verlust an Beweg-

lichkeit durch den Aufbau von Muskelmasse im Bereich der Gelenke.79 Gerade aber diese

Beweglichkeit ist die Grundvoraussetzung für eine Art Muskelplastizität, die es dem Mu-

siker erlaubt, seine Gefühle transportieren und ausdrücken zu können. Thomas Lange

nennt als Kriterium für Plastizität, dass die Muskulatur komplett „aufatembar“ sein soll,

d.h. dass sich beim Einatmen die „Muskulatur in alle Körperregionen ausdehnen [kann],

um dann in der Ausatmung wieder zurückzuschwingen.“80

3.3.3 Die musikalische Körperarbeit der Resonanzlehre

Die Körperarbeit der Resonanzlehre leistet die praktische Realisierung der oben beschrie-

benen Anforderungen an die Muskulatur von Musikern. Körperarbeit bedeutet in diesem

Fall eine Abfolge von Körperübungen und Bewegungsformen, die im Stehen und Sitzen

sowie als „Bodenarbeit“81 im Liegen auf dem Rücken, den beiden Seiten und auf dem

Bauch ausgeführt werden. Die Übungen dienen als Vorbereitung für das Musizieren, kön-

nen jedoch auch im Alltag angewendet werden und bilden so ein beliebig großes Experi-

mentierfeld für musikalische Bewegungen auch außerhalb der Musiziersituation. Die

komplette Sammlung der Körperübungen detailliert zu beschreiben würde in dieser Arbeit

zu weit führen und außerdem eine der vier beschriebenen Übemethoden hinsichtlich des

Umfanges und der Detailschärfe hervorheben. Statt dessen sollen die den Körperübungen

zugrunde liegenden Prinzipien im Folgenden dargestellt werden, da sie für das Verständ-

nis der Körperarbeit wichtiger sind als die genauen Bewegungsfolgen der Übungen.

3.3.4 Grundlegende Prinzipien der Körperübungen

1. „Das Ohr und das Gleichgewichtsorgan [Vestibularapparat im Innenohr] bilden eine

räumliche Einheit und sind direkt miteinander gekoppelt. Das Gleichgewichtsorgan ist

über Nervenbahnen mit allen Muskeln im Körper verbunden.“82

                                                                                                                         79 Lange, Thomas: www.resonanzlehre.de, Aufruf 5.11.2010 80 Ebd. 81 Ein Begriff der Resonanzlehre für die Körperübungen im Liegen 82 Lange, Thomas: www.resonanzlehre.de, Aufruf 5.11.2010

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Abb. 2: Hörorgan und Vestibularapparat83

Wie die Abbildung 2 zeigt, laufen der Nerv vom Hörorgan und der Nerv vom Gleich-

gewichtsorgan (die Bogengänge auf der linken Seite in Abb. 2) in einem Strang zu-

sammen und bilden gemeinsam den achten Hirnnerv. Die Resonanzlehre schlussfol-

gert aus dieser biologischen Gegebenheit, dass die Bewegungen der Körperübungen

dreidimensional ausbalanciert sein sollten, da auch das Gleichgewichtsorgan eine drei-

dimensionale und balancierende Funktionsweise besitzt. Dreidimensional bedeutet in

diesem Zusammenhang, dass die Bewegungen in allen Dimensionen des Raumes aus-

balanciert sein sollten, und nicht nur beispielsweise in der Dimension oben/unten. Aus

Sicht der Resonanzlehre sind ausbalancierte Bewegungsabläufe am besten geeignet –

aufgrund der beschriebenen räumlichen Einheit – über das Hören geführt und dosiert

zu werden. Oder anders formuliert: Dreidimensionale Balancierbewegungen entspre-

chen der Funktionsweise des Gleichgewichtsorgans und lassen sich daher am besten

mit dem Ohr bzw. dem Hören synchronisieren.

2. Den balancierenden Körperübungen liegt ein Bewegungsgesetz zugrunde, das für die

gesamte Körperarbeit gilt: „Eine Masse lässt sich am leichtesten über ihren Schwer-

punkt (Gleichgewichtspunkt) bewegen.“84 Um dieses Bewegungsgesetz zu veranschau-

lichen, kann man z.B. einmal einen Notenständer am äußersten Punkt festhalten,

hochheben und das Gewicht spüren. Anschließend suche man sich den Gleichge-

                                                                                                                         83 Bauer, Ernst W.: Humanbiologie. Berlin: Cornelsen Verlag. 1987, S. 152 84 Lange, Thomas: www.resonanzlehre.de, Aufruf 5.11.2010

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wichtspunkt des Notenständers (also den Punkt, bei dem sich beide Seiten des längli-

chen Notenständers gegenseitig ausbalancieren) und vergleiche das Gewicht. Im zwei-

ten Fall lässt sich der Notenständer um ein Vielfaches leichter hochheben und mühelos

bewegen. Überträgt man nun dieses Bewegungsgesetz auf den menschlichen Körper,

so lässt sich die Masse des gesamten Körpers am leichtesten über den Körpergleich-

gewichtspunkt bewegen, welcher ungefähr zwei Zentimeter unterhalb des Bauchnabels

im Inneren des Körpers liegt. Teile des Körpers hingegen, wie etwa die Arme, werden

über ihre Segmentschwerpunkte am mühelosesten bewegt (der Gleichgewichtspunkt

eines Armes liegt in der Nähe des Ellenbogens). In der Körperarbeit der Resonanzleh-

re wird dieses Bewegungsgesetz konsequent angewendet und führt – mit etwas Übung

– zu einer Optimierung der Spielbewegungen. Bewegungsabläufe werden müheloser

und „alle Muskeln [behalten] ihre optimale Länge, was vor allem den Raum in den Ge-

lenken offen hält.“85

3. „Der Boden ist Partner der musikalischen Bewegung.“86 Guter Bodenkontakt mit den

Füßen (bei im Stehen agierenden Musikern) und mit der Sitzfläche und den Füßen (bei

sitzender Ausführung) dient zur Entspannung und zum Kraftaufbau für die musikali-

sche Aktion. Wird der Boden als Partner in das eigene Spiel mit einbezogen, so wer-

den durch die durchgängige Unterstützung von unten nach oben die oberen Extremitä-

ten freier und beweglicher.

4. Der Kraftaufbau erfolgt von der „großen in die kleine Muskulatur, von den größeren

in die kleineren Muskelgruppen.“87 So kann die Kraft aus den größeren Muskelgrup-

pen, wie z.B. den Beinen, des Gesäßes und des Rückens in die kleinere Muskulatur der

Arme und Hände oder (bei Bläsern) in die Lippen fließen. Findet der Kraftfluss statt,

erlebt der Musizierende fast immer warme Hände.88

5. Die Wahrnehmung des Eigengewichtgefühls. Wie schwer fühlt sich der Körper am

heutigen Tag an? Oder: Nehme ich das Eigengewicht der Arme bei ausgeführten Mu-

sizierbewegungen wahr? Eine genaue Gewichtsangabe lässt sich auf diese Fragen

nicht geben. Das Eigengewichtgefühl entzieht sich der Messbarkeit und ist bisher un-

erforscht.89 Aber die Wahrnehmung des Gewichtgefühls (beispielsweise der Arme) ist

eine Grundvoraussetzung, um Spielbewegungen ausbalancieren zu können. Erst wenn

                                                                                                                         85 Lange, Thomas: www.resonanzlehre.de, Aufruf 5.11.2010 86 Ebd. 87 Ebd. 88 Vgl. ebd. 89 Vgl. ebd.

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man ein Gefühl für die Masse (z.B. des Armes) entwickelt, kann man dieses auch aus-

balancieren bzw. ins Gleichgewicht bringen.

6. Offener Atemfluss. Die Atmung kann ungehindert fließen, wenn Bauchmuskulatur,

Kiefer und Zunge gelöst sind. Der Musiker sollte für die Gelöstheit dieser Bereiche

aktiv sorgen, sich im Weitern aber in der musikalischen Aktion nicht um die Atmung

kümmern. Die Atmung folgt dann bei entspannter Bauch-, Kiefer- und Zungenmusku-

latur ohne bewusste Kontrolle den Musizierbewegungen. Blasinstrumentalisten hinge-

gen müssen ihren Atem den Gegebenheiten ihres Instrumentes anpassen und sind we-

niger „atemunabhängig“ als etwa Streicher.

3.3.5 Üben im Sinne der Resonanzlehre

Die Körperübungen bilden einen wichtigen Bereich innerhalb des instrumentalen Übens.

Für den Beginn des Übetages empfiehlt die Resonanzlehre daher, einmal die ganze Abfol-

ge an Körperübungen im Stehen oder im Sitzen durchzuführen. Sie dienen der Gewohn-

heitsbildung und Förderung von klangreichen (resonanzreichen) musikalischen Bewegun-

gen. Bei der Ausführung der Körperübungen sollte der Musiker alle Bewegungen dreidi-

mensional ausbalancieren, alle Teilsegmente vom jeweiligen Schwerpunkt aus bewegen,

das Eigengewicht des Körpers oder der Körperteile spüren, den Boden als unterstützenden

Partner der Bewegung erleben und den Atemfluss freigeben. Diese Grundprinzipien der

Resonanzlehre werden dann auch auf das Üben am Instrument übertragen.

Am Beispiel einer sogenannten „schweren Stelle“ aus Mozarts Violinkonzert A-Dur Nr. 5,

KV 219, 1. Satz, würde Üben im Sinne der Resonanzlehre wie anschließend dargestellt

erfolgen (eigene Darstellung):

Abb. 390

                                                                                                                         90 Mozart, W. A.: Konzert in A, Nr. 5. Kassel, Bärenreiter-Verlag. 2003, S. 7

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Zuerst den ganzen Abschnitt (Abb. 3) in einem langsamen Tempo durchspielen und den

musikalischen Verlauf wahrnehmen und „einlesen“, d.h. ganz bewusst miterleben, wo

Ganztöne und wo Halbtöne sind und welche Intervalle Mozart in diesem Abschnitt ver-

wendet. Die Intervallstruktur bildet einen emotionalen Grundpfeiler der Komposition und

ist eine der wichtigsten Informationen für den Musiker. Zur Verdeutlichung: Man betrach-

te nur einmal als Beispiel den aufsteigenden Sextsprung (von a¹-fis²) beim Übergang von

Takt 1 zu Takt 2 des gewählten Ausschnitts (Abb. 3). Die emotionale Bedeutung des In-

tervalls wird für jeden Spieler unterschiedlich sein. Der Eine empfindet bei diesem auf-

steigenden Sextsprung eine Art von ausgelassener Freude, der Andere eine Art staunendes

Innehalten nach dem Sechzehntellauf des ersten Taktes usw. Dieses persönliche Erleben

der Komposition sollte von Anfang an im Übeprozess vorhanden sein und nicht erst dann

erfolgen, wenn die „technischen Probleme“ gelöst worden sind. Anschließend wendet sich

die Aufmerksamkeit den unterschiedlichen Spielbewegungen (Sechzehntel, Halbe, Vier-

tel, Achtel) des rechten Arms zu und der Musizierende erprobt dreidimensional ausbalan-

cierte Armbewegungen. Diese werden in jedem Fall über das Hören gesteuert und nicht

etwa visuell kontrolliert. Richtet der Musiker seine Aufmerksamkeit ganz auf das Hören,

so finden Ohr (mittels Hören) und Körper gemeinsam Spielbewegungen, die offen und

tragfähig, d.h. resonanzreich klingen. Nur das Ohr kann hören, ob der Kontakt zwischen

Bogen und Saite optimal war für die Erzeugung von klaren, tragfähigen Tönen. Ist der

Klang aber noch nicht resonanzreich, so kann der Übende überprüfen: Wird das Eigenge-

wicht des rechten Armes beispielsweise auch bei den schnellen Bewegungen für die Sech-

zehntel in Takt 1 wahrgenommen? Wird der linke Arm bei den Lagenwechseln (besonders

in den Takten 1 und 4) vom Armschwerpunkt aus bewegt? Ist der Bodenkontakt gut und

der Atemfluss frei? Wird die Intervallfolge der Lagenwechsel in Takt 4 als Klangereignis

erlebt – oder sind das „nur“ schwierige Lagenwechsel, die fehlerfrei automatisiert werden

müssen? Im Sinne der dreidimensional ausbalancierten Spielbewegungen sind pendelarti-

ge (also hin und her schwingende) Bewegungen ein gutes Bild für gleichmäßig ablaufende

Bewegungsfolgen wie in Takt 1 (bei nicht gebundenen Sechzehnteln gilt für Streicher:

jede einzelne Note benötigt einen Wechsel der Strichrichtung des Bogens und wird, je

nach Strichrichtung, als Ab- oder Aufstrich bezeichnet). Ist die Bewegungsfolge aber un-

gleichmäßig, wie in Takt 4 (vier Sechzehntel im Abstrich gebunden, vier Sechzehntel hin

und her an der Spitze des Bogens, vier Sechzehntel im Aufstrich gebunden und vier Sech-

zehntel hin und her in der unteren Hälfte des Bogens), so ist die Aufgabe des Übenden,

dieses asymmetrische Pendelmuster wahrzunehmen und so zu üben, dass auch in den ver-

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schieden schnell hin und her schwingenden Bewegungen des Pendelmusters das Armge-

wicht wahrgenommen bzw. freigegeben werden kann.

Üben bedeutet also in der Resonanzlehre das Erlernen von am Klang orientierten, reakti-

onsfähigen und über das Hören gesteuerten Spielbewegungen (im Gegensatz zu abrufba-

ren, automatisierten Bewegungen), die durch den ganzen Körper laufen und von diesem

ausbalanciert werden. Diese Bewegungen sollen in den natürlichen Bewegungsfluss des

Körpers organisch integriert werden, so dass sie nicht als separat ablaufende, instrumenta-

le Teilbewegungen tausendfach geübt werden müssen. Über das im vorigen Kapitel (3.2)

dargestellte motorisch dominierte Techniküben äußert sich Thomas Lange daher wie folgt:

„Wenn ich Technik übe, übe ich etwas, was ich nicht bin, eine Maschine. Wenn ich Orga-

nik übe, übe ich, was ich bin, ein Organismus. Das spart Unmengen an Übestunden, weil

die gesamten Sicherheitsüberprüfungen, die gemacht werden müssen, wenn man einen

Organismus zu einer Maschine machen möchte, wegfallen.“91

Aus Sicht der Resonanzlehre bietet sich für einen sinnvollen Abschluss eines Übetages die

Bodenarbeit der Resonanzlehre an, mit ihren Möglichkeiten, sich wahlweise erst zu kräf-

tigen (Bauchlage der Bodenarbeit) und dann zu entspannen (Rückenlage und Seitenlage)

oder nur zu entspannen.

3.3.6 Zusammenfassung

„Die Resonanzlehre ist eine Art Basis- oder Elementarunterricht, welche die körperlichen

und auditiven Grundlagen für einen organischen, am Klang orientierten Instrumental-

bzw. Gesangsunterricht praktisch organisiert.“92 Ziel der Resonanzlehre ist es, dass Musi-

ker durch die Optimierung der musikalischen Bewegungen einen regenerativen Gebrauch

ihres Körpers erlernen. Dadurch können zum Einen bestehende Verspannungen, Ver-

krampfungen oder Schmerzen reduziert und aufgelöst werden. Zum Anderen verbessern

entspannte und schmerzfreie Muskeln wiederum das Klangvolumen und die Klangquali-

tät, fördern die Virtuosität und ermöglichen die Realisierung eigener künstlerischer Aus-

sagen. Sind dreidimensional ausbalancierte Spielbewegungen zur „Bewegungsgewohn-

heit“ des Körpers geworden, so kann der Musiker auch in den Stresssituationen eines

Konzertes oder Probespiels zu dieser Bewegungsform finden. Die unterstützende Funktion

des Bodens, der offene Atemfluss, die auditiv gesteuerten, organischen Bewegungen und

das persönliche Erleben der Komposition können dazu beitragen, dass Lampenfieberprob-

                                                                                                                         91 Lange, Thomas: www.resonanzlehre.de, Aufruf 5.11.2010 92 Ebd.

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leme und Bühnenangst weniger Raum im Erleben des Musikers einnehmen. Somit kann

die Resonanzlehre Musikern helfen, Konzertsituationen oder Probespiele besser zu meis-

tern.

Bisher tritt die Resonanzlehre in erster Linie dann an Hochschulen und Konservatorien

(auch an beiden Ausbildungsinstituten in Frankfurt) in Erscheinung, wenn es um die Ver-

besserung der Bewegungs- und Klangqualität von Musiker geht, die ihr Instrument schon

im fortgeschrittenen Stadium beherrschen. In dieser Funktion kann sie Musikern zusätz-

lich zu der Erweiterung musikalischer, klanglicher und handwerklicher Fähigkeiten auch

einen Weg aus z.T. schon jahrelang andauernden Spielproblemen und Schmerzen zeigen.

Anders als beispielsweise beim Yoga sind die Körperübungen der Resonanzlehre direkt

auf das Musizieren abgestimmt, und lassen sich daher gut in das tägliche Üben integrieren.

Inwieweit auch instrumentale Anfänger nach den grundlegenden Prinzipien der Resonanz-

lehre ein Instrument erlernen können, ist noch nicht geklärt, da Erfahrungswerte fehlen.

Auch die harmonische und strukturelle Analyse oder die emotionale Imagination von

Werken – wie z.B. im mentalen Üben (siehe Kapitel 3.5) – ist nicht unmittelbarer Be-

standteil der Resonanzlehre. Innerliches Vorhören von musikalischen Abschnitten oder

innerliches Hineindenken in persönlich entwickelte Bilder zu bestimmten Kompositionen

während des Spielens gehört ebenfalls nicht zu den Arbeitsweisen der Resonanzlehre. Ge-

steuert wird die musikalische Aktion im Moment über den Klang und das eigene Erleben,

und nicht über eine geplante, ausgefeilte, mit historischem Wissen unterfütterte und genau

definierte Interpretation. Ob darin ein Kritikpunkt der Resonanzlehre liegt, hängt letztend-

lich mit der persönlichen Auffassung über die grundsätzliche Funktion von Musik zu-

sammen und den unterschiedlichen Meinungen darüber, wodurch sich eine gelungene

Konzertdarbietung von einer weniger gelungenen unterscheidet.

3.3.7 Improvisation als Lernweg (nach Volker Biesenbender)

In seinem Vorwort zu dem Buch „Aufforderung zum Tanz“ schreibt Volker Biesenben-

der93: „Einen Leitfaden improvisierenden bzw. entdeckenden Lernens, also so etwas wie

eine «Methodik des Augenblicks» ausarbeiten zu wollen, kommt mir nach verschiedenen

Anläufen inzwischen fast widersinnig vor.“94 Statt einer Methodik soll also in diesem Ka-

pitel ein improvisatorischer Ansatz beschrieben werden, der viel eher ein persönliches und

instrumentales Eingehen auf den Moment des Improvisierens ist, denn ein allgemein gül-                                                                                                                          93 Volker Biesenbender ist Geiger und studierte u.a. bei Yehudi Menuhin. Er ist Dozent an der Züricher Hochschule der Künste. 94 Biesenbender, Volker: Aufforderung zum Tanz. Aarau, Schweiz: HBSNepomuk. 2005, S. 10

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tiges Lernprogramm. Trotz seiner „unmethodischen“ Art soll dieser Ansatz in diesem Ka-

pitel ergänzend behandelt werden, da auch Volker Biesenbender in seinen Veröffentli-

chungen einen der wesentlichen Ansatzpunkte für instrumentales Lernen im „«Hören»

und Ge-Horchen“95 sieht. Auch er lehnt (ähnlich wie Thomas Lange) eindeutige, von „au-

ßen“ initiierte motorische Anweisungen für Instrumentalbewegungen ab. Vielmehr geht er

davon aus, dass jedes Klangereignis eine ganz bestimmte Bewegung fordert, die nur durch

waches Zuhören vom Ohr gefunden werden kann. Daher gilt auch für Biesenbenders An-

satz die Kapitelüberschrift: Der Klang führt die Bewegung. Allerdings hat er bis zu diesem

Zeitpunkt keine eigene Methodik entwickelt (wie bereits erwähnt), sondern vermittelt bei-

spielsweise im Improvisationsunterricht der Züricher Hochschule der Künste mögliche

improvisatorische Ansätze für die Erarbeitung von musikalischen Werken. Aber nicht nur

der musikalische Kontext kann improvisierend erarbeitet werden (dazu später mehr), son-

dern schon die instrumentalen Spielbewegungen sind ertastende, erspürende und improvi-

sierende Bewegungsabläufe – gewissermaßen vielfältige „Bewegungsimprovisationen“.

Instrumentales Lernen – auch bei Anfängern – sollte sich nicht grundsätzlich von der Art

des Lernens unterscheiden, wie Kinder z.B. Laufen, auf Bäume klettern oder Ball spielen

lernen. Nehmen wir einmal das genannte Beispiel Laufen: Laufen lernen erfolgt durch

ausprobieren, durch Fehler machen (also in diesem Fall umfallen oder stolpern) und den

Korrekturen dieser Fehler. Und wenn dann nach vielen Fehlversuchen die „richtigen“

Muskelbewegungen mit der „richtigen“ Körperbalance gefunden worden ist, muss das

Laufen immer „gewissermaßen improvisierend“ auf den jeweiligen Untergrund abge-

stimmt werden. Wenn also Körperbewegungen (wie das Laufen) durch vielfaches Aus-

probieren gelernt werden und nicht durch das Antrainieren von (isoliert eingeschliffenen)

Teilbewegungen, entsteht die Frage, warum Gleiches nicht auch für Instrumentalbewe-

gungen gilt: „Muss ein unhörbarer Bogenwechsel tatsächlich radikal anders gelernt wer-

den als die Fähigkeit, unhörbar in ein Zimmer zu treten?“96 Sollte instrumentales Lernen

nicht auch eher darin bestehen, „sich behutsam erprobend, immer wieder «stolpernd» -

aus Über- und Unterdosierung lernend – in Ganzheiten hineinzutasten?“97 Geführt wird

dieses Lernen durch das elementare und angeborene Empfinden für musikalische Klänge,

für rhythmische Proportionen und harmonische Zusammenhänge.98 In dem Buch „Von der

                                                                                                                         95 Biesenbender, Volker: Von der unerträglichen Leichtigkeit des Instrumentalspiels. Aarau, Schweiz: Mu-sikedition Nepomuk. 1992, S. 55 96 Ebd. S. 45 97 Ebd. S. 52 98 Vgl. ebd. S. 52

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unerträglichen Leichtigkeit des Instrumentalspiels“99 liefert Volker Biesenbender – trotz

der „Tendenz zur «schrecklichen Vereinfachung»“100 – eine Art Tabelle (Abb. 4). Sie zeigt

auf der rechten Seite die jeweilige Alternative zu der auf der linken Seite dargestellten

Prinzipien des eher motorisch dominierten Lernens. Die Auflistung erfolgt in diesem Ka-

pitel in gekürzter, auf einer auf das Improvisieren als Lernweg konzentrierten Form:

Musikinstrument als «Fremdkörper» Musikinstrument als «Organerweiterung»

Spielfunktionen als mechanisches System Spielfunktionen als organisches System

«Machen», Planen, Kontrollieren «Lassen», Sich zuwachsen lassen, Durch-lassen, Geschehenlassen

Modelle, Regeln, Vorschriften von außen Führung von innen – angeborenes Empfin-den für das «Richtige»

Automatisieren, Konditionieren Ausprobieren; durch zielendes Tasten zum «Richtigen»

Festhalten, Sichern Loslassen, Vertrauen

«Festgelegte» Arbeitsweise «Improvisatorische» Arbeitsweise

Aufbauen aus Einzelheiten Sich tragen lassen von Zusammenhängen

Von außen (Bewegung) nach innen (Hören) Von innen (Hören) nach außen (Bewegen)

Kontrolle durch Beherrschung von körperli-chen Funktionen

Kontrolle durch «Mitgehen» mit dem Klangwillen

«Technik» als eingespeichertes Programm Technik durch Sensibilisierung von Kon-takt- und Empfangsbereitschaft

Bewegungslernen durch Ein- und Abrichten Bewegungslernen durch «Hören» und Ge-Horchen

Abb. 4: Gekürzte Tabelle aus: „Von der unerträglichen Leichtigkeit des Instrumental-spiels“101

                                                                                                                         99 Biesenbender, Volker: Von der unerträglichen Leichtigkeit des Instrumentalspiels. Aarau, Schweiz: Mu-sikedition Nepomuk. 1992 100 Biesenbender, Volker: Von der unerträglichen Leichtigkeit des Instrumentalspiels. Aarau, Schweiz: Mu-sikedition Nepomuk. 1992, S. 53 101 Ebd. S. 53f

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Aber nicht nur das Lernen von Instrumentalbewegungen ist ein „sich Zuwachsen lassen“,

ein Erproben, Ertasten und Improvisieren, sondern auch die Erarbeitung einer musikali-

schen Komposition erfolgt nach ähnlichen Prinzipien. Nimmt man noch einmal den kur-

zen Ausschnitt aus Mozarts Violinkonzert Nr. 5 A-Dur, KV 219, 1. Satz, so könnte eine

improvisatorische Erarbeitung nach Volker Biesenbender wie folgt aussehen (eigene Dar-

stellung, angeregt durch einen mehrstündigen Unterrichtsbesuch am 26.10.2010 der Grup-

penimprovisationsstunden von Volker Biesenbender an der Züricher Hochschule der

Künste):

Abb. 5102

Zuerst den Abschnitt einmal wie notiert durchspielen; anschließend den Notentext impro-

visierend umspielen, d.h. eigene Sechszehntelfiguren „erfinden“, die musikalische Linie

gewissermaßen mit eigenen Worten weiterspinnen, sie variierend umkreisen; dabei sich

innerlich eher zurücklehnen, dem „Klangwillen“ folgen und ungehindert die eigenen Emp-

findungen in Musik umwandeln. Biesenbender verweist in seinem Unterricht immer wie-

der darauf, dass man die Improvisation „kommen lassen“ sollte und nicht geplante und

schon früher geübte Patterns einfach abspult. Durch die eigenen improvisierenden Versu-

che eröffnet sich ein ganz neuer Blick auf Mozarts Kompositionsweise. Ein Beispiel: Aus

den vielen Möglichkeiten eine musikalische Linie fortzuführen, wählt Mozart in Takt 2

der Abbildung 5 eine absteigende Linie aus. Nach eigenen Improvisationsversuchen mit

anschließendem Blick auf die Vorlage erkennt man, welch hohe Qualität Mozarts Kompo-

sition hat. Die absteigende Linie ist in sich bewegt (jedes „Viererpäckchen“ der Sechs-

zehntel beginnt aufsteigend), vielgestaltig (z.B. zweites und viertes „Päckchen“ sind vari-

iert) und trotzdem in einem Bogen zusammengefasst. Es ist nicht leicht, in der eigenen

Improvisation eine ähnlich überzeugende Version durch „zielendes Tasten“ zu finden. So

steigt auf der einen Seite die Bewunderung für Mozarts Können, auf der anderen Seite

wird dem Instrumentalisten der Abschnitt durch die Improvisation vertrauter, und erhält in

seiner emotionalen und muskulären Bewegung etwas unmittelbar Persönliches.

                                                                                                                         102 Mozart, W. A.: Konzert in A, Nr. 5, KV 219. Kassel, Bärenreiter-Verlag. 2003, S. 7

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Auch im Zusammenspiel mit Klavier besteht die Möglichkeit, sich der Komposition im-

provisierend zu nähern. Dabei könnte das Klavier ein Folge von rhythmisch abwechs-

lungsreichen Akkorden in A-Dur (auch Dominante und Subdominante wären problemlos

möglich) spielen. Der Violinspieler würde darüber seine Stimme entwickeln und dabei

„genau hören, was klingt und was klingen will.“103 Unterlaufen dem Musiker beim Impro-

visieren „Fehler“, sog. „falsche“ Töne wie etwa ein F (statt Fis) oder ein C (statt Cis) über

den A-Dur Akkorden, so sind diese Fehler von unschätzbarem Wert für das instrumentale

Lernen. Sie ermöglichen dem Spieler – wenn er ganz im Augenblick des Improvisierens

ist – eine Fehlerkorrektur über das Hören. Biesenbender spricht von der „Schlauheit des

Ohres“104, das den falschen Ton, die Dissonanz geschickt und organisch wieder in den

gegebenen harmonischen Rahmen zurück führt. Wer also lernen möchte, „was klingt“,

muss Fehler machen (dürfen). Erst der sog. „Fehler“ führt den Musiker zu dem sog.

„Richtigen“, erst nach vielen Fehlversuchen ergibt sich das für ihn Sinnvolle und Zweck-

mäßige – sowohl im Bewegungslernen als auch im musikalischen Kontext. Der Umgang

mit Fehlern sowie deren Sinn und Nutzen soll im Kapitel 6 ausführlicher dargestellt wer-

den.

3.4 Das Prinzip der rotierenden Aufmerksamkeit

(nach Gerhard Mantel) Das Prinzip der rotierenden Aufmerksamkeit ist eine Methode des Übens, die die relativ

engen Grenzen der menschlichen Wahrnehmung nacheinander auf unterschiedliche Berei-

che (Parameter) des instrumentalen Übens lenkt. Der Mensch kann zwar verschiedene

Dinge gleichzeitig tun, seine volle Konzentration allerdings immer nur auf eine Sache

richten. Alle anderen Dinge „verschwinden“ währenddessen mehr oder weniger aus dem

Fokus unserer Aufmerksamkeit, d.h. sie laufen nicht mehr bewusst ab. Als Beispiel dient

hier das Phänomen, dass die eigene Aufmerksamkeit sich so stark auf optische Reize kon-

zentriert, dass sämtliche andere Teilbereiche unserer Wahrnehmung wie Riechen, Schme-

cken und Hören vollkommen in den Hintergrund treten. Eckart Altenmüller verwendet für

die Aufmerksamkeitsfokussierung „das Bild eines steuerbaren «Scheinwerfers» der Auf-

merksamkeit, der unter der Kontrolle des Stirnhirns bestimmte Aspekte der eingehenden

                                                                                                                         103 Biesenbender, Volker: Aufforderung zum Tanz. Motorische Mutmaßungen eines bewegten Geigers. In: Üben & Musizieren. 3/04, S. 17 104 Zitat aus dem Improvisationsunterricht an der Züricher Hochschule der Künste am 26.10.2010.

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Sinnesreize anleuchtet und damit bewusst macht.“105 Nach Gerhard Mantels106 Ansicht gilt

daher der Satz: „Die Aufmerksamkeit kann sich beim Üben immer nur auf einen einzigen

Aspekt richten. Deshalb: Nach dem «Prinzip der rotierenden Aufmerksamkeit» üben!“107

Einzelne Bereiche (oder auch Parameter genannt), die jeweils in den Blickpunkt der

Wahrnehmung rücken, werden von Mantel in Form einer Rosette der rotierenden Auf-

merksamkeit dargestellt (siehe Abb. 6).

Abb. 6: Der Themenkreis der rotierenden Aufmerksamkeit108

                                                                                                                         105 Altenmüller, Eckhart: Hirnphysiologische Grundlagen des Übens. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel, 2005, S. 49 106 Gerhard Mantel war seit 1973 Professor für Violoncello an der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst. Er gehört zu den führenden Violoncello-Pädagogen in Deutschland. 107 Mantel, Gerhard: Einfach üben. Mainz: Schott Musik International. 2001, S. 25 108 Mantel, Gerhard: Cello üben. Mainz: B. Schott’s Söhne. 1987, S. 173

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Der Themenkreis der Rosette wird allerdings für jede Aufgabe und jeden Übenden etwas

unterschiedlich ausfallen, das Entscheidende aber ist die Rotation und die periodische

Wiederholung der Teilaspekte. „An jeder einzelnen Station der Rosette findet durch die

jeweilige Wiederholung, durch das Wiedererkennen des Problems und die Wiederholung

der erfolgreich verwendeten Methode ein kleiner Lernprozess statt, der bald mit dem

Lernprozess der anderen Stationen verschmilzt.“109

Ein Lernprozess findet aber nur dann wirklich erfolgreich statt, wenn die genaue Wahr-

nehmung und Analyse einzelner Parameter des eigenen Spiels an erster Stelle stehen. Es

müssen also Teilaspekte wie z.B. der Ansatz des Tones genau beschrieben und in Katego-

rien wie weich, hart, geräuschvoll usw. eingeteilt werden können. Der Übende muss also

wahrnehmen, was er macht, nur so kann er mit Hilfe der rotierenden Aufmerksamkeit zu

dem musikalischen Ergebnis kommen, das er sich als Ziel gesetzt hat. Dabei ist es wichtig,

dass die Übedurchgänge möglichst objektiv bewertet werden, damit positive oder negative

Veränderungen in Bezug zu einem Parameter wahrgenommen werden. Diese Bewertbar-

keit der Übeversionen schließt aber eine Beteiligung des Gefühls nicht aus, sondern der

Spieler darf sich ärgern und freuen über den jeweiligen Erfolg oder Misserfolg der rotie-

renden Übedurchgänge.

Zu Beginn des Übeprozesses sollte das Detailüben im Vordergrund stehen: „Die Aufmerk-

samkeit richtet sich auf einzelne (wechselnde) Parameter, auf kleine musikalische Aus-

schnitte, kurze Zeiträume und Bewegungsdetails. Wichtig dabei ist, dass auch in dieser

Anfangsphase immer wieder versucht wird, auf dem derzeit erreichten, noch unvollkom-

menen Niveau einen Überblick über das Ganze zu erwerben […], um neue gestalterische

Impulse für die Detailarbeit zu bekommen.“110 Tritt der gewünschte Lernerfolg ein –

wahrnehmbar durch die allmählich einsetzende Automatisierung eines Parameters – so

kann ein zweiter hinzutreten. Nach und nach öffnet sich dann der Blick für größere Phra-

sen und längere Abschnitte, die Aufmerksamkeit richtet sich mehr auf musikalische Ge-

staltung und Interpretation. Sie geht also vom Kleinen zum Großen und Ganzen, ohne aber

den Bezug zum Detail zu verlieren. Sind die Grund- und Einzelbewegungen, die Intonati-

on, die Agogik und Dynamik usw. detailliert einzeln eingeübt, fügen sich die einzelnen

Parameter nunmehr ohne bewusste Kontrolle zu einem harmonischen Ganzen zusammen

und im Idealfall stellt sich für den Musizierenden ein „Flow“-Erlebnis ein.

                                                                                                                         109 Mantel, Gerhard: Cello üben. Mainz: B. Schott’s Söhne. 1987, S. 172 110 Mantel, Gerhard: Einfach üben. Mainz: Schott Musik International. 2001, S. 25

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41  

3.4.1 Das Prinzip der rotierenden Aufmerksamkeit – angewendet bei der

Erarbeitung schwerer Stellen

Jeder Übende verbringt viel Zeit und Mühe mit den sog. „schweren Stellen“ der zu erler-

nenden Literatur. Sie sinnvoll zu erarbeiten und dauerhaft abzusichern ist das Übeziel,

doch oftmals ist das Resultat – trotz unzähliger Übedurchgänge – eher unbefriedigend.

Mal gelingt die Stelle unter günstigen Bedingungen, mal wieder nicht, so dass auf das

reibungslose Gelingen im Falle eines Konzertes kein Verlass ist. Enttäuschung und Frust-

ration können die Folge sein, gepaart mit der Erkenntnis, man sei einfach zu unbegabt. Es

wäre aber auch denkbar sich die Frage zu stellen, ob die schweren Stellen „nur“ ungünstig

erarbeitet worden sind? Oder: Was macht diese Stellen eigentlich so schwer? Gerhard

Mantel äußert sich zu diesem Thema wie folgt: „Wenn wir die Grundfunktionen einmal

außer Acht lassen, dann ergibt sich im Allgemeinen, dass die Stelle deshalb zu schwer ist,

weil in kurzer Zeit zu viele Aspekte und Bewegungselemente vorkommen, als dass die

Aufmerksamkeit sie verfolgen könnte. Solche Aspekte sind z.B. Fingerfolge, Lagenwechsel,

Lagenwechselfolge, Saitenwechsel, Bogenrichtung (auf – ab) etc.“111

Kontrolliert und verbessert werden können die einzelnen Aspekte aber nur wenn sie nach-

einander, d.h. rotierend geübt werden. Die Komplexität der Bewegungselemente wird also

zeitweise in einzelne Muster, Spielbewegungen und Spieleinheiten zerlegt und in separate,

für die Aufmerksamkeit kontrollierbare „Portionen“ geteilt. Diese Aufteilung in Einzel-

bewegungen ist wichtig, da unser „Gesamt-Bewegungsgefühl“112 viel zu ungenau ist, um

alle präzise auszuführenden Bewegungen des Instrumentalspiels gleichzeitig zu üben.

Als Erstes ist es wichtig, sich klar zu machen, welche Parameter bei der Erarbeitung eines

Werkes, hier exemplarisch für Violoncello dargestellt, überhaupt isoliert geübt werden

können. Gerhard Mantel zählt für schwere Stellen im Allgemeinen folgende Parameter

auf:113

• 1. Finger

• 2. Finger

• 3. Finger

• 4. Finger

• Daumen

                                                                                                                         111 Mantel, Gerhard: Cello üben. Mainz: B. Schott’s Söhne. 1987, S. 174 112 Ebd. S. 180 113 Vgl. ebd. S. 180

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• Leere Saite

• Saitenübergänge

• Lagenwechselrichtung: nach oben, nach unten

• Impulse

• Strichrichtung ab – auf

• Strichstelle

• Weite, enge Lage (gilt nur für Cello und Bass)

• bei Tonleiterfiguren: Fingerfolgen 1-2-4 oder 1-3-4, in den Daumenlagen Konstel-

lation große – kleine Sekund

• Fingerfolgen, z.B. 1-2 (wo? wie oft?)

• Bogenstelle

• Intervalle

Aus diesem Katalog an prinzipiell zu übenden Parametern wählt Gerhard Mantel für die folgende schwere Stelle (Abb. 7), in dem dargestellten Beispiel also für Edward Elgars Cellokonzert in e-Moll op. 85, 2. Satz folgende Aspekte aus:

Zu Beginn des Übens „in einem mittleren Tempo, also nicht zu langsam“114, steht jetzt eine Musterbildung der einzelnen Parameter. Die erste Frage lautet also: „Wo und wie oft kommt der 1. Finger vor? Sodann: Wie sieht die Intervallfigur aus, die durch den 1. Fin-ger beschrieben wird?“115 Die Musterbildung für den 1. Finger wird als Akkord am rech-ten Rand der Abbildung dargestellt (d, fis, a, cis, e). Weitere Musterbildungen für den 2. Finger usw. folgen.

Abb. 7116

Durch die genauen Betrachtung einzelner Muster, wie im folgenden Notenbeispiel etwa

der Parameter des Saitenüberganges, eröffnen sich dem Spieler interessante und fehler-

                                                                                                                         114 Mantel, Gerhard: Cello üben. Mainz: B. Schott’s Söhne. 1987, S. 181 115 Ebd. S. 181 116 Ebd. S. 181

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vermeidende Details. Der Saitenwechsel erfolgt nämlich in der letzten Sechzehntelgruppe

ein Sechzehntel später als in der analogen zweiten Gruppe (siehe Sternchen unter den

Sechzehntelnoten in Abb. 8).

Abb. 8117

Im nächsten Beispiel bilden jeweils der Lagenwechsel und die Fingernummer ein eigen-

ständiges Muster. Wie die Abbildung zeigt, ergibt sich das Muster auf-ab-auf-ab für die

Lagenwechsel (siehe kleine Pfeile unter den Noten) und für die Finger bei den Lagen-

wechseln das Muster 1-2-4-3 (siehe kleine Ziffern unter den Noten in Abb. 9).

Abb. 9118

Die Aufgabe im weiteren Übeverlauf ist nun, mit der Aufmerksamkeit zwischen beiden

Mustern zu wechseln. Ungefähr 8-10 Wiederholungen sind nötig119, bis ein Muster

einigermaßen sicher eingeschliffen ist. Allerdings ist es nicht nötig für eine schwere Stelle

ein Muster von allen möglichen Parameter zu erstellen, sondern die Auswahl richtet sich

natürlich nach spezifischen Schwierigkeiten der jeweiligen Stelle (siehe oben).

                                                                                                                         117 Mantel, Gerhard: Cello üben. Mainz: B. Schott’s Söhne. 1987, S. 181 118 Ebd. S. 181 119 In dem Buch Einfach üben spricht Mantel allerdings von ca. 20 Wiederholungen, bis sich eine technisch anspruchsvolle Stelle festigt und automatisiert.

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Das nachfolgende Beispiel liefert eine sinnvolle Auswahl der Parameter für eine schwere

Stelle in Joseph Haydns Cellokonzert in D-Dur op.101, 3. Satz (Abb. 10).

Abb. 10120

3.4.2 Zusammenfassung – oder: Vor und Nachteile von variablem gegenüber

geblocktem Lernen

Durch die Rotation der Aufmerksamkeit ergibt sich ein immer wieder neuer Blick auf die

Übeinhalte. Dadurch bleibt das Üben spannend und der Spieler erschöpft sich mental und

physisch nicht so leicht in immer gleichen Wiederholungen. Für jede Stelle ergibt die Su-

che nach zweckmäßigen Parametern daher ein eigenes „Rezept mit unterschiedlichen Zu-

taten“. Für die gesamte Komposition wird das Rezept sicherlich anders aussehen als für

eine ausgewählte, schwere Stelle, so dass der Übende viele Möglichkeiten hat, ganz Per-

sönliches und Eigenes in sein Üben einzubringen. Dadurch wird die eigene Kreativität

gefördert und das Lerngebiet breiter, da jeder einzeln geübte Parameter einen eigenen

Lernprozess in Gang setzt. Im günstigsten Fall wird dieser Lernprozess dann nach und

nach verinnerlicht und beginnt schon wenige Tage später Früchte zu tragen. Es gibt aber

auch Übesituationen, z.B. bei einem kurzfristig anberaumten Konzert, die ein sehr zielge-                                                                                                                          120 Mantel, Gerhard: Cello üben. Mainz: B. Schott’s Söhne. 1987, S. 183

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richtetes, sich auf die wesentlichen Bewegungsabläufe beschränkendes Üben erfordern.

Für diese Situationen kann das Prinzip der rotierenden Aufmerksamkeit zu umfangreich

an verschiedenen musikalischen Parametern sein und der Übende muss deshalb die Aus-

wahl auf sehr wenige Aspekte beschränken. Es ist zwar relativ wahrscheinlich, dass vari-

ables Üben – und dazu gehört das Prinzip der rotierenden Aufmerksamkeit geradezu als

Paradebeispiel – einen größeren Lernerfolg erzielt als geblocktes Lernen121 (geblocktes

Lernen bedeutet die häufige Wiederholung eines Bewegungsablaufes ohne größere Varia-

tion oder Veränderung des Aufmerksamkeitsfokus). Gesicherte Erkenntnisse darüber, ob

die Übefortschritte des variabel Erlernten auch unter stressreichen Bedingungen genauso

gut abrufbar sind wie geblockt Erlerntes, gibt es allerdings noch nicht.122 Auch müssen

instrumentale Anfänger sicherlich zuerst eher geblockt üben, um motorische Grundfähig-

keiten zu lernen. Erst in einem späteren Lernstadium sind motorische Grundfähigkeiten so

gefestigt, dass sie sich durch Variation auch mit anderen Lerngebieten vernetzen können.

Darüber hinaus liefert das Prinzip der rotierenden Aufmerksamkeit zwar viele mögliche

Übeinhalte, gibt dem Übenden aber kein ganz klares Kriterium an die Hand, mit dem er

beispielsweise die Qualität einer geübten Bewegung prüfen kann. Dass eine „schwere

Stelle“ fehlerfrei und musikalisch stimmig gespielt werden kann, ist sicherlich ein großer

Übeerfolg, ist jedoch nicht gleichbedeutend damit, dass auch die persönliche Bewegungs-

qualität optimal war. Auch bei der rotierenden Aufmerksamkeit können sich ungünstige

(z.B. leicht unkoordinierte oder leicht verspannte) Bewegungsmuster einschleifen – die

häufig auch zu einer Einschränkung der Klangqualität führen. Für manche Musiker kann

daher eine Erweiterung ihres Übens durch Erkenntnisse aus den verschiedenen Bewe-

gungslehren, wie sie u.a. in Kapitel 3.3 (Der Klang führt die Bewegung) dargestellt wur-

den, sehr sinnvoll sein.

3.5 Mentales Üben

Mentales Üben bzw. mentales Training ist eine Methode, bei der Bewegungsabläufe aus-

schließlich in der Vorstellung geübt und vollzogen werden. Dass allein durch die intensive

geistige Vorstellung einer Bewegung die entsprechenden Muskelgruppen innerviert wer-

den, ist schon im Jahre 1873 von dem englischen Arzt W. B. Carpenter festgestellt wor-                                                                                                                          121 Vgl. Saxer, Marion: Spiel und Übeanweisungen. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 231 122Vgl. Altenmüller, Eckhart: Hirnphysiologische Grundlagen des Übens. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 64

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den. Nach seinem Entdecker wird dieser Effekt seitdem als „Carpenter-Effekt“ bezeichnet.

Später erkannte der bedeutende Experimentalpsychologe William James123, dass es sich

dabei um eine psychologische Gesetzmäßigkeit handelt, die als „ideomotorisches Gesetz“

bezeichnet wird. Neuere Untersuchungen haben ergeben, „dass auch bei Musikern schwa-

che elektrische Ströme in den für die Musizierbewegungen benötigten Muskeln ausgelöst

werden können, wenn sie in Gedanken die Bewegungen ausführen“124 (siehe Kapitel 5.

Üben und Neurologie). Aber „nicht nur spezifische Muskelaktivität tritt auf, wenn eine

Bewegung intensiv vorgestellt wird, sondern auch Puls und Atmung können sich beim in

der Bewegung Erfahrenen in ähnlicher Weise verändern“125, so als würde die Aktivität

wirklich ausgeführt werden. Dieses gewissermaßen innerliche Erlebnis einer Bewegung

ermöglicht ein Training ohne die physische Beanspruchung der Muskeln. Mental geübt

werden kann somit unmittelbar vor einem Konzert oder Wettkampf, bei einer muskulären

Verletzung oder auch im Zustand mentaler Frische und gleichzeitiger körperlicher Er-

schöpfung. Aber nicht nur Bewegungsabläufe lassen sich durch das mentale Training ver-

bessern, sondern auch die allgemeine Leistungsfähigkeit kann durch das Trainieren positi-

ver Gedanken gefördert werden. Bei dieser sog. „positiven Selbstinstruktion“ werden be-

wusst störende und den Bewegungsfluss hemmende negative Gedanken nach und nach

durch positive, an den Erfolg glaubende Gedanken ersetzt.

Erste Ansätze, das mentale Üben methodisch in den Instrumentalunterricht zu integrieren,

wurden von der Klavierpädagogin Margit Varró (in: Der lebendige Klavierunterricht126)

und dem Klavierpädagogen Karl Leimer (dem Lehrer von Walter Gieseking) in den Jahren

um 1930 geleistet. Mittlerweile hat das mentale Training in manchen Bereichen eine her-

ausragende Bedeutung erlangt. Viele Disziplinen im Sport sind ohne mentales Training

überhaupt nicht mehr vorstellbar. Beispielsweise durchfahren Skirennfahrer vor dem Ab-

fahrtslauf die gesamte Strecke mit all ihren Kurven, Unebenheiten, wechselnden Lichtver-

hältnissen usw. viele Male in ihrer geistigen Vorstellung. Im günstigsten Fall lässt sich so

das gesamte Leistungspotential im Moment des Wettkampfes abrufen. Mental geübt wer-

den können neben den Bewegungsabläufe des Körpers auch emotionale, akustische, visu-

elle und kognitive Aspekte einer Tätigkeit, also im Prinzip die Gesamtheit der wahrneh-

mungsartigen Erlebnisse: Wie fühlt sich eine Bewegung in der Vorstellung an, wie hört

                                                                                                                         123 James, William (1842-1910). Amerikanischer Professor für Psychologie und Philosophie in Harvard. 124 Klöppel, Renate: Die Kunst des Musizierens. Mainz: Schott Musik International. 1997, S. 116 125 Hollmann, W; Hettinger, Th: Sportmedizin: Arbeits- und Trainingsgrundlagen, S. 63f. Zitiert in: Klöppel, Renate: Die Kunst des Musizierens. Mainz: Schott Musik International. 1997, S. 116 126 Vgl.: Varró, Margit: In: Der lebendige Klavierunterricht. Seine Methodik und Psychologie. Berlin, 4., erweiterte Auflage, Hamburg und London: 1958

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sich – um bei dem gewählten Beispiel zu bleiben – der Kantengriff der Skier innerlich an,

wie „schmeckt“ die Bergluft bei optimaler Geschwindigkeit usw. Neuartige Lernerfahrun-

gen ergeben sich, wenn z.B. visuelle und akustische Aspekte mental miteinander verbun-

den werden, wie etwa das Geräusch der Skier mit dem vorbeifliegenden Licht- und Schat-

tenspiel auf der Piste. Interessante Ergebnisse ergaben Studien aus dem Bereich Sport zu

der zeitlichen Genauigkeit der mentalen Vorstellungen. Die zeitliche Analyse von Bad-

minton-Ballwechseln ergab, dass „beim Vorstellen von Bewegungsabfolgen die vorgestell-

te Zeit deutlich kürzer ausfällt als die reale Zeit.“127 Im weiteren Verlauf der Studie wurde

deutlich sichtbar, dass „eine Vorstellung des Ballwechsels «in Zeitlupe» der real gespiel-

ten Zeit entsprach.“128 Allerdings waren auch bei der zeitlichen Verkürzung die Relatio-

nen innerhalb der Ballwechsel relativ genau. Die Studie ist insofern auch für Musiker inte-

ressant, da etwa eine Überprüfung der zeitlichen Genauigkeit von schwierigen Sprüngen

ergeben könnte, dass die innere Vorstellung zu schnell abläuft. Durch das Vorstellen in

„Zeitlupe“ könnten so evtl. leicht eilende oder gehetzt wirkende reale Wiedergaben am

Instrument verbessert werden.

Die besten Erfolge werden laut Christian Pohl129 mit dem mentalen Training erzielt, wenn

„zu gleichen Teilen mental und instrumental“130 geübt wurde. Was aber nun sind die

Grundfähigkeiten, die man für das mentale Üben benötigt? Im Wesentlichen sind folgende

Fähigkeiten gefordert:

1. Konzentration, d.h. die Fokussierung der Aufmerksamkeit

2. Imagination, also die innere Vorstellungskraft

3. Suggestion, d.h. die eigene Einbildungskraft (siehe Pohl, Christian A.: In: Hand-

buch Üben)

Alle drei Schlüsselfähigkeiten lassen sich durch mentales Training wiederum verbessern,

so dass dadurch die Effizienz der Methode gesteigert wird.

3.5.1 Mentales Üben in der musikalischen Praxis (nach Christian Pohl)

                                                                                                                         127 Munzert, Jörn: Kognitive Trainingsmethoden und Bewegungsorganisation. In: Mantel, Gerhard (Hrsg.): Ungenutzte Potentiale. Mainz: Schott Musik International. 1998, S. 110 128 Ebd. S. 110 129 Christian Pohl ist Pianist und studierte an der Staatlichen Hochschule für Musik Freiburg/Br. Seit 2001 hat er Lehraufträge für Klavier an den Musikhochschulen Freiburg und Stuttgart. 130 Pohl, Christian: Mentales Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 290

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„Mentales Üben in der Musik besteht zu einem großen Teil aus der rein geistigen Beschäf-

tigung mit allen denk-, spiel-, und fühlbaren Aspekten einer Komposition.“131 Aus diesem

Grund sollte sich das mentale Üben nicht nur auf das reine Memorieren oder das kognitive

Verständnis einer Komposition beschränken. Man kann sich auch bei dieser Übemethode

– wie beim realen Üben – fragen: „Ist das sauber? Kratzt es? Steht das Tempo? Sehe, spü-

re ich das Bewegungsziel? Ist die Tonverbindung ausdrucksvoll?“132 Wie dieses Zitat ver-

deutlicht, werden auch beim mentalen Üben verschiedene Aspekte der künstlerischen Tä-

tigkeit betrachtet, so dass sich unsere Vorstellungskraft in folgende Bereiche einteilen

lässt:

-­‐ Die verbale Imagination. Eine der Schlüsseltechniken des mentalen Trainings. Durch

inneres und auch lautes Sprechen verbalisiert man spieltechnische, emotionale sowie

musikalische Aspekte während des mentalen oder instrumentalen Übens.

-­‐ Die akustische Imagination. Man hört die Komposition innerlich. Das Spektrum an

Klangfarben lässt sich in der Fantasie erweitern. Unterschiedliche Instrumente über-

nehmen in der Vorstellung verschiedene Melodieabschnitte. Dadurch wird unser

Klangbewusstsein am Instrument stärker und differenzierter.

-­‐ Die visuelle Imagination. Mit dem inneren Auge betrachtet man einzelne Spielbewe-

gungen oder aber den Notentext. Dabei kann man innerlich ganz nahe an einer Bewe-

gung sein, wie etwa am Fingeraufsatz auf einer Saite. Oder man kann sich wie „in ei-

nem Film“ von außen während des Spielens betrachten.

-­‐ Die kinästhetische Imagination. Das intensive Denken und Spüren von Spielbewegun-

gen steht bei dieser Imaginationsform im Vordergrund. Wie verbindet sich die Hand

mit dem Bogen bei schnellen Noten, wie „weit“ fühlt sich ein Lagenwechsel innerlich

an usw. Gelingt eine schwere Stelle, so imaginiert man das Bewegungsgefühl.

-­‐ Die emotionale Imagination. Man verbindet in sich ganz bewusst bestimmte Empfin-

dungen oder emotional gefärbte Bilder mit musikalischen Abschnitten. Mit etwas

Übung lassen sich so stimmungsvolle Fantasiewelten zu einzelnen Werken erschaffen

und diese in Verbindung mit der Musik memorieren.

Bevor der Übende aber die Vielfalt des mentalen Übens an einer Komposition anwenden

kann, muss diese zunächst in ihrem genauen Notentext erarbeitet werden. Daher steht

auch zu Beginn des Übens die mentale Texterarbeitung (vgl. „Leimer“-Methode: Karl

                                                                                                                         131 Pohl, Christian: Mentales Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 289 132 Mantel, Gerhard: Einfach üben. Mainz: Schott Musik International. 2001, S. 163

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Leimer verlangte von seinen Schülern, zuerst den gesamten Notentext sicher und lücken-

los memorieren zu können; erst danach folgte die instrumentale Ausarbeitung).

3.5.2 Mentale Texterarbeitung

Zu Beginn der Arbeit sollte man sich einen Überblick über Form und Proportionen des

Werkes verschaffen. Wo beginnt die Reprise, wo ein neuer Abschnitt, welche Motive

werden verarbeitet usw. Ist die Komposition dem Spieler in ihrem Aufbau vertraut, wen-

det er sich kleineren Abschnitten zu und memoriert diese. Dabei ist es wichtig, dass diese

Abschnitte möglichst genau beschrieben werden – wie ein detailliertes „Drehbuch“ für

jemanden, dem das Stück unbekannt ist. Allerdings nicht Note für Note, sondern systema-

tisch beschreibend. Dies wird von Christian Pohl exemplarisch dargestellt am Beispiel des

Hauptthemas aus dem ersten Satz der Sonate für Violoncello und Klavier e-moll op. 38

von Johannes Brahms (siehe folgende Abb. 11):

Abb. 11133

Für die systematische Beschreibung wählt Pohl folgendes Vorgehen. 1.Takt: gebrochener

Tonika-Dreiklang aufwärts, Rhythmus: Halbe, punktierte Viertel, Achtel. 2. Takt: Zwei

halbe Noten, die Sexte c erklingt als Vorhalt zur folgenden Quinte h. 3. Und 4. Takt: Um-

spielung a, erst mit oberer, dann mit unterer Wechselnote. Rhythmische Struktur: Achtel,

zwei Sechzehntel, zwei Achtel. Thema endet mit gebrochenem Tonika-Dreiklang abwärts.

Rhythmus: Punktierte Viertel, Achtel, Halbe.134

Neben dieser systematischen Beschreibung des Notentextes ist auch noch eine zweite Me-

thode für das nachhaltige Memorieren möglich: die strukturelle Reduktion. Eine struktu-

relle Beschreibung für das vorliegende Beispiel (Abb. 11) lautet in Anlehnung an Pohl

folgendermaßen: Der Tonika-Dreiklang ist die das Hauptthema dominierende Grundstruk-

tur. Im ersten Takt aufsteigend und durch die Verkürzung der Notenwerte in Bewegung

kommend, wird ab der zweite Takthälfte von Takt 3 der Dreiklang wieder abwärts geführt

und rhythmisch beruhigt. Durch diese Art Spiegelung umschließt der Tonika-Dreiklang

                                                                                                                         133 Pohl, Christian: Mentales Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 292 134 Vgl. ebd. S. 292

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das Thema. In der Mitte des Themas wird erst die Dreiklangs-Quinte und anschließend die

Wechselnote a mit der rhythmischen Kombination Achtel, zwei Sechzehntel und zwei

Achtel umspielt.135

Im weiteren Verlauf soll nun anhand des Nocturnes cis-moll op. posth. von F. Chopin

(Abb. 12) dargestellt werden, wie bei der mentalen Texterarbeitung das Verständnis für

die Kompositionsweise und die Fähigkeit zur Analyse ineinander greifen und den Noten-

text in sinnvolle Abschnitte, Motive und Figuren teilt. Dadurch, dass man Gleiches erken-

nen und Unterschiedliches benennen kann, wird der Notentext geordnet und damit viel

leichter memorierbar, als wenn Note für Note auswendig gelernt werden würden.

Abb. 12136

Betrachtet man diese vier Takte, fallen als Erstes die beiden absteigenden Linien in der

Oberstimme und die sich beständig wiederholenden Figuren im Bass auf, die aus drei auf-

steigenden und einer abfallenden Note bestehen (hervorgehoben durch die schwarzen Li-

nien im Notentext von Abb. 13).

Abb. 13137

                                                                                                                         135 Vgl. Pohl, Christian: Mentales Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 293 136 Ebd. S. 294 137 Pohl, Christian: Mentales Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 294

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Alle Figuren in den ersten drei Takten des Basses beginnen mit cis und enden mit cis1. Cis

bildet also über drei Takte hinweg einen Orgelpunkt, der sich erst im vierten Takt zum fis

lösen kann (siehe Abb. 14).

Abb. 14138

Betrachtet man anschließend den Bass genau, so wird ersichtlich, welche Figuren sich

ähneln und welche sogar identisch sind (verdeutlicht durch die Buchstaben A, A´, B und C

in Abb. 15).

Abb. 15139

Analysiert man nun die einzelnen Figuren, ergeben sich folgende Harmonien: Figur A:

cis-moll, Figur A´: Cis-Dur, Figur B: fis-moll und Figur C: ebenfalls fis-moll. Für die Fi-

guren A, A´ und C verwendet Chopin nur Dreiklangs-Töne. Warum weicht er aber von

diesem Kompositionsprinzip bei Figur B ab und verwendet hier die Sexte dis statt der ei-

gentlich zu erwartenden Oktave fis? Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass Chopin

die Spitzentöne der Begleitfiguren mit dem Verlauf der Melodie korrespondieren lassen

wollte (siehe Abb. 16).

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                             138 Ebd. S. 294 139 Ebd. S. 294

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52  

Abb. 16140

Darüber hinaus ist anzunehmen, dass Chopin durch die Verwendung von dis anstelle von

fis die Oktave vermeiden wollte, die mit der Oberstimme entstehen und weniger reizvoll

klingen würde, als die weit aufgespannte kleine Terz (dis1 – fis2). In Abbildung 17 wird

diese Oktave zur Veranschaulichung durch die ellipsenartige Linie hervorgehoben. Die

umkreiste Ton der Basslinie ist hier fis¹ anstelle von dis¹

Abb. 17141

Mit Hilfe dieser systematischen Beschreibung der Basslinie müsste diese sich nun relativ

leicht memorieren lassen. Im „Drehbuch“ folgt nun die Darstellung der Oberstimme, die

an dieser Stelle jetzt in einer komprimierten Fassung erscheint, da das Prinzip bereits aus

der Erarbeitung der Unterstimme bekannt ist (siehe Abb. 18).

Abb. 18142

                                                                                                                         140 Pohl, Christian: Mentales Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 295 141 Ebd. S. 295

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53  

Diese Art der genauen Beschreibung eines Notentextes bietet sich für die geistige Rekon-

struktion und das Memorieren der Komposition an, da man dabei das Tempo verlangsa-

men kann. Möchte man jedoch die Komposition in der eigenen Vorstellung in Echtzeit

durchgehen, um beispielsweise den Fluss der Achtelfiguren zu empfinden, müssen Moti-

ve, Themenabschnitte oder harmonische Fortschreitungen mit einem einzigen Begriff

prägnant zusammengefasst werden. „Dieser Begriff gilt als Repräsentant der entspre-

chenden Textstelle. Sprechen wir den Begriff (laut oder innerlich), verbalisieren wir die-

ses «Stichwort», so erinnern wir uns an die betreffende Stelle.“143 Da diese Stichwörter

eine Erinnerungshilfe sein sollen – wie der berühmte Knoten im Taschentuch – nennt man

sie „Knotenpunkte.“144 Mit Hilfe dieser Knotenpunkte – in der Abbildung 19 über die No-

ten geschrieben – lässt sich dieses Beispiel auch in Echtzeit memorieren und mental üben.

Abb. 19145

Darüber hinaus ist es sinnvoll, die eigenen musikalischen Vorstellungen so präzise zu

formulieren, dass sie treffend mit einem einzigen Knotenpunkt beschrieben werden kön-

nen. Zum einen schafft man sich mit diesem Vorgehen eine Gedächtnishilfe, zum anderen

wird die Interpretation genauer und klarer. Als Beispiel verwendet Pohl an dieser Stelle

Folgendes:

1. Der Quintsprung im zweiten Takt soll abphrasiert werden. Der dafür zuständige Kno-

tenpunkt lautet „weniger“ (siehe Abb. 20, Oberstimme).146

2. Die überraschende Aufhellung von cis-moll nach Cis-Dur im dritten Takt soll durch

eine leichte Verzögerung von eis1 hervorgehoben werden. Den entsprechenden Kno-

tenpunkt nennt man „Zeit“ (siehe Abb. 20, Unterstimme).147

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                             142 Pohl, Christian: Mentales Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 296 143 Ebd. S. 298 144 Ebd. S. 298 145 Ebd. S. 299 146 Vgl. Pohl, Christian: Mentales Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 299 147 Vgl. ebd. S. 299

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54  

Abb. 20148

Ob nun mental oder später auch instrumental geübt wird: wichtig ist in jedem Fall, dass

die Knotenpunkte vorausgedacht und vor der entsprechenden Stelle verbalisiert werden,

damit die Bewegungen nicht automatisiert ablaufen, sondern bewusst von dem Bild des

Knotenpunktes ausgeführt werden. Durch diesen vorausgreifenden mentalen Einfluss auf

die Muskulatur kann auch ein immer wiederkehrendes Scheitern an schweren Stellen be-

hoben werden. Oft ist die Muskulatur vor einer schweren Stelle verkrampft, oder destruk-

tive Gedanken stören den Bewegungsfluss. Beide Probleme können gelöst werden, indem

man sich vor einer schweren Stelle innerlich beispielsweise den Knotenpunkt „leicht“ oder

„mühelos“ zuruft. Diese Selbstinstruktion sollte dann bei jedem mentalen oder instrumen-

talen Übedurchgang wiederholt werden, bis die Muskulatur vor der schweren Stelle ent-

spannt ist und der Verstand aufhört zu zweifeln.

3.5.3 Instrumentale Ausarbeitung

Wie bereits beschrieben, lassen sich die besten Überesultate erzielen, wenn mentales und

instrumentales Üben ungefähr zu gleichen Teilen ineinander greifend vollzogen werden.

Instrumentale Übepausen kann man nutzen, um das Werk innerlich zu hören, zu denken

und zu fühlen. In den realen Ausarbeitungphasen am Instrument wiederum lässt sich das

mentale Üben mühelos miteinbeziehen, indem man sich laut die Knotenpunkte vorsagt

(verbale Imagination). Bei diesem Wechsel von mentalem und instrumentalem Üben kann

man den Fokus auf die Architektur eines Werkes legen, aber ebenso gut (wie bereits er-

wähnt) auf die im Folgenden dargestellten emotionalen oder spieltechnischen Aspekte

einer Komposition.

3.5.4 Instrumentale Ausarbeitung der eigenen werkimmanenten Emotionen

                                                                                                                         148 Ebd. S. 299

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Die meisten Kompositionen lösen bei Musikern spontane und intuitive Emotionen aus.

„Als Interpreten sollten wir jedoch Empfindungen, die ein Werk in uns auslöst, in Worte

zu fassen versuchen. [...] Das Verbalisieren hilft uns, aus vagen, verschwommenen Gefüh-

len klar skizzierte Empfindungen zu machen.“149 Sind dem ausübenden Künstler seine

eigenen Empfindungen klar geworden, so lassen sie sich zu einem Knotenpunkt verdich-

ten, wie etwa „zart“, „dunkel“, „gehaucht“, „schlicht“, „freudig“, „stürmisch“ usw. und

vorausdenkend in das Üben einbauen. Dabei können ganze musikalische Abschnitte mit

einem Werk aus einer anderen Kunstform in Verbindung gebracht werden. Lösen etwa

Kompositionen von Mozart ähnliche Empfindungen wie Hermann Hesses „Steppenwolf“

aus, so kann sich der Interpret beim mentalen Üben in die Welt von Harry Haller verset-

zen und die Melancholie des Protagonisten mit der Stimmung beispielsweise eines Largo

in d-moll verbinden. Man kann in der eigenen Vorstellung gleich Haller einsam durch die

dunkle, regennasse Vorstadt gehen und dabei innerlich das Largo hören (emotionale Ima-

gination). So wird ein Werk tief im persönlichen Erleben verankert und erfüllt (bei ent-

sprechender Vorbereitung) den Künstler in einer Konzertsituation mit werkimmanenten

Emotionen, die für die Interpretation der Komposition dienlich sind.

3.5.5 Stabilisierung der Spieltechnik

Insbesondere bei der Verbesserung der Spieltechnik können Musiker vielfältige Verknüp-

fungen zu den verschiedenen Arten von Imagination schaffen. Sie können sich mit ihrem

geistigen Auge die genauen Bewegungsabläufe bei schweren Stellen vorstellen: Welcher

Finger bildet welches Muster, oder wie bewegt sich die eigene Hand von außen betrachtet

bei großen Sprüngen (visuelle Imagination). Musiker können aber auch die Komposition

innerlich hören und dabei den Namen des Fingers verbalisieren (verbale Imagination),

oder bei komplexen Stellen mittels kinästhetischer Imagination das Bewegungsgefühl

memorieren. (Wie fühlt sich beispielsweise der Tastengrund am Klavier an, wie ge-

schmeidig fühlt sich die Hand bei Oktavsprüngen an etc.).

3.5.6 Zusammenfassung

Das mentale Üben bietet die Möglichkeit, unterschiedlichste Bereiche künstlerischer Tä-

tigkeit einzeln und in ungewöhnlichen Kombinationen mental und instrumental zu üben.

Durch die Unabhängigkeit vom Instrument kann auch auf Reisen oder bei Wartezeiten

geübt werden. Für die Unabhängigkeit von Instrument und Notentext ist die mentale

                                                                                                                         149 Pohl, Christian: Mentales Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 301

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Texterarbeitung und Memorierung von zentraler Bedeutung, weshalb sie in diesem Kapi-

tel ausführlich dargestellt wurde. Dabei ist die systematische Gliederung in musikalisch

sinnvolle Einheiten unerlässlich, damit ein langes Werk überhaupt sicher memorierbar

wird. Generell liegt das große Potential dieser Übemethode in der Bewusstwerdung von

Strukturen und eigenen künstlerischen Vorstellungen und den vielfältigen Möglichkeiten,

diese auch am Instrument umzusetzen. Natürlich kann das mentale Üben nicht das reale

Üben am Instrument ersetzen. Die motorische, gestalterische und klangliche Umsetzung

von Musik muss und will am Instrument erprobt werden. Ob nun das mentale Training

allerdings ein Viertel, ein Drittel oder (wie Christian Pohl rät) gar die Hälfte der täglichen

Übezeit ausfüllt, wird sicherlich stark von der Persönlichkeit des Musikers und dessen

individueller Auffassung von Musik bedingt sein. Sicherlich aber kann das mentale Trai-

ning einen wichtigen Beitrag für die Verbesserung der Konzentrationsfähigkeit, der Inter-

pretationsschärfe und der motorischen Abrufbarkeit von Spielbewegungen liefern und bei

der Vermeidung von störenden destruktiven Gedanken helfen. Da schon in der mentalen

und instrumentalen Erarbeitungsphase dieser Übeart die Gedanken auf strukturelle, visu-

elle, auditive, emotionale etc. Aspekte der Komposition gelenkt werden, übt der Musiker

frühzeitig eine Fokussierung auf konstruktive Gedanken. Dadurch kann eine gedankliche

Konzentration auch in Konzertsituationen entstehen, die störende, destruktive oder ängst-

liche Gedanken erst gar nicht aufkommen lässt und somit ein auf die Musik bezogenes

Konzertieren ermöglicht. Somit eröffnet das mentale Training dem Musizierenden man-

nigfaltige Möglichkeiten, das eigene Üben zu verbessern und in Konzertsituationen größe-

re Teile des eigenen Potentials abrufen zu können. Ob die mentale Texterarbeitung aller-

dings so detailliert wie in diesem Kapitel beschrieben ausfallen sollte oder doch deutlich

reduzierter, wird wahrscheinlich stark von der Persönlichkeit des Übenden bestimmt.

Auch die Anzahl der „Knotenpunkte“ kann sicherlich von Musiker zu Musiker stark vari-

ieren. Für manch einen Übenden könnte die Dichte der Knotenpunkte, wie z.B. in Abbil-

dung 18 dargestellt, schlicht eine Überfrachtung des Notentextes bedeuten. Auch wird es

Musiker geben, die in der Vorwegnahme von musikalischen Ereignissen, wie sie durch

das Verbalisieren kommender Knotenpunkte (siehe beispielsweise Text zu Abb. 19) er-

folgt, eine Entfernung von der eigentlichen Kraft und Funktion von Musik sehen. Aus

Sicht von eher improvisatorisch arbeitenden Musikern besteht das Eigentliche und We-

sentliche von Musik im sich Einlassen auf den Moment, auf ein spontanes, intuitives und

emotionales Eingehen auf den Klang selbst.

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4. Üben und Muskeln

Muskelaktivität erzeugt Bewegung und Bewegung wiederum ist die Grundlage jeder mu-

sikalischen Tätigkeit. Wie aber ist der größte Organbereich des Menschen mit bis zu fünf-

zig Prozent der Körpermasse150 aufgebaut, wie gehen Sportler mit ihrer Muskulatur um,

was können Musiker davon auf ihr Metier übertragen und was sollten Musiker über Mus-

keln wissen? Diese Fragen sollen im folgenden Kapitel erörtert werden.

4.1 Struktureller Aufbau und Funktionsweise der Muskeln

Das menschliche Muskelsystem gliedert sich in die folgenden drei Arten von Muskulatur:

die skelettale (auch quergestreifte Muskulatur genannt), die glatte und die Herzmuskula-

tur.151 Genauer betrachtet werden soll hier nur die Skelettmuskulatur, da sie an allen musi-

kalischen Aktionen maßgeblich beteiligt ist und bewusst gesteuert werden kann.

Abb. 21 Aufbau eines Skelettmuskels152

                                                                                                                         150 Vgl. Puls, Hartmut: Muskeln und Musizieren. In: Üben & Musizieren. 3/06, S. 19 151 Vgl. Campbell, Neil A.; Reece, Jane B.: Biologie. München: Pearson Studium. 2006, S. 1004 152 Campbell, Neil A.; Reece, Jane B.: Biologie. München: Pearson Studium. 2006, S. 1090

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Wie die Abbildung 21 zeigt, sind Skelettmuskeln (wie der dargestellte Bizepsmuskel) aus

vielen einzelnen Muskelfaserbündeln aufgebaut, die von einem Bindegewebe (Muskel-

fascie) umhüllt werden. Diese Bündel gehen an ihren Enden in Sehnen über, die dann

wiederum die Verbindung zu den Knochen herstellen (allerdings nicht auf dieser Abb. 21

sichtbar bzw. beschriftet). Die Muskelfaserbündel sind ihrerseits aus zahlreichen Muskel-

fasern (Muskelzellen, siehe Abb. 21, mittlerer Strang) aufgebaut, in denen die Stoffwech-

selprozesse ablaufen. Allerfeinste Blutgefäße, die Kapillaren, bilden eine Blut-Gewebe-

Schranke, an der der Austausch von energiereichen Substanzen, Stoffwechselprodukten

und Sauerstoff stattfindet.153 In dem die Muskelfasern umhüllenden Bindegewebe befin-

den sich auch die Muskelnerven, die die Bewegung der Muskeln koordinieren, sowie Re-

zeptoren (gewissermaßen die Sinnesorgane der Muskeln), die die jeweilige Länge und

Spannung des Muskels an das Bewegungszentrum im Gehirn melden. In ihrer Mikrostruk-

tur ist die Muskelfaser wiederum aus einer riesigen Anzahl von longitudinal verlaufenden

Myofibrillen aufgebaut. Die eigentliche Muskelkontraktion findet in diesen Myofibrillen

statt, genauer gesagt in den Sarkomeren, die von den sog. Z-Scheiben begrenzt sind (siehe

Abb. 21, einzelner Strang). Bei der Kontraktion einer Muskelfaser „verkürzt sich jedes

einzelne Sarkomer der Kette. Diese Verkürzung erfolgt mit der ganzen zur Verfügung ste-

henden Kraft, d.h. die Kontraktion einer Muskelfaser erfolgt nach dem «Alles-oder-nichts-

Gesetz».“154 Wie aber sind dann feinmotorische Muskelbewegungen möglich, wenn die

Muskelfasern nur ganz oder gar nicht kontrahieren können? Die Antwort ergibt sich durch

die Tatsache, dass der Muskel in viele einzelne „motorische Einheiten“ gruppiert ist. Mo-

torische Einheit meint eine bestimmte Anzahl von Muskelfasern, die von einem dazu ge-

hörenden Neuron – dem Motoneuron – innerviert werden können.155 Nimmt man als Bei-

spiel eine schwache Muskelbewegung, so werden bei dieser eben nur wenige motorische

Einheiten durch genau gesteuerte Nervenimpulse zur Kontraktion gebracht, bei einer star-

ken Bewegung hingegen viele Einheiten. Für diese Steuerungsform der motorischen Ein-

heiten gilt: je höher die Anforderungen an die Feinmotorik eines Körperteils, desto kleiner

die Anzahl der Muskelfasern pro motorischer Einheit. Dies bedeutet für den menschlichen

Körper, dass in der Rückenmuskulatur ca. 2000 Muskelfasern zu einer motorischen Ein-

heit zusammen gefasst sind, in den Fingermuskeln aber nur 8 bis 50 Fasern.156 Eine andere

Art, die Kontraktion des gesamten Muskels zu dosieren, besteht darin, die Intensität der

Erregung zu variieren. Das bedeutet: Nimmt die Reizstärke der Neuronen zu, so kontra-                                                                                                                          153 Vgl. Puls, Hartmut: Muskeln und Musizieren. In: Üben & Musizieren. 3/06, S. 20 154 Ebd. S. 21 155 Vgl. Campbell, Neil A.; Reece, Jane B.: Biologie. München: Pearson Studium. 2006, S. 1093 156 Vgl. Puls, Hartmut: Muskeln und Musizieren. In: Üben & Musizieren. 3/06, S. 21

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hieren mehr Muskelfasern – da mehr Myofibrillen zur Kontraktion gezwungen werden –

und die Kraft der Muskelbewegung nimmt zu.

4.2 Wie entstehen muskuläre Ermüdung und Schmerzen?

Das Wissen über den strukturellen Aufbau der Muskeln liefert für Musiker die Erklärung,

warum Muskeln ermüden und Schmerzen entstehen können. Bei einer häufig wiederholten

Bewegung kontrahieren immer verschiedene motorische Einheiten, so dass nie der ganze

Muskel arbeitet, sondern allerhöchsten (wenn der Muskel nicht ermüden soll) 15 Prozent

des gesamten Muskels.157 Die restlichen gut 85 Prozent des Muskels können sich entspan-

nen und regenerieren und werden mitbewegt, bis sie wieder mit der Arbeit an der Reihe

sind. Sind aber die Anforderungen an die Muskelfasern einer motorischen Einheit zu hoch

(z.B. durch pausenloses Üben), kann sich diese nicht mehr regenerieren und damit auch

keine muskuläre Arbeit mehr leisten. Somit fällt diese Einheit aus und wird auf Grund der

Ermüdung unflexibel und unelastisch. Bei der folgenden Kontraktion muss sie aber trotz-

dem weiter mitbewegt werden, so dass für die verbliebenen motorischen Einheiten der

Kraftaufwand noch höher wird. Die Ermüdung des gesamten Muskels beschleunigt sich

nun rasch. Wird trotzdem weitergeübt, verdickt sich der ermüdete und kontrahierte Mus-

kel, wodurch der intramuskuläre Druck zunimmt.158 Dieser Druck wiederum führt zu einer

Verschlechterung der Blutversorgung, da die feinen Blutgefäße abgeschnürt werden.

Energieträger und Sauerstoff können nicht mehr optimal zum Muskel hin- und Stoffwech-

selprodukte nicht mehr abtransportiert werden. Am kritischsten scheint jedoch eine man-

gelnde Sauerstoffversorgung zu sein.159 Hält die Unterversorgung des Muskels und der

Abtransport von Stoffwechselabfallprodukten länger an, so kommt es „zu schmerzhaften

Verspannungen und zur Bildung von Myogelosen (Muskelhärten), die dann einer langfris-

tigen therapeutischen Behandlung bedürfen.“160 Ziel eines regenerativen Gebrauches der

Muskulatur beim Musizieren sollte es daher sein, die Muskulatur nicht durch einseitige

Belastung, zu wenig Pausen oder allgemeinen Bewegungsmangel zu ermüden.

4.3 Muskuläre Anpassungsvorgänge durch Krafttraining

Besonders ein sinnvoll abgestimmtes Krafttraining zur Leistungssteigerung der Muskula-

tur bietet die Möglichkeit, sich vor schmerzhafter Überlastung der Muskeln zu schützen

(negative Aspekte von Krafttraining werden im Unterkapitel 4.6 Zusammenfassung the-                                                                                                                          157 Vgl. Puls, Hartmut: Muskeln und Musizieren. In: Üben & Musizieren. 3/06, S. 21 158 Vgl. ebd. S. 22 159 Vgl. ebd. S. 22 160 Ebd. S. 22

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matisiert). Sinnvoll abgestimmtes Training bedeutet eine individuelle Trainingsbelastung,

bei der sich die Muskulatur der Belastung anpasst, jedoch nicht unter- oder überfordert

wird. Für die individuelle Trainingsbelastung gilt die Schulz/Arndt´sche Regel:161

• Ein schwacher Reiz führt zu Negativanpassung

• Ein mittlerer Reiz wirkt als Erhaltungsreiz

• Ein starker Reiz führt zu Anpassungsvorgängen

• Ein zu starker Reiz wirkt zerstörend162

Der Trainingsreiz muss für eine Verbesserung der Muskelleistung also genau dosiert und

individuell abgestimmt werden. Gelingt dies, so findet in der Muskulatur eine Anpas-

sungsleistung statt, die im Folgenden mit Hilfe der oben beschriebenen Funktionsweise

der Muskeln dargestellt werden soll.

Dosiertes Krafttraining, bei der die Muskulatur spürbar ermüdet, führt in den Regenerati-

onsphasen zu einer Anpassung an die höheren Anforderungen. Die Durchlässigkeit der

feinen Blutgefäße verbessert sich, die Durchblutung nimmt zu und die Stoffwechselvor-

gänge in den Muskelfasern ökonomisieren sich.163 Sogar eine Vermehrung der Kapillaren

ist möglich. Durch das Training verbessert sich darüber hinaus die intermuskuläre Koor-

dination. Das bedeutet: Das Zusammenspiel eines für die Ausführung einer Bewegung

hauptsächlich verantwortlichen Muskels – der sog. Agonist – mit den anderen beteiligten

Muskeln (Synergisten) verbessert sich. Gleichzeitig wird auch das koordinierte Nachlas-

sen des Hauptgegenspielers (Antagonist) optimiert.164 Das präzisere Zusammenspiel der

Muskeln ist in erster Linie auf eine verbesserte neuronale Ansteuerung der Muskulatur –

die sog. neuronale Adaption – zurückzuführen, also ein genauere neuronale Aktivierung

von Agonist und Antagonist. Erst wenn diese für Musiker vorteilhafte Ökonomisierung

der Muskulatur durch neuronale Adaption ausgereizt wurde, beginnt bei weiterem Kraft-

training die Muskelmassenzunahme. Diese Massenzunahme scheint allerdings für Musiker

nicht vorteilhaft zu sein.165 Ein weiterer positiver Effekt dosierten Krafttrainings ist die

Verbesserung der intramuskulären Koordination. Durch ein verbessertes Nerv-Muskel-

Zusammenspiel werden mehr Muskelfasern einer motorischen Einheit aktiviert, d.h. ein

Motoneuron rekrutiert eine größere Anzahl an Fasern. Dadurch können die motorischen

Einheiten ökonomischer arbeiten und ermüden weniger schnell. Durch die Aktivierung                                                                                                                          161 Vgl. Türk-Espitalier, Alexandra: Musiker üben – Sportler trainieren?! In:Üben & Musizieren. 3/06, S. 14 162 Ebd. S. 14 163 Vgl. Puls, Hartmut: Muskeln und Musizieren. In: Üben & Musizieren. 3/06, S. 22 164 Vgl. Türk-Espitalier, Alexandra: Musiker üben – Sportler trainieren?! In:Üben & Musizieren. 3/06, S. 16 165 Vgl. ebd. S. 16

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von mehr Muskelfasern pro motorischer Einheit wird die 15-Prozent-Schwelle166, bei der

ein Muskel ermüdet, weniger leicht überschritten (siehe oben).

Neben gezieltem und individuell abgestimmtem Krafttraining scheint auch eine Art all-

gemeiner Bewegungsvielfalt, die zur Durchblutung möglichst vieler Muskeln des gesam-

ten Körpers führt, eine wichtige Voraussetzung zu sein, den Körper vor Überlastung und

muskulären Dysbalancen zu schützen.167 Im folgenden Verlauf des Kapitels sollen nun

mögliche Handlungs- und Umgangsweisen dargestellt werden, die einen regenerativen

Gebrauch der Muskulatur ermöglichen können. Der folgende Abschnitt beginnt mit einem

Blick auf Erkenntnisse aus dem Bereich Sport, in dem der Muskelaufbau, die Muskelpfle-

ge und wie sich zeigt, auch die Vielfältigkeit von Bewegungen wichtige Themen sinnvol-

len Trainierens (Übens) sind.

4.4 Erkenntnisse aus dem Sport

„Kein Skispringer wird täglich einige Stunden lang immer wieder von der Schanze sprin-

gen, bis er «es kann». Er wird einmal oder zweimal springen, danach die Videoaufzeich-

nung mit seinem Trainer gemeinsam analysieren und sehen, welche Punkte noch zu ver-

bessern sind.“168 Anschließend findet das weitere Training – welches neben dem Training

der eigentlichen Sportart auch die fünf motorischen Grundfähigkeiten Kraft, Ausdauer,

Beweglichkeit, Schnelligkeit und Koordination umfasst – im Kraftraum, in der Turnhalle

oder auf dem Fahrrad statt. Wie diese fünf Grundfähigkeiten im Einzelnen trainiert wer-

den, soll in diesem Kapitel nicht ausgeführt werden, da es tief in die Trainingswissen-

schaften führen würde. Es soll aber ein Einblick in die Vielseitigkeit und Variabilität des

wöchentlichen Trainings anhand eines Trainingsplanes von Speerwerfern geliefert wer-

den. Dieser in Auszügen abgebildete Plan (siehe Abb. 22) bezieht sich auf die Fähigkeit

Speerwurf und stellt nur ein Viertel des gesamten Trainingsplanes dar, welcher auch die

Schwerpunkte allgemeines Training, Krafttraining und Wettkampfphasen zyklisch be-

rücksichtigt (der zur Veranschaulichung des Gesagten aber nicht notwendigerweise in

Gänze abgebildet werden muss).

                                                                                                                         166 Puls, Hartmut: Muskeln und Musizieren. In: Üben & Musizieren. 3/06, S. 22 167 Vgl. ebd. S. 22 168 Türk-Espitalier, Alexandra: Musiker üben – Sportler trainieren?! In: Üben & Musizieren. 3/06, S. 14

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Abb. 22169

Wie die Abbildung 22 (aus der Zeitschrift Leichtathletiktraining des Deutschen Leichtath-

letik Verbandes) zeigt, ist das Training der Disziplin Speerwurf äußerst vielfältig aufge-

baut. Das Training umfasst im Ganzen nur 80 Speerwürfe pro Woche (Dienstag 20 Würfe,

Donnerstag und Samstag jeweils 30 Würfe). Der weitaus größere Teil des Trainings bein-

haltet Aufwärmübungen, spielerische Elemente, Kräftigungsübungen, Sprungtraining,

Sprinttraining, Gymnastik (als Abschluss des Trainingstages) usw. Außerdem enthält der

wöchentliche Trainingsplan einen freien Tag. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der

Plan deutlich zeigt, wie die zu trainierende Disziplin Speerwurf eingebunden wird in das

vielseitige Training des ganzen Körpers. Auf den Speerwurf ausgerichtete Bewegungs-

vielfalt (im Gegensatz zu einseitigen, häufig wiederholten Bewegungen), allgemeine und

gezielte Kräftigung (Schulterkräftigung) und abschließende, die Durchblutung der Musku-

latur fördernde Gymnastik bilden die Grundpfeiler des Trainingsplanes.

4.5 Trainingspläne für Musiker?

Eine direkte Übertragung von sportlichen Trainingsplänen auf Musiker ist sicherlich nicht

möglich. Für einen Geiger würde eine genaue Übertragung bedeuten, dass er achtzig mal

pro Woche eine technisch anspruchsvolle Passage üben und die restlichen Stunden Kraft-,

Schnelligkeits-, Koordinations- und Beweglichkeitsübungen trainieren müsste. Die vielfäl-

tigen, kompositionsbedingten Bewegungsfolgen wären mit dieser Art des Übens nicht zu

lernen. Daher gilt: „MusikerInnen werden aufgrund der extrem hohen koordinativen An-

forderung immer sehr viel Zeit am Instrument verbringen müssen. Diese Zeit kann nie

(und soll auch nicht) durch sportliche Übungen ersetzt werden.“170 Ein sportorientiertes

                                                                                                                         169 Ritschel, Maria: Techniktraining für Speerwerfer. In: Leichtathletiktraining. Philippka Sportverlag. 3/08, S. 6 170 Türk-Espitalier, Alexandra: Musiker üben – Sportler trainieren?! In: Üben & Musizieren. 3/06, S. 17

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Training kann aber eine wichtige Ergänzung des täglichen Übens sein. Damit die körperli-

chen Voraussetzungen für das Musizieren verbessert werden können, ist es durchaus sinn-

voll, grundlegende Prinzipien des in Abbildung 22 dargestellten Trainingsplanes für

Speerwerfer zu beachten und ggf. zu übertragen (eigene Darstellung):

1. Jeder Trainingstag des Planes beginnt mit einer Aufwärmphase (am Dienstag und

Freitag übernehmen Bewegungsspiele das körperliche Aufwärmen). Auch Musiker

sollten sich vor dem Üben aufwärmen, da durch das Erwärmen der Muskulatur die

Durchblutungsleistung der Kapillaren um das bis zu 20-fache gegenüber dem Ruhezu-

stand steigt.171 Die positiven Folgen einer gut durchbluteten Muskulatur wurden be-

reits im ersten Teil dieses Kapitels dargestellt, so dass auf eine weitere Ausführung

dieses Themas in diesem Abschnitt verzichtet werden soll.

2. Die zu erlernende Technik des Speerwerfens wird eingebunden in das Training des

ganzen Körpers. Auch Musiker können das instrumentale Üben in ähnlicher Weise in

eine Art musikalisches Ganzkörpertraining einbinden. Dabei ist es sinnvoll, die fünf

motorischen Grundfähigkeiten Ausdauer, Koordination, Beweglichkeit, Kraft und

Schnelligkeit (siehe oben) variabel in den zeitlichen Ablauf des Übens (beispielsweise

einer Woche) einzugliedern. Die Grundfähigkeit Ausdauer lässt sich durch zwei- bis

dreimaliges Ausdauertraining pro Woche steigern und ist für die allgemeine Belas-

tungs- und Regenerationsfähigkeit der Muskulatur wichtig. Als Sportarten eignen sich

z.B. Schwimmen, Radfahren, Laufen oder Walken.172 Die Grundfähigkeit Koordinati-

on lässt sich beispielsweise durch jonglieren mit Bällen oder Balancierübungen auf ei-

nem Balken verbessern und führt zu schnellerem Lernen von neuen Bewegungsabläu-

fen am Instrument. Sie kann in kurzen Übepausen trainiert werden und bildet auch im

Instrumentalunterricht eine sinnvolle Auflockerung und Abwechslung des Unter-

richtsgeschehens. Die Grundfähigkeit Beweglichkeit kann mit Ganzkörpertechniken

wie etwa Yoga verbessert werden und ermöglicht eine Bewegungserweiterung der

Muskulatur, die für manche instrumentale Spielbewegungen von großem Nutzen ist.

Als Beispiel sei hier der positive Effekt eines beweglichen Schultergürtels auf die

Ausführung von Strichbewegungen von Geigern genannt. Ganzkörpertechniken sind

flexibel in den Übetag integrierbar und können vor dem Üben, in den Übepausen oder

zum Abschluss des Übeprogramms ausgeführt werden. Die Grundfähigkeit Kraft wird

„mit Hilfe von relativ hohem Gewicht (75 bis 100 Prozent der Maximalkraft) und we-

                                                                                                                         171 Vgl. Puls, Hartmut: Muskeln und Musizieren. In: Üben & Musizieren. 3/06, S. 22 172 Vgl. Türk-Espitalier, Alexandra: Musiker üben – Sportler trainieren?! In:Üben & Musizieren. 3/06, S. 17

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64  

nigen Wiederholungen“173 gesteigert. Auch mit speziellen Thera-Band-Übungen lässt

sich die muskuläre Kraft steigern. Untrainierte Musiker sollten aber behutsam an hohe

Gewichte herangeführt werden, damit der Trainingsreiz nicht zerstörend auf die Mus-

kelstrukturen wirkt (siehe oben: Schulz/Arndt´sche Regel). Das Training kann mehr-

mals pro Woche stattfinden, sollte aber in jedem Fall auf die momentane Anforderung

abgestimmt sein, d.h. bei hoher Belastung durch Prüfungen oder Konzerte reduziert

werden. Die motorische Grundfähigkeit Schnelligkeit steht mit der Kraft in Verbin-

dung und wird bei besserem Kraftzustand der Muskulatur ebenfalls verbessert.174

3. Abwechslungsreicher Tages- und Wochenablauf. Jeder Trainingstag besteht aus min-

destens fünf verschiedenen Elementen und jeder Tag der Woche ist unterschiedlich

aufgebaut. Auch für Musiker empfiehlt es sich, einen abwechslungsreichen Tagesab-

lauf zu gestalten (nicht täglich die gerne gewählte Reihenfolge Tonleitern-Etüden-

Stücke wiederholen), damit immer wieder unterschiedliche Lerninhalte eine ermüden-

de Routine vermeiden.

4. Unterschiedliche Bewegungsformen. Der Trainingsplan bewegt den ganzen Körper

durch: Sprinten, Turnen, Springen, Spielen, gymnastische Übungen usw. Auch Musi-

ker könnten Bewegungsspiele und Körperübungen in das tägliche Üben einbauen, die

eine – beispielsweise bei Pianisten auf die Finger, Hände und Arme beschränkte –

Bewegungsmonotonie vermeiden. Bewegungsvielfalt schärft das Bewusstsein für den

ganzen Körper und für das stark miteinander vernetzte System der gesamten Muskula-

tur.

5. Ein freier Tag pro Woche. Der Wochentrainingsplan der Speerwerfer beinhaltet einen

freien Tag. Der menschliche Körper braucht Pausen, in denen er sich regenerieren

kann und frisch Erlerntes in abrufbares Können umwandelt (siehe Kapitel 5 Üben und

Neurologie). Daher sind Ruhetage auch für Musiker sinnvoll und bedeuten nicht den

Verlust von wertvoller Übezeit, sondern dienen der Regeneration des Körpers und der

Sicherung von bereits Gelerntem.

4.6 Zusammenfassung

Vielseitige muskuläre Bewegung außerhalb der täglich mitunter stundenlang ausgeführten

Instrumentalbewegungen scheint ein wichtiger Faktor für die körperliche, aber auch (wie

neuere Studien zeigen) für die mentale Gesundheit und Leistungsfähigkeit zu sein. For-

schungsergebnisse der TU Dresden ergaben, dass die „Flexibilität der Gehirnleistung bis                                                                                                                          173 Türk-Espitalier, Alexandra: Musiker üben – Sportler trainieren?! In: Üben & Musizieren. 3/06, S. 16 174 Vgl. ebd. S. 16

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ins hohe Alter durch Training aufrecht erhalten [werden kann], am besten dafür [geeig-

net] seien vielseitige und verschiedenartige geistige Aktivitäten und regelmäßige körperli-

che Fitness.“175 Verschiedenartige Bewegungen und körperliche Herausforderungen er-

fordern eine Hirnaktivität in den unterschiedlichen Regionen des Gehirns und dienen so-

mit der Bildung und dem Wachstum von Nervenzellen durch deren wiederholte Beanspru-

chung.176 Neben diesem positiven Effekt ist für Musiker sicherlich wichtig, dass regelmä-

ßige Bewegung den Blutdruck senkt, beim Abbau von Stressmarkern im Blut (also beim

Stressabbau z.B. nach aufregenden Konzerten) hilft und zu mehr Ausgeglichenheit und

Optimismus führen kann. Kurze Bewegungseinheiten für die Verbesserung der Koordina-

tion in den Übepausen können zu einer stärkeren neuronalen Vernetzung der Muskeln

untereinander führen und helfen, einseitige, die Konzentration ermüdende motorische

Lerninhalte zu vermeiden. Auch für das Lernen von Bewegungen gilt die Annahme, dass

das Gehirn schneller memoriert, wenn zeitnah unterschiedliche Bewegungsformen gelernt

werden, als wenn eine Bewegungsform häufig und ohne Variation wiederholt wird (siehe

auch Kapitel 5 Üben und Neurologie oder 3.4.2 Zusammenfassung – oder: Vor- und Nach-

teile von variablem gegenüber geblocktem Lernen). Vielseitige und abwechslungsreiche

Bewegungsformen beim Üben (Trainieren), wie es auch der Trainingsplan der Speerwer-

fer zeigt, erweitern darüber hinaus das motorische Lernfeld des Körpers. Das Körperbe-

wusstsein und die Körperbeherrschung können dadurch gesteigert werden, so dass körper-

liche Zusammenhänge besser wahrgenommen und dadurch auch künstlerische Aussagen

besser realisiert werden können. Die muskulären Anpassungsvorgänge durch dosiertes

Krafttraining und die damit einhergehenden Vorteile für Musiker sind bereits beschriebe-

nen worden. Es ist aber wichtig darauf hinzuweisen, dass schon bestehende Probleme der

Muskulatur durch muskuläre Kräftigungsversuche sogar noch vergrößert werden können.

Ungünstige Bewegungsmuster, die bereits über einen längeren Zeitraum geübt wurden,

werden durch Krafttraining weiter gefestigt. Daher ist die Korrektur dieser Bewegungs-

muster der erste Schritt, denn „ohne eine vorherige Verbesserung der Koordination und

des Körpergefühls werden im Falle von muskulären Dysbalancen die bereits vorliegenden

und häufig undifferenzierten Kompensationsmuster weiter verstärkt.“177 Erst nach einer

sensomotorischen Umlernphase mit dem Ziel, günstigere (d.h. ökonomischere, dem Kör-

per dienlichere) Bewegungsmuster zu bilden, sollte daran anschließend die Kräftigung der

Muskeln erfolgen – „möglichst mit der Unterstützung durch bewegungstherapeutisch aus-                                                                                                                          175 Mertens, Margit: Wandern auf Rezept. Frankfurter Rundschau, 20./21. November 2010, S. 28 176 Ebd. S. 28 177 Hildebrandt, Horst: Üben und Gesundheit. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 84

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66  

gebildete Fachleute.“178 Generell wird die Bedeutung des Krafttrainings unterschiedlich

bewertet. Horst Hildebrandt schreibt im Handbuch Üben: „Im musikalischen Bereich soll-

ten in der Regel die Koordination und die Schnelligkeit vor der Kraft geübt werden.“179

Hartmut Puls hingegen sieht im Krafttraining eine wichtige Voraussetzung, das Üben zu

verbessern, den eigenen Körper besser wahrzunehmen und „die bei einseitiger Tätigkeit

immer auftretende Gelenkbelastung [zu] mindern.“180 Der Übende muss also (ähnlich wie

auch bei den verschiedenen Übemethoden) selbst erproben, ob und wie viel dosiertes und

bewegungstherapeutisch angeleitetes Krafttraining das eigene Instrumentalspiel verbes-

sert. Sicher scheint aber der positive Effekt von allgemeinem Ausdauertraining181, dem

Erwärmen der Muskeln vor dem Üben182, dem Integrieren von koordinativen Bewegungs-

spielen (siehe Trainingsplan: Abb. 22) und Körpertechniken (Yoga, Feldenkrais etc.) in

das Üben und das „Abwärmen“ der Muskeln (auch als „Cool down“ bezeichnet183) zu

sein. Gerade das Abwärmen der Muskeln ist ein wichtiger Aspekt der eingangs erwähnten

Muskelpflege. Leistungssportler, z.B. Fußballer wärmen sich nach Spielende durch gemä-

ßigtes Laufen ab und werden anschließend von Physiotherapeuten gedehnt, gelockert und

massiert. Darüber hinaus ist es wichtig, dass der Übende Freude an der Bewegung entwi-

ckelt, auch mit den verschiedenen Bewegungsmöglichkeiten experimentiert und sich auf

diesen „körperlichen“ Aspekt des Musizierens einlässt.184

Das komplexe und umfangreiche Thema, welchen Einfluss die Emotionen auf die

menschliche Muskulatur haben, d.h. wie die Muskeln auf Auftrittsängste, negative und

positive Gedanken usw. reagieren, ist äußerst interessant, kann in seiner Komplexität je-

doch im Rahmen dieser Diplomarbeit nicht angemessen dargestellt werden.

                                                                                                                         178 Hildebrandt, Horst: Üben und Gesundheit. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 84 179 Ebd. S. 84 180 Puls, Hartmut: Muskeln und Musizieren. In: Üben & Musizieren. 3/06, S. 23 181 Vgl. Hildebrandt, Horst: Üben und Gesundheit. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 85 182 Vgl. Puls, Hartmut: Muskeln und Musizieren. In: Üben & Musizieren. 3/06, S. 22 183 Vgl. ebd. S.22 184 Vgl. Türk-Espitalier, Alexandra: Musiker üben – Sportler trainieren?! In:Üben & Musizieren. 3/06, S. 17

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67  

5. Üben und Neurologie

Das menschliche Gehirn – behauptet John C. Eccles, Nobelpreisträger für Neurophysiolo-

gie – ist „auch ohne jede besondere Qualifikation das am höchsten und am kompliziertes-

ten organisierte Ding im Universum.“185 Den komplexen Aufbau und die komplizierte

Arbeitsweise des menschlichen Gehirns genau darzustellen, würde den Rahmen dieses

Kapitels sprengen und kann hier nur gestreift werden. Daher erfolgt an dieser Stelle nur

ein sehr kurzer Überblick auf die allgemeine Hirnphysiologie und die neurophysiologi-

schen Grundlagen des Übens. Anschließend werden praxisrelevante Erkenntnisse aus der

Neurologie für das instrumentale Üben etwas ausführlicher vorgestellt.

5.1 Der Aufbau des menschlichen Gehirns

Das menschliche Gehirn wiegt bei einem gesunden Erwachsenen durchschnittlich 1350

Gramm186 und besteht aus zwei Arten von Zellen: Zum einen aus schätzungsweise 100

Milliarden Nervenzellen, die die Grundbausteine der Hirnfunktionen bilden, und zum an-

deren aus Gliazellen, die in erster Linie Stütz- und Versorgungsfunktionen übernehmen.

Das menschliche Gehirn gliedert sich in fünf Teile187 (siehe Abb. 23):

• Verlängertes Mark (Medulla oblongata)

• Mittelhirn (Mesencephalon) mit dazu gehörender Brücke (Pons)

• Kleinhirn (Cerebellum)

• Zwischenhirn (Diencephalon)

• Endhirn (Cerebrum)

                                                                                                                         185 Eccles, John C.: The Understanding of the Brain. New York: McGraw-Hill Book Co. 1973, S. 1. Zitiert in: Kohut, Daniel L.; Fadle, Heinz: Musizieren. Essen: Die blaue Eule. 1999, S. 38 186 Vgl. Klöppel, Renate: Die Kunst des Musizierens. Mainz: Schott Musik International. 1997, S. 179 187 Vgl. Altenmüller, Eckhart: Hirnphysiologische Grundlagen des Übens. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 48

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68  

Abb. 23: Längsschnitt durch das menschliche Gehirn188

Jeder Teil des Gehirns hat eine unterschiedliche Aufgabe. Das verlängerte Mark reguliert

und steuert die lebenswichtigen Körperfunktionen wie Schlafen, Wachen, Atmung, Kör-

pertemperatur, Blutkreislauf und Flüssigkeitshaushalt. Die zum Mittelhirn gehörende Brü-

cke dient als Schaltzentrale zwischen Endhirn und Kleinhirn. Das Kleinhirn ist vor allem

für die Kontrolle und die Feinabstimmung von Bewegungen, Sprachlauten und Gedan-

kenketten zuständig. Es dient somit der Gleichgewichtskontrolle, der Haltungsregulation,

der Kontrolle von Augenbewegungen und ist – wie neuerdings vermutet wird – auch an

Denkprozessen beteiligt.189 Das Mittelhirn sorgt für die Verschaltung von visuellen, audi-

tiven und sensomotorischen Nervenbahnen sowie die Programmierung visuell oder auditiv

ausgelöster Blick- oder Greifbewegungen. Darüber hinaus werden auch motorische Auf-

gaben, etwa bei der Haltungssteuerung, vom Mittelhirn kontrolliert. Im Zwischenhirn be-

findet sich das „Tor zur Hirnrinde“, der Thalamus. „Im Thalamus enden die vom Auge,

vom Ohr, vom Gleichgewichtsorgan und von der Haut und den Muskeln kommenden sen-

sorischen Bahnen und werden auf Bahnen zur Hirnrinde umgeschaltet.“190 Dieses Tor

kann vom Endhirn (bzw. von der Großhirnrinde als Teil des Endhirns) gezielt für be-

stimmte Sinnesinformationen geöffnet werden, so dass aus der Masse der eingehenden

Reize immer die für die momentane Situation wichtigen Informationen ausgewählt wer-

den können. Daher ist man beispielsweise nach einer kritischen Situation im Straßenver-

kehr nicht mehr in der Lage, sich an die gleichzeitig im Radio gelaufene Musik zu erin-                                                                                                                          188 Altenmüller, Eckhart: Hirnphysiologische Grundlagen des Übens. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 48 189 Vgl. Ebd. S. 49 190 Ebd. S. 49

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nern. Unterhalb des Thalamus liegt der Hypothalamus, der die überlebenswichtigen Ver-

haltensweisen und Funktionen wie Nahrungsaufnahme, Fortpflanzung, Flucht und den

Biorhythmus steuert. Den größten Teil unseres Gehirns bildet das Endhirn. Es gliedert

sich in die Hirnrinde (Cortex) und in die darunter (subcortikal) liegenden Nervenzellgebie-

te. In diesen subcortikalen Gebieten liegen die Basalganglien, die der Steuerung und emo-

tionalen Einfärbung von komplexen Bewegungen dienen, die Mandelkerne (Amygdalae),

die die Steuerung von angeborenem Flucht- und Verteidigungsverhalten übernehmen und

der Hippocampus, der die Organisation und Speicherung von Gedächtnisinhalten leistet.

Der andere Teil des Endhirns, die Hirnrinde, wird durch einen mehrere Zentimeter tiefen

Spalt in zwei Hälften geteilt. Diese Hälften sind äußerlich sehr ähnlich, ihre Aufgabenbe-

reiche unterscheiden sich jedoch voneinander. Auch beispielsweise „beim Hören von Mu-

sik werden beide Hirnhälften nicht in gleicher Weise beansprucht.“191 Miteinander ver-

bunden und ständig untereinander Informationen austauschend sind die beiden Hälften

über das Nervenfaserbündel der Balkens (Corpus callosum). Als eine Art Faustregel gilt,

„dass beim Rechtshänder die linke Hirnhälfte stärker sequentielle, nacheinander erfol-

gende Verarbeitungsschritte und «lokale» Prozesse programmiert, während die rechte

Hirnhälfte eher ganzheitliche und viele Details integrierende «globale» Prozesse verar-

beitet.“192 Jede dieser beiden Hirnhälften ist in vier Lappen unterteilt. Der vorderste Teil

wird Stirnlappen (Frontalcortex) genannt, dann folgen Schläfenlappen (Temporalcortex),

Scheitellappen (Parietalcortex) und den hinteren Abschluss bildet der Hinterhauptslappen

(Okzipitalcortex). Die verschiedenen Lappen erfüllen unterschiedliche Aufgaben. Der

Frontalcortex dient im Wesentlichen der Handlungsplanung, d.h. der Programmierung und

Ausführung von Bewegungen und der Lenkung der Aufmerksamkeit. Der Temporalcortex

verarbeitet auditive Informationen und dient der Emotionsverarbeitung und dem Gedächt-

nis. Der Parietalcortex dient der räumliche Orientierung und der Eigenwahrnehmung des

Körpers. Im Okzipitalcortex werden visuelle Informationen verarbeitet. Höchst erstaunlich

ist die unglaubliche Vernetzung der Neuronen in der Großhirnrinde. Man geht mittlerwei-

le davon aus, dass „jedes beliebige Neuron der Hirnrinde mit jedem beliebigen anderen

Neuron über höchstens zwei Zwischenstationen kommunizieren kann.“193 Die Nervenzel-

len-Verbindung des Hirns mit den Sinnesorganen und dem Rückenmark sind allerdings

viel geringer als die Vernetzungen innerhalb der Großhirnrinde, so dass man sagen kann,

                                                                                                                         191 Klöppel, Renate: Die Kunst des Musizierens. Mainz: Schott Musik International. 1997, S. 183 192 Altenmüller, Eckhart: Hirnphysiologische Grundlagen des Übens. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 51 193 Ebd. S. 50

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„die Beschäftigung des Kortex mit sich selber [ist] hunderttausendmal stärker als die

Kommunikation mit dem, was außerhalb der Großhirnrinde sonst noch so passiert.“194

5.2 Für das Üben relevante neurophysiologische Grundlagen

Üben ist aus der Sicht der Neurophysiologie der Erwerb sowie die Verfeinerung und Er-

haltung von auditiven, sensomotorischen, visuellen, strukturellen und emotionalen Reprä-

sentationen von Musik im menschlichen Gehirn. Repräsentationen bedeuten in diesem

Fall weit verzweigte, individuell angelegte neuronale Netzwerke, welche sich schon nach

wenigen Minuten des Übens ändern können. Diese inneren Handlungspläne einer Tätig-

keit sind so bedeutsam, da unser Nervensystem bei schnellen musikalischen Abläufen zu

langsam ist195, um die Steuerung der Bewegungen kontrollieren zu können. So greift das

Nervensystem etwa bei einem schnellen Lauf oder bei großen Sprüngen auf motorische

Steuerprogramme zurück, die bereits zuvor durch Üben erlernt wurden und alle wichtigen

Informationen über die Kraftentwicklung der Muskulatur, Gelenkstellungen, Reibungs-

kräfte der Sehnen usw. enthalten. Diese Steuerungsprogramme laufen im Wesentlichen

ohne sensomotorische Rückmeldung ab (also ohne die genau Wahrnehmung einzelner

Bewegungen), können aber während der Ausführung noch leicht korrigiert werden, wie

beispielsweise ein falsch gewähltes Tempo. Üben bedeutet somit aus der Sicht der Neuro-

logie die ständige Verfeinerung und Erhaltung dieser Steuerprogramme durch die Auswer-

tung der eingehenden Sinneswahrnehmungen von Ohr, Auge, Sehnen, Muskeln usw. Am

Anfang steht ein noch fehlerhafter und unkoordinierter Entwurf einer Bewegung, der dann

im Laufe des Übens mit Hilfe von Lernen durch Tun (prozedurales Lernen) ökonomisiert

wird. Wichtig ist dabei, „dass das Zentralnervensystem vor Ausführung der Bewegung

über die vorgesehene Muskelaktivität und die daraus resultierende Bewegung Informatio-

nen erhält und abspeichert.“196 Wahrscheinlich erstellt das Nervensystem im Vorhinein

eine Art Kopie der zu erwartenden Bewegung, und vergleicht diese dann mit der real ab-

laufenden Bewegung. So können fehlerhafte Steuerprogramme erkannt und optimiert

werden. Im letzten Stadium des Übens sind die motorischen Steuerungsprogramme wei-

testgehend im Bewegungsgedächtnis abgespeichert und müssen „nur“ noch regelmäßig

aktiviert und gegebenenfalls korrigiert werden. Die Tatsache, dass neuronale Muster im-

mer wieder aktiviert werden müssen, damit sie nicht abgebaut werden, erklärt, warum                                                                                                                          194 Roth, G: Aus Sicht des Gehirns. Frankfurt: 2003. Zitiert in: Altenmüller, Eckhart: Hirnphysiologische Grundlagen des Übens. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005,S. 51 195 Eckhart Altenmüller geht von einer Reaktionsgeschwindigkeit der Fingermuskeln von 150 Millisekunden bei einem falsch gespielten Ton aus, Renate Klöppel gibt 100 bis 120 Millisekunden an. 196 Altenmüller, Eckhart: Hirnphysiologische Grundlagen des Übens. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 53

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beispielsweise auch große Geiger bis an ihr Lebensende nahezu täglich Tonleitern üben

(müssen). Das alternative Modell zu dem Konzept der motorischen Programme – das „in-

terne motorische Modell“ soll hier nicht besprochen werden, da es viele Fragen zu kom-

plexen Bewegungsabläufen offen lässt (vergleiche dazu Konczak, J.).197 Welche Verände-

rungen aber entstehen im menschlichen Gehirn durch den Erwerb und die Verfeinerung

von musikalischen Repräsentationen? Mit der bildgebenden Methode der Kernspintomo-

graphie198 konnte eine vermehrte Nervenzellaktivität beim Erlernen einer schnellen Fin-

gerbewegungssequenz im Bereich des Stirn- und Schläfenlappens beobachtet werden, und

zwar schon nach wenigen Minuten. Nach ungefähr einer halben Stunde Üben konnte eine

leichte Größenzunahme der aktivierten Hirnregion festgestellt werden, die aber noch so

ungefestigt war, dass sie nach einer Woche ohne Üben wieder verschwunden war. Erst

durch die tägliche Wiederholung der Übesequenz über mehrere Wochen bildete sich eine

langfristig stabile Vergrößerung, allerdings nur für dieses Bewegungsmuster. Bei einer

anderen gleichartigen Fingersequenz wurde keine vergleichbare Aktivierung festgestellt.

Es konnte ebenfalls nachgewiesen werden, dass auch die untrainierte Hand von dem ge-

speicherten Bewegungsprogramm profitierte und die Aufgabe ohne Vorübung besser

meisterte.199 Man geht mittlerweile davon aus, dass „Bewegungsprogramme unabhängig

von den ausführenden Muskelgruppen als abstrakte Bewegungsideen“200 gespeichert wer-

den, auf die dann – wie in diesem Fall – sowohl das motorische Areal der rechten als auch

der linken Hand Zugriff haben. Allerdings beherrscht die ungeübte Hand die erlernte Fä-

higkeit nicht mit der gleichen Qualität wie die Geübte.

Abschließend soll noch dargestellt werden, wie eng die Motorik mit den anderen Sinnen

verbunden ist, insbesondere mit dem Gehör. Ebenfalls konnte mit Hilfe der Kernspinto-

mographie nachgewiesen werden, dass bei professionellen Pianisten alleine durch das Hö-

ren von Klaviermusik die gleichen motorischen Areale aktiviert werden wie beim Spielen.

Bei stummen Fingerbewegungen wiederum wurden die auditiven Regionen des Schlä-

                                                                                                                         197 Vgl. Konczak, J.: Motorische Kontrolle. In: Müsseler, J; Prinz, W. (Hrsg.): Allgemeine Psychologie. Heidelberg: 2002, S. 865-89. Zitiert in: Altenmüller, Eckhart: Hirnphysiologische Grundlagen des Übens. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 55 198 Angewendet von: Karni, A; Meyer, G; Jezzard, P; Adams, M.M.; Turner, R; Ungerleider, L.G. Function-al MRI evidence for adult motor cortex plasticity during motor skill learning, in: Nature 377, 1995, S. 155-158. Zitiert in: Altenmüller, Eckhart: Hirnphysiologische Grundlagen des Übens. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 55 199 Dieser rechts-links-Transfer ist schon 1888 von dem Klavierpädagogen Oskar Raif festgestellt worden. Er konnte zeigen, dass seine 18 Schüler nach zweimonatigem Üben von Fingerübungen nur der rechten Hand auch mit der linken Hand ein höheres Eingangstempo erreichten. Siehe auch: Klöppel, Renate: Die Kunst des Musizierens. Mainz: Schott Musik International: 1997, S. 117 200 Altenmüller, Eckhart: Hirnphysiologische Grundlagen des Übens. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 56

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fenlappens aktiviert, so dass man von einer wechselseitigen Vernetzung sprechen kann.

Auch die mentale Vorstellung (siehe Kapitel 3.5 Mentales Üben) oder das Beobachten von

Spielbewegungen bei anderen Musikern bewirkt eine vergleichbare Aktivierung der moto-

rischen und auditiven Hirnregionen. Daraus folgt für die Praxis, dass man aufgrund eines

sogenannten „Spiegelneuronen-Netzwerkes“201 „als Musiker auch durch sorgfältiges Be-

obachten anderer Musiker übt, sei es im Unterricht oder bei Konzerten.“202 Gleiches trifft

auch für den instrumentalen Laien und Amateur in abgeschwächter Form zu.

5.3 Neuronal sinnvolle Übebedingungen

Das Wissen über neuronale Zusammenhänge führt im günstigen Fall zu einer Optimierung

des Übens. Manche dieser Erkenntnisse sind dem erfahrenen Musiker bereits durch ge-

naue Selbstbeobachtung bekannt und werden durch die in diesem Abschnitt dargestellten

Erkenntnisse nur bestätigt. Trotzdem soll abschließend eine kleine Sammlung von Übere-

geln folgen, die nicht den Anspruch erheben, Grundpfeiler einer „Neurodidaktik“ zu sein,

sondern eher helfen können, den persönlichen Übehorizont zu erweitern: 203

1. Übeinhalte werden in den Pausen und im Schlaf gelernt und verarbeitet. Wahrschein-

lich erst sechs Stunden nach dem Üben werden unbewusste motorische Steuerpro-

gramme erstellt, was für ein Lernen in den Pausen spricht. Eindeutig nachgewiesen ist,

dass Schlafmangel die motorische Gedächtnisfähigkeit beeinträchtigt. Besonders in

der Traumschlafphase scheint unser Gehirn frisch geübte prozedurale Fähigkeiten zu

lernen.204

2. Verteiltes Üben scheint erfolgreich zu sein. Vieles spricht dafür, dass unser Gehirn

schneller lernt, wenn zeitnah unterschiedliche Bewegungsformen gelernt werden, als

wenn eine Bewegungsform häufig und ohne Variation wiederholt wird. Ob die so ge-

lernten Bewegungsabläufe allerdings störanfälliger sind, ist noch nicht geklärt.

3. Weniger ist manchmal mehr. Wird zu lange und zu viel geübt, nehmen die feinmotori-

sche Leistungsfähigkeit und auch der Übeerfolg wieder ab. Es werden ungünstig koor-

dinierte Bewegungsmuster im Gedächtnis gespeichert, die den Erfolg des Übens ver-

mindern. Die optimale Dauer des Übens hängt von der individuellen Konzentrations-

                                                                                                                         201 Altenmüller, Eckhart: Hirnphysiologische Grundlagen des Übens. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 58 202 Ebd. S. 58 203 Vgl. ebd. S. 60 ff. 204 Marquet, P.; Schwartz, S.; Passingham, R; Frith, C.: Sleep-related consolidation of a visuo-motor skill: brain mechanisms as assessed by functional magnetic resonance imaging. In: Journal of Neuroscience 23, 2003, S. 1432-1440. Zitiert in: Altenmüller, Eckhart: Hirnphysiologische Grundlagen des Übens. In: Mah-lert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 60

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fähigkeit, der motorischen Ausdauer und Geschicklichkeit und der Motivation ab. Im

richtigen Moment des Übens aufzuhören benötigt viel Erfahrung und eine genaue

Selbstbeobachtung.

4. Das Üben sollte bei den ersten Anzeichen von Ermüdung beendet werden. Nach ca. 30

– 45 Minuten lässt bei intensivem Üben die Konzentrationsfähigkeit nach. Um den un-

ter Punkt 3 beschriebenen Effekt zu vermeiden, sollte eine Pause von mindestens 5 –

10 Minuten eingelegt werden.

5. Mentales Üben ist effektiv. Bewegungsmuster können unabhängig vom Instrument

verfeinert und gesichert werden.

6. Das Hören und Beobachten von ausübenden Musikern fördert die eigenen Fähigkei-

ten. Auf Grund des beschriebenen Spiegelneuronen-Netzwerkes werden bereits durch

das Hören und Beobachten von praktizierenden Musikern unterschiedliche Hirnregio-

nen aktiviert. Diese Aktivierung führt zu einem Verarbeitungsprozess von motorischen

und auditiven Reizen und ermöglicht einen Lerngewinn ohne instrumentales Üben.

7. Zu Beginn des Übeprozesses sollte mehrheitlich langsam geübt werden. Bei langsa-

men Bewegungen ist der Übende in der Lage, die ungeheuren Mengen an sensorischen

Informationen zu verarbeiten und gegebenenfalls zu korrigieren. Er verfällt nicht so

leicht in ein bereits erlerntes, automatisch ablaufendes übergeordnetes Steuerpro-

gramm.

8. Manche Bewegungen, wie etwa große Sprünge, sind bei langsamem und schnellem

Tempo in unterschiedlichen motorischen Steuerprogrammen gespeichert. Daher nützt

das langsame Üben der am Ende schnellen Bewegung wenig. Vielmehr sollte schon in

einem frühen Stadium des Übens immer wieder auch mal der Sprung in einem schnel-

len Tempo gewagt werden.

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6. Üben und der Umgang mit Fehlern

„Tatsächlich bedeutet häusliches Üben pädagogische Selbstinstruktion, es stellt die tägli-

che Wiederholung der Unterrichtssituation unter der Bedingung dar, dass ich jetzt zu-

gleich in die Lehrer- und Schülerrolle schlüpfen muss. Ein virtueller Lehrer agiert in mei-

nem Übezimmer, einer, der zuhört, bewertet, Verbesserungsvorschläge macht und viel-

leicht auch nicht vergisst, das Gelungene und die Teilerfolge lobend hervorzuheben.“205

Wie diese Lehrerrolle für das eigene Üben übernommen und aufgefasst wird, ist sicherlich

stark von den Lehrerpersönlichkeiten geprägt, die den individuellen Lernweg seit Kind-

heitstagen an begleitet haben. Die Erinnerungen an den ersten Instrumentallehrer, an einen

besonders geistvollen Deutschlehrer, oder an einen fair und gerecht bewertenden Sportleh-

rer (oder Vereinstrainer) usw. fließen auch in das eigene Lehrer-Schüler-Verhältnis ein.

Insbesondere das hoffentlich ermutigende und kompetente Vorbild des Lehrers, bei dem

das Musikstudium im Hauptfach absolviert wird, beeinflusst das tägliche Üben maßgeb-

lich.206 Natürlich können auch negative Erfahrungen, ein „so soll es nicht sein“, zu einem

pädagogischen Leitfaden für das eigene Üben werden. In jedem Fall aber befasst sich der

verinnerlichte Lehrer mit den Fehlern, die der andere Teil der Persönlichkeit – der lernen-

de Schüler – macht. Dabei spielt die Art des Umgangs mit sich selbst eine große Rolle für

den Lernerfolg des Übens. Wie motivierend, wie geduldig, wie fantasievoll werden Lern-

inhalte „gemeinsam“ erarbeitet, oder wie viel Enttäuschung, Ungeduld und mangelnde

Wertschätzung bringt der eigene Lehrer seinem eigenen Schüler bei einem mehrmals wie-

derholten Fehler entgegen. Ein vollkommenes Fehlen von innerem Ärger über gemachte

Fehler scheint aber auch ungünstig zu sein, da die Folge eine „lust- und leidenschaftslose

Toleranz“207 gegenüber eigenen Unzulänglichkeiten sein kann, die den Lernfortschritt

hemmt.208 Gerade in Bezug auf das Thema „Üben und der Umgang mit Fehlern“ wird der

persönliche Selbstumgang auf die Probe gestellt. Für Fortschritte bei instrumentalem

Können und Wissen muss der innere Lehrer aufzeigen, was fehlerhaft war, wie es nicht

sein sollte, wie es nicht funktioniert hat (z.B. eine schnelle Tonleiter). Gemachte Fehler

führen, „wenn sie – auf dem Hintergrund eines Vertrauensverhältnisses, also ohne zu be-

schämen – öffentlich gemacht und dann erinnert werden“209 zu der Erkenntnis des Richti-

                                                                                                                         205 Röbke, Peter: Vom Umgang mit Fehlern beim Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 370 206 Ebd. S. 370 207 Oser, Fritz; Spychiger, Maria: Lernen ist schmerzhaft. Weinheim und Basel: Beltz Verlag. 2005, S. 11 208 Vgl. ebd. S. 11 209 Ebd. S. 13

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gen. „Öffentlich gemacht“ bedeutet beim Üben, „schonungslos offen Rechenschaft über

die unvollkommene Aktion“210 abzulegen, also Fehler genau zu benennen. Das bedeutet:

sich nicht selbst zu täuschen, über eine Stelle „hinweg spielen“ oder das Resultat beschö-

nigen, sondern offenlegen:211 Die Tonleiter war ungleichmäßig, die letzten Sechzehntel zu

schnell usw. Dieses klare Benennen der Differenz zwischen dem aktuellen Stand des

Könnens und dem zu erreichenden Ziel ist zwar für das Lernen wichtig212, kann jedoch

das eigene Lehrer-Schüler-Verhältnis stark negativ belasten. Unzufriedenheit mit sich

selbst, Selbstzweifel, muskuläre Verspannungen etc. können die Folge sein. Daher ist es

von großer Bedeutung, beim täglichen Üben einen produktiven und selbstachtsamen Um-

gang mit Fehlern – gewissermaßen eine hochentwickelte Fehlerkultur – zu fördern. Wa-

rum der Umgang mit Fehlern, besonders in der klassischen Musik, so schwer fallen kann

und gemachte Fehler häufig als ein negatives Ereignis betrachtet werden, soll im folgen-

den Abschnitt dieses Kapitels dargestellt werden.

6.1 Gründe für die negative Bewertung von Fehlern

Mögliche Ursachen für das Vertuschen von Fehlern oder mangelnde Gelassenheit bei dem

Umgang mit ihnen (im eigenen Übezimmer) kann durch die im Folgenden beschriebenen

Erfahrungen des „institutionalisierten Lernens“ (im Sinne eines Lernens in Institutionen

wie Schulen, oder Vereine) bedingt sein:

1. Kleinkinder erlernen grundlegende Fähigkeiten wie z.B. Laufen oder die menschliche

Sprache durch Nachahmung und tastendes Lernen.213 Viele Fehlversuche, mitunter so-

gar schmerzhafte Stürze führen irgendwann zu dem Erlernen der Körperbalance, die

für die Aufrichtung des Körpers notwendig ist. Dabei wird der Lernprozess trotz vieler

„Fehler“ liebevoll und unterstützend von den Eltern begleitet. Die Unterscheidung

zwischen exakt Richtigem und definitiv Falschem als feste Kategorien besteht noch

nicht, vielmehr nähern oder entfernen sich die Lernerfahrungen dem sog. „Richtigen“.

Es findet also ein Umkreisen, Ertasten und Erproben des Lernzieles ohne Zwang zur

Fehlervermeidung statt (siehe auch Kapitel 3.3.7 Improvisation als Lernweg). Mit der

Einschulung ändert sich meist die Art des Lernens. „Plötzlich gibt es eine Trennung

von Richtig und Falsch, auf einmal wird der Irrtum nicht einfach hingenommen, son-                                                                                                                          210 Röbke, Peter: Vom Umgang mit Fehlern beim Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 373 211 Vgl. Mantel, Gerhard: Einfach üben. Mainz: Schott Musik International. 2001, S. 56 212 Vgl. Oser, Fritz; Spychiger, Maria: Lernen ist schmerzhaft. Weinheim und Basel: Beltz Verlag. 2005, S. 13 213 Vgl. Röbke, Peter: Vom Umgang mit Fehlern beim Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 378

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dern bemerkt, hervorgehoben und als Fehler rot angestrichen.“214 Je weniger Fehler,

desto besser die Leistung – sichtbar und fühlbar gemacht an den Noten, Zensuren und

bei der Einordnung in die Klassenhierarchie. Vor der ganzen Klasse öffentlich ge-

machte Fehler können peinlich und beschämend sein und den Grund liefern für den

Entzug von Achtung, Anerkennung und Wertschätzung. Es ist daher nicht verwunder-

lich, dass auch beim Üben Fehler vor sich selbst vertuscht oder negativ bewertet wer-

den, wenn das System der Fehlervermeidung seit früher Jugend verinnerlicht wurde.

2. Anders als in anderen Disziplinen präsentieren Musiker ihr Können und ihre Arbeit im

Moment, unwiderruflich und ohne die Möglichkeit, einen Fehler im Nachhinein noch

korrigieren zu können. Bildende Künstler im Vergleich sind in der Lage, ihre Skulptur

oder ihr Ölgemälde solange im Atelier zu bearbeiten, bis sie an die Öffentlichkeit tre-

ten wollen, Autoren können bei auftretenden Fehlern eine Errata-Liste dem Text bei-

fügen, Produktionsfehler bei technischen Geräten lassen sich durch eine Rückrufaktion

beheben usw.215 Fehler von Musikern auf der Konzertbühne hingegen sind mitunter

auch für ein breites Publikum wahrnehmbar und können den betreffenden Künstler

noch lange begleiten. „Noch heute hängt etwa dem Solo-Fagottisten der Wiener Phil-

harmoniker das verpatzte Anfangssolo bei Ravels «Bolero» anlässlich einer Spanien-

Tournee an, ein Versagen, das weltweit bemerkt und kommentiert wurde.“216 Darüber

hinaus gibt es mittlerweile in der klassischen Musikbranche viele fehlerfreie, technisch

perfekte Einspielungen auf maschinellen Tonträgern, die der kulturinteressierten Öf-

fentlichkeit vertraut sind und damit auch immer eine Messlatte für den Interpreten auf

der Bühne bilden. Für musikalische Bereiche wie etwa Improvisation oder freiere Stil-

richtungen des Jazz steht allerdings nicht die hundertprozentige Wiedergabe einer no-

tierten Komposition im Mittelpunkt, sondern eher der Spannungsreichtum und die

Vielfältigkeit der musikalischen Einfälle. Fehler in diesem Kontext werden daher nicht

so streng „geahndet“, sondern können sogar einen Impuls für den weiteren musikali-

schen Verlauf der Improvisation bilden. Für die klassische Musik gilt aber, unter den

oben beschriebenen Gesichtspunkten, dass ein gelassener Umgang mit Fehlern wäh-

rend des Übens angesichts der Erwartungshaltung in puncto Fehlerlosigkeit schwerfal-

len kann. Auch das geforderte hohe technische Niveau, damit allein eine Aufnahme-

prüfung an Hochschulen oder Konservatorien überhaupt bestanden werden kann, be-

einflusst den persönlichen Umgang mit Fehlern.                                                                                                                          214 Röbke, Peter: Vom Umgang mit Fehlern beim Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 378 215 Vgl. ebd. S. 375 216 Ebd. S. 375

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6.2 Zusammenfassung

Es ist daher sicherlich sinnvoll, auf der Konzertbühne, bei Aufnahmeprüfungen oder Pro-

bespielen „kleine Abstürze zu vertuschen, […] Unsauberkeiten in Windeseile zu korrigie-

ren, Gedächtnisfehler zu kaschieren.“217 Für das tägliche Üben jedoch kann diese „Über-

lebensstrategie“, dieses Überspielen von Fehlern den Lernfortschritt hemmen. Sollten Feh-

ler nicht vielmehr als eine Quelle des Lernens für das Üben betrachtet werden? Zeigen

nicht gemachte Fehler auf, wie etwas nicht sein soll? Und bildet nicht gerade das Wissen

über gemachte Fehler einen Schutz vor schlimmeren Konsequenzen unseres Handelns?

Dieses durch das Fehlermachen gesammelte Wissen nennt der Professor für Pädagogik

und Pädagogische Psychologie, Fritz Oser, negatives Wissen. Über den Sinn dieses Wis-

sens in der Musik äußert er sich folgendermaßen: „Es gibt negatives Wissen für Berufsmu-

siker, die mit ganz bestimmten Passagen ihre negative Erfahrung gemacht haben und nun

besondere strategische Sorgfalt aufbringen müssen, es nicht wieder zu tun.“218 Ein beim

Üben zu schnell begonnenes Presto, die negativen Folgen von Schlafmangel beim kon-

zentrierten Üben, der störende Einfluss von ablenkenden Gedanken auf das Musizieren,

Gedächtnisverwirrungen durch Analogiefallen (siehe Kapitel 3.4 Das Prinzip der rotie-

renden Aufmerksamkeit) etc. sind Fehler, die gemacht werden sollten. Sie bilden eine Art

„Schutzwissen“219, welches helfen kann, Fehler auf dem Konzertpodium zu vermeiden.

Gelernt wird somit durch den „dialektischen Aspekt des Lernens aus dem Irrtum“220, also

aus dem Irrtum und dem daraus resultierenden Wissen wie es nicht funktioniert, und dem

längerfristigen Ziel, eigene Strategien zu entwickeln, um die Wiederholung des Fehlers zu

vermeiden.

                                                                                                                         217 Röbke, Peter: Vom Umgang mit Fehlern beim Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 376 218 Oser, Fritz; Spychiger, Maria: Lernen ist schmerzhaft. Weinheim und Basel: Beltz Verlag. 2005, S. 26 219 Röbke, Peter: Vom Umgang mit Fehlern beim Üben. In: Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Üben. Berlin: Breitkopf & Härtel. 2005, S. 380 220 Oser, Fritz; Spychiger, Maria: Lernen ist schmerzhaft. Weinheim und Basel: Beltz Verlag. 2005, S. 18

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7. Resümee

Abschließend soll noch einmal auf die in der Einleitung gestellte Frage eingegangen wer-

den: Ist es sinnvoll, verschiedene Übemethoden vorzustellen, deren Vor- und Nachteile

abzuwägen und Hintergrundwissen für eine Umgestaltung des Übens zu sammeln? Die

Antwort des Verfassers dieser Arbeit fällt zustimmend aus. Verschiedene Übemethoden

zu kennen und anwenden zu können eröffnet dem Musiker die Möglichkeit, seine Ar-

beitsweise variabel auf den jeweiligen musikalischen Kontext abzustimmen. Die vorge-

stellten Übestrategien sind keine sich gegenseitig ausschließenden Prinzipien, sondern

können mitunter in unterschiedlicher Zusammensetzung gemeinsam angewendet werden.

Aus Sicht des Autors spricht nichts gegen eine aus dem musikalischen Kontext abgeleitete

„Koalition“ der Methoden. So kann etwa die Erarbeitung eines langsamen Satzes beson-

ders gut gelingen, wenn im Sinne des Prinzips der rotierenden Aufmerksamkeit die Teil-

bewegungen und musikalischen Parameter einzeln geübt werden, gleichzeitig aber auch

die Klangqualität der Bewegungen – mit den entsprechenden Maßnahmen, wie sie im Ka-

pitel über die Resonanzlehre vorgestellt wurden – im Fokus des Übens bleibt. Für die Pha-

se der Erarbeitung einer virtuosen Paganini-Caprice kann der Übende eine Verbindung aus

mental vorgestellter, innerlich gefühlter Bewegung und deren maßvoller, vor allem auf die

motorischen Abläufe konzentrierten Wiederholung am Instrument schaffen. Dieser be-

wusste Wechsel der Arbeitsweisen und das genaue Beleuchten von musikalischen Zu-

sammenhängen ist aus Sicht des Verfassers allerdings nur für das Übezimmer sinnvoll.

Auf der Konzertbühne sollte eher das „Einswerden mit der musikalischen Tätigkeit“ das

Ziel sein. Ob allerdings für eine optimale Konzertdarbietung eher ein Zustand des „sich

tragen lassen von Zusammenhängen“, wie es etwa Volker Biesenbender beschreibt, oder

eine geistige Führung durch den architektonischen Grundriss der Komposition – z.B.

durch innerliches Verbalisieren von Knotenpunkten im Sinne des mentalen Übens – dien-

lich sein kann, ist nicht Gegenstand dieser Arbeit.

Wichtig ist aber, dass verschiedene Übemöglichkeiten und interdisziplinäres Wissen als

ein Experimentierfeld dienen können, auf der Musiker eine menschliche Grundeigenschaft

ausleben dürfen: den (natürlichen) Spieltrieb. Der eigene Übeprozess sollte aus Sicht des

Verfassers eine Vielzahl von Lernwegen bieten, um unterschiedliche Lerninhalte spiele-

risch und mit variierenden Vorgehensweisen zu erarbeiten. Das instrumentale Üben wird

sich dadurch persönlicher, kreativer und produktiver entfalten im Spielraum zwischen

Automatisieren und Improvisieren, zwischen mentaler Texterarbeitung und koordinativen

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Bewegungsspielen, zwischen der Betrachtung einzelner Aspekte und musikspezifischen

Körperübungen. Immer gleich ablaufende, zum Teil frustrierende und nur wenige Lern-

fortschritte bringende Phasen des Übens werden durch einen Wechsel der Übemethoden

viel leichter vermieden. Darüber hinaus ergeben sich verschiedene Möglichkeiten – z. B.

durch ein spielerisch-koordinatives Bewegungselement im Übeablauf – negativen Aus-

wirkungen der einseitigen körperlichen Belastung vorzubeugen. Gerade die Verbesserung

der Übeeffizienz und eine gute Verträglichkeit des Übens für den Körper sind wichtige

Faktoren für die Entwicklung instrumentaler Fähigkeiten. Beide genannten Punkte werden

durch eine variable und vielfältige Gestaltung des Übens optimiert, wie in den Kapiteln

Üben und Muskeln sowie Üben und Neurologie dargestellt wurde. Auch Renate Klöppel

weist in ihrem Buch „Die Kunst des Musizierens“ daraufhin, dass „das tatsächlich er-

reichte Leistungsniveau [...] viel häufiger dadurch bestimmt [ist], daß die zur Verfügung

stehende Zeit nicht optimal genutzt wird und sich der Übende mit großem Zeitaufwand

Unvollkommenes oder sogar Falsches einprägt.“221 Die Verbesserung der Übemethoden

bietet daher aus Sicht des Verfassers die Chance, das persönliche Potential am Instrument

zu realisieren – und zwar unabhängig von der rein musikalischen Begabung (wie z.B. mo-

torischen Voraussetzungen, Rhythmusgefühl, Unterscheidungsvermögen von unterschied-

lichen Tonhöhen etc.).

Zusätzlich bildet eine breite Kenntnis von unterschiedlichen Lernwegen und ein auf das

Instrument bezogenes interdisziplinäres Wissen eine wichtige Grundlage für eine qualifi-

zierte Lehrertätigkeit. Zu einer umfassenden Ausbildung auf einem Instrument gehören

aus Sicht des Autors eben auch die vielfältigen Versuche und Bemühungen, das eigene

Üben zu verbessern. Diejenigen Lehrerpersönlichkeiten, die die Möglichkeiten erkundet

haben, für sich selbst eine vielfältige „Kultur des Übens“ zu entwickeln, werden solche

Anregungen und Hilfestellungen auch an eigene Schüler weitergeben können: Anregun-

gen, die zu einer Verfeinerung des täglichen Tuns führen, zu einem produktiveren Um-

gang mit gemachten Fehlern, zu einem Übeverhalten, welches auf Grund von praxisbezo-

genem Wissens physiologische Grenzen des Körpers berücksichtigt, und zu einer Übekul-

tur, die neuronale Grundlagen in das tägliche Üben miteinbezieht.

Die Vor- und Nachteile der vier unterschiedlichen Übemethoden wurden bereits in den

jeweiligen Zusammenfassungen der einzelnen Unterkapitel erörtert. Daher wird an dieser

                                                                                                                         221 Klöppel, Renate: Die Kunst des Musizierens. Mainz: Schott Musik International. 1997, S. 17

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Stelle auf ein abschließendes Abwägen zwischen den Methoden verzichtet. Letztendlich

muss jeder Übende selbst die Entscheidung treffen, welchen Lernweg er einschlägt.

Den Abschluss dieser Arbeit soll ein Zitat von Yehudi Menuhin bilden, der in seinem

Buch „Unvollendete Reise“ auf eine lange Zeit des Musizierens zurückblickt. Auch er

sieht im Üben eines Instrumentes eine Tätigkeit, die auf Grund ihres Wirkungskreises

letztlich eine Art von Persönlichkeitsbildung hervorbringt.

„Ich weiß inzwischen ganz genau, daß die Zuchtrute des festen Willens allein nur

durch ruhiges Exerzitium einiger Grundübungen zu erreichen ist, die der Verstand

begriffen und der Körper sich angeeignet hat, und das unverdrossen über Jahre

hinweg. Ich habe ebenfalls festgestellt, daß sich keine Erfahrung vom Violinspiel

isolieren läßt, daß die Beweglichkeit, mit der man Geige und Bogen hält, jene

Kunst, bei aller Festigkeit locker zu bleiben, zu höchst interessanten Parallelen bei

menschlichen Beziehungen führen kann: Ich bin dankbar, daß ich gezwungen war,

so viel zu entdecken und zu verarbeiten, was mir eine innere Bereicherung ver-

schafft hat, an der ich nun auch andere teilhaben lassen kann.“222

                                                                                                                         222 Menuhin, Yehudi: Unvollendete Reise. München: R. Piper & Co. 1976, S. 294

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