Bericht aus dem Inneren - Rowohlt · Paul Auster BERICHT AUS DEM INNEREN Aus dem Englischen von...

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Leseprobe aus: Paul Auster Bericht aus dem Inneren Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de. Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Leseprobe aus:

Paul Auster

Bericht aus dem Inneren

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Paul Auster

BERICHT AUS DEMINNEREN

Aus dem Englischen vonWerner Schmitz

Rowohlt Taschenbuch Verlag

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Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel «Report fromthe Interior» bei Henry Holt and Company, New York.

Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag,Reinbek bei Hamburg, März 2016

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH,Reinbek bei Hamburg

«Report from the Interior» Copyright © 2013 by Paul AusterUmschlaggestaltung any.way, Hamburg,

nach der Ausgabe von Faber & Faber, UKUmschlagabbildung privat

Satz aus der Caslon 540 PostScript, PageOne,bei Dörlemann Satz Lemförde

Druck und Bindung CPI books GmbH, Leck, GermanyISBN 978 3 499 26732 1

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INHALT

Bericht aus dem Inneren 7

Zwei Schläge an den Kopf 111

Zeitkapsel 185

Album 291

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BERICHT AUS DEMINNEREN

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AM ANFANG war alles lebendig. Die kleinsten Gegen-stände waren mit pochenden Herzen ausgestattet, undselbst die Wolken hatten Namen. Scheren konnten ge-hen, Telefone und Teekessel waren Cousins, Augen undBrillen waren Brüder. Das Zifferblatt der Uhr war einGesicht, jede Erbse in deinem Napf hatte eine eigenePersönlichkeit, und der Kühlergrill vorn am Auto deinerEltern war ein grinsendes Maul mit vielen Zähnen. Blei-stifte waren Luftschiffe. Münzen waren fliegende Unter-tassen. Die Äste der Bäume waren Arme. Steine konntendenken, und Gott war überall.

Es war nicht schwer zu glauben, dass der Mann im Mondwirklich ein Mann war. Du konntest sein Gesicht vomNachthimmel auf dich hinabblicken sehen, und zweifel-los war es das Gesicht eines Menschen. Nebensächlich,dass dieser Mann keinen Körper hatte – was dich betraf,war er dennoch ein Mann, und die Möglichkeit, dass in all-dem ein Widerspruch stecken könnte, ist dir nie in denSinn gekommen. Zugleich schien es vollkommen glaub-haft, dass eine Kuh über den Mond springen konnte. Unddass Teller und Löffel miteinander Reißaus nahmen.

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Deine frühesten Gedanken, Überbleibsel dessen, wie duals kleiner Junge in dir selbst gelebt hast. Du kannst dichnur an weniges davon erinnern, einzelne Fetzen undBruchstücke, hin und wieder ein kurzes Aufblitzen von Bil-dern, willkürlich und unerwartet – hervorgerufen voneinem Geruch, von einer Berührung, von einem Licht-strahl, wie er im Hier und Jetzt des Erwachsenenlebens aufeinen Gegenstand fällt. Zumindest denkst du, dass du dicherinnerst, du glaubst dich zu erinnern, aber vielleicht erin-nerst du dich gar nicht oder erinnerst dich an eine spätereErinnerung dessen, was du in jener fernen Zeit, die jetztfür dich so gut wie verloren ist, gedacht zu haben glaubst.

Es ist der 3. Januar 2012, auf den Tag genau ein Jahr nach-dem du dein letztes Buch angefangen hast, dein mitt-lerweile fertiges Winterjournal. Über deinen Körper zuschreiben, die mannigfachen Schläge und Freuden aufzu-zählen, die dein physisches Ich erlebt hat, war das eine;etwas ganz anderes, eine vielleicht unlösbare Aufgabedürfte es sein, deine Gedanken zu durchforschen, wie dusie aus deiner Kindheit in Erinnerung hast. Dennochfühlst du dich getrieben, es zu versuchen. Nicht weil duein rares und außergewöhnliches Untersuchungsobjekt zusein glaubst, sondern ganz im Gegenteil, weil du dich füralltäglich hältst, für einen Menschen wie alle anderen.

Dass deine Erinnerungen nicht ganz und gar trügerischsind, beweist dir allein die Tatsache, dass du immer nochgelegentlich in alte Denkmuster verfällst. Spuren davonsind dir bis übers sechzigste Lebensjahr hinaus geblieben,der Animismus der frühen Kindheit ist nicht vollständig

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aus deinem Kopf verbannt, und jeden Sommer liegst duauf dem Rücken im Gras, siehst zu den vorbeitreibendenWolken hinauf und beobachtest, wie sie zu Gesichternwerden, zu Vögeln und anderen Tieren, zu Staaten undLändern und imaginären Königreichen. Immer noch erin-nert dich der Kühlergrill eines Autos an Zähne, und derKorkenzieher ist immer noch eine tanzende Ballerina.Ungeachtet deiner äußeren Erscheinung bist du immernoch, wer du warst, auch wenn du nicht mehr derselbebist.

Beim Nachdenken darüber, worauf du mit alldem hinaus-willst, bist du zu dem Entschluss gekommen, die Grenzevon zwölf nicht zu überschreiten, denn nach dem zwölf-ten Lebensjahr warst du kein Kind mehr, die Pubertätlauerte, erste Schimmer erwachsenen Denkens glommenin deinem Gehirn, du wurdest ein anderer Mensch als daskleine Wesen, dessen Leben ein immerwährendes Ein-tauchen ins Neue war, das täglich etwas zum ersten Maltat, mehrmals täglich, und was dich jetzt beschäftigt, istdieses langsame Fortschreiten von ahnungslos zu nichtmehr ganz so ahnungslos. Wer warst du, kleiner Mann?Wie bist du zu einem Menschen geworden, der denkenkonnte, und wohin hat dein Denken dich geführt, als dudenken konntest? Grabe die alten Geschichten aus,scharre nach allem, was du finden kannst, dann halte dieScherben ans Licht und sieh sie dir an. Tu das. Versuch es.

Natürlich war die Welt eine Scheibe. Wenn jemand dirzu erklären versuchte, die Erde sei eine Kugel, ein Planet,der um die Sonne kreise und mit acht anderen Planeten

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ein sogenanntes Sonnensystem bilde, konntest du nichtverstehen, was der ältere Junge da sagte. Wenn die Erderund wäre, müssten die Menschen jenseits des Äquatorsdoch herunterfallen; undenkbar, dass man sein ganzesLeben auf dem Kopf stehend verbringen konnte. Derältere Junge versuchte dir die Schwerkraft begreiflich zumachen, aber auch das ging über deine Fassungskraft.In deiner Vorstellung stürzten Millionen von Menschenkopfüber durch die Finsternis einer ewigen, alles ver-schlingenden Nacht. Wenn die Erde wirklich rund ist,sagtest du dir, dann wäre der einzig sichere Ort zum Le-ben der Nordpol.

Zweifellos beeinflusst von den Zeichentrickfilmen, diedu so gern gesehen hast, dachtest du, aus dem Nordpolrage eine Stange heraus. So etwas wie diese gestreiften,rotierenden Säulen, die damals noch vor den Friseurlädenstanden.

Sterne hingegen waren ein unlösbares Rätsel. Keine Lö-cher im Himmel, keine Kerzen, keine Glühbirnen, nichts,was mit irgendetwas, das du kanntest, Ähnlichkeit hatte.Die ungeheure Masse der schwarzen Luft über dir, derunermessliche Raum zwischen dir und diesen winzigenLichtpunkten war einfach nicht zu begreifen. Gütig undschön schwebten sie in der Nacht und waren nur da, weilsie da waren, einen anderen Grund gab es nicht. Von Got-tes Hand geschaffen, ja, aber was um alles in der Welthatte er sich dabei gedacht?

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Deine damaligen Lebensverhältnisse: Amerika um dieJahrhundertmitte; Mutter und Vater; Dreiräder, Fahrräderund Handwagen; Radios und Schwarzweißfernseher; Au-tos mit Gangschaltung; zwei kleine Wohnungen, dann einHaus in der Vorstadt; anfangs schwacher Gesundheitszu-stand, dann normale Jungenstärke; staatliche Schule; eineFamilie aus der strebsamen Mittelschicht; ein Städtchenmit fünfzehntausend Einwohnern: Protestanten, Katholi-ken und Juden, fast alle weiß, nur sehr wenige Schwarze,aber keine Buddhisten, Hindus oder Moslems; eine kleineSchwester und acht Cousins und Kusinen; Comichefte;Rootie Kazootie und Pinky Lee; «I Saw Mommy KissingSanta Claus»; Campbell-Suppe, Wonder Bread und Do-senerbsen; frisierte Autos, Zigaretten für dreiundzwanzigCent die Packung; eine kleine Welt innerhalb einer gro-ßen Welt, damals für dich die ganze Welt, da die großeWelt noch nicht sichtbar war.

Bewaffnet mit einer Mistgabel, rennt der wütende Far-mer Gray quer durch ein Kornfeld Felix dem Kater nach.Beide können nicht sprechen, rasend schnelle Musik be-gleitet ihre Taten, und während die zwei sich den nächs-ten Kampf ihres niemals endenden Krieges liefern, bistdu fest davon überzeugt, dass sie wirklich sind, dass diesegrob gezeichneten Schwarzweißfiguren nicht weniger le-bendig sind als du selbst. Sie kommen jeden Nachmittagin einer Fernsehsendung namens Junior Frolics, präsen-tiert von einem Fred Sales, der dir nur als Onkel Fred be-kannt ist, der weißhaarige Hüter dieses Wunderlands, undweil du keine Ahnung hast, wie Zeichentrickfilme herge-stellt werden, keinen Schimmer, wie man Gezeichnetes

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dazu bringt, sich zu bewegen, nimmst du an, es müsseeine Art Alternativuniversum geben, in dem Figuren wieFarmer Gray und Felix der Kater existieren können –nicht als Bleistiftstriche, die über den Bildschirm tanzen,sondern als dreidimensionale, echte Lebewesen, groß wieErwachsene. Dass sie groß sind, verlangt die Logik, denndie Leute, die im Fernsehen zu sehen sind, sind in Wirk-lichkeit immer größer als ihre Abbilder auf dem Bild-schirm, und die Logik verlangt auch, dass sie in ein Alter-nativuniversum gehören, da das Universum, in dem duselber lebst, nicht von Zeichentrickfiguren bevölkert ist,sosehr du dir das auch wünschen magst. Du bist fünfJahre alt, als deine Mutter eines Tages verkündet, siewolle mit dir und deinem Freund Billy das Studio inNewark besuchen, von wo aus Junior Frolics gesendetwird. Du wirst Onkel Fred persönlich kennenlernen, sagtsie, und bei der Sendung mitmachen. Das ist aufregendfür dich, sehr aufregend, aber noch aufregender ist dieVorstellung, dass du nun endlich, nach monatelangemKopfzerbrechen, Farmer Gray und Felix den Kater miteigenen Augen sehen wirst. Endlich wirst du erfahren,wie sie wirklich aussehen. Schon malst du dir eine riesigeBühne aus, auf der das Geschehen sich entfaltet, eineBühne, so groß wie ein Footballfeld, auf der der griesgrä-mige alte Farmer und die schlaue schwarze Katze einan-der bei einem ihrer epischen Scharmützel hin und herjagen. Am ausgemachten Tag jedoch spielt sich nichts soab, wie du es dir vorgestellt hast. Das Studio ist klein, On-kel Fred hat Schminke im Gesicht, man gibt dir eine TütePfefferminzbonbons, damit du während der Sendung waszu knabbern hast, und du nimmst mit Billy und den ande-

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ren Kindern auf der Tribüne Platz. Du schaust auf dashinab, was die Bühne sein sollte, was aber tatsächlich nurder Betonboden des Studios ist, und erblickst dort einenFernsehapparat. Nicht einmal einen besonderen Apparat,sondern einen, der weder größer noch kleiner ist als derbei euch zu Hause. Von Farmer und Kater weit und breitkeine Spur. Onkel Fred begrüßt die Zuschauer und sagtden ersten Zeichentrickfilm an. Und auf dem Bildschirmerscheinen Farmer Gray und Felix der Kater und springennicht anders herum, als sie es immer tun, immer noch indiesem Kasten gefangen, immer noch so klein wie eh undje. Das bringt dich völlig durcheinander. Du überlegst,worin dein Irrtum bestanden hat, welchem Denkfehlerdu aufgesessen bist. Das Wirkliche steht so trotzig im Wi-derspruch zum Vorgestellten, dass du nur denken kannst,man habe dir einen bösen Streich gespielt. Maßlos ent-täuscht, bringst du es kaum über dich, dir die Filme anzu-sehen. Als du hinterher mit Billy und deiner Mutter zumAuto gehst, schmeißt du die Bonbons angewidert weg.

Gras und Bäume, Insekten und Vögel, kleine Tiere unddie Geräusche dieser Tiere, wenn sie unsichtbar durch dieBüsche preschten. Du warst fünfeinhalb, als deine Fami-lie die beengte Gartenwohnung in Union verließ und sichin dem alten weißen Haus an der Irving Avenue in SouthOrange niederließ. Kein großes Haus, aber das erste Haus,das deine Eltern bewohnten, und damit auch dein erstesHaus, und mochte es drinnen auch nicht sehr geräumigsein, erschien der Garten hinterm Haus dir riesengroß,denn eigentlich waren es zwei Gärten, der erste eine kleineGrasfläche unmittelbar hinter dem Haus, begrenzt vom

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halbmondförmigen Blumenbeet deiner Mutter, und weiljenseits der Blumen eine weiße Holzgarage das Grund-stück in zwei eigenständige Gebiete aufteilte, gab es da-hinter einen zweiten Garten, den hinteren Garten, wilderund größer als der vordere, ein abgeschiedenes Reich,dein neues Reich, in dem du intensive Forschungen anFlora und Fauna betriebst. Das einzige Anzeichen mensch-lichen Wirkens dort hinten war der Gemüsegarten deinesVaters, genau genommen ein Tomatengarten, den er baldnach dem Einzug 1952 angelegt hatte; und in den sechs-undzwanzigeinhalb Jahren, die ihm von seinem Lebennoch blieben, verbrachte dein Vater jeden einzelnen Som-mer mit der Pflege seiner Tomaten, der saftigsten undrötesten New-Jersey-Tomaten, die man je gesehen hatte,jeden August große Körbe voller Tomaten, so viele Toma-ten, dass er sie verschenken musste, bevor sie schlechtwurden. Der Garten deines Vaters an der Garage im hin-teren Garten. Sein Stückchen Erde, aber deine Welt – wodu lebtest, bis du zwölf warst.

Wanderdrosseln, Finken, Blauhäher, Pirole, Scharlachtan-garen, Krähen, Spatzen, Zaunkönige, Kardinäle, Amselnund gelegentlich ein Hüttensänger. Vögel kamen dir nichtweniger merkwürdig als Sterne vor, und weil ihr wahresZuhause die Luft war, gehörten Vögel und Sterne für dichzur selben Familie. Die unbegreifliche Gabe zu fliegen,ganz zu schweigen von der Vielfalt leuchtender und mat-ter Farben, das alles war eifriger Beobachtung wert, dochwas dich an ihnen am meisten faszinierte, waren dieLaute, die sie von sich gaben, jede Vogelart in ihrer eige-nen Sprache, ob melodische Lieder oder schroffes, zank-

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süchtiges Geschrei, und früh schon glaubtest du, dass siemiteinander sprachen, dass diese Laute artikulierte Wör-ter einer besonderen Vogelsprache waren, und so wiees Menschen verschiedener Hautfarben gab, die sich inzahllosen Sprachen verständigten, war es auch mit denfliegenden Kreaturen, die manchmal in deinem hinterenGarten auf dem Gras herumhüpften, und die Wanderdros-seln unterhielten sich in einer Sprache, die ihr eigenes Vo-kabular und eigene grammatische Regeln hatte und ihnenso verständlich war wie das Englische dir.

Im Sommer: einen Grashalm der Länge nach spalten unddarauf blasen; abends Glühwürmchen fangen und mit dei-nem magisch leuchtenden Glas umhergehen. Im Herbst:dir die geflügelten Früchte, die von den Ahornbäumenfielen, auf die Nase stecken; Eicheln vom Boden auflesenund so weit werfen, wie du konntest – tief in die Büschehinein und außer Sicht. Eicheln waren von Eichhörnchenbegehrte Delikatessen, und da Eichhörnchen die Tierewaren, die du am meisten bewundertest – ihre Flinkheit!ihre todesverachtenden Sprünge hoch oben im Gezweigder Eichen! –, hast du genau beobachtet, wie sie kleineLöcher ins Erdreich gruben und dort Eicheln versteckten.Deine Mutter erklärte dir, sie sparten sich die Eichelnfür die mageren Wintermonate auf, tatsächlich aber hastdu nicht ein einziges Mal beobachtet, dass ein Eichhörn-chen im Winter eine Eichel ausgrub. Weshalb du zu demSchluss kamst, dass sie nur aus Spaß am Graben ihre Lö-cher aushoben, dass sie aufs Graben versessen waren undeinfach nicht darauf verzichten konnten.

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Bis zu deinem fünften, sechsten, vielleicht sogar siebtenLebensjahr glaubtest du, human being werde wie humanbean ausgesprochen. Es war dir ein Rätsel, warum dieMenschen durch ein so kleines, gewöhnliches Gemüserepräsentiert werden sollten, aber nach einigen geistigenVerrenkungen glaubtest du dein Missverständnis ausge-räumt zu haben und nahmst an, gerade die Kleinheit derBohne mache sie bedeutsam, da wir alle schließlich imMutterleib nicht größer als Bohnen anfingen und dieBohne folglich das ideale, das treffendste Symbol für dasLeben sei.

Der Gott, der überall war und über alles herrschte, warkeine gütige oder liebende Macht, sondern eine des Schre-ckens. Gott war Schuldgefühl. Gott war der Chef derhimmlischen Gedankenpolizei, der unsichtbare Allmäch-tige, der in deinen Kopf eindringen und deine Gedankenbelauschen konnte, der dich mit dir selbst reden hörenund die Stille in Worte übersetzen konnte. Gott sah im-mer zu, hörte immer zu, und folglich musstest du dichallezeit von deiner besten Seite zeigen. Wenn nicht, droh-ten entsetzliche Strafen, furchtbare Qualen, Gefangen-schaft im finstersten Verlies, ein Leben bei Wasser undBrot bis ans Ende deiner Tage. Als du alt genug warst, zurSchule zu gehen, erfuhrst du, wie jeder Akt des Wider-stands niedergeschlagen wurde. Du sahst deine Freundemit List und Tücke die Regeln untergraben, hinter demRücken der Lehrer neue und immer abgefeimtere Mis-setaten aushecken und ein ums andere Mal damit da-vonkommen, wohingegen du, wann immer du der Ver-suchung nachgabst und an diesen Streichen teilnahmst,

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unweigerlich erwischt und bestraft wurdest. Garantiert.Kein Talent für Unfug, leider, dein zorniger Gott hattenur höhnisches Gelächter für dich übrig, und so wurde dirklar, dass du brav sein musstest – sonst setzte es was.

Sechs Jahre alt. Ein Samstagmorgen in deinem Zimmer,du hast dich gerade angezogen und dir die Schuhe zu-gebunden (so ein großer Junge schon, so ein tüchtigerJunge), du bist bereit, nach unten zu gehen und den Tagzu beginnen, du stehst da im Licht des Frühlingsmorgensund empfindest nichts als reines Glück, ein ekstatisches,ungezügeltes Hochgefühl, und im nächsten Augenblicksagst du dir: Es gibt nichts Besseres, als sechs Jahre alt zusein, sechs ist mit Abstand das beste Alter. Du erinnerstdich, das gedacht zu haben, so deutlich, wie du dich erin-nerst, was vor drei Sekunden war, der Gedanke lodertnoch neunundfünfzig Jahre nach diesem Morgen in dir,unvermindert in seiner Klarheit, so hell wie irgendeineandere der tausend oder Millionen oder zehn MillionenErinnerungen, die du dir bewahren konntest. Was war dageschehen, was hatte dieses überwältigende Gefühl aus-gelöst? Unmöglich zu wissen, aber du vermutest, es hattemit der Geburt des Selbstbewusstseins zu tun, mit jenerErfahrung, die Kinder um das sechste Lebensjahr herummachen, wenn die innere Stimme erwacht und mit ihr dasVermögen, einen Gedanken zu denken und sich zu sagen,dass man diesen Gedanken denkt. Unser Leben tritt andieser Stelle in eine neue Dimension ein, denn dies ist derMoment, in dem wir die Fähigkeit erwerben, uns selbstunsere Geschichten zu erzählen, die ununterbrochene Er-zählung zu beginnen, die erst mit unserem Tod endet. Bis

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zu diesem Morgen warst du nur da. Jetzt wusstest du, dassdu da warst. Du konntest darüber nachdenken, dass duam Leben warst, und sobald du das konntest, konntest dudie Tatsache deiner Existenz in vollen Zügen genießen,oder anders ausgedrückt, du konntest dir sagen, wie gut eswar, am Leben zu sein.

1953. Noch immer sechs Jahre alt, ein paar Tage oderWochen nach jener überirdischen Erleuchtung, folgt einweiterer Wendepunkt in deiner inneren Entwicklung,zu dem es in einem Filmtheater irgendwo in New Jerseykam. Bis dahin warst du erst zwei- oder dreimal im Kinogewesen, in Zeichentrickfilmen für Kinder (Pinocchio undCinderella fallen dir ein), doch Filme mit richtigen Men-schen kanntest du nur aus dem Fernsehen, hauptsäch-lich billige Western aus den Dreißigern und Vierzigern,Hopalong Cassidy, Gabby Hayes, Buster Crabbe und Al«Fuzzy» St. John, plumpe Ballerfilme, wo die Heldenweiße Hüte und die Schurken schwarze Schnauzbärtetrugen, Filme, an denen du großes Vergnügen hattest undan die du leidenschaftlich glaubtest. Und dann, irgend-wann nach deinem sechsten Geburtstag, wurdest du –zweifellos von deinen Eltern, auch wenn du dich nichtdaran erinnerst, dass sie dabei waren – in einen Film mit-genommen, der abends gezeigt wurde. Es war dein ers-tes Filmerlebnis, das keine Samstagsmatinee war, keinDisney-Zeichentrickfilm, kein verstaubter Schwarzweiß-western – sondern ein Film in Farbe und für Erwach-sene produziert. Du erinnerst dich an die enorme Größedes überfüllten Saals, das unheimliche Gefühl, im Dun-keln zu sitzen, als das Licht ausging, eine Mischung aus

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Vorfreude und Unbehagen, als seist du zugleich da undnicht da, nicht mehr in deinem Körper, so wie man gefan-gen in einem Traum vor sich selbst verschwindet. Gezeigtwurde Krieg der Welten nach dem Roman von H. G. Wells,damals als bahnbrechend auf dem Gebiet der Spezial-effekte gefeiert – raffinierter, überzeugender, revolutionä-rer als alles, was bis dahin auf der Leinwand zu sehen war.So hast du es später gelesen, aber 1953 wusstest du davonnichts, da warst du bloß ein Sechsjähriger, der ein Heervon Marsmenschen die Erde erobern sah, und auf dergrößten aller großen Leinwände vor dir leuchteten dieFarben intensiver als alle Farben, die du jemals gesehenhattest, so funkelnd, so klar, so grell, dass dir die Augenwehtaten. Steinrunde, metallisch glänzende Raumschiffeschwebten aus dem Nachthimmel herab, einer nach demanderen klappten die Deckel dieser Flugmaschinen auf,und langsam stieg aus dem Innern ein Marsianer empor, einübernatürlich großes, insektenhaftes Wesen mit dünnenÄrmchen und gruselig langen Fingern. Es richtete denBlick auf einen Erdling, fixierte ihn mit seinen groteskvorquellenden Augen, und plötzlich flammte ein hellesLicht auf. Sekunden danach war der Erdling verschwun-den. Ausgelöscht, entmaterialisiert, nur mehr ein Schattenauf dem Erdboden, und dann schwand auch noch dieserSchatten, als sei dieser Mensch nie da gewesen, als habeer nie gelebt. Seltsamerweise erinnerst du dich nicht dar-an, Angst gehabt zu haben. Faszination, das bezeichnetvielleicht am ehesten, was du empfandest, heilige Scheu,als habe der Anblick dich in einen Zustand dumpfer Ver-zückung versetzt. Dann geschah etwas Schreckliches, et-was viel Schrecklicheres als der Tod oder die Auslöschung

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all der Soldaten, die versucht hatten, die Marsianer mit ih-ren nutzlosen Waffen zu töten. Vielleicht hatten dieseKämpfer sich geirrt, und die Invasoren waren gar nicht mitfeindlichen Absichten gekommen; vielleicht verteidigtensich die Marsianer nur, wie alle anderen Lebewesen estun, wenn sie angegriffen werden. Auf jeden Fall warst dubereit, im Zweifel zu ihren Gunsten zu entscheiden, dennes schien dir unrecht, dass die Menschen ihre Angst vordem Unbekannten so schnell in Gewalt umschlagen lie-ßen. Dann kam der Mann des Friedens. Er war der Vaterder Hauptdarstellerin, der schönen jungen Freundin oderFrau des Hauptdarstellers, und dieser Vater war Pastoroder Pfarrer oder etwas Ähnliches, ein Mann Gottes, derden Umstehenden mit ruhiger, besänftigender Stimmeriet, sich den Fremden in Freundschaft zu nähern, ihnenmit der Liebe zu Gott im Herzen zu begegnen. Mit gutemBeispiel schritt der tapfere Pastor-Vater, eine Bibel in dereinen Hand und ein Kreuz in der anderen, auf eins derRaumschiffe zu und sagte den Marsianern, dass sie nichtszu fürchten hätten, dass wir Erdenbewohner mit allen imUniversum in Eintracht leben wollten. Seine Lippen beb-ten vor Erregung, seine Augen leuchteten von der Kraftseines Glaubens, und als er nur noch wenige Schritte vondem Schiff entfernt war, tat sich die Klappe auf, ein stock-dünner Marsianer erschien, und ehe der Pastor noch einenSchritt weiter machen konnte, flammte ein Blitz auf, undder Überbringer der frohen Botschaft war nur noch einSchatten. Und gleich darauf nicht einmal mehr ein Schat-ten – restlos verschwunden. Gott, der Allmächtige, besaßkeine Macht. Im Angesicht des Bösen war Gott so hilfloswie die hilflosesten Menschen, und jene, die an ihn glaub-

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ten, waren dem Untergang geweiht. Das war die Lektion,die dich der Krieg der Welten an jenem Abend lehrte. EinSchock, von dem du dich nie mehr ganz erholt hast.

Andern verzeihen, andern immer verzeihen – aber nie dirselbst. Bitte und Danke sagen. Die Ellbogen nicht auf denTisch stützen. Nicht angeben. Nie hinter jemandes Rü-cken etwas Unfreundliches über ihn sagen. Nicht verges-sen, die schmutzigen Sachen in den Wäschekorb zu legen.Licht ausmachen, bevor du aus dem Zimmer gehst. DenLeuten in die Augen sehen, wenn du mit ihnen sprichst.Deinen Eltern nicht widersprechen. Die Hände mit Seifewaschen und die Fingernägel schrubben. Nicht lügen,nicht stehlen, nicht deine kleine Schwester schlagen. Auffesten Händedruck achten. Um fünf zu Hause sein. Vordem Schlafengehen die Zähne putzen. Und auf keinenFall vergessen: nicht unter Leitern durchgehen, schwarzeKatzen meiden und nie auf die Risse im Bürgersteig treten.

Du hast dich um die Unglücklichen gesorgt, die Unter-drückten, die Armen, und auch wenn du zu jung warstund nichts von Politik und Wirtschaft wissen konntest,nicht erfassen konntest, wie die Kräfte des Kapitalismusdiejenigen erdrücken, die wenig oder nichts besitzen,brauchtest du nur den Kopf zu heben und dich umzu-schauen, um zu erkennen, dass die Welt ungerecht war,dass manche Menschen mehr litten als andere, dass dasWort gleich in Wirklichkeit ein relativer Ausdruck war.Wahrscheinlich kam das von deinem früh erlangten Ein-blick in die von Schwarzen bewohnten Slums von Newarkund Jersey City: die Freitagabende, an denen du mit dei-

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nem Vater die Runde machtest, wenn er bei seinen Mie-tern die Miete kassierte, der Junge aus der Mittelschicht,der die seltene Chance hatte, die Wohnungen der Armenund der hoffnungslos Armen zu betreten, die Umständeder Armut zu sehen, zu riechen, die müden Frauen undihre Kinder, nur ab und zu mal ein Mann in Sicht, undweil die schwarzen Mieter deines Vaters immer außeror-dentlich nett zu dir waren, hast du dich gefragt, warumdiese guten Leute so wenig zum Leben hatten, so viel we-niger als du, du in deinem behaglichen Vorstadthaus undsie in ihren kahlen Zimmern mit kaputten oder gar keinenMöbeln. Für dich war das keine Frage der Rasse, damalsjedenfalls nicht, denn du hast dich unter den schwarzenMietern deines Vaters wohl gefühlt und dich nicht dafürinteressiert, ob ihre Haut schwarz oder weiß war, nein,am Ende war es nur eine Frage des Geldes, nicht genugGeld zu haben, nicht die Art von Arbeit zu haben, die ge-nug einbrachte, um in einem Haus wie unserem wohnenzu können. Später, als du ein wenig älter warst und an-fingst, Bücher über die Geschichte Amerikas zu lesen, ineinem Augenblick der Geschichte, der mit dem Aufkei-men der Bürgerrechtsbewegung zusammenfiel, konntestdu wesentlich besser verstehen, was du als Kind mit sechsoder sieben gesehen hattest, aber damals, in den dunklenTagen deines erwachenden Bewusstseins, hast du nichtsverstanden. Zu manchen war das Leben freundlich, zu an-deren grausam, und das tat dir im Innersten weh.

Es gab auch die hungernden Kinder in Indien. Das war ab-strakter für dich, schwieriger zu begreifen, weil weiter wegund fremd, regte aber gleichwohl deine Phantasie mäch-

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tig an. Halbnackte Kinder, die nichts zu essen hatten;stockdünne Gliedmaßen, ohne Schuhe, gekleidet in Lum-pen, irrten sie durch riesige übervölkerte Städte und bet-telten um ein Stückchen Brot. So sahst du es vor dir, wenndeine Mutter von diesen Kindern sprach, was sie aus-schließlich beim Essen tat; der Hinweis auf die armenunterernährten indischen Kinder war in den 1950ern gän-giger Trick aller amerikanischen Mütter, die eigenen Kin-der dazu zu bringen, ihren Teller leerzuessen, und wieoft hast du dir gewünscht, du könntest ein indisches Kindzu euch nach Hause zum Essen einladen, denn du selbstwarst als Kind ein sehr wählerischer Esser, zweifellosFolge einer gestörten Verdauung, mit der du dich bis zumAlter von dreieinhalb oder vier zu plagen hattest, undmanche Sachen bekamst du einfach nicht hinunter, dirwurde schon von ihrem Anblick schlecht, und jedes Mal,wenn du nicht aufessen konntest, was man dir hingestellthatte, dachtest du voller Schuldgefühle an die Jungen undMädchen in Indien.

Du kannst dich nicht erinnern, dass man dir vorgelesenhat, du kannst dich auch nicht erinnern, wie du lesen ge-lernt hast. Bestenfalls weißt du noch, wie du mit deinerMutter über einige deiner Lieblingsfiguren gesprochenhast, Figuren aus Büchern, Büchern, die sie dir also vorge-lesen haben muss, aber du hast keine Erinnerung daran,diese Bücher in der Hand gehalten zu haben, keine Erin-nerung daran, neben deiner Mutter zu sitzen oder zu lie-gen, während sie auf die Bilder zeigte und die Geschich-ten vorlas. Du kannst ihre Stimme nicht hören, du kannstihren Körper nicht neben deinem spüren. Wenn du dich

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sehr anstrengst, wenn du die Augen lange genug zu-machst und dich in eine Art Halbtrance versetzt, kannstdu immerhin einen Hauch der Wirkung heraufbeschwö-ren, die gewisse Märchen auf dich ausübten, vor allemHänsel und Gretel, was dir am meisten Angst machte, aberauch Rumpelstilzchen und Rapunzel, dazu ein paar vageErinnerungen an Bilder von Dumbo, Pu dem Bären undeinem kleinen Dalmatiner namens Peewee. Aber die Ge-schichte, die dich am meisten faszinierte, die du heutenoch mehr oder weniger auswendig kennst, was bedeutet,dass sie dir viele Dutzend Mal vorgelesen worden seinmuss, war Peter Hase, das Märchen vom armen übermü-tigen Peter, dem ungezogenen Sohn der alten Frau Hase,und seinen Missgeschicken in Herrn Gregersens Gemü-segarten. Während du jetzt in dem Buch herumblätterst,staunst du, wie vertraut es dir ist, jedes Detail jeder Zeich-nung, fast jedes einzelne Wort der Erzählung, insbeson-dere die schaurigen Worte der alten Frau Hase auf Seitezwei: «‹Passt auf, meine Lieben›, sagte die alte Frau Haseeines Morgens, ‹ihr könnt aufs Feld gehen oder den Weghinunter. Aber geht nicht in Herrn Gregersens Garten, woeurem Vater das Unglück passiert ist. Frau Gregersen hatFleischpastete aus ihm gemacht.›» Kein Wunder, dass dieGeschichte eine solche Wirkung auf dich hatte. So char-mant und idyllisch die Szenerie sein mag, Peter hat sichnicht zu einem unbeschwerten Nachmittagsspaziergangaufgemacht. Er schleicht sich in Herrn Gregersens Gartenund riskiert damit wagemutig seinen Tod, riskiert einfäl-tig seinen Tod, und während du das Buch jetzt genauerliest, kannst du dir vorstellen, wie sehr du um Peters Le-ben gefürchtet haben musst – und wie ungeheuer erleich-

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tert du warst, dass er entkommen konnte. Eine Erinne-rung, die keine Erinnerung ist und doch in dir weiterlebt.Als vor vierundzwanzig Jahren deine Tochter geborenwurde, bekam sie unter anderem eine Porzellantasse mitzwei Abbildungen aus Beatrix-Potter-Büchern geschenkt.Irgendwie hat diese Tasse die Gefahren ihrer Kindheitüberlebt, und nun trinkst du seit fünfzehn Jahren mor-gens deinen Tee daraus. Nur noch ein Monat bis zu deinemfünfundsechzigsten Geburtstag, und jeden Morgen trinkstdu aus einer Kindertasse, einer Peter-Hase-Tasse. Dusagst dir, du ziehst diese Tasse allen anderen im Haus vor,weil sie die perfekte Größe hat. Kleiner als ein Becher,größer als eine herkömmliche Teetasse, mit schön ge-schwungenem Rand, der sich angenehm an deine Lippenschmiegt und den Tee, ohne zu kleckern, in deinen Mundbefördert. Eine praktische Tasse, eine unentbehrlicheTasse, dennoch wäre es nicht die Wahrheit, wenn du be-haupten würdest, die Bilder darauf seien dir gleichgültig.Es macht dir Spaß, den Tag mit Peter Hase zu beginnen,mit deinem alten Freund aus frühester Kindheit, aus einerZeit, die so fern ist, dass keine bewussten Erinnerungendamit verbunden sind, und dir graut vor dem Morgen, wodir die Tasse aus der Hand gleiten und zerbrechen wird.

Irgendwann in der Pubertät hat deine Mutter dir erzählt,dass du bereits mit drei oder vier Jahren die Buchstabendes Alphabets unterscheiden konntest. Du weißt nicht,ob man dieser Behauptung glauben kann, da deine Mut-ter häufig übertrieb, wenn sie von deinen kindlichen Fer-tigkeiten sprach, und die Tatsache, dass du zu Beginndes ersten Schuljahres in die mittlere Lesegruppe kamst,

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scheint darauf hinzudeuten, dass du nicht so frühreif ge-wesen bist, wie deine Mutter sich einbildete. Da läuftDick. Da läuft Jane. Du warst sechs Jahre alt, und in dei-ner lebhaftesten Erinnerung aus dieser Zeit sitzt du aneinem Pult, das abseits von denen der anderen Kinderstand, einem Einzelpult ganz hinten im Klassenzimmer,wohin man dich wegen schlechten Betragens zeitweiligverbannt hatte (entweder hattest du, statt still zu sein, mitjemandem geschwätzt, oder es war eine der vielen Stra-fen, die dir dein mangelndes Talent für Unfug einge-bracht hatte), und während du an deinem einsamen Pultin einem Buch blättertest, das in den 1920ern gedrucktworden sein musste (die Jungen auf den Zeichnungentrugen Kniebundhosen), kam die Lehrerin zu dir, MissDorsey oder Dorsi oder vielleicht Mrs. Dorsey oder Dorsi,eine freundliche junge Frau mit dicken, sommersprossi-gen Armen, und legte dir eine Hand auf die Schulter, einesanfte, geradezu zärtliche Berührung, die dich erst über-raschte, sich dann aber ganz wunderbar anfühlte, beugtesich herunter und flüsterte dir ins Ohr, sie sei mit deinenFortschritten zufrieden, deine Leistungen hätten sichenorm gesteigert und deshalb habe sie beschlossen, dichin die obere Lesegruppe zu versetzen. Offenbar bist dualso besser geworden. Welche Probleme auch immer du inden ersten Wochen des Schuljahres hattest, sie lagen jetzthinter dir, und dennoch kannst du, wenn du die einzigeandere deutliche Erinnerung aus jenen Tagen des Lesen-und Schreibenlernens heraufholst, im Grunde nur ver-blüfft den Kopf schütteln. Du weißt nicht, ob dieser Vor-fall sich vor oder nach deiner Beförderung in die höchsteLesegruppe zutrug, aber du weißt noch genau, dass du

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an jenem Morgen ein wenig zu spät zur Schule kamst,weil du beim Arzt gewesen warst, und dass die ersteStunde bereits angefangen hatte. Du schlüpftest auf dei-nen angestammten Platz neben Malcolm Franklin, einengroßen, schwergewichtigen Jungen mit außerordentlichbreiten Schultern, der angeblich mit Benjamin Franklinverwandt war, ein Fakt oder Nichtfakt, der dich immerbeeindruckt hat. Miss oder Mrs. Dorsey-Dorsi stand vornan der Tafel und brachte der Klasse bei, wie man denBuchstaben w schreibt. Alle Jungen und Mädchen saßenmit einem Bleistift in der Hand über ihr Pult gebeugt,ahmten aufmerksam die Lehrerin nach und malten eineReihe von w in ihr Heft. Als du nach links schautest, umzu sehen, wie Benjamin Franklins Verwandter die Auf-gabe bewältigte, stelltest du belustigt fest, dass dein Klas-senkamerad zwischen seinen w nicht absetzte und sieeinzeln schrieb (wwww), sondern alle miteinander ver-band (wwww). Der Anblick dieses verwegen verlängertenBuchstabens faszinierte dich, und obwohl du ganz genauwusstest, dass ein richtiges w nur vier Striche hat, befan-dest du auf der Stelle, dass Malcolms Version viel schönersei, und statt die Aufgabe korrekt zu erledigen, hast dudich ans Beispiel deines Freundes gehalten, die Übungmutwillig sabotiert und damit ein für alle Mal und trotz al-ler bisherigen Fortschritte bewiesen, dass du immer nochein Schwachkopf sondergleichen warst.

Es gab eine Zeit in deinem Leben, vielleicht vor sechs,vielleicht nach sechs – die Chronologie ist verschwom-men –, da hast du geglaubt, das Alphabet enthalte zweizusätzliche Buchstaben, zwei geheime Buchstaben, die

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nur dir allein bekannt seien. Ein seitenverkehrtes L: .Und ein auf dem Kopf stehendes A: .

Das Beste an deiner Grundschule, die vom Kindergar-ten bis zum Ende der sechsten Klasse dauerte, war, dasses niemals Hausaufgaben gab. Die Leiter der örtlichenSchulbehörde waren Anhänger von John Dewey, demPhilosophen, dessen liberale, humane Einstellung zurkindlichen Entwicklung die in Amerika herrschendenLehrmethoden verändert hatte, und du warst ein Nutz-nießer von Deweys Lebensweisheit, ein Junge, der nachder letzten Klingel bis zum Abend tun und lassen konnte,was er wollte, mit Freunden spielen, nach Hause ge-hen und lesen, gar nichts tun. Du bist diesen namenlosenHerrschaften unendlich dankbar, dass sie deine Kindheitunversehrt gelassen und dich nicht mit sinnlosen Aufga-ben überhäuft haben, dass sie so klug waren zu begrei-fen, dass Kindern nicht zu viel zugemutet werden darf,dass man sie auch einmal sich selbst überlassen muss. Siehaben bewiesen, dass alles, was zu lernen ist, auf demSchulgelände gelernt werden kann, denn dir und deinenKlassenkameraden wurde unter diesem System eine guteGrundschulausbildung zuteil, und wenn die Lehrer viel-leicht nicht immer die phantasievollsten waren, warensie doch kompetent und brachten euch Lesen, Schrei-ben und Rechnen fürs ganze Leben bei, und wenn duan deine eigenen zwei Kinder denkst, die in einer, wasdie Pädagogik betraf, wirren und unruhigen Epoche auf-wuchsen, erinnerst du dich daran, wie sie sich Abend fürAbend mit zermürbenden, unerträglich langweiligen Haus-aufgaben herumschlagen mussten, wobei sie nicht sel-

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ten, um überhaupt fertig zu werden, die Hilfe ihrer El-tern brauchten, und ein Jahr ums andere hattest du, wennsie mit hängenden Schultern dasaßen und die Augenkaum noch offen halten konnten, Mitleid mit ihnen undfandest es traurig, dass so viele Stunden ihres jungen Le-bens einer zum Scheitern verurteilten Idee zum Opferfielen.

Es gab nur wenige Bücher in deinem Haus. Die Schul-bildung deiner Eltern war mit dem Abschluss der High-school zu Ende gewesen, und beide hatten kein Interesseam Lesen. Jedoch gab es in deiner Stadt eine ordentlicheBücherei, und Woche für Woche gingst du hin, um zwei,drei oder vier Bücher auszuleihen. Mit acht fingst du an,Romane zu lesen, größtenteils mittelmäßige, Geschich-ten, wie sie in den frühen fünfziger Jahren für jungeLeute geschrieben wurden, zahllose Bände der Hardy-Boys-Reihe zum Beispiel, die, wie du später erfuhrst, voneinem Mann erfunden wurde, der in Maplewood lebte,deiner Nachbarstadt, am besten aber gefielen dir Ro-mane, in denen es um Sport ging, insbesondere Clair BeesChip-Hilton-Reihe mit den Highschool-Abenteuern desheldenhaften Chip und seines Freundes Biggie Cohen,die einen knappen Wettstreit nach dem anderen gewan-nen, Spiele, die immer durch einen Touchdown in letz-ter Sekunde, einen Korbwurf übers halbe Feld mit derSchlusssirene oder einen Homerun am Ende des elften In-nings entschieden wurden. Du erinnerst dich auch an Fly-ing Spikes, einen spannenden Roman über einen alternden,abgehalfterten ehemaligen Major-League-Spieler, der esin der Minor League noch einmal wissen will, und unzäh-

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lige Sachbücher über deinen Lieblingssport, zum BeispielMy Greatest Day in Baseball und Bücher über Babe Ruth,Lou Gehrig, Jackie Robinson und den jungen Willie Mays.Fast ebenso viel Freude wie Romane vermittelten dir Bio-graphien, die du mit leidenschaftlichem Interesse gelesenhast, besonders welche über Gestalten der fernen Vergan-genheit, Abraham Lincoln, Jeanne d’Arc, Louis Pasteurund Benjamin Franklin, den auf vielen Feldern talentier-ten Vorfahren oder Nichtvorfahren deines ehemaligenKlassenkameraden. Landmark Books – auch an die erin-nerst du dich gut, eure Grundschulbücherei war voll da-von –, aber noch fesselnder waren die Bücher von BobbsMerrill mit den orangefarbenen Einbänden, eine riesigeSammlung von Biographien, nüchtern illustriert mit sche-renschnittartigen Silhouetten. Du hast Dutzende davongelesen, wenn nicht Hunderte. Und dann das Buch, dasdie Mutter deiner Mutter dir geschenkt hatte und das baldzu deinem kostbarsten Besitz wurde, ein dicker Band mitdem Titel Of Courage and Valor (geschrieben von einemAutor namens Strong und erschienen 1955 bei der HartBook Company), eine Sammlung von über fünfzig Kurz-biographien edler, tugendhafter Toter, unter anderemDavid (wie er Goliath besiegt), Königin Esther, Horatiusan der Brücke, Androklus und der Löwe, Wilhelm Tell,John Smith und Pocahontas, Sir Walter Raleigh, NathanHale, Sacajawea, Simón Bolívar, Florence Nightingale,Harriet Tubman, Susan B. Anthony, Booker T. Washing-ton und Emma Lazarus. Zum achten Geburtstag schenktedir dieselbe heißgeliebte Großmutter eine vielbändigeAusgabe der Werke von Robert Louis Stevenson. DieSprache von Entführt und Die Schatzinsel war zu schwierig

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für dich in diesem Alter (du erinnerst dich zum Beispiel,wie du bei der Lektüre über das Wort fatigue gestolpert bistund es fat-a-gew ausgesprochen hast), aber du kämpftestdich mannhaft durch das nicht so umfangreiche Dr. Jekyllund Mr. Hyde, auch wenn das meiste davon weit über dei-nen Verstand ging. Das viel einfachere Im Versgarten hin-gegen hast du geliebt, und weil du wusstest, dass Steven-son diese Gedichte als erwachsener Mann geschriebenhatte, beeindruckte es dich, wie geschickt und überzeu-gend er sich das ganze Buch hindurch der ersten Personbediente und so tat, als schreibe er aus dem Blickwinkeleines kleinen Kindes, und jetzt begreifst du plötzlich, dassdies dein erster Blick ins verborgene Räderwerk der lite-rarischen Schöpfung war, jenen geheimnisvollen Prozess,der es einem ermöglicht, sich in die Gedankenwelt einesanderen zu versetzen. Im Jahr darauf hast du dein erstesGedicht geschrieben, direkt inspiriert von Stevenson,denn er war der einzige Dichter, den du gelesen hattest,ein kläglicher Krümel getrockneten Nasenschleims, dasmit einem Zweizeiler begann: Frühling ist hier/Jetzt jubelnwir! Den Rest hast du zum Glück vergessen, du weißt nurnoch, welch ein Glücksgefühl dich durchströmte, währenddu das schlechteste Gedicht aller Zeiten schriebst, denn eswar in der Tat Frühling, und als du allein über das frischerwachende Gras im Grove Park gingst und die Wärmeder Sonne auf deinem Gesicht spürtest, warst du über-schwänglicher Stimmung und verspürtest das Bedürfnis,diesen Überschwang in Worte zu fassen, in Geschriebenes,das sich reimte. Ein Jammer, dass deine Reime so dürftigwaren, aber egal, was damals zählte, war der Drang, derVersuch, das gesteigerte Gefühl deiner selbst, und wie tief

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du empfandest, dass du ein Teil der Welt um dich herumwarst, während dein Bleistift übers Papier kroch und dudeine elenden Verse von dir gabst. Im selben Frühling hastdu dir zum ersten Mal im Leben ein Buch von deinemeigenen Geld gekauft. Du hattest schon seit Wochen oderMonaten ein Auge darauf geworfen, aber es dauerte eineWeile, das nötige Geld zusammenzusparen (3,95 Dollar,wie dir jetzt wieder einfällt), bis du schließlich die dickeModern-Library-Ausgabe von Edgar Allan Poes sämt-lichen Gedichten und Erzählungen nach Hause tragenkonntest. Auch Poe war zu schwierig für dich, zu überladenund zu komplex für das Gehirn eines Neunjährigen, undso konntest du zwar nur einen kleinen Bruchteil davon ver-stehen, liebtest aber den Klang der Worte in deinem Kopf,die Dichtheit der Sprache, die exotische Düsternis, diePoes lange, barocke Sätze durchzog. Nach einem Jahr wa-ren die meisten Schwierigkeiten verschwunden, und mitzehn machtest du deine nächste wichtige Entdeckung:Sherlock Holmes. Holmes und Watson, die teuren Gefähr-ten deiner einsamen Stunden, jene eigenartige Paarungvon trägem Menschenverstand und exzentrischem Ge-nie, und so eifrig und aufmerksam du die Einzelheiten ih-rer zahlreichen Fälle verfolgtest, entzückten dich docham meisten ihre Gespräche, das erfrischende Hin und Herso verschiedener Geister, insbesondere ein bestimmterWortwechsel verblüffte dich so sehr, warf alles, was mandich über die Welt zu denken gelehrt hatte, dermaßenüber den Haufen, dass diese Offenbarung dich noch jah-relang beunruhigte und beschäftigte. Watson, der Pragma-tiker und Wissenschaftler, erzählt Holmes vom Sonnen-system – von demselben Sonnensystem, das dir als Kind

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so große Verständnisschwierigkeiten gemacht hatte –, er-klärt ihm, dass die Erde und die anderen Planeten inhöchst geordneter Form um die Sonne kreisen, undHolmes, der arrogante und unberechenbare Alleswisser,erwidert prompt, er habe kein Interesse daran, derlei zulernen, solches Wissen sei völlige Zeitverschwendung, erwerde alles in seinen Kräften Stehende tun, zu vergessen,was er gerade gehört habe. Du warst ein zehnjähriger Viert-klässler, als du diese Stelle gelesen hast, vielleicht auch einelfjähriger Fünftklässler, und hattest bis dahin noch nie-mals irgendwen gegen das Lernen argumentieren hören,erst recht niemanden von Holmes’ Format, der als einerder größten Denker des Jahrhunderts galt und hier seinemFreund erklärt, es sei ihm gleichgültig. In deiner Welt erwar-tete man, dass nichts dir gleichgültig sei, dass du an allenBereichen menschlichen Wissens Interesse zeigst, Mathe-matik ebenso wie Schönschreiben lernst, Musik eben-so wie Naturwissenschaften, und dein vielbewunderterHolmes sagte nein, manche Dinge seien wichtiger als an-dere und die unwichtigen Dinge sollte man wegwerfenund vergessen, da ihr einziger Zweck darin bestehe, einemden Kopf mit sinnlosen Nichtigkeiten zu verstopfen. Alsdu einige Jahre später das Interesse an Naturwissenschaf-ten und Mathematik verlorst, musstest du an Holmes’Worte denken – und benutztest sie, um dein mangelndesInteresse an diesen Gegenständen zu rechtfertigen. Zwei-fellos eine idiotische Haltung, aber du hast sie dir zu eigengemacht. Vielleicht ein weiterer Beweis dafür, dass Lite-ratur tatsächlich den Verstand vergiften kann.