Benedikt XVI.: Christlich-jüdischer Dialog als Gefahr...Benedikt XVI. auch darin, dass das Judentum...

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Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Salomon Ludwig Steinheim-Institut an der Universität Duisburg-Essen 21. Jahrgang 2018 Heft 3 Seite 7 Illusion Seite 13 Instrumentation Seite 15 Illumination Benedikt XVI.: Christlich-jüdischer Dialog als Gefahr Herbert Jochum Hier ist nicht mehr Bundeslade, nicht mehr Schattenbild, Figur. Hier ist Wahrheit, Quell der Gnade, hier der Herrscher der Natur. (Kirchenlied) nfangs schien der christlich-jüdische Dialog durch den deutschen Papst befördert zu wer- den. Was unter Johannes Paul II. 2002 begann, ein Austausch zwischen dem Oberrabbinat Israels und der Vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum, das wurde unter Be- nedikt XVI. kontinuierlich fortgeführt. Der Kon- takt bezog sich weniger auf theologische als auf so- ziale und ethische Themen. Rabbi David Rosen, In- ternational Jewish Committee for Interreligious Consultations (IJCIC), äußerte 2012, die Beziehun- gen zwischen Juden und Katholiken seien nie bes- ser gewesen. Noch im Jahr seiner Wahl führte es den Papst im August 2005 zum Weltjugendtag nach Köln, wo er als erster Papst überhaupt die dortige Synagoge besuchte; er nahm teil am Kaddisch als Totengebet für die Kölner im Holocaust Ermordeten. Er erin- nerte an „die komplexen und oft schmerzlichen Be- ziehungen“ und versprach den vom Vorgänger ein- geleiteten vertrauensvollen Dialog „mit voller Kraft“ fortzusetzen. Erste Risse zeigte das Bild auf der Apostolischen Reise nach Polen 2006, wo er auch Auschwitz-Bir- kenau besuchte. In der Presse wurde der Vorwurf laut, er habe in seiner Ansprache „reuelos und ohne Empathie“ weniger der dort ermordeten Juden als der Deutschen gedacht, die Opfer des Nationalso- zialismus geworden waren. Auch seine Nahost-Reise von 2010, wo er in Is- rael die Westmauer des Tempels, die „Klagemauer“, wie auch Yad Vashem besuchte, löste „zwiespältige Gefühle“ aus, die Rede war von „Enttäuschung“. Bei einem Treffen mit Oberrabbiner Lau bekräftig- te Benedikt den Willen zur Vertiefung der Verstän- digung und Zusammenarbeit: „Ich habe heute die Gelegenheit zu wiederholen, dass die katholische Kirche unwiderruflich dem Weg verpflichtet ist, der während des Zweiten Vatikanischen Konzils ge- wählt wurde, ehrliche und dauerhafte Versöhnung zwischen Christen und Juden“. Trotz dieses erneu- A Q-Initial, ca. 1180

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Beiträge zurdeutsch-jüdischenGeschichte aus demSalomon LudwigSteinheim-Institutan der UniversitätDuisburg-Essen

21. Jahrgang 2018Heft 3

Seite 7Illusion

Seite 13Instrumentation

Seite 15Illumination

Benedikt XVI.: Christlich-jüdischer Dialogals GefahrHerbert Jochum

Hier ist nicht mehr Bundeslade,nicht mehr Schattenbild, Figur.

Hier ist Wahrheit, Quell der Gnade,hier der Herrscher der Natur.

(Kirchenlied)nfangs schien der christlich-jüdische Dialogdurch den deutschen Papst befördert zu wer-

den. Was unter Johannes Paul II. 2002 begann, ein Austausch zwischen dem Oberrabbinat Israels und der Vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum, das wurde unter Be-nedikt XVI. kontinuierlich fortgeführt. Der Kon-takt bezog sich weniger auf theologische als auf so-ziale und ethische Themen. Rabbi David Rosen, In-ternational Jewish Committee for Interreligious Consultations (IJCIC), äußerte 2012, die Beziehun-gen zwischen Juden und Katholiken seien nie bes-ser gewesen.

Noch im Jahr seiner Wahl führte es den Papst im August 2005 zum Weltjugendtag nach Köln, wo er als erster Papst überhaupt die dortige Synagoge besuchte; er nahm teil am Kaddisch als Totengebet für die Kölner im Holocaust Ermordeten. Er erin-nerte an „die komplexen und oft schmerzlichen Be-ziehungen“ und versprach den vom Vorgänger ein-geleiteten vertrauensvollen Dialog „mit voller Kraft“ fortzusetzen.

Erste Risse zeigte das Bild auf der Apostolischen Reise nach Polen 2006, wo er auch Auschwitz-Bir-kenau besuchte. In der Presse wurde der Vorwurf laut, er habe in seiner Ansprache „reuelos und ohne Empathie“ weniger der dort ermordeten Juden als der Deutschen gedacht, die Opfer des Nationalso-zialismus geworden waren.

Auch seine Nahost-Reise von 2010, wo er in Is-rael die Westmauer des Tempels, die „Klagemauer“, wie auch Yad Vashem besuchte, löste „zwiespältige Gefühle“ aus, die Rede war von „Enttäuschung“. Bei einem Treffen mit Oberrabbiner Lau bekräftig-te Benedikt den Willen zur Vertiefung der Verstän-digung und Zusammenarbeit: „Ich habe heute die Gelegenheit zu wiederholen, dass die katholische Kirche unwiderruflich dem Weg verpflichtet ist, der während des Zweiten Vatikanischen Konzils ge-wählt wurde, ehrliche und dauerhafte Versöhnung zwischen Christen und Juden“. Trotz dieses erneu-

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ten Bekenntnisses meinte Lau später, beim Besuch insgesamt sei „eine historische Stunde versäumt worden“.

Schon früher wurden größere Irritationen aus-gelöst. 2008 legte der Papst für den wieder zugelas-senen „außerordentlichen tridentinischen Ritus“ ei-ne von ihm persönlich formulierte neue Karfrei-tagsbitte „Pro Judaeis“ vor. Jüdischer- wie katholi-scherseits wird sie als Rückschritt bezeichnet. Denn sie nimmt die Konversionsbitte älterer Fassungen wieder auf, was als Aufruf zur Judenmission ver-standen wurde.*

Sichtliches Bemühen um kirchliche Einheit wie die Rücksichtnahme auf Traditionalisten ließen den Papst 2009 die Exkommunikation der vier Bi-schöfe der ultrakonservativen Piusbruderschaft, da-runter der Judenhasser und notorische Holocaust-Leugner Richard Williamson, aufheben und sie wieder in den Schoß der Kirche aufnehmen.

„Gnade und Berufung ohne Reue“Mittlerweile 91-jährig, hat sich der 2013 zurückge-tretene Papst aus dem Alterssitz im Vatikan wieder zu Wort gemeldet. Seine „Anmerkungen zum Trak-tat „De Judaeis““ seien eigentlich nicht mehr „für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen“, wie Kurt Kardinal Koch im Geleitwort versichert. Sie waren dem Präsidenten der Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum zur „persönlichen Ver-wendung überreicht“ worden. Koch ist aber über-zeugt, dass der „Beitrag das jüdisch-katholische Ge-spräch bereichern wird.“ Er bat Benedikt, seine Überlegungen in „Communio. Internationale Theologische Zeitschrift“, [Heft 4, Juli/August 2018, 316-335] veröffentlichen zu dürfen.

In „Gnade und Berufung ohne Reue“, so die Überschrift der „Anmerkungen“, setzt sich Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. mit den „Reflexionen zu theologischen Fragestellungen in den katholisch-jü-dischen Beziehungen“ auseinander. Diese „Reflexi-onen“ hatte die Vatikanische Kommission 2015 zum 50jährigen Jubiläum von „Nostra aetate“ unter dem Titel „Denn unwiderruflich sind Gnade und Beru-fung, die Gott gewährt“ (Römerbrief 11,9) veröf-fentlicht. Dieses Dokument nun sieht der Papst als autoritative Zusammenfassung der Entwicklung des Dialogs seit dem Konzil. Zwei Aussagen darin findet er grundlegend: die Ablehnung der „Substitutions-theorie“ und die „Rede vom nie gekündigten Bund“. Beide hält er „im Kern“ für richtig. Aber da jeder

Kern auch eine Umhüllung hat, so will er die beiden Aussagen auf Tragfähigkeit und Wahrheitsgehalt prüfen. Der aber, so schreibt er, sei noch nicht ge-funden (vgl. 332).

Substitutionstheorie Das Dokument der Kommission vertrete die These, seit dem Konzil sei „einer Substitutionstheologie der Boden entzogen“. Sie habe gelehrt, „die Verhei-ßungen und Zusagen Gottes würden nicht mehr dem Volk Israel gelten, da es Jesus nicht als Messias und Sohn Gottes erkannt hatte, sondern seien auf die Kirche Jesu Christi übergegangen, die nun das wahre, „neue Israel“ sei, das neue auserwählte Volk Gottes“ (321). Zunächst fragt der Papst, ob es diese Substitutionstheologie denn je gegeben habe. Denn alle von ihm befragten Theologischen Lexika, seien sie evangelisch oder katholisch, führten diesen Be-griff nicht auf. Also habe es „eine Substitutionsthe-orie als solche vor dem Konzil nicht gegeben“.

Nun mag ja sein, dass sie nie offiziell verkünde-te, zum Dogma erhobene Lehre war. Aber wäre dies je erforderlich gewesen? Nein. Denn „Substi-tution“ war in Lehre und Predigt, Katechese und Kult, Praxis, Kunst und Frömmigkeit durch alle Jahrhunderte als selbstverständlich präsent. Auch der Antijudaismus, stete den Juden schmerzlich fühlbare Wirklichkeit, ist nie als Dogma prokla-miert worden. Mag der Begriff „Substitution“ auch neueren Datums sein, so ist doch die Sache so alt wie die Kirche selbst. Man müsste schon blind sein, nähme man als Theologe die schiere Menge an ‚Ad-versus-Judaeos‘-Traktaten und die überall auftre-tenden Invektiven und Herabsetzungen nicht wahr; ganz zu schweigen von der daraus abgeleiteten reli-gösen, politischen und sozialen Praxis. Die Kirche hat dem Judentum jede theologische Würde abge-sprochen: Alles was es vor Jesu Zeit heilsgeschicht-lich markiert hatte, Erwählung und die Bundesver-pflichtung ‚Volk Gottes‘ zu sein, sei auf die Kirche übergegangen. Sie sei an die Stelle Israels getreten, habe es ersetzt, substituiert. Wohl sieht der Papst selbst, dass das Gleichnis von den Weinbergspäch-tern (Markus 12,1-11) oder das Festmahl (Matthä-us 22, 1-14; Lukas 14, 15-24), zu dem die Eingela-denen nicht kommen und durch neu berufene Gäs-te ersetzt werden, eine Theologie der Enterbung oder Verwerfung nahelegen (321). „Im Kern“ halte er die Ablehnung der Substitutionstheologie für richtig, aber jenes „undifferenzierte Nein zur

*Die Neuformulierung der vati-

kan. Ritenkongregation, deren

deutsche Fassung 1974 appro-

biert wurde: „Lasst uns auch

beten für die Juden, zu denen

Gott, unser Herr, zuerst ge-

sprochen hat: Er bewahre sie in

der Treue zu seinem Bund und

in der Liebe zu seinem Namen,

damit sie das Ziel erreichen, zu

dem sein Ratschluss sie führen

will. ... Allmächtiger, ewiger

Gott, du hast Abraham und

seinen Kindern deine Verhei-

ßung gegeben. Erhöre das Ge-

bet deiner Kirche für das Volk,

das du als erstes zu deinem Ei-

gentum erwählt hast: Gib, dass

es zur Fülle der Erlösung ge-

langt. Darum bitten wir durch

Christus, unseren Herrn.

Amen.“

Die päpstliche Revision für den

‚außerordentlichen Ritus‘

nimmt die Konversionsbitte

früherer Fassungen wieder auf:

„ …. beten für die Juden, auf

dass Gott, unser Herr, ihre Her-

zen erleuchte, damit sie Jesus

Christus erkennen, den Retter

aller Menschen.“

„Volks-Messbuch“

(P. Urban Bomm,

1950er Jahre)“

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„‘Substitutionstheorie‘“ verdanke sich einer zu sta-tischen Sicht von Gesetz und Verheißung. So (er)findet er eine Neukonstruktion der alttesta-mentlichen Geschichte: Man müsse den dynami-schen Charakter der alttestamentlichen Geschichte Israels sehen, ihren „Aufstieg“ in „Stufen“, ein „Wachsen und Sichentfalten“ (330). Dem nun stif-tet er teleologisch eine Zielrichtung ein, „als Bewe-gung nach vorn zu – auf Christus hin“ (320), so dass das Christentum ihm zur gültigen, zur endgül-tigen Form biblischen Glaubens wird. Was in der biblisch-jüdischen Geschichte angelegt ist, wird christlich zur erfüllenden Vollendung; also steht die Kirche in der Tradition der alttestamentlichen Ge-schichte, wird wirklich das „Neue Israel“, und das jetzt „alte“ Israel wird häretisch. „So gibt es in der Tat keine ‚Substitution‘, sondern ein Unter-wegssein, das schließlich eine einzige Realität wird und dennoch das notwendige Verschwinden der Tieropfer, an deren Stelle („Substitution“) die Eucharistie tritt“ (323).

Damit tritt die hergebrachte Substitutionstheo-logie wieder auf den Plan. Die Argumentation macht die Abgrenzungsmuster der typologischen Schriftauslegung sichtbar: die Dichotomie von Ver-heißung und Erfüllung; sie zeigt die den jüdischen Glauben außer Kraft setzende Überbietungslehre. So wie die Kirchenväter den „Aufstieg der Ge-schichte im Dreierschema von umbra – imago –veritas geschildert“ haben (327). So seien dann doch „wesentliche Elemente“ des alttestamentli-chen Israels substituiert , „endgültig“ ersetzt wor-den: der Tempelkult durch die Eucharistie, die Messias-Erwartung durch Christus, und „die bibli-sche Landverheißung bezieht sich auf die künftige Welt“ (329). Die Kultgesetze abgeschafft, die bibli-sche Ethik im Christentum aufgenommen. Der Papst kombiniert das Substitutionsmodell mit dem ebenfalls traditionellen Integrationsmodell: Was nicht ersetzt wird und dem Judentum bleibt, wird ins Christentum integriert. Die Zerstörung Jerusa-lems und des Tempels und die anschließende Zer-streuung in alle Welt hätten deutlich gemacht, dass nur das Christentum die gültige Antwort auf all diesen Verlust gefunden hat.

Sind die Ereignisse des Jahres 70 theologisch bedeutsam?Gleich dreimal bezieht sich der Autor auf diese „Zäsur“, die er theologisch deutet und sie gerade-wegs zu Gründungsdaten des Christentums adelt.

Das Judentum habe zwar historisch überlebt, habe aber auf das „auf Dauer angelegte Exil“ und die nicht mehr zu erwartende Wiedererrichtung des Tempels keine Antwort gefunden. Man wundert sich, dass diese theologische Deutung der Ereignisse des Jahres 70 als Strafgericht Gottes über sein sün-diges Israel bis heute die historischen Fakten nicht zur Kenntnis genommen hat, nicht nehmen will.

Eine Geschichtsklitterung, die nur zu gern über-sieht, dass jüdische Diaspora bereits mehrere Jahr-hunderte vor unsrer Zeitrechnung entstand; dass zur Zeit Jesu viermal mehr Juden in der Diaspora lebten als im Land Israel. Dass das Leben in Israel weiterging, wo immerhin 132-135 ein zweiter Auf-stand gegen Rom stattfand; wo die Auslegungswer-ke Mischna, Jerusalemer Talmud und die palästini-schen Midraschim wie auch die reiche liturgische Dichtung entstanden, wo galiläische Synagogenrui-nen blühendes Leben sichtbar bezeugen. Und das noch über Jahrzehnte nach der islamischen Erobe-rung im 7. Jahrhundert hinaus.

Wie die Schrift auslegen?Die gültige Antwort auf das Jahr 70 und die für ihn auf Dauer angelegte Diasporasituation besteht nach Benedikt XVI. auch darin, dass das Judentum nicht zu sehen vermochte, dass in der Dynamik bibli-scher Geschichte das wörtliche, buchstäbliche Ver-ständnis der Schrift nicht mehr möglich war, dass „die Schrift, das ‚Alte Testament‘, neu ausgelegt werden musste und in der bisherigen Form nicht mehr gelebt und verstanden werden konnte“ (319). Solche Sätze zeigen eine gehörige christliche Arro-ganz - oder ist es nur Ignoranz? Die „authentische Auslegung“ des AT sei erst durch die Ereignisse um Jesus Christus offenbar geworden. Die Allegorie bestimme den Wortsinn. Dem Christentum, das sich in alle Welt zu verbreiten begann, konnten Land und Volk keine theologisch bedeutsame Kate-gorien mehr sein.

In den zahlreichen Disputationen der Kirchen-geschichte wurde den Juden, die aus der hebräi-schen Schrift argumentierten, von ihren Disputan-ten, die sich der griechischen Übersetzung der Sep-tuaginta bedienten, vorgeworfen, sie hielten sich nur an den wörtlichen Schriftsinn. Nach Verlust des Landes, des Tempels, der Einheit des Volkes sei aber doch ein tieferer Sinn der biblischen Botschaft zu suchen; wörtliche, „fleischliche“, „materielle“ Schriftauslegung (hier Benedikt feiner: „konkret“)

Raw sagte: Ein Seufzer zerbricht die halbe Kondition [wörtl. Körper] des Menschen,

denn es heißt (Ezechiel 21,11): „Du, Menschensohn, seufze, dass die Lenden [Mitte des

Körpers] brechen, und mit bitterem Kummer seufze...“. Rabbi Jochanan hingegen sag-

te: Die ganze Kondition! Denn es heißt (ebenda, Vers 12): „… schmelzen wird jedes Herz

und alle Hände erschlaffen, ermatten aller Mut ...“ [Eine Diskussion über die Anwend-

barkeit von Schriftversen folgt]. Eine kleine Geschichte schließt sie ab:

Einmal gingen ein Jude und ein Nichtjude gemeinsam des Weges. Aber der Nichtjude

konnte nicht Schritt halten mit dem Juden. Da erinnerte er ihn an die Zerstörung des

Tempels. Und der Jude stöhnte auf und seufzte; und dennoch konnte der Nichtjude

nicht mit ihm Schritt halten. Da fragte er ihn: „Sagt ihr nicht, ein Seufzer zerbricht den

halben Körper des Menschen?!“ Der Jude erwiderte: „Ja, das gilt für eine neue Kalami-

tät. Nicht aber für jene, an die wir schon gewöhnt sind.“ (Babyl. Talmud, Ketubot 62a)

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werde den heiligen Texten nicht mehr gerecht. Wenn biblischer Schalom sich in konkreter So-

zialpolitik ausdrückt, in der auch und besonders der Armen, Witwen und Waisen gedacht wird, Schalom sich in Rechts-, Sozial- und Emanzipati-onsprozessen verwirklicht, entwickelt sich im Christentum Schalom nun im übertragenen Sinn spiritualisiert als Seelenfriede oder transzendiert als himmlischer Friede.

Alle nachbiblische Geschichte vermag der Papst nicht mehr theologisch zu qualifizieren. Das ist der tiefere Grund, warum er auch der Staatsgründung Israels keine theologische Bedeutung zusprechen kann. Sie ist „unannehmbar“, „nicht denkbar“ und steht „ im Widerspruch zum christlichen Verständ-nis der Verheißungen“ (S.330). Sie würde ja als er-neut realisierte Landverheißung angesehen werden müssen. In der Staatsgründung Israels sieht Bene-dikt (wie der Vatikanstaat seit 1993) lediglich das natur- und völkerrechtlich legitimierte politische Ereignis.

So gewinnt er die Deutungshoheit über die ge-samte nachbiblische Geschichte der Juden. Auch damit steht er in unverrückbarer Tradition, denn wir Christen haben uns je und je von unsrem jewei-ligen Selbstverständnis ausgehend Judentum als Kontrast zurechtkonstruiert. Allein schon dessen Bezogenheit auf ein Volk aus Völkern und auf ein bestimmtes Land, hat christlicherseits zur Beurtei-lung des Judentums als einer Art antiquierter Stam-mesreligion geführt. Gegenüber einer sich univer-salistisch verstehenden katholischen Kirche ist das Judentum als „partikularistisch“ anzusehen, d.h. unterlegen. Seine über drei Jahrtausende durchge-tragene Dialektik von „partikular“ und „univer-sal“ wird kaum je wahrgenommen.

„Der Bund ist nicht gekündigt“.Diesen revolutionären Satz hat Johannes Paul II. 1980 in Mainz bei seiner Ansprache vor Repräsen-tanten des deutschen Judentums ausgesprochen, damit die Substitutionstheologie revidierend. Auch sein deutscher Nachfolger schreibt: „Der Kern des Gesagten“, die Rede vom „nie gekündigten Bund“, (sei) „als richtig anzusehen, aber im einzelnen doch noch vieler Präzisierungen und Vertiefungen be-dürftig“ (332) und „noch nicht richtig und in Gän-ze verstanden“. So sei „Kündigung“ keine biblische Vokabel. Auch „kann das Wort ‚Bund‘ bei der un-endlichen Verschiedenheit der Bundespartner nicht

im Sinn gleichmäßiger Partner aufgefasst wer-den“. Haben die Juden den Gott des Bundes etwa „nach dem orientalischen Modell in der Weise von Gewährungen des Großkönigs“ aufgefasst? (334)

Im Gegensatz zur traditionellen christlichen Auffassung von den zwei Bünden, dem Alten (Si-nai-)Bund und dem Neuen (Golgota-)Bund be-kennt er sich nach Römerbrief 9,4 zur Lesart von den vielen Bünden, was seiner Interpretation entge-genkommt: „Für das Alte Testament ist ‚Bund‘ eine dynamische Realität, die sich in einer entfaltenden Reihe von Bünden konkretisiert“ (332).

Richtet die nachkonziliare Theologie ihr Augen-merk auf die Treue Gottes, so fokussiert Benedikt auf die Bundesbrüchigkeit des Volkes, die immer wieder einen neuen Bundesschluss notwendig ma-che. Auf den Gedanken, dass es sich bei den vielen Bünden um erneuerte Bünde handeln könnte, kommt er nicht. Ein Bund lässt sich auch ohne Bruch erneuern, wenn ein Partner verstirbt und ein Erbe nachfolgt oder sich Bedingungen verändern. Doch gelte es auch hier, den dynamischen Charak-ter biblischer Bundesgeschichte wahrzunehmen, die „in Stufen“ (335) verläuft.

Alle Bünde sind „nun durch den endgültigen, ‚neuen‘ Bund abgelöst“ (334). Was in der Sinai-Tra-dition „geschehen ist, vollzieht sich endgültig hier, und so wird die Verheißung des neuen Bundes von Jeremia 31 Gegenwart: Der Sinai-Bund war seinem Wesen nach immer schon Verheißung, Zugehen auf das Endgültige… Die Umstiftung des Sinai-Bundes in den neuen Bund im Blute Jesu, das heißt in sei-ner den Tod überwindenden Liebe, gibt dem Bund eine neue und für immer gültige Gestalt.“ (335). Die beiden von Jesus vorhergesehenen „zwei ge-schichtlichen Ereignisse, (haben) die konkrete Form des Sinai-Bundes grundlegend geändert: die Zerstörung des Tempels … und die Zerstreuung Is-raels in einer weltweiten Diaspora.“ (336) „Die so entstandene Situation (war) als einen vom Glauben Israels selbst her zu erwartenden Vorgang“ anzuse-hen. Sie fand allein in der „Reaktion der Christen“ die richtige Antwort (317).

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STIFTUNGUM

Wenn Benedikt „im Kern“ die Aussage vom un-aufgekündigten Bund bejaht, ist „Umstiftung“ nur so zu verstehen, dass der alte Sinai-Bund im neuen Christus-Bund erhalten bleibt, die Juden weiterhin im Bund bleiben und in die katholische Kirche quasi als anonyme Christen aufgenommen sind. Dies Mo-dell ist somit nichts anderes als die sublimierte Sub-stitution, ist Umkehrung eines anderen Modells, das auf der Suche nach einer biblisch und theologisch le-gitimierbaren Verhältnisbestimmung von Christen und Juden vorgeschlagen wurde: dass die Christen sich durch Jesus Christus berufen wissen, in die Ge-schichte Gottes mit seinem Volk einzutreten.

Auch im päpstlichen Denkmodell wird weiter-hin – wie üblich - das bundesbrüchige Israel instru-mentalisiert, um es den Christen als abschrecken-des Beispiel vor Augen zu führen. Die Behauptung der endgültigen Form ‚Neuer Bund‘ verhindert je-doch, dass die eigenen Brüche des Bundes wahrge-nommen werden. In der statisch gesehenen End-gültigkeit der Geschichte des Christentums vermag der Papst weder „Dynamik“ noch „Stufen“ zu er-kennen. Würde man noch biblisch erzählen können – was müsste nicht alles in einer Schuldgeschichte des Christentums als Bundesbruch bis auf den heu-tigen Tag angesehen und eingestanden werden ...

Sieht Benedikt XVI. die Identität des Christentums in Gefahr?Papst Benedikt hatte sein Pontifikat unter das Mot-to „Gegen die Unkultur des Relativismus“ gestellt. Mit dem „Verlust der Mitte“ in der Postmoderne sah er nur noch un-verbindliche Beliebigkeit auf-kommen, die die Suche nach Wahrheit aufgegeben hatte. Ihm blieb die Kirche der durch Christus ver-bürgte Ort einer ewig gültigen und absoluten Of-fenbarung Gottes. Dieser Universalitäts- und Abso-lutheitsanspruch, wie er in Cyprians (3. Jhdt.) „Außerhalb der Kirche kein Heil“ programmatisch zum Ausdruck kommt, kann keinen anderen Heils-weg neben sich erkennen und dulden.

Die Gefahr des Relativismus sieht der Papst mit der Absage an die Substitutions-theologie und der

Anerkennung des unaufgekündigten Bundes ge-kommen. Diese nachkonziliare Theologie gestehe dem Judentum zu, weiterhin Gottes Volk zu sein und mit ihm im Bunde zu stehen. Damit wäre aber ein eigener Heilsweg eingeräumt, das Selbstbild der allein seligmachenden Kirche gefährdet. Soviel Rückerstattung theologischer Würde kann der Papst nicht zugestehen.

Mit Augustinus sieht auch Joseph Ratzinger die bleibende Bedeutung der Juden darin, Zeugen der Wahrheit des Christentums zu sein, „Israel ist unbe-stritten weiterhin Besitzer der Heiligen Schrift“ (322), aber, wie Augustinus schreibt, tragen uns die Juden die Bücher nach, in denen Christus und sein neues Volk verheißen sind. „Kirchenväter wie zum Beispiel Augustinus haben betont, dass es Israel als nicht zur Gemeinschaft der Kirche gehörend geben müsse, um die Authentizität der Heiligen Schriften zu bezeugen“ (322). Diese Bestandsgarantie ist den Juden allzuoft nicht eingeräumt worden. Aus dieser Dienstfunktion entstand unter Papst Innozenz III. im 13. Jahrhundert die Vorstellung von der „servi-tus Judaeorum“, der Knechtschaft.

Natürlich weiß der Papst, dass man seit dem millionenfachen Genozid nicht mehr in der Weise reden kann, wie das die Kirche getan hat. Daher verurteilt er Rassismus und Antisemitismus. Seine „Anmerkungen zum Traktat ‚De Judaeis‘“ beginnen so: „Seit Auschwitz ist klar, dass die Kirche die Fra-ge nach dem Wesen des Judentums neu bedenken muss“ (317). Fragen wir hier nur danach, wie die-ses „Seit Auschwitz“ zu verstehen ist: temporal oder kausal? Da er die neueren Forschungsergeb-nisse biblischer Exegese nicht als Ursache der Revi-sion hergebrachter Theologie nennt, so ist sein „seit Auschwitz“ kausal zu verstehen – als ein Vor-wurf an die Theologen im Dialog: Sie haben sich von jenem historischen Geschehen theologisch zu sehr beeinflussen lassen. Die berechtigte Frage, ob ein bestimmtes historisches Geschehen argumenta-tiv die Kraft hat, die Thesen einer systematisch operierenden Disziplin zu verändern, stellt der Papst zwar nicht, beantwortet sie aber wider-sprüchlich: Im Fall der Zerstörung Jerusalems und des Tempels bejaht er sie, im Falle des Holocaust und der Staatsgründung Israels verneint er sie.

Vage Verbalismen Der lexikalischen Analyse des Textes fallen die va-gen, unpräzisen Formulierungen auf. So oft ist die

Ecclesia und Synagoga,

Sakramentskapelle der Basilika

Maria Laach, Mosaik, 1910–1912

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UMSTIFTUNG

Rede von „wirklich“, ein Lieblingswort ist „gültig“, meist „endgültig“, (15 mal) das „Endgültige“, „Endgültigkeit“, „der gültige Maßstab“. Der Neue Bund ist von „endgültiger Gestalt“. Die christliche Exegese findet den „endgültigen Sinn“, „endgülti-ger Bund“, „die Endgültigkeit der Liebe“, „endgül-tige Bundeszerstörung“. Da heißt es „Präzisierung“, „Vertiefung“, „Überwindung“, „Umstiftung“, „Überschreitung“. Weiträumigeres Verstehen wird gefordert, usw.

Behauptungen, die inhaltlich nicht gefüllt wer-den. Der Papst präzisiert nicht mit einer theologi-schen, geschweige denn einer biblischen Begriff-lichkeit. Die beiden akzeptierten, zugleich abge-lehnten Thesen sind „doch in vielem ungenau und müssen kritisch weiter bedacht werden“, weil „noch nicht richtig und in Gänze verstanden“.

In diesen Sprachversuchen ist durchaus eine ge-wisse Not, auch Ängstlichkeit, vielleicht sogar Tra-gik zu lesen. Der alte Papst sieht die katholische Kirche auf falscher Bahn, die Identität des Chris-tentums in Gefahr und seinen letzten Rettungsver-such ohne viel Hoffnung.

Auch der Apostel Paulus, zeitlebens gläubiger Jude und Christus bekennend, suchte in seinem Brief an die Römer das Verhältnis von jüdischem Glauben und Christusbekenntnis zu verstehen. Ei-nes war ihm klar: „Hat Gott denn mein Volk ver-stoßen?“ Seine Antwort: „Keineswegs!“ (Römer 11,1). Doch beim Versuch das Zueinander auch po-sitiv zur Sprache zu bringen, diskursiv zu durch-dringen, scheitert er, Sprachbilder bleiben ihm. Am Ende aber preist seine Doxologie das Mysterium Is-rael: „O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes. Wie unergründlich seine Ent-scheidungen, wie unerforschlich seine Wege“ (Rö-mer 11,33).

Benedikts Pontifikat war auf informeller Ebene an Besserung der christlich-jüdischen Beziehungen interessiert. Wäre der Papst wirklich an theologisch orientiertem Dialog interessiert, dürfte man erwar-ten, dass er jüdische Reaktionen auf Revisionsbe-mühungen christlicher Theologie wenigstens er-wähnt.*

Wenn es nach Auschwitz für die Kirche „klar“ ist, dass sie „die Frage nach dem Wesen des Juden-tums neu bedenken muss“ (317) sollte sie eine Ant-wort im Dialog mit Juden suchen.

Papst Benedikts Pontifikat war auf informeller Ebene an Besserung der christlich-jüdischen Bezie-

hungen interessiert. Der Theologe Josef Ratzinger aber, überzeugt, dass das Christentum – mit Hegel gesprochen – im hellenistischen Denken zu sich selbst kommt und zur höchsten, gereiften Gestalt gefunden hat, kann mit dem Judentum theologisch nichts anfangen. Dem Christ und Theologen ist es defizitär, bleibt Magd, „ancilla christianorum“. So war und ist er sich sicher, dass das Christentum, von den Fesseln Land und Volk gelöst, im hellenis-tischen Denken sich selbst findet und damit „Ver-söhnung von Glaube und Vernunft geglückt“ (331) ist.

Glaube und Vernunft hätten auch dazu führen können, dass sich hier in seinen „Anmerkungen“, auch angedeutet nur, ein Wörtchen des Bedauerns christlicher Schuld oder eines der freundlichen An-erkennung jüdisch-dialogischen Bemühens finden ließe – Zeichen von Großmut des „summus ponti-fex“.

Am Ende fragt man sich: Was erwünscht sich Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. von der Veröffent-lichung seiner „Anmerkungen zum Traktat De Ju-daeis“? Und was erhofft sich Kardinal Kurt Koch? Sollte wirklich „das jüdisch-katholische Gespräch“ bereichert werden? Oder geht es um innerkirchli-che Auseinandersetzungen, über die Bande ge-spielt?

„Kalonymos“ schreckte auf, als besorgte Stellung-nahmen des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenar-beit, Wortmeldungen von Katholiken, Protestan-ten, Juden in der ZEIT, eintrafen, und ein katholi-scher Theologe schrieb: „Man hätte nicht erwartet, von einem deutschen Theologen nach Auschwitz noch einmal so etwas lesen zu müssen. Selbst ein im Ruhestand lebender Papst darf sich so etwas nicht erlauben.“ — Was war geschehen? Nicht für die Öffentlichkeit gedachte „Anmerkungen zum Traktat ‚De Judaeis‘“ des zurückgetretenen Papstes Benedikt XVI., Prof. Joseph Ratzinger, waren durch Kardinal Kurt Koch veröffentlicht worden. Wir haben den katholischen Vorsitzenden der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit des Saarlandes und Lehrbeauftragten am Institut für katholische Theologie der Universität Saarbrücken, Prof. Her-bert Jochum, Kenner des Verhältnisses von Ecclesia und Synagoga in der Kunst, um eine ausführliche Stellungnahme gebeten.

* Im Jahre 2000 hat eine statt-

liche Zahl von Rabbinern und

Gelehrten mit „Dabru emet!

Redet Wahrheit!“ ausdrücklich

diese Bemühungen anerkannt

und gewürdigt. 2015 erfolgte

mit „Den Willen unseres Vaters

im Himmel tun: Hin zu einer

Partnerschaft zwischen Juden

und Christen“ eine Erklärung

orthodoxer Rabbiner. 2017 ist

eine orthodoxe Reflexion zu 50

Jahre „Nostra aetate“ der Eu-

ropäischen Rabbinerkonferenz

gemeinsam mit dem Rabbini-

schen Rat von Amerika auf

deutsch erschienen: „Zwischen

Jerusalem und Rom. Die ge-

meinsame Welt und die re-

spektierten Besonderheiten“.

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„Das Leben ist eine Illusion“Zur Biografie des jüdischen Zauberkünstlers Ernest Thorn

Wolfram Fiedler und Manfred Martin

rnest Thorn wurde am 22. September 1853 inJaroslau, Galizien (heute Jarosław in der polni-

schen Woiwodschaft Karpatenvorland) mit dem Namen Moses Abraham Thorn geboren. Galizien war im Rahmen der ersten Teilung Polens 1772 zum Haus Habsburg gekommen und wurde 1804 Bestandteil des Kaisertums Österreich. Heute ge-hört der westliche Teil Galiziens zu Polen, der östli-che Teil mit Lemberg (Lwiw) zur Ukraine. Kein Land der österreichischen Monarchie war von so vielen Ethnien bewohnt wie Galizien: Polen, Ruthe-nen, Russinen, Deutsche, Armenier, Juden, Mol-dauer, Ungarn und andere – was nicht konfliktlos blieb. So kam es in den folgenden Jahren zu Ausei-nandersetzungen und Unruhen, die zu Veränderun-gen der Lebenssituation der Bewohner führte. Der jüdische Bevölkerungsteil machte etwa 10% aus. Die Juden in den mehrsprachigen größeren Städten sprachen in der Regel deutsch oder polnisch. Thorn wuchs als Sohn des Kleinunternehmers Leo Thorn in einer deutschsprachigen Familie auf.1 Jaroslau hatte zu dieser Zeit wohl um die 8000 Einwohner und die meisten der Juden wohnten im Schtetl. Of-fenbar hatte sich die Lebenslage der Familie Thorn durch Erfolge des väterlichen Unternehmens soweit entwickelt, dass Ernest ein Gymnasium besuchen konnte. Insbesondere nach 1867 wurde Galizien ei-ne größere Autonomie innerhalb Österreichs einge-räumt, durch die die gesamte Bevölkerung die ös-terreichische Staatsbürgerschaft – mit allen Rechten und Pflichten – erhielt und alle Religionen und Eth-nien gleichberechtigt waren. Dennoch blieb die ökonomische Situation der Masse der jüdischen Ga-lizier schwierig, sodass eine wachsende Zahl Galizi-en verließ und vorrangig in die USA, aber auch nach Deutschland, auswanderte.

Wie Thorn zur Zauberei kam, beschrieb er selbst in den 1920er Jahren. Seine Schilderung er-schien in einer Artikelserie der Zeitschrift „Magie“ in den 1930er Jahren. Mit 10 Jahren hatte er in sei-ner Geburtsstadt eine Vorstellung eines reisenden Zauberers namens Maestro Simonelli besucht, die offenbar Auslöser für sein Interesse an der Magie war. Mit 12 Jahren bot sich ihm die Gelegenheit, den Magier Professor St. Roman (Samuel Thiers-feld) zu sehen, der 1828 – wie er – in Jaroslau ge-boren war und zu dieser Zeit bereits ein berühmter und weitgereister Magier war.2 Er bastelte sich selbst Zauberapparate und überraschte damit seine Schulkameraden. Da er damit Erfolg hatte, fasste er

den Entschluss, die Magie zu seinem Lebensinhalt werden zu lassen. Heimlich verließ er das Gymnasi-um und sein Elternhaus und reiste St. Roman nach. In Wien erfuhr er, dass hier der Magier Henry Smith alias Cagliostro Vorstellungen gab. Er nahm Kontakt zu ihm auf, bot ihm seine Dienste an und wurde 1867 dessen Assistent. Diese Bekanntschaft führte schließlich zu dem Entschluss, ein eigenes Programm aufzubauen und auf eigene Rechnung auf Reisen zu gehen. Finanziell auf sich allein ge-stellt, organisierte er seine Auftritte vollständig selbst, mietete Säle, holte behördliche Genehmi-gungen ein, nummerierte die Stühle, wirkte als Kassierer und klebte in der Nacht Plakate. Seine humoristische Art wie seine Geschicklichkeit mach-te ihn zu einem gern gesehenen Magier. Um 1870 kam er nach Berlin und lernte hier Samuel Bellachi-ni kennen, dem er sich als Assistent anbot. Bellachi-ni – 1828 als Samuel Berlach und Sohn eines jüdi-schen Bauern im polnischen Ligota geboren – be-merkte offenbar schnell sein großes Talent und ging sofort auf das Angebot ein. Bellachini wurde somit sein eigentlicher Lehrer, der Thorn zu einem erst-klassigen Magier entwickelte.

Bis etwa Mitte der 70er Jahre war Thorn Bella-chinis Assistent und Schüler. Danach trennten sich

E

Ernest Thorn

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ihre Wege und Ernest unternahm eigene Tourneen, die ihn für zwei Jahre nach Konstantinopel und Ägypten, wo er ein Jahr verbrachte, sowie nach In-dien führten.3

Ende der 70er Jahre gründete er mit seinem Bruder Heinrich (Henry), der am 16. August 1857 in Jaroslau geboren und ebenso von der Zauberei besessen war, das Unternehmen „Thorn & Dar-vin“4 und entwickelte eine eigene Zaubershow. 1879 gastierten beide – Ernest alsVorführender und Henry „Darvin“ als Assistent meist im Hintergrund – erfolgreich in Sydney und reisten, von Erfolg zu Erfolg, über Hawaii nach San Francisco. Insbeson-dere Henry war vom Leben in den USA begeistert und fühlte sich in der für ihn neuen Welt so wohl, dass er bereits 1882 „eingebürgerter US-Bürger“5 geworden war.

Die erfolgreichen Tourneen gingen weiter. Es folgten Auftritte in Rumänien, Serbien, Bulgarien, Türkei, Griechenland und Ägypten. In Konstanti-nopel trat er vor dem Sultan Abdul Hamid im Yil-diz-Palast auf. Spätere Auftritte fanden in Ägypten in der Khedivial-Oper und im Hotel Scheppert statt. Von hier aus führte ihn der Weg nach Port Said und Bombay. Damit wurde Ernest Thorn zu einem der erfolgreichsten und am weitesten gereis-ten Zauberkünstler des 19. Jahrhunderts.

Doch war diese ereignisreiche wie erfolgreiche Zeit für die Brüder nicht immer einfach. Die Tren-nung von der Familie und vom jüdischen Umfeld, die gewonnene Weltkenntnis und die enormen künstlerischen und organisatorischen Anstrengun-gen wie auch die „künstlerische Konkurrenz“ bei-der führten offenbar – wie Günzel und auch Thorn bemerken - zu einem beginnenden Säkulari-sationsprozess, der jedoch nie zum Bruch mit ih-

rer Religion oder der Beziehung beider Brüder führte.

Dennoch blieb Henry etwa 1890 nach einer Amerika-Tournee in den USA, wo er 1894 Laura Cubitt (geboren am 22. Oktober 1876) heiratete.6

Ernest Thorn ging nach Konstantinopel, wo er zwei Jahre blieb und dort seine spätere Frau Julie Zücker (geboren am 20. Juli 1869) kennenlernte, die er wenige Jahre später heiratete und die seine Managerin und Assistentin wurde. Eine Tournee führte beide nach Wien, wo sie über 200 Auftritte („Eine Stunde im Traumland“ oder „Sechs sensatio-nelle Illusionen in weniger als 20 Minuten“) absol-vierten.

Nach einer mehrjährigen Station in Budapest und Lemberg wandte sich Ernest um 1904 wieder der „praktischen“ Zauberkunst zu. Eine neue Show wurde entwickelt und Ende des Jahres 1904 reisten er und Julie nach England, wo sie in London ein vierwöchiges Gastspiel gaben. Danach ging es für jeweils 4 Wochen nach Kopenhagen ins Scala-Thea-ter und ins Stockholmer Svea-Theater. 1908 bis 1910 folgte eine Tournee nach Südamerika und in die USA. In Manhattan kam es zu einem Treffen der beiden Brüder.

Möglicherweise entstand hier der Plan, künftig

wieder eine gemeinsame Tournee von „Thorn & Darvin“ durchzuführen. Es gab aber auch anderes zu besprechen, denn Henry war bereits 1906 nach Leipzig übergesiedelt, um seine dorthin gezogene, damals 82-jährige kranke Mutter zu pflegen.7 Er hatte dazu bereits 1905 eine Aufenthaltsgenehmi-gung für Leipzig beantragt und eröffnete zunächst als Schuhwarenhändler (später als privater Kauf-mann) ein kleines Geschäft in der Zeitzer Straße 6 (heute Peterssteinweg). Eine dauerhafte Wohnung fand er schließlich in der Lampestraße 10.8

Ernest und Julie Thorn reisten 1911 nach Ägyp-ten, wo sie ein Jahr zubrachten, und später reiste Ernest nach Indien (ob Julie mitreiste, ist nicht be-

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kannt). In Batavia traf er sich mit Henry und sie ar-beiteten wieder unter dem Namen „Thorn und Darvin“ zusammen. Sie gaben erfolgreiche Gast-spiele u.a. auf Java, den Philippinen, in Sumatra, Kambodscha.

Doch mit Beginn des Ersten Weltkrieges – da waren Ernste 61 und Julie 45 Jahre alt – endeten die Tourneen beider. Sie wurden schließlich in Deutschland ansässig und siedelten sich wie Mutter und Bruder in Leipzig an, zunächst in der Zeitzer Straße 6. Später fanden sie eine Wohnung in der Kronprinzenstraße 73 (heute Kurt-Eisner-Straße), in der Ernest bis zu seinem Tod lebte.

1912 gehörte Ernest Thorn zu den ersten Mit-gliedern (Mitgliedsnummer 14) des Hamburger Magischen Zirkels Deutschland. Zu dessen Gene-ralversammlung am 24.07.1918 wurde er zum Eh-renmitglied ernannt. Am 20.11.1918 besuchte er mit seiner Frau Julie den Magischen Zirkel im Hamburger „Hotel zu den 3 Ringen“ und erhielt vom Präsidenten Karl Schröder ein Ehrendiplom.

Thorn litt an Diabetes und trat nach dem Tode seiner Frau Julie am 25. Juli 19199 – der ihn schwer traf - nicht mehr auf. 1921 wurde er den-noch Mitglied des Ortszirkels Leipzig. Mit der In-flation 1922 wurde ein Großteil seiner Ersparnisse entwertet, so dass er sich nur durch den Verkauf von Zauberutensilien und Antiquitäten, die er von seinen Reisen mitgebracht hatte, über Wasser hal-ten konnte.

In dieser für Ernest Thorn sehr schweren Zeit, in der er sich mehr und mehr aus dem öffentlichen Leben zurückzog, kam sein Bruder Henry nach Leipzig zurück, um Ernest, der auch gesundheitlich schwer angeschlagen war, zu betreuen – so wie er es auch für seine Mutter getan hatte.

1924 wurde Ernest Ehrenmitglied der Leipziger Gruppe des Magischen Zirkels. Im Vorfeld seines 75. Geburtstages arrangierte die Leipziger Orts-gruppe wohl bereits im Januar 1928 einen Fest-abend, der ihn mit Franz Bachmann, (links von Er-nest Thorn) und Ferdinand Uter (rechts von ihm) zeigt. Auf dem Bild ist unten in der Mitte die Zahl 75 vermerkt.

Das ist insofern verwirrend, weil Ernest Thorn ja seinen 75. Geburtstag – legt man die bekannten Lebensdaten zugrunde – gar nicht erreicht hat.

Ernest Thorn unterstützte den Magischen Zir-kel mit Rat und Tat, Geld- und Sachspenden - wo-mit er auch einen wichtigen Beitrag zur Gründung

von dessen „Magischer Bibliothek“ leistete – und förderte junge Nachwuchskünstler. Er starb völlig mittellos am 21. Mai 1928 in Leipzig.10 Ernest Thorn wurde – so die Eintragung im Friedhofsbuch – auf dem Alten Jüdischen Friedhof in Leipzig in der 4. Abteilung, Reihe 6, rechts 4. Grabstelle be-graben. Als wir in Vorbereitung dieses Aufsatzes ein historisches Foto seines Grabes prüften, fanden wir eine eher individuelle Gestaltung: keine hebräische Schrift, keine der bekannten jüdischen Symbole, dafür aber vielsagende Inschriften: „Hier ruht im Traumland“, „Das Leben ist eine Illusion“ und „Der Tod ist ein unlösbares Rätsel“.

Einzig das im unteren Teil vorhandene Symbol schien ein Hinweise auf einen jüdischen Bezug zu enthalten. Glücklicherweise ist das Grab noch vor-handen und in einem relativ guten Zustand. Dank der Hilfe von Frau Klaudia Krenn von der Israeliti-schen Religionsgemeinde und maßgeblich Prof. M. Brocke vom Steinheim-Institut konnte dieser Irr-tum geklärt werden: es handelt sich um ein elegant gestaltetes, schön verschlungenes Signet im besten Stil der Zwanziger Jahre – des NAMENS Thorn! Dass ein solches Grab in den 20-er Jahren des vori-gen Jahrhunderts so frei gestaltet werden konnte, lag wohl daran, dass die Israelitische Religionsge-meinde Leipzig in dieser Zeit eine Einheitsgemein-de war, sehr vielfältig und für die verschiedenen Strömungen im Judentum offen. Wann der Grab-stein tatsächlich gesetzt wurde – anlässlich des To-

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des von Julie oder erst anlässlich des Todes von Ernst Thorn, ist unklar.

Ernest Thorns Wahlspruch war von seinem be-wegten Leben geprägt: nie stillzustehen, immer weiterzuarbeiten und Neues hinzuzulernen – Hö-hen und Tiefen eingeschlossen. Sein Motto war: „Das ganze Leben ist eine Täuschung. Die ange-nehmste Form der Täuschung ist jedoch die Zaube-rei“. Nicht zuletzt sein Fleiß und sein Engagement waren Schlüssel seines großen Erfolgs.

Damit ist die Geschichte jedoch noch nicht zu Ende. Bis vor kurzen waren wir noch davon ausge-gangen, dass Henry nach Ernsts Tod in die USA zu seiner Familie zurückgekehrt ist, denn ab 1929 gab es keinen Eintrag zu Henry Thorn im Leipziger Ad-ressbuch mehr. Erst durch den bereits zitierten Auf-satz von John Thorn erfuhren wir, dass Henry aus gesundheitlichen Gründen in Leipzig geblieben war – immerhin bereits 71 Jahre alt. Dort heißt es:

„Es stellte sich heraus, dass Henry Darvin Thorn in den zwanziger Jahren tatsächlich nach Europa zu-rückgekehrt war, um sich um seinen kranken Bruder Ernest zu kümmern, und höchstwahrscheinlich nie wieder nach Amerika zurückgekehrt war. Erst kürz-lich habe ich das Ende seiner Spur entdeckt. Wie es das für Ernest getan hatte, hatte das Judentum ihn geprägt. Henry hatte einige Zeit im 1931 gegründe-ten Israelitischen Altersheim Ariowitsch-Stiftung in Leipzig gelebt. 1940 gab es im Ariowitsch-Heim 94 Juden. Am 19. September 1942 wurden alle Bewoh-ner und Angestellten in das Konzentrationslager The-resienstadt verschleppt. Innerhalb von zwei Wochen übernahm die Gestapo das Gebäude.“11

Dem Text ist eine Kopie der Sterbeurkunde von Henry beigefügt, die aussagt, dass Henry Darvin Thorn im Alter von 86 Jahren am 24. Januar 1943 um 11:15 Uhr im Jüdischen Altersheim in Leipzig (Deutschland), Färberstraße 11 an Altersschwäche verstorben ist. Er wurde auf dem Alten Israeliti-schen Friedhof Leipzig in der Berliner Straße 123 in der III. Abteilung Reihe IV Grab 10 beigesetzt. Die Urkunden wurden vom Schweizerischen Kon-sulat in Leipzig ausgestellt, das die Interessen der USA vertrat.

Daraufhin machten wir uns auf die Suche nach der angegeben Grabstelle und fanden an der be-zeichneten Stelle einen kleinen, mit einem David-stern im Spiegel versehenen Stein. Da auf dem Friedhof – obwohl er bereits seit 1928 geschlossen war – 1937 die erzwungenen Umbettungen der

Gräber des Ältesten Israelitischen Friedhofs Leipzig erfolgte, kann nicht nachvollzogen werden, ob es sich tatsächlich um die Grabstelle von Henry Thorn handelt, denn es sind mehrere solcher Grab-stellen dort zu finden. Offen bleibt ebenso, mit wessen Hilfe er seine letzten Lebensjahre in Leipzig verbrachte und nicht nach Theresienstadt ver-schleppt wurde. Vermutlich hat seine US-amerika-nische Staatsbürgerschaft Henry Thorn vor dem Tod im KZ bewahrt.

Wie sein Bruder Ernest und dessen Frau Julie hat auch Henry Thorn seine letzte Ruhestätte auf dem Alten Israelitischen Friedhof in Leipzig gefunden.

Manfred Martin und Wolfram Fiedler, Magischer Zirkel Leipzig. Autoren und Redaktion danken John Thorn für seine Unterstützung.

AbbildungsnachweisS. 7: John Thorn.S. 8, oben: Zauberarchiv Jens-Uwe Günzel. S. 9, oben: Wolfram Fiedler, 27.10.2017.S. 9, unten: Zauberarchiv Jens-Uwe Günzel. S. 10: Wolfram Fiedler, 25.04.2018

Anmerkungen

1. Vgl. Günzel, Jens-Uwe: Eine Stunde im Zauber-Traumland des Chevalier Ernest Thorn. In: Magie 06-2018, S. 291ff. (mit Abb.).

2. www.zauber-pedia.de/index.php?title=Samu-el_Thiersfeld.

3. Thorn, John: Magician’s Blood, https://ourga-me.mlblogs.com/magicians-blood-81af2e4f0ec2 (zahlreiche Abb. aus dem Besitz John Thorns).

4. Günzel, ebd. 5. Thorn, Magician’s Blood. 6. Günzel, S. 292. 7. Thorn, Magician’s Blood. 8. Laura muss ihren Mann nach 1906 nach Leipzig be-

gleitet haben, denn in der Israelitischen Religions-gemeinde Leipzig liegt eine Karteikarte zu Laura vor, auf der als Wohnung die Lampestraße 10 ange-geben ist. Zugleich ist eingetragen, dass sie sich beim letzten Eintrags-Datum am 23.10.1935 in Amerika befunden hat. Dieser Eintrag fehlt auf der Karte von Henry Thorn.

9. Auf dem Grabstein ist der 28. Juli 1919 vermerkt. 10. Auf dem Grabstein ist der 20.05.1928 vermerkt. 11. Thorn, Magician’s Blood; vgl. www.synagoge-leip-

zig.de/begegnung/geschichte.html

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BuchgestöberSteinernes Archiv Das frühere Eibenschitz im südli-chen Mähren lässt die Wiener Germanistin und Musikpädagogin L. Reich den weiträumigen jüdi-schen Friedhof der einst bedeutenden Gemeinde entdecken, fast zufällig – Vorfahren der Wiener Musikschule Schallinger liegen hier begraben, auch die des Wiener Komponisten und Musikwissen-schaftlers Guido Adler (1855-1941). Die durchgän-gig zweisprachige (Übersetzer ins Tschechische: Marco Nývlt) bestens ausgestattete Geschichte der Gestalt der Stätte (über 1800 Gabmale), die der Gemeinde und das Nachleben werden in flüssiger, angenehm lesbarer Sprache dargestellt, ganz ohne Anmerkungen. Nicht alle Informationen zur Sepul-kralkultur sind von Irrtümern frei, es ist das be-herzte Werk einer engagierten Amateurin, das über

Ivančice hinaus vor allem durch seine gut 200 far-bigen Abbildungen besticht – Ornamente und Sym-bole bietet der idyllisch wirkende Gute Ort über-reichlich; Familiengeschichte und die Wandlung von der einen Sprache zur Dreisprachigkeit werden erschlossen; der Inhalt der hebr. Grabinschriften bleibt unbeachtet. Mit einer Lupe ließen sich man-che erschließen. Dank an die Autorin, die auf einen kostbaren Schatz aufmerksam zu machen weiß.

Eingegangene Bücher

Dieter P. Ohlmann: Post aus Theresienstadt – ein Spei-cherfund in Jüchen-Schaan. Ein Beitrag zur Geschichte jü-discher Familien im Gemeindegebiet Jüchen und Umge-bung (Bd. 19, Förderverein Gemeindearchiv Jüchen (Hg.), studio93 Neuss / Forster Media, Bonn 2018, 156 Seiten. ISBN 978-3-9804847-4-9.Beim Ausräumen des Hauses findet Bewohnerin einen Karton mit Schriftstücken zweier Frauen. Die dokumen-tarische Aufarbeitung wird schließlich, ausgehend vom Schicksal der Schwestern im NS-Regime, zur Darstel-lung jüdischen Lebens in der Region zwei Jahrhunderte umfassend. Ein Beitrag zur Erinnerungskultur.

Leo van Santen (Hg.): „… überhaupt fehlst Du mir sehr.“ Die Freundschaft zweier junger Exilanten. Der Briefwech-sel von Manuel Goldschmidt und Claus Victor Bock

(1945-1951). Wolf van Cassel Stichting Utrecht / Verlag für Berlin-Brandenburg 2017, 468 Seiten.ISBN 978-3-945256-58-9.Die Briefe, die die in die Niederlande geflohenen deutsch-jüdischen Jugendlichen einander schreiben, zei-gen, wie sie als Emigranten in der Nachkriegsgesell-schaft den Weg ins Leben suchen und ihre innige Freundschaft weiterentwickeln. Dank Einbeziehung frü-herer Briefe erinnert die Korrespondenz insgesamt an ei-nen Bildungsroman.

Hans-Joachim Hoffmann, François van Menxel: Die jü-dische Familie Simon Zacharias Coblenz (1836-1910) aus Bingen, Arbeitskreis Jüdisches Bingen Bd. 8, Verlag Matthias Ess, Bingen 2017, 214 Seiten. ISBN 978-3-945676-34-9.Die Autoren gehen Leben und Schicksal der heute welt-weit verzweigten Binger Familie Coblenz nach. Nicht Verfolgung und Vernichtung im NS, dem auch Mitglieder der Familie Coblenz zum Opfer fielen, stehen im Mittel-punkt, sondern der Beitrag, den die Familie im 19. und frühen 20. Jahrhundert zum gesellschaftlichen Leben Deutschlands geleistet hat. Ihre Recherche, bei der auch das saarländische Ottweiler und dessen Friedhof (siehe epidat) eine Rolle spielen, hat eine beeindruckende Men-ge an Quellen vereint. Mit zahlreichen Fotografien (u.a. von Ida Dehmel) ansprechend gestaltete Erarbeitung deutschjüdischer Geschichte zu und aus Bingen.

Ingo Wille: Transport in den Tod. Von Hamburg-Langen-horn in die Tötungsanstalt Brandenburg. Lebensbilder von 136 jüdischen Patientinnen und Patienten (Landes-zentrale für politische Bildung, Hamburg 2017 u. Institut für die Geschichte der deutschen Juden), Metropol, Ber-lin 2017, 590 Seiten. ISBN 978-3-946246-11-4.Georg Lilienthal gibt den Überblick über das „Euthana-sie“-Verbrechen, das jüdische Patientinnen und Patienten aus Heil- und Pflegeeinrichtungen in Hamburg, Schles-wig-Holstein und Mecklenburg im Herbst 1940 in die Tötungsanstalt Brandenburg a. d. Havel deportierte, um sie mit Kohlenmonoxid zu vergiften. Man täuschte ihnen Unterbringung in einer „komfortablen Anstalt“ vor. Den individuellen Lebens- und Leidensgeschichten aller Ermordeten geht Ingo Wille in dieser beeindrucken-den, erschütternden Erinnerungsarbeit nach.

Ze'enah u-Re'enah. A Critical Translation into English, hg. und übersetzt von Morris M. Faierstein, (Studia Ju-daica, Bd. 96, de Gruyter, Berlin / Boston 2017, zwei Bände, 1253 Seiten. ISBN 978-3-11-045950-0.

Christoph Knüppel (Hg.): Gustav Landauer. Briefe und Tagebücher 1884 -1900, kommentierte Ausgabe in 2 Bänden, 1.346 Seiten. Vandenhoeck & Ruprecht, Göt-tingen 2017, 130,- Euro. ISBN 978-3-8471-0456-8Die frühen Briefe und Tagebuchaufzeichnungen des deutsch-jüdischen Schriftstellers Gustav Landauer (1870 – 2. Mai 1919) geben Einblick in das Fühlen und

Ludwiga Reich: Das steinerne Archiv von

Ivančice. Kamenný archiv v Ivančicích,

Klagenfurt: Wieser 2017, 235 Seiten.

ISBN 987-3-99029-283-9.

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Denken des Sozialisten, Anarchisten und Pazifisten um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die Korres-pondenz mit z.T. berühmten Männern und Frauen (Fritz Mauthner, Constantin Brunner, Hedwig Lachmann, Marg. Susman u. v. a.) zeigt vor allem das Bedürfnis Landauers, aus der moralischen Enge seiner Zeit auszu-brechen. Martin Bubers zweibändige Auswahl: „Sein Le-bensgang in Briefen. Das Selbstbekenntnis eines einsa-men Revolutionärs. Zwei Jahrzehnte Weltgeschehen im Spiegel einer großen Menschlichkeit“ (Frankfurt a. M. 1928/29) bot bis zum Jahr 1900 nur etwa 50 Briefe (insgesamt 594 Stücke). Zur rechten Einordnung und zum Verständnis der Hintergründe der Texte hilft die ausführliche Kommentierung des Herausgebers, die dem Leser wichtige Aspekte des Lebens und Wirkens Gustav Landauers vermittelt.

Abraham Teitelbaum: Warschauer Innhöfe. Jüdisches Le-ben um 1900. Erinnerungen. Aus dem Jiddischen von Daniel Wartenberg; hg. Frank Beer. Wallstein Verlag, Göttingen 2017, 234 S. Abb. ISBN 978-3-8353-3138-9.Teitelbaum (1889 - 1947 New York), Schauspieler und Regisseur, erinnert sich sehr lebendig und abwechslungs-reich an Kindheit und Jugend in Warschau, 1947 veröf-fentlicht, nun erstmals ins Deutsche übersetzt. „Warshe-wer Hejf. Mentshn un gesheenishn“ ist geschickt nach Orten gegliedert: „Muranowski-Platz 19 – Twarda-

Strasse 2 und 16 – Der Hof von Janasche – Graniczna- 7 – Gęsia-29 – Nalewki-15 – Pańska-20 – Ceglana-1 – Chmielna-9“. Farbige Szenen, Impressionen, reich be-setzt mit Figuren, nein, mit Menschen, namentlich be-nannten, aus wahrlich allen Lebensbereichen; vom Übersetzer reich annotiert, so dass es keines Vorwissens bedarf, um die oft anrührende Nostalgie – im Wissen um eine vergangene, vernichtete Welt – zu verstehen und zu schätzen. Eine attraktive Entdeckung, Bereicherung der deutschsprachigen Bemühungen um jiddische Moderne.

Robert E. Lerner: Ernst Kantorowicz. A Life, Princeton University Press 2018, 424 Seiten, 28 schwarz-weiß Il-lustrationen, 24,95 Euro. ISBN 9780691183022.Dies ist die erste vollständige Biographie von Ernst Kan-torowicz (1895-1963). Kantorowicz, der aus Posen stammte, war ein einflussreicher und kontroverser deutsch-amerikanischer Intellektueller, dessen farbiges und dramatisches Leben sich mit vielen großen Ereignis-sen und Denkern kreuzte, ein Mediävist, dessen Erkennt-nisse Einfluss hatten bis weit über sein Forschungsgebiet hinaus. Bekannt gemacht haben ihn eine Biographie über den Stauferkönig Friedrich II. von 1927 sowie eine Stu-die über Politik des Mittelalters (The King's Two Bodies) von 1957. https://press.princeton.edu/titles/10842.html. Wir empfehlen, auf der Webseite auch die „Introduction“ (8 Seiten) zu lesen. Spannend!

„So befragen wir uns und sind wachsam.“ Andachten, Bildmeditationen, Gottesdienstentwürfe für das Gedenk-jahr 80 Jahre Pogromnacht und darüber hinaus.WerkStü-cke zu christlich-jüdischen Themen in Gottesdienst, Ge-meinde und Unterricht. Hg.: Im Dialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hes-sen und Nassau, Darmstädter Str. 13, 64404 Bickenbach, www.imdialog.org (Bezug gegen Spende von 3 Euro).

Volker Keller / Thommy Mardo: Bet Olam. Haus der Ewigkeit – House of Eternity. Der jüdische Friedhof in Mannheim – The Jewish Cemetery in Mannheim. Mannheim: Waldkirch 2017 (Deutsch-English). 144 S., 120 Abb. s/w. ISBN 978-3-86476-068-6. 20 Euro.Ein 3 ha großer Großstadtfriedhof, 1842 angelegt, der ei-nige überführte Reste des alten, NS-zerstörten Friedhofs (in F 1) aufgenommen hat, selbst nicht in größerem Aus-maß beschädigt, dessen ältere Steine aber gefährdet sind. Autor und Fotograf leisten ausgezeichnete Arbeit. Konzi-se und kompetente, meist biografisch informierende Tex-te (auch in Englisch) stehen neben abwechslungsreich fein komponierten Schwarzweißaufnahmen in analogem Stil: Übersichten, einzelne Stelen, Familienbegräbnisse, Details; kontrast- und detailreich alles. Willkommene, einladende „Führung“ (und Begleitung) über alle Felder der beeindruckenden Stätte und wohltuender Kontrast zur oft mittelmäßigen Bebilderung ähnlicher Werke. Ide-ale Voraussetzungen für die dringend erforderliche bild-lich-textliche Fortführung und Vollendung bisheriger Be-mühungen um das Mannheimer „Bet Olam“.

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RedaktionProf. Dr. Michael BrockeDipl.-Soz.-Wiss. Harald LordickDr. Beata MacheAnnette Sommer

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Ich kann keinen Tag leben ohne MusikZum 100sten Geburtstag des Dirigenten und Komponisten Leonard Bernstein

Annette Sommer

eonard Bernstein war ein Freund offener Gren-zen – nicht nur, weil er wie ein Kind neugierig,

lernbegierig und freiheitsliebend war, sondern vor allem deshalb, weil er verbinden und versöhnen wollte, zwischen Alt und Jung, Schwarz und Weiß, Religionen und Nationen, um die Menschheit dem Frieden ein Stück näher zu bringen. Er bediente sich dazu der universalen Sprache der Musik, die über alle Grenzen hinweg zu verstehen ist, die Geist und Gemüt berührt und damit den Menschen tiefer und umfassender erreichen kann, als Worte es je vermögen.

So war es sicher kein Zufall, dass ausgerechnet er zu den Feierlichkeiten anlässlich des Falls der Berliner Mauer als Dirigent geladen wurde. Im letzten Satz von Beethovens Neunter ersetzte er das Wort „Freude“ durch „Freiheit“ und rechtfertigte diesen kleinen, dem Anlass jedoch angemessenen Eingriff mit den Worten: „Ich bin sicher, Beethoven würde uns zustimmen“. Das Fest der Freiheit selbst erlebte Bernstein als „historischen und unvergleich-lichen Moment seines Lebens“. Im Rahmen jener Feierlichkeiten um Mauerfall und Wiedervereini-gung dirigierte er ein weiteres Konzert nahe der ehemaligen Grenze am Brandenburger Tor. Zu die-sem Anlass ließ er Musiker aus West- und Ost-deutschland sowie den Ländern der vier Sieger-mächte gemeinsam musizieren – ein starkes und eindrucksvolles Zeichen der Völkerverständigung.

Schon fast vierzig Jahre zuvor hatte Bernstein durch ähnlich engagierte Schritte der Versöhnung auf sich aufmerksam gemacht. Während amerika-nisch-jüdische Künstler wie etwa Arthur Rubinstein oder Isaak Stern noch jegliche Auftritte in Deutsch-land ablehnten, nahm Bernstein 1948 eine Einla-dung nach München wahr, um als erster amerikani-scher Musiker nach dem Zweiten Weltkrieg das Bayrische Staatsorchester zu dirigieren. Tags darauf musizierte er mit 20 Überlebenden der Schoah in den Konzentrationslagern Feldafing und Lands-berg. Bernstein sah in der Musik einen Weg, sich je-nen traumatisierten Menschen zu nähern und kom-mentierte die Erfahrung mit den Worten: „Mein Herz hat geweint.“

Zeit seines Lebens hat Bernstein mit dem Ge-danken gespielt, eine große Holocaust-Oper zu schreiben, die er, wie er meinte, „den Juden schul-dig sei“. Dazu jedoch ist es nie gekommen.

Sein kompositorisches Schaffen, dessen Aner-kennung ihm besonders am Herzen lag, ist reich

und stilistisch vielfältig. So schrieb er u.a. drei Sym-phonien, drei Ballette, zwei Opern, eine Serenade für Violine und Orchester, Filmmusiken und meh-rere Werke für das amerikanische Musiktheater, von denen West Side Story das bekannteste ist. In vielen seiner textbezogenen Vertonungen spielt der religiöse Aspekt eine zentrale Rolle, so auch in den drei Symphonien.

Leonard Bernstein, der am 25. August 1918 in Lawrence (Massachusetts) als Sohn jüdischer Ein-wanderer aus der Ukraine geboren wurde, gehörte zu den regelmäßigen Besuchern der Synagoge von Boston, wo er seine Jugend verbrachte. Die Gottes-dienste und seine jüdische Erziehung trugen nicht nur dazu bei, dass er die hebräische Sprache erlern-te, sondern haben auch seine Musik nicht unwe-sentlich beeinflusst, seine Auseinandersetzung mit dem Glauben geprägt und sein Interesse an der Bi-bel gefördert. All das ist in seine Kompositionen eingeflossen. Über sein Verhältnis zur Bibel sagte er einmal: „Offensichtlich lässt mich etwas immer wieder zu diesem Buch zurückkehren.“

Bernsteins erste Symphonie Jeremiah lehnt sich an die Klagelieder des leidenden Propheten an. Ei-nerseits sind sie Ausdruck der tiefen Trauer über die Verwüstung nach der Tempelzerstörung und der Eroberung Jerusalems durch die Babylonier (587/86), andererseits aber geht es auch um Hoff-nung für das Gottesvolk. Das Werk enthält u.a. Motive, die von jüdisch-liturgischen Quellen her-rühren, mit denen Bernstein durch seine religiöse Erziehung vertraut war.

1944 wurde Jeremiah in der syrischen Moschee von Pittsburgh uraufgeführt und fand danach an vielen anderen Orten Gehör, so auch in Boston und Jerusalem.

Der Komponist widmete das Werk seinem Vater Sam, der seine Liebe zur Musik bis dahin nicht un-terstützt hatte. Nach der Aufführung in der Carne-gie-Hall kam es zur Versöhnung zwischen Vater und Sohn.

Bernsteins zweite, ebenfalls textbezogene Sym-phonie, The Age of Anxiety, greift die kulturelle Krise und die damit verbundene religiöse Neube-sinnung nach den menschenverachtenden Erfah-rungen des Zweiten Weltkriegs auf. Das Werk für Klavier und Orchester, das 1949 Premiere hatte, zeigt Elemente von Schönbergs Zwölftonmusik, mit der sich der Komponist jedoch nie recht an-freunden konnte.

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Seine wohl bedeutendste Symphonie Kaddish ist benannt nach dem Jüdischen Totengebet, das an keiner Stelle den Tod erwähnt, dafür aber dreimal vom Leben spricht und Lobpreisungen Gottes bein-haltet.

Stärker noch als die andern beiden Symphonien ist Kaddish von jüdischer Religionsphilosophie ge-prägt. So spricht Bernstein von einer „ungeheuren Auseinandersetzung mit Gott“. Hier träfe man auf eine alte jüdische Tradition. 'Alle unsere großen Persönlichkeiten der Vergangenheit wie Abraham, Mose und die Propheten hätten mit Gott gestritten, so wie man mit jemandem streitet, der einem ganz nahe ist, den man so sehr liebt, dass man wirklich mit ihm kämpfen könne. Je mehr man jemanden liebte, desto wütender könne man auf ihn werden und desto tiefer könne Versöhnung erfahren wer-den.' Solche Prozesse, so der Komponist, spielten sich innerhalb des Werkes ab.

Es war Bernsteins ausdrücklicher Wunsch, die freien Texte seiner 3. Symphonie von seiner Frau, der chilenischen Schauspielerin Felicia Monte-alegre Cohn, sprechen zu lassen. Nachdem Felicia 1978 an Krebs gestorben war, übernahmen auch Männer die Rolle des Sprechers, hinter der sich der mit Gott und gegen den Tod kämpfende Mensch verbirgt – Identifikationsfigur wohl auch für den Komponisten. Was die Musik betrifft, so bezieht Bernstein auch hier unterschiedliche Traditionen wie etwa Elemente ostjüdischer Volksmusik mit ein. Die Entwicklung aber von der „Agonie des Di-alogs mit Gott“ hin zur „Bestätigung des Glaubens“ bringt er dadurch zum Ausdruck, dass er Passagen der Zwölftonmusik in Tonalität übergehen lässt.

Wenige Wochen vor der Uraufführung von Kad-dish 1963 in Tel Aviv war John F. Kennedy ermor-det worden. Bernstein widmet das Werk jenem Mann, den er, wie er sagte „wirklich liebte“. Für ihn hatte Musik mit dem aktuellen Geschehen zu tun, was er mit den Worten umschrieb: „Musik ist eine künstlerische Inkarnation einer bestimmten Zeit in der Geschichte.“

Kurz vor seinem Tod hatte Bernstein den in Po-len geborenen Holocaustüberlebenden Samuel Pi-sar um eine neue Textfassung für seine letzte Sym-phonie gebeten. Es ging ihm darum, für die „Ausei-nandersetzung mit Gott“ in Kaddish einen glaub-würdigen Zeugen zu finden. Erst lange nach Bernsteins Tod, sah sich Pisar, der seine gesamte Fa-milie in der Schoah verloren und selbst die Hölle

von Auschwitz durchlitten hatte, in der Lage, dem Wunsch seines Freundes nachzukommen.-

Im Jahr 1963 beauftragte der Dekan der Kathe-drale von Chichester (Sussex) den Komponisten mit einem Stück für ein Musikfestival. So entstan-den die Chichester Psalms, eine Komposition für Chor und Orchester, die 1965 zur Aufführung ge-langte. Im Gegensatz zu Kaddish sind die Psalmen hoffnungsvoll und lebensbejahend. Mit diesem Werk wandte sich Bernstein vorerst von der Zwölf-tonmusik ab, von der er sagte, dass sie einfach nicht seine Musik sei. Die einzigartige Mischung aus bib-lisch-hebräischen Versen und christlicher Chortra-dition in der neugeschaffenen Psalmenvertonung war auch hier wieder Ausdruck der Hoffnung des Komponisten auf Verständigung zwischen den Kul-turen.

Das religiös-liturgische Werk Bernsteins, das den größten politischen Einfluss haben sollte, war Mass, eine Komposition nach katholischem Ritus, in der vor allem der Protest gegen den Vietnam-krieg Ausdruck fand und festgefahrene Macht-strukturen und Autoritäten infrage gestellt wurden. Jene revolutionäre Komposition, die wiederum zahlreiche musikalische Stilrichtungen wie Blues, Rock, Gospel, Folk, Jazz, Hymnen, orientalische Tänze, orchestrale Meditationen, Choräle u.ä. mit-einander vereint, wurde 1971 zur Einweihung des Kennedy-Centers uraufgeführt. Wenngleich das Werk vor allem in der katholischen Kirche auf Kri-tik stieß, so war doch eine Mehrheit von seiner pa-zifistischen Botschaft aufs tiefste berührt und be-wegt. Allerdings unterstellte man Bernstein mit sei-ner Komposition, bei der er sich von einem katholi-schen Priester und Antikriegsaktivisten hatte beraten lassen, die Absicht einer politischen Ver-schwörung, was zur Folge hatte, dass man Nixon davon abriet, die Premiere zu besuchen. Fast drei Jahrzehnte später äußerte Papst Johannes Paul II. den Wunsch einer Aufführung von Mass im Vati-kan. Die Zeiten hatten sich geändert!

Leonard Bernstein machte sich nicht nur als Komponist und Dirigent einen Namen. Bereits als Kind erhielt er Klavierunterricht, baute seine inst-rumentalen Fähigkeiten an der Harvard-Universität aus, wo er auch seine ersten kompositorischen Grundlagen erwarb. Sein „Durchbruch“ als Diri-gent gelang ihm mit gerade einmal 25 Jahren, als er kurzfristig für den erkrankten Bruno Walter ein-springen durfte. Seit jener Zeit gab er immer wie-

Leonard Bernstein

(Wikimedia Commons)

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der Konzerte, bei denen er das Orchester auch vom Flügel aus leitete.

Eine außergewöhnliche Begabung besaß Bern-stein zudem als Vermittler von Musik, wofür auch seine schriftstellerischen Werke und seine Harvard-Vorlesungen Zeugnis sind. Ihm, der einmal über sich selbst gesagt hatte „Ich lerne gern, ich bin ein ewiger Schüler und bin vielleicht deshalb ein ziem-lich guter Lehrer“, gelang es wie kaum einem ande-ren, durch sein Charisma, seine sprachliche Aus-druckskraft und seinen Humor Jung und Alt für klassische Musik zu begeistern.

Einer der Komponisten, den er im Rahmen sei-ner „Konzerte für junge Leute“ dem Publikum na-hebrachte, war Gustav Mahler. Ihm galt Bernsteins besondere Bewunderung und seine Mahler-Inter-pretationen trugen wesentlich zu seiner Anerken-nung bei.

Als Leonard Bernstein am 14. Oktober 1990 in New York starb, legten ihm seine Freunde die Parti-tur von Mahlers 5. Symphonie mit in den Sarg, denn, so hieß es, 'niemand könne diese Musik in ih-rer Zerrissenheit eindrucksvoller interpretieren als er'. Mag sein, dass Bernstein nicht nur seine jüdi-sche Herkunft und die Liebe zur Musik mit Mahler teilte, sondern auch etwas von dessen „Zerrissen-

heit“ in sich selbst spürte. Zumindest war wohl der zeitweise tragische Verlauf seines Familienlebens Ausdruck einer solchen inneren Zerrissenheit.

Für sein Lebenswerk erhielt Bernstein zahlrei-che Preise und Auszeichnungen. So war er unter anderem Ehrenbürger der Stadt Wien und Ehrendi-rigent des Israel Philharmonic Orchestras, um nur zwei Beispiele zu nennen. Auch gründete er das bis heute erfolgreiche Schleswig-Holstein Musik Festi-val. Darüber hinaus war er gesellschaftlich und po-litisch aktiv, indem er sich schon früh für die Schwarzenbewegung engagierte, gegen Atomwaf-fen und für Abrüstung kämpfte und als einer der ersten Benefizkonzerte für Aidsopfer dirigierte.

Dass Bernstein 72 Jahre alt geworden ist, grenzt an ein Wunder, denn schon in jungen Jahren diag-nostizierten Ärzte bei ihm ein Lungenemphysem, was ihn allerdings nicht daran hinderte, bis zu hun-dert Zigaretten am Tag zu rauchen. Die Musik aber hielt ihn am Leben. 'Mit seinem ansteckenden Ent-husiasmus, seiner atemberaubenden Vielseitigkeit und fesselnden Beredsamkeit gehört Leonard Bern-stein zu den faszinierendsten Musikerpersönlich-keiten des 20. Jahrhunderts. Zumindest auf dem Gebiet der Musik war er eines der letzten Univer-salgenies.'

Machsor Amsterdam ist Machsor Köln ist Machsor Amsterdam ist ...

s muss ein schwerwiegendes Zerwürfnis gewe-sen sein, das den Drucker Feivesch Halevi, auch

bekannt als Uri Phoebus Halevi, dazu bewog, sich mit der Amsterdamer jüdischen Gemeinde auszu-söhnen, indem er ihr ein äußerst kostbares Buch übermachte: 331 Blatt Pergament, beidseitig ele-gant beschrieben und farbig illuminiert, dazu von Aufsehen erregendem Format: 47 mal 34 cm misst das Festtags-Gebetbuch, „Machsor“ („Zyklus“).

1669, im Jahr der Frieden stiftenden Übergabe des „Amsterdamer Machsor“, war der, wie wir heute wissen, bereits über vierhundert Jahre alt. Al-so wird das Unikat in wenigen Jahren oder Jahr-zehnten das Alter von acht Jahrhunderten errei-chen. Die Handschrift ist nicht datiert, die Namen des Schreibers, die des illuminierenden, wahr-scheinlich christlichen, Künstlers sind unbekannt,

anders als bei ähnlich einzigartigen Objekten. Wie war der Machsor in des Druckers Uri Phoebus-Fei-busch Halevi Hände gelangt? Unbekannt. Wo war er vorher in Gebrauch oder aufbewahrt? Unbe-kannt.

Mit der Übergabe im späten 17. Jahrhundert an die portugiesische Gemeinde kam jenes zweifelsfrei aschkenasisch-liturgische Buch auch zuweilen in gottesdienstlichen Gebrauch – eine seltene Symbio-se von Aschkenas und Sefarad: an Festen, Fasttagen und ausgezeichneten Sabbaten wegen der vielen da-rin enthaltenen liturgischen Dichtungen, der Pi-jutim. Denn die Stammgebete müssen ja, von An-fangsworten abgesehen, gar nicht im Festgebetbuch auftreten. Jeder, der daraus vorbeten darf, be-herrscht sie, auch finden sie sich ja im „Siddur“; das aber gilt nicht für die so vielen großen, sprach-

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lich höchst anspruchsvollen Hymnen verschiedener Gattungen für die unterschiedlichen Fest- und Fei-ertage.

Die deutschen NS-Besatzer konfiszierten den Amsterdamer Machsor. In den 1950er Jahren wur-de er zurückgegeben und seither im Joods Histo-risch Museum Amsterdam ausgestellt. Wo aber ist er entstanden? Wem und wo hat er über seine ersten vier Jahrhunderte gedient? Das möchte und das muss die Forschung allein dem Buch selbst entneh-men. Vergleiche mit ähnlichen Werken gleicher Funktion helfen dabei. Was beispielsweise enthält er nicht, und was führen andere nicht auf? Dies ist ein nur einbändiger Machsor, manch anderer hat zwei Teile, für „Sommer“, für „Winter“. Lange Zeit hat man nicht nach dem eigentümlichen Ritus des „Machsor Amsterdam“ zu fragen gewusst, hat erst im 20. Jahrhundert allmählich entdeckt, dass er die gottesdienstlichen Abläufe in ihren Einzelelemen-ten nach Ritus und Brauch, minhag, der mittelalter-lichen Gemeinde zu Köln bringt. Und die sich mehr und mehr engagierende Kunstgeschichte sieht, dass der reiche bildliche und ornamentale Schmuck auf die Werkstätten rheinischer Illuminatoren des 13. Jahrhunderts verweist – somit ist dieser Machsor in

Köln oder in der Nähe, vielleicht in Bonn, entstan-den. Das überrascht nicht besonders, denn fast alle erhaltenen Festgebetbücher, Machsorim, aus dem 13.-15. Jahrhundert entstammen dem rheinischen und südwestdeutschen Raum. Der Vergleich mit anderen jüdischen illuminierten Handschriften er-gibt, dass der Amsterdamer Machsor aus dem ers-ten Drittel oder der ersten Hälfte des 13. Jahrhun-derts datiert. Ein Kriterium ist, dass hier die Men-schen noch Köpfe und Gesichter zeigen und nicht wie öfters später, hybride, zoomorphe Köpfe, Grei-fen und Vögeln ähnliche Verfremdungen tragen. Somit ist dieses Buch ein früher, wenn nicht der früheste Zeuge dieser großformatigen Schöpfun-gen, mit ihren sehr großzügigen Rändern, abwechs-lungsreichem Layout, schlanken Kolumnen in be-eindruckend eleganter Schrift und reichem farbi-gem Schmuck unterschiedlichen Inhalts und Cha-rakters. Ihre Stifter, wohlhabende Persönlichkeiten, stellten sie ihren Gemeinden zur Verfügung. Anders als andere (wie z.B. der „Wormser Machsor“, der berühmteste) enthält der aus Köln oder Umgebung stammende auch die Pessach-Haggada, die nicht synagogale Festliturgie, vielleicht ein Indiz, dass der Auftraggeber sie zu Pessach im häuslichen Kreise zu gebrauchen beabsichtigte.

Die Kölner jüdische Gemeinde wurde 1424 ver-trieben, ca. zwei Jahrhunderte nach dem Entstehen ihres Machsor. Aber ob er in diesen Jahrhunderten allein in Köln in Gebrauch war - eine der Fragen, die jetzt in den Hintergrund treten können. Ent-scheidend ist: der Machsor Amsterdam ist nun nicht länger mehr allein Machsor Amsterdam und er ist auch nicht allein Machsor Köln – er ist nun beides.

Die jüdische Gemeinde Amsterdam hat ihn dem Joods Historisch Museum und, durch den Landes-verband Rheinland, dem entstehenden Jüdischen Museum Köln „MiQua“ verkauft, für einen niedri-gen einstelligen Millionenbetrag – eine Bereiche-rung für Köln und weit darüber hinaus. Gemeinsam erfreuen sich beide Museen dieser versöhnlichen Verbindung: Jahr für Jahr wechselt der Machsor Amsterdam den Ort: ein Jahr Machsor Köln in Amsterdam, sein Digitalisat Machsor Amsterdam in Köln, und umgekehrt, wieder und wieder. Amen, so sei‘s! Und auch Uri Phoebus-Feivesh Halevi sei Dank – Versöhnung wirke weiter. Vielleicht darf auch bei besonderem Anlass daraus gebetet und ge-sungen werden, an Jom Kippur. mb/as

Aus dem Pijut des Mainzer

Dichters R. Meschullam b.

Kalonymos, um 1000, Morgen-

gottesdienst des 2. Pessach-

Tags. Erste Zeilenhälften zitie-

ren Hohelied 3,11 - 4,11, die

zweite Hälfte reimt auf Wörter

der Wurzel x-L-L wie schaLaL,

chaLaL, mukhLaL usw. Siehe

epidat-Worms, Jahr 1170

(www.steinheim-institut.de/

cgi-bin/epidat?id=wrm-134)

für Jizchak b. Schmuel, ein

Märtyrer, dessen Inschrift von

der Wortkunst dieses (freudi-

gen!) Pijut inspiriert zu sein

scheint.

Abb. aus: A. van der Heide, E.

van Voolen (Hg.),The Amster-

dam Mahzor, Leiden 1989.