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Brückmann/Nißin g /Sommerlvan Toor, Vom »hochgemuten, voreiligen Griff nach der Wahrheit« 483 Bericht Vom »hochgemuten, voreiligen Griff nach der Wahrheit« Genese, Korrektur und Prävention von Fehlurteilen im Strafprozess 6. Bielefelder Verfahrenstage von Johannes Brückmann, Oliver Ning, Janita Sommer und Dave van Toor In jedem Rechtssystem kann es zu Fehlurteilen kommen. So ist es nicht verwunderlich, dass auch das deutsche Justizsystem - dies hat die Vergangeeit mit zum Teil spektakulären Fällen gezeigt - nicht vor Fehlentscheidungen gefeit ist. Die wissenschaftliche Auseinan- dersetzung mit dieser Thematik steht jedoch noch am Anfang und hat bislang lediglich unsystematisch und selektiv stattgefunden. Angesichts dessen erscheint es nach " ollzieh- bar, dass Ergebnisse der Fehlurtesforschg bisher eher wenig Einfluss auf die alltägliche Spruchpraxis der Strafgerichte gewonnen haben. Mit dem Ziel, einen gegenläufigen Im p uls zu setzen, fanden am 23. und 24.11.2017 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld die nunmehr 6. Bielefelder Ver- fahrenstage 1 statt. Die Veranstaltung, an der 120 Wissenschaftler/-innen und Praktiker/-in- nen aus dem In- und Ausland teilnahmen, verknüpfte die Perspektiven der Rechtswissen- schaft, der Kriminologie, der Soziologie und der Psychologie zu einem interdisziplinären Diskurs und verfolgte das Ziel, eine offene Bestandsaufnahme des Forschungsstandes durch- zuführen. Auf der Grundlage einer vertieften Analyse der bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse sollten Anstöße für eine Auseinandersetzung mit der Problematik von Fehl- urteilen in Theorie und Justizpraxis entwickelt werden. Im Anschluss an die Eröffnung und Begrüßung durch die Veranstalter/-innen Stephan Barton (Bielefeld), Marieke Dubelaar (Leiden, NL), Ralf Kölbel (München) und Michael Lindemann (Bielefeld) leitete Henning Radtke (Karlsruhe) die Verfahrenstage in seinem Er- öffnungsvortrag t der elementaren Frage ein, wann ein Urteil richtig ist. Dazu benannte er vier Voraussetzungen: Die festgestellten Tatumstände müssten mit dem Lebenssachverhalt übereinstimmen und auf einer nachvollziehbaren und plausiblen Würdigung beruhen (1). Darüber hinaus dürften keine Rechtsfehler gemacht werden, die sich auf die Beurteilung der Zuverlässigkeit der Feststellungen beziehen (2). Dazu gehöre auch, dem Angeklagten seine Mitwirkungsrechte vollumfänglich einzuräumen (3). Zuletzt müsse auch die rechtliche Subsumtion richtig sein (4). Ein gerechtes Urteil sei nur dann möglich, wenn der wahre Sachverhalt ermittelt werden konnte. Schließlich sei der Staat nur dann zur strafrechtlichen Sanktion berechtigt, wenn der Verurteilte tatsächch in der Vergangenheit einen schuldhaft vorwerfbaren Verstoß gegen materiell-rechtliche Normen begangen habe. Ob eine Ent- sprechung der festgestellten tumstände mit dem Lebenssachverhalt vorliegt, könne jedoch niemals unmittelbar festgestellt werden, deshalb gebe es Instrumentarien, die Richtigkeit garantieren sollten. Überprüft werden könne daher nur, ob der Richter entsprechend dieser Instrumentarien vorgegangen sei. Im folgenden Vortrag näherte sich Jörg-Martin fehle (Göttgen) Fehlurteilen und Justiz- irrtümern aus kriminologischer Perspektive und beleuchtete auf rechtstatsächlicher Ebene In der Reihe »Interdiszi p linäre Studien zu Recht und Staat« (Hrsg.: Barton, Dubelaar, lbel & Lindemann) wird 2018 ein 1 ngsband veröffentlicht.

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  • Brückmann/Nißing/Sommerlvan Toor, Vom »hochgemuten, voreiligen Griff nach der Wahrheit« 483

    Bericht

    Vom »hochgemuten, voreiligen Griff nach der Wahrheit«

    Genese, Korrektur und Prävention von Fehlurteilen im Strafprozess 6. Bielefelder Verfahrenstage

    von Johannes Brückmann, Oliver Nißing, Janita Sommer und Dave van Toor

    In jedem Rechtssystem kann es zu Fehlurteilen kommen. So ist es nicht verwunderlich, dass auch das deutsche Justizsystem - dies hat die Vergangenheit mit zum Teil spektakulären Fällen gezeigt - nicht vor Fehlentscheidungen gefeit ist. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Thematik steht jedoch noch am Anfang und hat bislang lediglich unsystematisch und selektiv stattgefunden. Angesichts dessen erscheint es nach".'ollziehbar, dass Ergebnisse der Fehlurteilsforschung bisher eher wenig Einfluss auf die alltägliche Spruchpraxis der Strafgerichte gewonnen haben.

    Mit dem Ziel, einen gegenläufigen Impuls zu setzen, fanden am 23. und 24.11.2017 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld die nunmehr 6. Bielefelder Verfahrenstage1 statt. Die Veranstaltung, an der 120 Wissenschaftler/-innen und Praktiker/-innen aus dem In- und Ausland teilnahmen, verknüpfte die Perspektiven der Rechtswissenschaft, der Kriminologie, der Soziologie und der Psychologie zu einem interdisziplinären Diskurs und verfolgte das Ziel, eine offene Bestandsaufnahme des Forschungsstandes durchzuführen. Auf der Grundlage einer vertieften Analyse der bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse sollten Anstöße für eine Auseinandersetzung mit der Problematik von Fehlurteilen in Theorie und Justizpraxis entwickelt werden.

    Im Anschluss an die Eröffnung und Begrüßung durch die Veranstalter/-innen Stephan Barton (Bielefeld), Marieke Dubelaar (Leiden, NL), Ralf Kölbel (München) und Michael Lindemann (Bielefeld) leitete Henning Radtke (Karlsruhe) die Verfahrenstage in seinem Eröffnungsvortrag mit der elementaren Frage ein, wann ein Urteil richtig ist. Dazu benannte er vier Voraussetzungen: Die festgestellten Tatumstände müssten mit dem Lebenssachverhalt übereinstimmen und auf einer nachvollziehbaren und plausiblen Würdigung beruhen (1). Darüber hinaus dürften keine Rechtsfehler gemacht werden, die sich auf die Beurteilung der Zuverlässigkeit der Feststellungen beziehen (2). Dazu gehöre auch, dem Angeklagten seine Mitwirkungsrechte vollumfänglich einzuräumen (3). Zuletzt müsse auch die rechtliche Subsumtion richtig sein ( 4 ). Ein gerechtes Urteil sei nur dann möglich, wenn der wahre Sachverhalt ermittelt werden konnte. Schließlich sei der Staat nur dann zur strafrechtlichen Sanktion berechtigt, wenn der Verurteilte tatsächlich in der Vergangenheit einen schuldhaft vorwerfbaren Verstoß gegen materiell-rechtliche Normen begangen habe. Ob eine Entsprechung der festgestellten Tatumstände mit dem Lebenssachverhalt vorliegt, könne jedoch niemals unmittelbar festgestellt werden, deshalb gebe es Instrumentarien, die Richtigkeit garantieren sollten. Überprüft werden könne daher nur, ob der Richter entsprechend dieser Instrumentarien vorgegangen sei.

    Im folgenden Vortrag näherte sich Jörg-Martin fehle (Göttingen) Fehlurteilen und Justizirrtümern aus kriminologischer Perspektive und beleuchtete auf rechtstatsächlicher Ebene

    In der Reihe »Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat« (Hrsg.: Barton, Dubelaar, Kölbel & Lindemann) wird 2018 ein 1'agungsband veröffentlicht.

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    die Verbreitung von Fehlurteilen in Deutschland. Umfassende empirische Untersuchungen von Fehlerquellen und darauf beruhenden Fehlentscheidungen der Strafjustiz gebe es nicht, allerdings könne man indizielle Schlüsse aus der zunehmenden Zahl von Einstellungen gern. §§ 153, 153a StPO und den Rechtsmittelerfolgsquoten ziehen. In einem internationalen Vergleich wurden das Wiederaufnahmeverfahren in England und Frankreich sowie ergänzende Erkenntnisse aus den USA vorgestellt, wobei ähnlich wie in Deutschland im europäischen Ausland Wiederaufnahmen restriktiv gehandhabt werden. Der Vortrag endete mit einem Ausblick auf eine mögliche Lockerung der Zulässigkeitsvoraussetzungen von Wiederaufnahmeverfahren und dem Wunsch nach vertiefter rechtstatsächlicher Forschung in diesem Bereich.

    Dem Versuch, Erkenntnisse für die Fehlurteilsforschung aus einer rechtsvergleichenden Perspektive zu gewinnen, widmete sich Ralf Kölbel. Der in Deutschland bestehende Mangel an aussagekräftigen Erkenntnissen zu Fehlurteilsquoten mache den Blick in andere Länder erforderlich. Insbesondere in den USA seien statistische Ableitungen aufgrund umfangreicher Datenbanken tendenziell einfacher. Anhand exemplarischer Studien wurden die Bestrebungen dargestellt, mit unterschiedlichen Methoden wie der direkten Befragung von Beteiligten oder der statistischen Auswertung nachträglicher Entlastungsentscheidungen von zum Tode Verurteilten den Ursachen und der Prävalenz von Fehlurteilen auf den Grund zu gehen. Grundsätzlich warnte Kölbel jedoch davor, die gewonnenen Erkenntnisse unkritisch auf Deutschland zu übertragen. Denn zum einen seien auch die in den USA verfügbaren Daten und Analysen jeweils methodisch zu hinterfragen und zum anderen bestünden schlicht zu viele Unterschiede zwischen den verschiedenen Strafprozessrechtssystemen. Resümierend wurde festgehalten, dass rechtsvergleichend wenig Tatsächliches ableitbar sei und daher eine zunehmende juristische und kriminologische Erfassung von Daten zur Prävalenz von Fehlurteilen in Deutschland wünschenswert wäre.

    Abgerundet wurden die Eröffnungsvorträge durch Margit Oswald (Bern, CH), die sich der Analyse potentieller Fallstricke auf dem Weg zur »richtigen« Entscheidung aus psychologischer Sicht widmete. Insbesondere sogenannte Bestätigungsfehler, Rückschaufehler und Ankereffekte wiesen das Potential auf, die Ergebnisse von Strafverfahren zu beeinflussen. Ein Bestätigungsfehler liege vor, wenn eine Person ausgehend von ihrer bereits suggestiv gebildeten Grundannahme systematisch versuche, diese Grundannahme zu bestätigen. Dabei biete die Ausgangsposition von Beschuldigten im Strafverfahren eine suggestive Potenz für ein entsprechendes Verhalten. Einer der robustesten Urteilsfehler aus psychologischer Sicht sei der Rückschaufehler. Dieser bestehe darin, dass ein Ereignis aus der Ex-post-Perspektive als vorhersehbarer eingeordnet werde, als es ex-ante tatsächlich gewesen sei. Gerade die immer ex-post durchgeführten gerichtlichen Verfahren seien dafür potentiell anfällig. Auf Strafzumessungsebene könne die richterliche Strafzumessung durch die Strafmaßforderung der Staatsanwaltschaft beeinflusst werden (sog. Ankereffekt). In ihrem Fazit hielt Oswald fest, dass diese Urteilsfehler durch gewisse psychologische Strategien wie aktives, selbstkontrollierendes Bedenken alternativer Erklärungsansätze (»thinking-the-opposite«) zumindest reduzierbar seien.

    An die Eröffnungsvorträge schlossen sich insgesamt vier Arbeitsgruppen an. Die von Silke Hüls (Bielefeld) geleitete erste Arbeitsgruppe beschäftigte sich unter Beteiligung von Jörg Kinzig (Tübingen), Renate Volbert (Berlin) und Gwladys Gi/lieron (Zürich, CH) mit möglicherweise relevanten Problemen bei der Entscheidungsfindung als Ursache für Fehlurteile und bestehenden Kontrollmechanismen zu deren Vermeidung.

    Kinzig berichtete im Rahmen seines Vortrags von den Erkenntnissen eines Projekts, welches die Häufigkeit von ergangenen Freisprüchen nach angeordneter Untersuchungshaft untersuchte. Dieser Untersuchungsgegenstand sei angesichts der hohen Anordnungsvoraussetzungen für die Untersuchungshaft besonders interessant. Der später erfolgende Frei-

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    spruch werfe ein kritisches Licht auf die bei der Prüfung des Verdachtsgrades angelegten Maßstäbe und die Legitimität der Untersuchungshaft. Im Rahmen des Projekts habe festgestellt werden können, dass die Freispruchquote je nach Deliktart des Tatvorwurfs erheblich divergiere. Aufgefallen sei bei der Aktenanalyse außerdem, dass sich die Verdachtslage zwischen Anklageerhebung und dem Urteil häufig lediglich unwesentlich verändert habe.

    Volbert referierte anschließend über die Aussagekraft von Glaubhaftigkeitsgutachten zu Zeugenaussagen. Es wurde anhand der methodischen Grundlagen dieser Gutachten herausgearbeitet, dass zumindest in einigen Punkten Verbesserungs bedarf bestehe. Teilweise würden Glaubhaftigkeitsbegutachtungen in Auftrag gegeben, die in der konkreten Situation methodisch schlicht nicht die Glaubhaftigkeit der Aussage, sondern allenfalls die generelle Aussagetüchtigkeit des Zeugen feststellen könnten. Auch könne die Reduktion des Ergebnisses des Gutachtens im Urteil zu einer verfehlten Darstellung führen. Im Anschluss wurde die Frage, welchen Beitrag die Sachverständigengutachten zum Zustandekommen falscher Entscheidungen leisten können, aufgeworfen und lebhaft diskutiert.

    Gilliiron rundete die Arbeitsgruppe mit ihrem Vortrag ab, in dem - gestützt auf die Erkenntnisse einer Studie aus der Schweiz - die Fehleranfälligkeit des summarischen Strafbefehlsverfahrens dargestellt wurde. Problematisch sei insbesondere, dass häufig eine unzureichende Sachverhaltsaufklärung erfolge. Hinzu komme, dass das in der Schweiz für das Strafbefehlsverfahren zuständige Organ - im Gegensatz zu Deutschland - die Staatsanwaltschaft sei, sodass grundsätzlich keine richterliche Kontrolle erfolge. Anschließend wurde die »plea bargaining«-Praxis als potentielle Quelle für Fehlurteile diskutiert; so sei es naheliegend, dass Beschuldigte ein falsches Geständnis abgeben könnten, um eine drohende, potentiell höhere Strafe im weiteren Verfahrensverlauf zu vermeiden.

    Thematisch anknüpfend betraten die Bielefelder Verfahrenstage mit der von Michael Lindemann moderierten, erstmals englischsprachigen Arbeitsgemeinschaft 2 unter dem Titel »Decision making and control mechanisms II« neues Terrain. In diesem Forum näherten sich in ihren Vorträgen Marieke Dubelaar, Anna Sagana (Maastricht, NL) und Cyrille Fijnaut (Tilburg, NL) den Ursachen von Fehlur_teilen sowie den Möglichkeiten zu ihrer Vermeidung und Korrektur in ihrem sozialpsychologischen und rechtstechnischen Kontext.

    Dubelaar stellte in ihrem Eingangsvortrag das Problem der Entscheidungsfindung im Strafprozess dar. Unter der Prämisse, dass die Wahrheitsfrage keine theoretische, sondern eine empirische sei, blickte sie auf andere Fachdisziplinen sowie deren Ansätze, Ungewissheiten zu eliminieren, und vertiefte dabei den potentiell erkenntniserweiternden Lösungsansatz des »scenario approach«. Hierbei sei es Aufgabe des Richters, die im Prozess gefundene Tatsachenlage sowie die im Raum stehenden Erklärungsansätze zu einer plausiblen Narracion zusammenzuführen. Diese Narration würde sich durch stetige Reflektion und den Versuch, sie fortlaufend weiterzuentwickeln, bis sämtliche Tatsachen in ihr sinnvoll aufgehen, fortlaufend verdichten. Grenzen dieses Konzepts bestünden darin, dass es sich letztlich um ein Gegenüberstellen von Geschichten handele, die auf Plausibilität hin überprüft würden. Im Ergebnis entspreche dies einer Wahrscheinlichkeitsprognose und Entscheidung für bloß nachvollziehbare Narrative, welche damit ungeeignet ist, unwahrscheinliche, reale Geschehnisse zu erfassen.

    Sagana hielt einen augenöffnenden Vortrag über das Problem der Voreingenommenheit von Zeugen, Sachverständigen und Richtern im Strafverfahren, in dem eine Hauptursache von juristischen Fehlentscheidungen liegen dürfte. Aus sozialpsychologischer Sicht verdeutlichte Sagana, dass alle Stadien des Strafverfahrens durchgängig durch mehr oder weniger sichtbar hervortretende Vorurteile und Erwartungen beeinflusst werden: Beginnend bei der nur selektiven Wahrnehmung von Geschehnissen und ihrer Reproduktion in Vernehmungen, über die verkürzte Darstellung in vom Verfasser subjektiv gefilterten Inhaltsprotokollen, bis hin zur Entscheidungsfindung durch ein Gericht, das die Verband-

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    lung durch den vom konzentrierten Akteninhalt vorgezeichneten Prozessstoff mit einer bestimmten Erwartungshaltung in der Hauptverhandlung nachzeichne. Hierbei sei selbst der vermeintlich objektiv-wissenschaftliche forensische Beweis wie DNA-Analysen und Fingerabdruckabgleiche nicht vor Verzerrungen aufgrund von Voreingenommenheit bei der Beweisbetrachtung sicher.

    Ajnaut widmete sich im Schlussbeitrag dem Spannungsfeld zwischen dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit einerseits und einer fortschreitenden Wahrheitssuche bei der Präsentation neuer Beweismittel andererseits. In diesem Kontext erörterte er die Ausgestaltung von Instituten der Wiederaufnahme in verschiedenen Rechtssystemen (u.a. in Deutschland, den Niederlanden und Belgien). Dem in Deutschland bestehenden Konzept eines auf Antrag durchgeführten, rein gerichtlichen Verfahrens wurde eine alternative Konzeption von unabhängigen Wiederaufnahmekommissionen (z.B. in England und Norwegen) gegenübergestellt, die bei Kenntniserlangung neuer Tatsachen den Vorgang selbstständig prüfen und die gerichtliche Wiederaufnahme einleiten, sofern sie Unregelmäßigkeiten bei dem überprüften Verfahren feststellen und eine etwaige Abänderung des Urteilsausspruchs zugunsten des/ der Angeklagten für begründet erachten. Unter diesem Eindruck vrorde von den Teilnehmenden das hiesige Wiederaufnahmerecht, welches ein nahezu unbedeutendes Dasein im Schatten der Revision fristet, kritisch diskutiert.

    Mit der dritten, ebenfalls englischsprachigen Arbeitsgruppe leitete Michael Lindemann den zweiten Tag der 6. Bielefelder Verfahrenstage ein. Unter seiner Moderation beschäftigten sich Marieke Dubelaar, ]asper van der Kemp (Amsterdam, NL) und Dave van Toor (Bielefeld) in ihren Vorträgen mit der polizeilichen Vernehmung von Verdächtigen und möglichen Alternativen für Vernehmungen.

    Dubelaar eröffnete die Arbeitsgruppe mit einem Vortrag über die zweifelhafte Stellung des Geständnisses als »Regina Probationum« (Königin der Beweismittel). Dieses Verständnis könne historisch auf den Inquisitionsprozess zurückgeführt werden. Zwar komme dem Geständnis als Beweismittel auch heute noch eine übergeordnete Rolle zu; dennoch bedürfe es aufgrund der Tatsache, dass es auch falsche Geständnisse gebe, einer kritischen Würdigung der Entstehungsbedingungen im Einzelfall. Dabei seien grundsätzlich verschiedenste Motive für die Abgabe falscher Geständnisse denkbar. Dubelaar sprach sich in diesem Kontext insbesondere für die Durchführung audiovisueller Aufzeichnungen von Vernehmungen aus und appellierte daran, grundsätzlich den Ermittlungsmethoden mehr Aufmerksamkeit zu schenken, um Falschgeständnisse als fehlerhafte Beweisquellen zu reduzieren.

    Van der Kemp referierte als Koordinator des Projekts »Gerede Twijfel« (Begründete Zweifel) über abgeschlossene Fälle, in denen die Qualität von polizeilichen Ermittlungen und die Logik richterlicher Schlussfolgerungen in Frage standen. Dabei vrurden die gerichtlich als einzig plausibel eingeordneten Tatortszenarien im Nachgang durch experimentelles Nachstellen kritisch hinterfragt und anhand logischer Überprüfung alternativer Szenarien auf ihre Validität überprüft. Eindrucksvoll wurde in verschiedenen Beispielsfällen aufgezeigt, dass eine bestmögliche Analyse des Tatortes und eine kritische Plausibilitätswürdigung des ermittelten Szenarios zu abweichenden Schlussfolgerungen führen können, die eine Beteiligung des Verdächtigen ausscheiden lassen. Dadurch wurde herausgearbeitet, dass die Interpretation von Tatortindizien anfällig dafür sein könne, vorschnelle Schlüsse zu ziehen.

    Van Toor berichtete über die Möglichkeiten der Gedächtnisuntersuchung (memory detection) als Alternative für Vernehmungen. :rvI.it dieser Methode werde ermittelt, ob der Angeklagte eine Erinnerung an die Straftat in seinem Gedächtnis gespeichert hat. Dabei zeigten wissenschaftliche Erkenntnisse auf, dass die Methodik bei tatsächlich Unschuldigen in 94 % der Fälle zu dem Ergebnis gelange, der Proband verfüge nicht über Täterwissen, während bei tatsächlich Schuldigen die Sensitivität für Täterwissen bei 80 % der Fälle liege. Zwar

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    handele es sich somit um eine zuverlässige (und valide) Methode; aus menschenrechtlicher Sicht stoße die Anwendung jedoch auf große Einwände. Indem die Polizei »Einblick« in die Erinnerungen des Verdächtigen bekomme, gelange sie an eine Informationsquelle, die sonst nur aufgedeckt werden könnte, wenn der Angeklagte aussagt. Daher sieht Van Toor dringenden Bedarf, darüber nachzudenken, inwiefern auch neuropsychologische Erinnerungen dem Schutz des Schweigerechts unterfallen.

    In der von Ralf Kölbel moderierten vierten Arbeitsgruppe hielten Karsten Altenhain (Düsseldorf), Stephan Barton und Helmut Pollähne (Bremen) Vorträge zum Zeugen- und Sachverständigenbeweis.

    Altenhain eröffnete die Arbeitsgruppe mit einem Vortrag zu den Vor- und Nachteilen der audiovisuellen Aufzeichnung von Zeugenaussagen. Im Vergleich zum reinen Inhaltsprotokoll, welches in vielen Fällen zu kurz und unzureichend sei, erfasse die audiovisuelle Aufzeichnung von Zeugenaussagen gerade auch nonverbales Verhalten und gebe insbesondere die Möglichkeit, die Vernehmungsbedingungen für den Aussagenden nachvollziehen zu können. Auch wenn die audiovisuelle Aufzeichnung technische Vorrichtungen erfordere und Kosten verursache sowie die Hauptverhandlung verlängern könne, indem ganze Passagen der Aufzeichnung abgespielt werden, gebe es doch keine andere Methode, um zweifelsfrei den Ablauf einer Vernehmung zu rekonstruieren. An den Vortrag schloss sich eine rege Diskussion an, in der die Teilnehmer/-innen sich vor allem mit den entstehenden Kosten und der Umsetzbarkeit der vorgeschlagenen Aufzeichnungsmethode beschäftigten.

    Barton beleuchtete anschließend die provokative Fragestellung, ob das Strafverfahren überhaupt psychologische Sachverständige für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung benötigt. Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen gehöre zu den alltäglichen Pflichten von Tatrichtern und werde derzeit nicht ausreichend in die Ausbildung zukünftiger Juristen einbezogen. Aussagepsychologische Experten könnten Juristen in ihrer Tätigkeit durch die Erstellung kunstgerechter Gutachten unterstützen, dürften aber nicht zu einer Immunisierung der Entscheidung führen; vielmehr bleibe die Beweiswürdigung Aufgabe des Tatrichters, und das Gutachten habe lediglich die Aufgabe, berechtigte Zweifel zu säen. Barton beendete seinen Vortrag mit dem Wunsch, dass zum einen ein größerer Fokus auf die Beweiswürdigung in der Juristenausbildung gelegt werde sollte und zum anderen vonseiten der Ministerien genügend personelle und sachliche Ressourcen für eine kunstgerechte Glaubhaftigkeitsbeurteilung zur Verfügung gestellt werden sollten.

    Pollähne analysierte schließlich die Opferorientierung im Strafprozess als mögliche Gefahr für die Wahrheitsfindung. Der Strafprozess habe in Deutschland in den letzten Jahrzehnten immer weitreichendere Reformen im Zuge des Opferschutzes erfahren, welche durch den Ausbau der Verletztenrechte, weitreichende Opferschutzregelungen und die Zulassung von Opferschutzanwälten zu einer Ungleichgewichtung des Parteienprozesses geführt hätten. Dabei stellte Pollähne insbesondere das 3. Opferrechtsreformgesetz in den Fokus seines Vortrages. Pollähne kritisierte, die vom Gesetzgeber zugrunde gelegte Opfervermutung stehe im Widerspruch zur verfassungsrechtlich verbürgten Unschuldsvermutung zugunsten des Beschuldigten und diskutierte diese Entwicklung und deren Folgen ausführlich anhand des Bremer Modells zur Einstellungspraxis von Sexualstraftaten.

    Den Schlussvortrag der Tagung hielt Thomas Fischer (Karlsruhe) zu der Frage, warum das Revisionsrecht Fehlurteile zulasse. Dabei widmete er sich eingangs der Frage, wie Fehlurteile zu definieren seien, und schlug damit den Bogen zu dem Eröffnungsvortrag von Radtke. Für die Klärung dieser Frage sei zunächst entscheidend klarzustellen, dass es sich bei jeder Tatsachenfeststellung nicht um eine reine Wahrheitsabbildung handele, sondern vielmehr um eine Wahrheitskonstruktion. In der Revision diene gerade diese Konstruktion der Wahrheit als Beurteilungsgrundlage; selbst denkbare, häufige Abweichungen vom Inhalt des Verfahrens

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    und Inhalt des Urteils seien dagegen nicht sichtbar und spielten demnach keine Rolle. Durch diese Entfernung von der Tatwirklichkeit komme es zu einer Verzerrung und Entfremdung der Lebenswirklichkeit; der normative Anspruch, die Wirklichkeit abzubilden, werde auf die Ebene der Postulate verlagert. Die Revision lasse sich daher auch als Transformationsprozess verstehen. Fischer beendete seinen Vortrag mit der Feststellung, dass das Revisionsrecht grundsätzlich Fehlurteile zulasse. Entscheidend sei, dass der Blickwinkel diesbezüglich nicht nur auf solche Fehler gerichtet werde, die bereits in der Tatsachenerkenntnis erfolgten, sondern zugleich auch eine verstärkte Aufmerksamkeit auf systemimmanente, dem Rationalisierungsprozess geschuldete Fehler gerichtet werden solle.

    Den Abschluss der Tagung bildete die Zusammenführung der vielfältigen Diskussionsgegenstände in einer wortgewaltigen und sachlich-konfrontativ geführten Podiumsdiskussion. Unter der Moderation von Stefan König (Berlin) brachten Thomas Fischer, die bekannte Journalistin Sabine Rückert (Die Zeit) und der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes Jens Gnisa ihre Standpunkte und Erfahrungen aus Theorie und Praxis ein, welche durch eine breite Beteiligung des Plenums intensiv diskutiert wurden.

    Die rege Teilnahme an der Tagung, die äußerst informativen Vorträge und der intensive fachliche Diskurs hinterließen einen höchst erfreulichen Eindruck von den 6. Bielefelder Verfahrenstagen, die sicherlich dazu beigetragen haben, Impulse für weitere Forschungen in dem spannenden Bereich der Genese, Korrektur und Prävention von Fehlurteilen zu setzen.

    (Anseht. d. Verf.: Für die Mitautoren: Wiss. Mitarb. Johannes Brückmann, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie, Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft, Postfach 100131, 33501 Bielefeld; [email protected])