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Benjamin Schindler Ästhetikvorschriften im Baurecht als Reservate kommunaler Willkür? Referat für den Zürcherischen Juristenverein, 5. Dezember 2013

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Benjamin Schindler

Ästhetikvorschriften im Baurecht als Reservate kommunaler Willkür? Referat für den Zürcherischen Juristenverein, 5. Dezember 2013

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Übersicht

1. Ästhetikvorschriften: Einführung 2. Ästhetische Einschätzungen: Geschmacksfrage oder fachliches Urteil? 3. Zwingender Vorrang der kommunalen Einschätzung? 4. Möglichkeiten zur Behebung der Rechtsschutzdefizite

Referat Zürcherischer Juristenverein (5.12.2013)

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1960

1980

2000

1. Ästhetikvorschriften: Einführung

Überbauung von 1,1 m2 Kulturland jede Sekunde (CH-Mittelland: 1,6 m2/sec)

Referat Zürcherischer Juristenverein (5.12.2013)

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Baujahr 1975 Baujahr 1979 Baujahr 1991

Baujahr 2006

1. Ästhetikvorschriften: Einführung

Referat Zürcherischer Juristenverein (5.12.2013)

Baujahr 2000

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1. Ästhetikvorschriften: Einführung

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«Bauten, Anlagen und Umschwung sind für sich und in ihrem Zusammenhang mit der baulichen und landschaftlichen Umgebung im ganzen und in ihren einzelnen Teilen so zu gestalten, dass eine befriedigende Gesamtwirkung erreicht wird; diese Anforderung gilt auch für Materialien und Farben.» (§ 238 Abs. 1 Planungs- und Baugesetz des Kantons Zürich; LS 700.1)

«Bauten, Anlagen, Reklamen, Anschriften und Bemalungen dürfen Landschaften, Orts- und Strassenbilder nicht beeinträchtigen. Zur Verhinderung einer störenden Baugestaltung (störende Farb- oder Materialwahl, ortsfremde Bau- oder Dachform und dgl.) können im Baubewilligungsverfahren Bedingungen und Auflagen verfügt oder Projektänderungen verlangt werden.» (Art. 9 Abs. 1 Baugesetz des Kantons Bern; BSG 721.0)

positive ästhetische Generalklausel; Einordungsgebot

negative ästhetische Generalklausel; Verunstaltungsverbot

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1. Ästhetikvorschriften: Einführung

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• Ästhetikvorschriften haben neben den planungsrechtlichen Instrumenten und den baupolizeilichen Vorschriften eine «eigenständige Bedeutung» (vgl. Urteil des Bundesgerichts 1C_434/2012 vom 28. März 2013, E. 3.3)

• Ästhetikvorschriften räumen den rechtsanwendenden Behörden einen «besonderen Ermessensspielraum» ein, insb. mit Blick auf die «Würdigung der massgebenden Sachumstände» (vgl. Urteil des Bundesgerichts 1C_39/2012 vom 2. Mai 2012, E. 2.3.2) − Würdigung des geplanten/zu ändernden Objekts − Würdigung der bestehenden Umgebung − Würdigung des Verhältnisses Objekt/Umgebung

(Beeinträchtigung/Einordnung) • Ästhetikvorschriften räumen den Gemeinden einen Ermessensspielraum

ein, der unter dem Schutz der Gemeindeautonomie steht und von den kantonalen Rechtsmittelinstanzen zu respektieren ist (vgl. Urteil des Bundesgerichts 1C_39/2012 vom 2. Mai 2012, E. 2.3.2)

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1. Ästhetikvorschriften: Einführung

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Beispiel 1: Mehrfamilienhaus in Zürich, Kreis 7 (Kreuzung der Hegibach- und Sonnenbergstrasse); Anwendungsfall von § 238 PBG ZH (Urteil des Bundesgerichts 1C_414/2010 vom 23. Dezember 2010)

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1. Ästhetikvorschriften: Einführung

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Beispiel 2: Plakatanschlag an weissem Staketenzaun; Anwendungsfall von § 238 PBG ZH (Urteil des Bundesgerichts 1C_57/2010 vom 13. September 2010)

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1. Ästhetikvorschriften: Einführung

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Beispiel 3: Beflaggung einer kommerziell genutzten Liegenschaft; Anwendungsfall von § 58 Bau- und Planungsgesetz BS (Einordnungsgebot) (Quelle: BAZ vom 16.09.2013)

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1. Ästhetikvorschriften: Einführung

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Beispiel 4: Fenstersprossen; Anwendungsfall von Art. 84 Abs. 3 Baugesetz AR (Einordnungsgebot für Ortsbilder von nationaler Bedeutung) (Quelle: Merkblatt der kant. Denkmalpflege AR)

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1. Ästhetikvorschriften: Einführung

Referat Zürcherischer Juristenverein (5.12.2013)

Beispiel 5: Kunststoff- und Metallfenster; Anwendungsfall von Art. 10b Baugesetz BE (Veränderungsverbot für denkmalgeschützte Bauten) (Urteil des Bundesgerichts 1C_398/2011 vom 7. März 2012)

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1. Ästhetikvorschriften: Einführung

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Beispiel 6: «recht ausgiebige» Weihnachtsbeleuchtung; Anwendungsfall Art. 11 und 12 USG (Emissionsbegrenzungen) (Urteil des Aargauer Verwaltungsgerichts III/81 vom 18. Dezember 2012; vgl. auch Urteil des Bundesgerichts 1A.202/2006 vom 10. September 2007)

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2. Ästhetische Einschätzungen: Geschmacksfrage oder fachliches Urteil?

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«Im Unterschied zu den entsprechenden negativen Klauseln, welche die Verunstaltung eines Stadt- oder Quartierbildes verbieten, verlangt § 238 PBG positiv eine kubische und architektonische Gestaltung, welche sicherstellt, dass sowohl für die Baute selbst als auch für die bauliche und landschaftliche Umgebung eine befriedigende Gesamtwirkung erreicht wird. […] Allerdings sind die Anforderungen an eine positiv gute Gestaltung zur Sicherstellung einer befriedigenden Gesamtwirkung sorgfältig zu begründen. Es ist nicht einfach auf ein beliebiges subjektives architektonisches Empfinden oder Gefühl abzustellen. Vielmehr ist im Einzelnen darzutun, warum mit einer bestimmten baulichen Gestaltung weder für den Bau selbst noch die Umgebung eine befriedigende Gesamtwirkung erreicht wird.» (Urteil des Bundesgerichts 1C_148/2011 vom 28. Juli 2011, E. 4.2)

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«Die Festlegung ästhetischer Kriterien ist von vornherein schwierig, weil diese von subjektiven Meinungen, Vorlieben und Prägungen abhängig sind. Zudem wird das ästhetische Empfinden durch Sehgewohnheiten bestimmt, die von Faktoren wie Gesellschaft, Mode, Politik, Umwelt beeinflusst werden und deshalb einem ständigen Veränderungsprozess unterliegen. Die ästhetische Beurteilung durch die Rechtsmittelinstanz läuft deshalb stets Gefahr, nicht die richtigere, sondern nur eine andere zu sein. Auch aus diesem Grund kann es nicht genügen, dass die Rechtsmittelinstanz eine vertretbare ästhetische Würdigung bloss durch ihre eigene ersetzt, sondern sie hat darzulegen, dass und inwiefern die ästhetische Würdigung der kommunalen Behörde sachlich nicht mehr vertretbar ist.» (Urteil des Zürcher Verwaltungsgerichts VB.2010.00127 vom 30. Juni 2010, E. 4.3)

2. Ästhetische Einschätzungen: Geschmacksfrage oder fachliches Urteil?

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«[Das] bloße subjektive Gefallen, das auch von dem mehr oder minder entwickelten Geschmack des Individuums abhängig ist, ist aber eben seiner durchaus subjektiven Natur wegen nichts Allgemeingültiges und vor allem nicht etwas für andere, als das empfindende Individuum, Gültiges. Ich kann von niemandem verlangen, dass ihm gefällt, was mir gefällt; aber wenn es ein ästhetisches Urteil gibt […], so kann ich allerdings von jedermann, der ein Verständnis für die betreffende Kunstgattung besitzt, verlangen, dass er dieses Urteil anerkennt, sogar wenn ihm persönlich das Kunstwerk nicht gefallen hat. Es muss aber auch insbesondere dem Kunstkenner möglich sein, dieses als bloßes Wahrnehmungs-Urteil abgegebene Urteil auf seine Elemente hin zu prüfen und auch den logischen Beweis seiner Richtigkeit zu erbringen. Dieser Beweis wird aber in jeder Kunst in ihrer Art immer nur in fachwissenschaftlicher Weise erbracht werden können.» (ALEXANDER REICHEL, Über das ästhetische Urteil, in: Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft, Band 3, Stuttgart 1902, S. 389 ff., 402)

2. Ästhetische Einschätzungen: Geschmacksfrage oder fachliches Urteil?

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Geschmacksfrage fachliches Urteil

subjektiv, emotional geleitet rational geleitet

Ausübung durch Personen mit durchschnittlichem Geschmacksempfinden («Durchschnittsbürger»)

Ausübung durch Fachpersonen mit besonderen Kenntnissen in Architektur, Denkmalpflege, Design, Landschaftsarchitektur etc.

Überprüfung wenig sinnvoll, da ein eindeutiger Prüfungsmassstab fehlt («de gustibus non est disputandum»)

Überprüfung durch fachkundiges (nicht primär juristisches!) Gremium anhand fachlich anerkannter Kriterien möglich

Praxis: permissiver, aber konservativer (?)

Praxis: restriktiver, aber offener für Innovation (?)

2. Ästhetische Einschätzungen: Geschmacksfrage oder fachliches Urteil?

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3. Zwingender Vorrang der kommunalen Einschätzung?

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• Die Gemeindeautonomie (Art. 50 BV; Art. 85 KV) führt zu einer weitgehenden Immunisierung der Entscheide im Rechtsmittelverfahren

• «hinkende» Gewaltenteilung auf kommunaler Ebene mangels kommunaler Justizorgane

• Diskrepanz zum Ausbau des Rechtsschutzes im Zusammenhang mit der Justizreform auf Bundesebene (seit 2007; insb. Art. 29a BV)

• Diskrepanz zum Anspruch auf «wirksamen» Rechtsschutz gemäss Art. 77 Abs. 1 der Zürcher KV (seit 2005)

• Diskrepanz zu § 20 Abs. 1 Bst. c des Zürcher VRG (Rekursgrund der «Unangemessenheit»)

• Diskrepanz zu Gerichtsorganisation im Bauwesen (fachlich und örtlich spezialisierte Abteilungen des Baurekursgerichts)

• Diskrepanz zur Beurteilung ästhetischer Fragen in anderem rechtlichem Kontext (insb. Denkmalpflege und Umweltschutzrecht)

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4. Möglichkeiten zur Behebung der Rechtsschutzdefizite

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• Schaffung von mehr Rechtssicherheit durch normative Verdichtung (Adressat: Gemeinden): - Merkblätter und Leitfäden, welche die Praxis der kommunalen Behörden transparent und vorhersehbar machen

• Kompensation durch hohe organisationsrechtliche Standards auf Gemeindeebene (Adressat: Gemeinden): - u.U. Einsetzung einer besonderen Ortsbildkommission (beratend oder entscheidend; technokratisch oder repräsentativ zusammengesetzt), - u.U. Schaffung kommunaler Rechtsschutzbehörden und/oder Ombudsstellen

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4. Möglichkeiten zur Behebung der Rechtsschutzdefizite

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• Kompensation durch hohe verfahrensrechtliche Standards auf Gemeindeebene (Adressat: Gemeinden und kantonale Rechtsmittelinstanzen): - unbedingte Respektierung der Verfahrensgrundrechte (rechtliches Gehör, Begründungspflicht, Ausstand), - u.U. Einholung von Fachgutachten

• Differenzierte Prüfungsdichte der Rechtsmittelinstanz je nach Interessenabwägung im Einzelfall (Adressat: kantonale Rechtsmittelinstanzen): - Auswirkung der Auflagen für Grundeigentümerinnen und Grundeigentümer bzw. Investierende (Realisierung, Kosten), - Bedürfnis nach autonomer Gestaltung des kommunalen Ortsbilds (ist der kommunale Entscheid wirklich «gemeindefreiheitsbezogen»?)