Bericht wiener zuwanderungskommission
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M I G R A T I O N
M O B I L I T Ä T
V I E L F A L T
Bericht Wiener Zuwanderungskommission 29-01-2010
2
Inhalt
1 Die Wiener Zuwanderungskommission 3
2 Wien in Europa und im Wettbewerb 7
3 Mobilität von und nach Wien HEUTE 13
4 Mobilität von und nach Wien MORGEN 21
5 Charakteristika künftiger Migration und Mobilität 27
6 Was Wien künftig tun kann und soll 42
7 Daten zu den Grafiken im Kommissionsbericht 59
8 Mitwirkende der Wiener Zuwanderungskommission 64
3
1 Die Wiener Zuwanderungskommission
1.1 Mandat der Wiener Zuwanderungskommission
Die Wiener Zuwanderungskommission 2009 hat auf Initiative von Stadträtin Sandra Frauen-
berger und auf Basis eines gemeinsamen Gemeinderatsbeschlusses von SPÖ, ÖVP und Grü-
nen die Aufgabe übernommen, wesentliche Herausforderungen und zentrale Aktionsfelder zu
identifizieren, die für Wien aus künftigen Entwicklungen im Bereich Migration entstehen wer-
den.
Die Mitglieder der Kommission wurden von den drei Gemeinderatsklubs von SPÖ, ÖVP und
Grünen gemeinsam nominiert. Sie haben sich das Ziel gesetzt, die vielfältigen Einflüsse, Wir-
kungen und Anforderungen, die mit Migration verbunden sind, zu erörtern und damit sichtbar
zu machen, welche Aufgaben unter den spezifischen Gesichtspunkten von Gesellschaft, Politik
und Verwaltung vor allem auf Ebene der Stadt erwachsen werden.
4
1.2 Grundhaltung der Wiener Zuwanderungskommission
Migration = Mobilität = Vielfalt
Mit der Verwendung des Begriffs-Dreiecks „Migration / Mobilität / Vielfalt“ will die Kommission
von Anbeginn darauf hinweisen, dass es für eine zukunftsweisende Debatte über Zuwande-
rung und Integration zentral ist, die Vielschichtigkeit dieses Themenkomplexes konsequent in
den Blick zu nehmen und sich davon bei der Analyse sowie bei den Vorschlägen für politisches
bzw. administratives Handeln leiten zu lassen.
Migration
Migration ist Erfordernis und Folge einer internationalisierten Wirtschaft und einer modernen
Gesellschaft, in der das Streben nach bestmöglicher Lebensgestaltung ein legitimer Anspruch
aller ihrer Mitglieder ist. Gesellschaftliche Vielfalt und ständiger Wandel sind Folgen davon.
Migration ist aber auch Ausdruck von sozialer Ungleichheit und Entwicklungsunterschieden
zwischen verschiedenen Ländern. Nur unter Bedachtnahme der aus Migration und Neuzuwan-
derung herrührenden sozial- und gesellschaftpolitischen Herausforderungen sind Integration
und sozialer Zusammenhalt heute zu gewährleisten.
Mobilität
Der Mobilitätsbegriff verweist auf den fundamentalen Wandel der Wien betreffenden Migration:
weg von der traditionellen, gering qualifizierten Arbeitsmigration und hin zu Formen transnatio-
naler, häufig auch temporärer Mobilität, die über alle Qualifizierungsstufen hinweg stattfindet
und zunehmend eine Binnenmobilität in der erweiterten bzw. sich künftig noch erweiternden
EU ist. Auch die Zuwanderung aufgrund humanitärer Verantwortung spielt heute eine geringe-
re Rolle als in den 1990er Jahren.
Vielfalt
Die bewusste Verwendung des Begriffs Vielfalt – Diversität – verweist auf eine gegenüber der
herkömmlichen Integrationsdebatte erweiterte Sichtweise, welche die Chancen, die mit der zu-
nehmenden Pluralisierung unserer Stadtgesellschaft einhergehen, in den Blick nimmt. Damit
wird der primär defizitorientierte Ansatz, der lange Zeit die öffentliche integrationspolitische
Diskussion beherrschte, zugunsten eines potenzialorientierten Ansatzes verschoben, ohne je-
doch zentrale Fragen des sozialen Zusammenhalts und von Teilhabechancen auszublenden.
Jede Polarisierung oder eindimensionale, Probleme ausblendende Betrachtung verhindert eine
5
adäquate und zielführende Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Herausforderun-
gen, die mit Migration / Mobilität / Vielfalt verknüpft sind. Diversität wird dabei weder als nor-
mative Forderung noch als Verklärung realer Problemlagen verstanden, sondern als Ausdruck
der Akzeptanz einer die Gegenwartsgesellschaft kennzeichnenden Vielfalt. Der Begriff ver-
weist auf die Einsicht, dass auch die Aufnahmegesellschaft selbst gefordert ist, sich als sozia-
les und politisches Gemeinwesen auf den Wandel einzustellen und eine gemeinsame Zukunft
zu gestalten.
Steuerung und Gestaltung von Migration / Mobilität / Vielfalt
Weder Politik noch Wirtschaft oder Gesellschaft können sich aussuchen, mit welchem Aspekt
von Migration / Mobilität / Vielfalt sie zu tun haben. Die Aussagen im Bericht der Wiener Zu-
wanderungskommission versuchen daher explizit, den notwendigen Doppelblick anzuwenden,
d.h. chancen- wie auch problemorientiert zu analysieren.
In welchem Ausmaß und in welcher Form Migration / Mobilität / Vielfalt in der zukünftigen Ent-
wicklung Wiens eine Rolle spielen wird, hängt einerseits von Faktoren ab, die Wien kaum
steuern oder beeinflussen kann (z.B. EU-27-Freizügigkeit, internationale Wirtschaftsdynamik,
nationales bzw. europäisches Zuwanderungsrecht), aber ebenso auch von Faktoren, die Wien
sehr wohl gestalten und für die es Impulse setzen kann (Attraktivität Wiens als Stadt zum Le-
ben und Arbeiten, Marketing, Information, Service- und Integrationsangebote etc.).
Annahmen zu Wiens Zukunft
Was Wien zukünftig – das heißt hier in den nächsten 5 bis 10 Jahre – sein will, können soll
oder bieten muss, das wird je nach Perspektive oder Betroffenheit unterschiedlich gesehen
und argumentiert werden. Weder sind die Interessenlagen von Wirtschaft, Bevölkerung, Politik
oder Medien in sich homogen, noch sind sie es untereinander. Vielmehr prägen oft konträre
Ansichten das Bild, die Erzielung von Gemeinsamkeit und Konsens ist die ständige Herausfor-
derung.
Um künftige Migration / Mobilität / Vielfalt ergebnisorientiert diskutieren und plausible, umset-
zungsnahe Empfehlungen formulieren zu können, hat sich die Kommission für ihre Arbeit auf
zwei Ausgangspunkte verständigt:
Zum einen werden die faktischen Gegebenheiten (demografische Entwicklungen, Kompe-
tenzlagen, institutionelle Angebote und Leistungen) zum Themenspektrum Migration / Mo-
bilität / Vielfalt als Grundlage für die Analyse herangezogen.
6
Zum anderen werden programmatische Einschätzungen und Ziele zur künftigen Entwick-
lung Wiens, wie sie von der Stadt Wien bzw. der Wiener Stadtregierung und ihren Mitglie-
dern selbst oder in Zusammenarbeit mit verschiedenen Stakeholdern formuliert worden
sind, als Basis für mögliche Entwicklungspfade und resultierende Zukunftsanforderungen
verwendet.
Beide Aspekte zusammen ergeben ein Bild von Wiens Potenzialen, Zielen und Möglichkeiten
für die zukünftige Entwicklung. Damit lässt sich ein plausibler Entwicklungskorridor skizzieren,
in dem sich Migration / Mobilität / Vielfalt voraussichtlich idealerweise entwickeln werden. Dies
ist die Hintergrundfolie, vor der die Kommission ihre Einschätzungen und Empfehlungen trifft.
7
2 Wien in Europa und im Wettbewerb
Erfolgreiche Städte sind meist jene, die wirtschaftlich konkurrenzfähig, gesellschaftlich dyna-
misch, kulturell vielseitig, mental kosmopolitisch und sozial integrativ sind. Die Substanz einer
Stadt und das damit verbundene endogene Entwicklungspotenzial bilden jedoch nur eine Vo-
raussetzung für Erfolg. Eine andere ergibt sich aus diversen Umfeldbedingungen, wie z.B. ih-
rer geopolitische Lage und internationalen Vernetzung oder der globalen Wirtschaftslage. Ob
die daraus resultierenden Chancen von der jeweiligen Stadt auch realisiert werden können,
hängt von ihrer „stadtinnenpolitischen“ und „stadtaußenpolitischen“ Strategie und Umsetzung
ab.
Über Entwicklungschancen und die Leistungsfähigkeit als wettbewerbsfähiger Wirtschafts-
standort und Lebensraum entscheiden aber nicht alleine objektivierbare und strategische Fak-
toren. Auch die Außenwahrnehmung spielt eine zentrale Rolle, mit der Zuschreibungen über
Dynamik, Offenheit, Zukunftsfähigkeit u.a.m. getroffen und Erwartungen erzeugt werden. Je
mehr eine Stadt als attraktiv, chancenreich und lebenswert wahrgenommen wird, umso mehr
wird sie auch als Investitionsstandort, Ort zum Leben und Arbeiten oder Tourismusdestination
nachgefragt.
8
2.1 Wiens Erfolgspotenziale und Perspektiven im Selbstbild der Verantwortlichen
Die Stadt Wien bzw. ihre politisch und administrativ Verantwortlichen analysieren in mehreren
Strategiekonzepten und programmatischen Aussagen1 den Status Quo sowie die Potenziale
der zukünftigen Entwicklung der Metropole Wien. Die dort formulierten Perspektiven basieren
auf einer zentralen Grundeinschätzung: Dass Wien seit den 1990er Jahren an EinwohnerIn-
nenzahl gewachsen und zugleich zur fünfreichste Region Europas geworden ist, bestätigt ei-
nerseits die Attraktivität und Entwicklungsfähigkeit der Stadt, legt aber auch nahe, zur Verste-
tigung dieses positiven Trends die im erweiterten Europa gelegenen Chancen zu nutzen und in
Erfolg zu verwandeln. Dies bedeute insbesondere, sich als starke internationale Metropole in
Europa zu positionieren, was weiteres Wachstum und kontinuierliche Innovation zur Folge ha-
ben wird. Mehrere Potenziale werden als besonders erfolgversprechend angesehen. Sie alle
haben gemeinsam, dass sie mit der Mobilität von Menschen nach und von Wien zu tun haben.
Als die sechs zentralen „Erfolgspotenziale“ werden gesehen:
geopolitische Lage
robuster Wirtschaftsstandort
hochrangiger europäischer Verkehrsknoten
dynamische Internationalisierung
Hochschul-, Forschungs- und Innovationsmetropole
europäische Kulturmetropole
Geopolitische Lage
Während der vergangenen 20 Jahre hat sich das Entwicklungspotenzial für Wien als eine be-
deutende Metropole in Mittel-, Ost- und Südosteuropa kontinuierlich ausgeweitet – und zwar
durch historische Ereignisse wie den Fall des Eisernen Vorhangs 1989, den EU-Beitritt Öster-
reichs 1995, die EU-Erweiterung auf 25 Mitgliedstaaten im Jahr 2004 sowie die nochmalige
Erweiterung zur heutigen EU-27 im Jahr 2007. Hinzu kommen die mit dem Zerfall des ehema-
ligen Jugoslawien verbundenen Kriege und Konflikte, die Einführung des Euro, die wirtschaftli-
chen Aufholprozesse der neuen EU-Mitglieder, Beitrittsverhandlungen mit Kroatien und der
1 Herangezogen wurden hier: Tourismuskonzept Wien 2015 (2009); Wirtschaftsstandort Wien – WWFF
(2008); Grundsätze der Wiener Integrations- und Diversitätspolitik (2007); Wiener Forschungs-, Techno-
logie- und Innovationsstrategie (2007); Positionspapier Wien 2016 – Internationale Aktivitäten (2007);
Regierungserklärung Bürgermeister Häupl (2005); Stadtentwicklungsplan (2005); Strategieplan für Wien
(2004); Masterplan Verkehr Wien (2003)
9
Türkei sowie zukünftig mit den Staaten des westlichen Balkans. Wien ist mit seiner geographi-
schen Lage durch diese Ereignisse ebenfalls in einen völlig neuen politisch-gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Rahmen gestellt worden. Wie kaum eine andere mitteleuropäische Stadt
hat Wien die Möglichkeit, der zentrale Metropolregion-Knoten zwischen Ost- und West- sowie
Nord- und Südeuropa zu sein. Die volle Nutzung des damit verbundenen Potenzials ist daher
dezidiertes Ziel der Wiener Stadtregierung sowie der Mehrzahl der politischen, wirtschaftli-
chen, gesellschaftlichen und kulturellen Akteure in Wien.
Robuster Wirtschaftsstandort
Innerhalb Zentraleuropas zählt die Donaumetropole zu den wirtschaftlich florierenden und da-
mit auch für Investoren und Arbeitskräfte interessanten Städten. Aufgrund der geografischen
Lage und der bestehenden Netzwerke Wiens haben über 300 internationale Konzerne ihre
„Osteuropazentrale“ in der Vienna Region, mehr als 120 davon direkt in Wien. Jedes zweite in-
ternationale Unternehmen in Österreich wählt Wien als Standort. Wiens diversifiziertes und
qualifiziertes Arbeitskräfteangebot ist ein zentraler Faktor für Wiens Standortattraktivität. Um-
gekehrt sieht Wien aus wirtschaftspolitischer Sicht in den Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuro-
pas vorrangige Zielregionen und Zielmärkte. Die über die Jahrzehnte nach Wien Zugewanderten
stammen zu einem Gutteil genau aus diesen Staaten, weshalb mit diesen Menschen unschätzbare
Kompetenzen in Wien vorhanden sind, um die Beziehungen wirtschaftlicher, wissenschaftlicher
und kultureller Natur zu diesen Staaten und ihren Städten besser und rascher zu entwickeln, als
andere Städte es können.
Hochrangiger europäischer Verkehrsknoten
An wichtigen, hochrangigen europäischen Verkehrskorridoren zwischen Ost und West wie
auch zwischen Nord und Süd gelegen, besitzt Wien reiches Potenzial, um ein wettbewerbs-
starker Verkehrs- und Logistik-Knoten in Zentraleuropa zu werden. Die Erweiterung des Flug-
hafens, die Errichtung eines Hauptbahnhofes, die Vervollständigung des hochrangigen Stra-
ßen- und Schienennetzes nach und rund um Wien sowie der Ausbau des Verkehrsweges Do-
nau und des Wiener Hafens sind substanzielle Infrastrukturinvestitionen, die den Standort
Wien in seiner Bedeutung für den mittel-, ost- und südosteuropäischen Raum aufwerten. Diese
in großem Umfang von der öffentlichen Hand getätigten Investitionen schaffen neue und mo-
derne Wettbewerbsqualitäten, die für ihre Rentabilität aber auch entsprechende Dynamik und
Entwicklungsoffensiven für wirtschaftliches Wachstum benötigen.
10
Dynamische Internationalisierung
Wien beherbergt seit 30 Jahren und als einzige Stadt der EU einen der vier Sitze der Vereinten
Nationen, neben New York, Genf und Nairobi. Darüber hinaus ist Wien Sitz zahlreicher inter-
nationaler bzw. europäischer Organisationen wie der OSZE, der OPEC und der EU-
Grundrechteagentur FRA. Wien befindet sich seit Jahren konstant unter den beliebtesten Kon-
gressstädten der Welt. Ein wesentlicher Grund, weshalb Wien als internationale Konferenz-
stadt und Standort internationaler Organisationen so beliebt ist, liegt darin, dass Wien auch in
der Lebensqualität im internationalen Ranking seit Jahren im Spitzenfeld platziert ist. Von gro-
ßer Bedeutung für zukünftige Entwicklungen ist, dass Wien auf Grund dieser bisherigen Ent-
wicklungen bereits eine umfangreiche Internationalisierungspraxis besitzt, die ausgebaut und
intensiviert werden kann.
Hochschul-, Forschungs- und Innovationsmetropole
Innerhalb Österreichs ist Forschung und Entwicklung stark in Wien konzentriert. Rund 40% al-
ler im F&E-Bereich Beschäftigten und 40% der F&E-Ausgaben in Österreich entfallen auf die
Bundeshauptstadt. Wien ist nicht nur in Österreich die größte Universitätsstadt, an der 60% al-
ler Studierenden eingeschrieben sind, sondern gemeinsam mit den Nachbarstädten der Regi-
on CENTROPE eine der wichtigsten Hochschulagglomerationen im mitteleuropäischen Raum.
Die Stärke des Wiener Wissenschaftsstandortes basiert auf einem Mix von universitärer, au-
ßeruniversitärer und anwendungsorientierter Forschung, zu dem auch die Österreichische
Akademie der Wissenschaften mit ihren bedeutenden Tochtergesellschaften gehört. Wien zählt
mehr als 140.000 Studierende; 22% davon stammen aus dem Ausland. Die Studierenden, For-
schenden und Lehrenden verleihen der Stadt nicht nur intellektuelles Flair und bringen der
Stadt zusätzliche Kaufkraft, sondern sind das Zukunftskapital der Stadt für Innovation und
Entwicklung.
Europäische Kulturmetropole
Wiens Bedeutung als internationale Musikmetropole, als Theaterstadt, als Kristallisations- und
Kreativort verschiedenster Strömungen in der angewandten und bildenden Kunst (Film, De-
sign, Mode, Malerei, etc.), als Literaturstadt, als Stadt des baukulturellen Erbes und der mo-
dernen Architektur sowie als Heimstatt international bedeutender Museen ist weltweit aner-
kannt. Wien ist durch diese einzigartige Substanz attraktiv für Kunst- und Kulturschaffende aus
aller Welt. Neugierde auf Unbekanntes, Auseinandersetzung mit verschiedensten Einflüssen,
Aufsaugen von neuen Strömungen, Platz geben für Experimentelles: Kulturschaffenden vieler
Nationen Verwirklichungsmöglichkeiten zu geben und sie als BotschafterInnen Wiens im inter-
nationalen Kunst- und Kulturbetrieb wirken zu lassen, das ist das Selbstbild, das Wien von sich
als offene und interessierte Kunst- und Kulturstadt zeichnet.
11
2.2 Schlussfolgerungen für die Empfehlungen der Wiener Zuwanderungskommission
Vor diesem Hintergrund zieht die Kommission ein Fazit, das grundsätzliche Haltungen defi-
niert, mit denen zukünftig Migration / Mobilität / Vielfalt begegnet und gestaltet werden müsste.
Fazit 1: Wien muss seine Erfolgschancen nutzen
All die dargestellten Potenziale und Zielvorstellungen zeigen, dass Wien in breitem Um-
fang Voraussetzungen, Qualitäten und Kompetenzen mitbringt, um seine Rolle als interna-
tionalisierte, zentraleuropäische Metropole künftig weiter ausbauen und damit gleicherma-
ßen Prosperität und sozialen Zusammenhalt schaffen zu können. Alle Akteure in Gesell-
schaft, Wirtschaft, Politik und Verwaltung können dabei eine treibende bzw. tragende Rolle
übernehmen. Jedenfalls wäre es für die heutige und die kommenden Generation(en) fahr-
lässig, würde Wien diese Entwicklungs- und Wachstumschancen nicht konsequent verfol-
gen.
Fazit 2: Wien muss seine Lebensqualität und den sozialen Zusammenhalt erhalten
und steigern
Eine wesentliche Voraussetzung für die erfolgreiche Realisierung derartiger Potenziale ist,
dass Wien weiter konsequent an der Verbesserung der Lebensqualität der Stadt arbeitet,
den bestehenden sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhalt aufrechterhält und den
sozialpolitischen Rahmen für neue Herausforderungen weiter ausgestaltet. Wien stärkt
damit eine wesentliche Komponente seiner internationalen Standortqualität.
Fazit 3: Wien muss Mobilität zur Realisierung seiner Erfolgschancen nutzen
Eine zweite zentrale Voraussetzung, um diese potenziellen Standortqualitäten auch lang-
fristig und dauerhaft umsetzen zu können, ist Migration und Mobilität. Sie bewirken, dass
Wien eine internationale Stadtbevölkerung mit vielfältigen Wurzeln hat, die vielfältige Kom-
petenzen verbindet, nach außen Offenheit signalisiert und damit attraktiv ist.
Fazit 4: Wien muss daraus resultierende Probleme sehen und bewältigen
Es ist jedoch illusorisch, davon auszugehen, dass Veränderung, Dynamik, Wachstum und
Wettbewerb ohne Spannungen, Benachteiligungen oder auch belastende Konflikte vor sich
gehen können. Migration erzeugt dann GewinnerInnen und VerliererInnen, wenn soziale
Ungleichheit zugelassen wird bzw. nicht behoben werden kann. Umso mehr ist es Aufgabe
aller Akteure aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Verwaltung, kooperativ und bestän-
dig an der Problemprävention und Defizitbewältigung zu arbeiten sowie Verbesserungsan-
gebote zu entwickeln.
Fazit 5: Wien muss Erwartungen klar formulieren
Im Bewusstsein, dass internationale Mobilität mit den rechtlichen Kompetenzen einer Stadt
bzw. eines österreichischen Bundeslandes nur bedingt regulierbar sind, gewinnen Anreiz-,
Informations- und Gestaltungsstrategien an Bedeutung. Wien muss nach innen und außen
sichtbar machen, welche Qualifikationen gebraucht werden, welche Möglichkeiten und
Herausforderungen bei einer Niederlassung bestehen, welche Teilnahme- und Teilhaber-
12
echte existieren, welchen Respekt die Aufnahmegesellschaft anderen Kulturen entgegen
bringt, aber ebenso welche Offenheit und Bereitschaft zur Integration man umgekehrt von
Einwandernden einfordert. Es ist klar zu kommunizieren, dass Wien Diskriminierungen
jedweder Art, die der Wahrnehmung von Chancen und Rechten zuwiderlaufen, nicht duldet
– die volle Respektierung der konstitutiven Grund- und Menschenrechte wird ungeteilt er-
wartet.
Fazit 6: Wien muss Integration gestalten
Standort-, demografie- und gesellschaftspolitisch sind Migration und Mobilität zentrale
Entwicklungsfaktoren, die aber nur bei Vorhandensein entsprechender Integrationsper-
spektiven und integrationspolitischer Strategien und Maßnahmen erfolgreich nutzbar sind.
Eine bewusst gestaltete Migrationspolitik beinhaltet daher von vornherein Integrationsan-
gebote, die Bildungsmobilität und wirtschaftliches Fortkommen erleichtern, gesellschaftli-
che Aufstiegsprozesse ermöglichen und damit den sozialen und gesellschaftlichen Zu-
sammenhalt gewährleisten.
13
3 Mobilität von und nach Wien HEUTE
3.1 Eine mobile Stadtgesellschaft
Wo Menschen ihre Zukunft suchen, sich bilden und arbeiten möchten und wieweit sie bereit
oder gezwungen sind, einen neuen Lebensmittelpunkt zu finden, ist von den unterschiedlichs-
ten Faktoren abhängig – wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder politischen. In der offenen,
klein gewordenen Welt des 21. Jahrhunderts verändern sich diese Rahmenbedingungen stän-
dig. Mobilität, in vielfältigen Formen und Ausprägungen, ist heute ein bestimmender, lebens-
gestaltender Faktor.
Städte sind die logischen Knotenpunkte für den freien Fluss und Austausch von Arbeitskräften,
Ideen und kulturellen Einflüssen. Ohne ihre Fähigkeit, Neuankömmlinge aufzunehmen, ihnen
ein Zuhause und eine Chance zu geben und daran als Stadt selbst zu wachsen, gäbe es kei-
nen ökonomischen, geistigen oder gesellschaftlichen Fortschritt. Wien macht hier keine Aus-
nahme. Gegenwärtig begründen jährlich etwa 70.000 Menschen ihren Hauptwohnsitz in Wien
und 60.000 Personen geben ihn auf. Hinzu kommen die ungezählten Menschen, die nur für ei-
nige Monate in Wien wohnen.2 Jahr für Jahr ist in Summe etwa ein Zehntel der Wiener Bevöl-
kerung räumlich mobil.
-10.000
0
10.000
20.000
30.000
40.000
50.000
60.000
70.000
80.000
Zuzug
Wegzug
Bilanz
Grafik 1: Migration von und nach Wien nach Herkunft (Staatsbürgerschaft) – 2008
Anmerkung: „Europa gesamt“ und „Europa Drittstaaten“ inklusive Türkei und Russland
2 Die hier herangezogene Wanderungsstatistik erfasst alle Ortswechsel, die mit einer melderechtlichen Än-
derung des Hauptwohnsitzes verbunden sind. Hinsichtlich der aus dem Ausland zuwandernden Personen berücksichtigt sie alle Personen mit einem durchgehenden Aufenthalt von mindestens 90 Tagen.
14
3.2 Wiens Bevölkerung im Spiegel der bisherigen Mobilität von und nach Wien
Heute ist Wien eine durch und durch von internationaler Zuwanderung geprägte Stadt: 29,9%
der Bevölkerung sind nicht in Österreich geboren, sondern aus dem Ausland zugewandert.3
35,4% der Bevölkerung haben einen „Migrationshintergrund“: Darunter fallen sowohl die Zu-
gewanderten als auch jene hier Geborenen, bei denen beide Elternteile im Ausland zur Welt
kamen.4 Es handelt sich um eine überwiegend europäisch geprägte Zuwanderungsbevölke-
rung: 80% der Wiener Bevölkerung mit Migrationshintergrund5 stammen aus bzw. haben ihre
Wurzeln in anderen europäischen Ländern (inkl. der Türkei und Russland).
545.770
1.141.501
mit Migrationshintergrund
ohne Migrationshintergrund
Grafik 2: Wiens Bevölkerung 2008 nach Migrationshintergrund
Gesamtbevölkerung: 1.687.271
Wiener Bevölkerung mit Migrationshintergrund nach Ländergruppen
179.015
190.689
71.864
61.614
EU‐27 minus Österreich
Europa Drittstaaten (ohne Türkei)
Türkei
Asien
Afrika
Amerika
Sonstige
3 Stadt Wien, MA 5 Finanzwirtschaft, Haushaltswesen und Statistik, Stichtag 1.1.2009 4 Statistik Austria, Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung 2008 (Durchschnitt aller Wochen eines Jahres),
Bevölkerung in Privathaushalten. „Migrationshintergrund“ hier entsprechend der Definition der UNECE. 5 Alle folgenden, auf Registerdaten basierenden, Angaben zur Zusammensetzung der Wiener Zuwande-
rungsbevölkerung (Grafik 2, Grafik 3) basieren auf einer Definition von „Migrationshintergrund“, die all jene Personen erfasst, die entweder im Ausland geboren sind oder in Österreich zur Welt kamen, aber eine fremde Staatsangehörigkeit haben. Nicht enthalten sind in Österreich geborene Kinder eingebürgerter Zu-wanderInnen mit österreichischer Staatsbürgerschaft, also ein beträchtlicher Teil der sog. „zweiten Genera-tion“; MA 5 Referat Statistik und Analyse.
15
Grafik 3: Wiens Zuwanderungsbevölkerung nach Migrationshintergrund 2008 –die 25 wichtigsten Herkunftsländer
0
20.000
40.000
60.000
80.000
100.000
120.000
16
3.3 Wer kam und kommt heute, mit welchen Effekten?
Das Bevölkerungswachstum Wiens beruht seit Jahren auf positiven Wanderungsbilanzen (Zu-
wanderung minus Abwanderung) mit dem Ausland. 2008 betrug der Wanderungsgewinn
10.900 Personen. Eine Zuwanderungsspitze hat Wien in den Jahren 2004 und 2005 mit Wan-
derungsgewinnen von 20.000 bzw. 17.000 Personen erlebt. Der starke Rückgang seit 2006 ist
mit dem Inkrafttreten des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) 2005 zu erklären,
das im Bereich der Drittstaatenzuwanderung zu einem Rückgang v.a. des Familiennachzugs
führte. Dagegen hat die Bedeutung von Wanderungsverflechtungen mit anderen EU-Staaten
deutlich zugenommen, wobei nicht nur die Erweiterungen von 2004 und 2007 eine wichtige
Rolle spielten, sondern auch der stark gewachsene Zuzug aus Deutschland.
Grafik 4: Wanderungsbilanzen Wien 2002-2008 nach Staatsbürgerschaft
-10.000
-5.000
0
+5.000
+10.000
+15.000
+20.000
+25.000
20022003
20042005
20062007
2008
Österreich
Amerika
Afrika
Asien
EU-27 minus Österreich
Europa Drittstaaten
Europa gesamt
Insgesamt
Anmerkung: Europa Drittstaaten = inkl. Türkei und Russland
17
Migration und demografische Stabilität
Schon bisher hat die Wiener Bevölkerungsentwicklung von der internationalen Zuwanderung
stark profitiert. Nur sie hat verhindert, dass Wien schrumpft. Die ständige Zuwanderung von
ausländischen MigrantInnen über die letzten fünf Jahrzehnte hat einen bedeutenden Bevölke-
rungsverlust durch Abwanderung ins Umland mehr als ausgeglichen. Das deutliche Wachstum
Wiens in den vergangenen Jahren von bis zu 22.000 EinwohnerInnen jährlich ist primär auf
den positiven Wanderungssaldo mit dem Ausland zurückzuführen.
Unter demografischen Gesichtspunkten wird Zuwanderung in Zukunft für Wien noch wichtiger
werden als bisher. Entsprechend dem europaweiten Trend steigt auch in Wien die Lebenser-
wartung der Menschen, die Zahl der Kinder pro Familie stagniert und die Bevölkerung altert
insgesamt.
Grafik 5: Wanderungsbilanzen Wien 1961 – 2008
-10.000
-5.000
0
5.000
10.000
15.000
20.000
25.000
1961
1962
1963
1964
1965
1966
1967
1968
1969
1970
1971
1972
1973
1974
1975
1976
1977
1978
1979
1980
1981
1982
1983
1984
1985
1986
1987
1988
1989
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
Fall des Eisernen Vorhangs
Zerfall Jugoslawiens
EU-Beitritt Österreich
EU-25
EU-27
18
Die langfristigen Folgen sind erheblich: Geburtenschwache Jahrgänge werden noch weniger
Neugeborene pro Jahrgang haben als die Generation davor, wodurch die Geburtenzahl weiter
sinken wird. Zusammen mit der höheren Lebenserwartung ist die Folge eine beständige Ab-
nahme des relativen Anteils jüngerer Menschen. Die aktuelle Bevölkerungsprognose für Wien
rechnet im Hauptszenario bis 2050 mit einer Abnahme des Anteils der 20- bis unter 65-
Jährigen von derzeit 64% auf 58%, während der Anteil der über 65-Jährigen von derzeit 17%
auf 23% steigen wird. Die sogenannte „Belastungsquote“ (Relation zwischen Personen im er-
werbsfähigen und Personen im nicht erwerbsfähigen Alter), die angibt, wie viele Kinder bzw.
ältere Menschen auf 100 Personen im Alter zwischen 20 und 65 kommen, wird demnach von
aktuell 56 auf 74 steigen.6
Die künftige demographische Entwicklung wird beträchtliche Konsequenzen für die gesamt-
wirtschaftliche Entwicklung und den Arbeitsmarkt haben und bereitet Probleme für die umlage-
finanzierten sozialen Sicherungssysteme. Eine Zuwanderungspolitik, die für eine dauerhafte
Einwanderung junger und gut qualifizierter Menschen sorgt, kann die Folgen dieser Bevölke-
rungsentwicklung nicht aufheben, aber mildern. Schon heute trägt die im Durchschnitt jüngere
Zuwanderungsbevölkerung in Wien zu einem besseren Verhältnis zwischen Erwerbstätigen
und im Ruhestand befindlichen Personen bei und mindert den Reformdruck im öffentlichen
Pensionsversicherungssystem.
Migration und Internationalität
Vielfalt und Offenheit gegenüber internationaler Migration verschaffen einer Stadt angesichts
der weltweit zunehmenden Mobilität Vorteile beim Wettbewerb um Talent und spezielle Qualifi-
kationen. Darüber hinaus existieren mittel- und langfristige Vorteile, da eine vielfältige Bevölke-
rung mit internationalen Bezügen in der Lage ist, Ideen und Wissen aus einem ungleich breite-
ren Pool für Kreativität und Innovation zu schöpfen.
Wien ist vielfältig geworden und verfügt über urbane Lebensqualitäten, die nicht zuletzt eine
Folge der Zuwanderung der vergangenen Jahrzehnte sind: abwechslungsreiche Stadtteile und
eine Vielfalt an Kultur, Gastronomie und Geschäften. Ohne Zuwanderung wäre Wien eine um
vieles eintönigere, weniger schöpferische und ideenreiche Stadt, als sie es heute ist. Diese
Qualitäten wiederum sind es, die Wien attraktiv für Menschen machen, die ihr Talent und ihre
Ausbildung dort einsetzen, wo sie die besten Möglichkeiten zu deren Entfaltung sehen. Wien
ist nicht nur für internationale Unternehmen, internationales Kapital oder internationale Organi-
sationen attraktiv, sondern ebenso für international orientierte, gut ausgebildete Menschen, die
mobil sind und sich den Ort ihrer Tätigkeit aussuchen. Ein fremdenfeindliches Klima macht die
Stadt hingegen unattraktiv für qualifizierte Zuwanderung.
6 Statistik Austria, Bevölkerungsprognose 2009 für Wien, Hauptvariante: Vorausberechnete Bevölkerungs-
struktur 2008-2075
19
Die Vielfalt an kulturellen Hintergründen, Erfahrungen und internationalen Bezügen ist in die-
sem Zusammenhang ein unschätzbarer Standortvorteil in einer globalisierten Welt. Die Vielfalt
der Lebensweisen und gesellschaftlichen bzw. kulturellen Hintergründe stellt jedoch auch eine
Herausforderung für die Aufnahmegesellschaft dar. Sie verlangt eine Verständigung darüber,
welche Grundwerte, Gemeinsamkeiten und Teilhabemöglichkeiten die Voraussetzung dafür
sind, dass Pluralismus, Differenz und Internationalität zum Wohle des gemeinsamen Fortkom-
mens und Zusammenlebens genutzt werden können.
Migration und Qualifikationsbreite
Spätestens seit der Ostöffnung Europas erfährt Wien eine in ihrer Qualifikationsstruktur sehr
ausdifferenzierte Zuwanderung, die beträchtliche Anteile von gut bis sehr gut ausgebildeten
Personen umfasst. Insbesondere die humanitär begründete Flüchtlingszuwanderung und die
Zuwanderung aus den 2004/2007 der EU beigetretenen Staaten und aus Deutschland haben
dem in Wien vorhandenen Humankapital wertvolle Potenziale hinzugefügt. So kommen heute
zu den 144.000 in Österreich geborenen WienerInnen mit Hochschulabschluss weitere 71.000
aus dem Ausland Zugewanderte, die eine tertiäre Ausbildung vorweisen können.7
Im Zusammenspiel mit der v.a. gering qualifizierten Zuwanderung aus den Staaten des West-
balkans und der Türkei ergibt sich jedoch auch eine deutliche Polarisierung in der Qualifikati-
onsstruktur der Wiener Zuwanderungsbevölkerung. Bei dieser findet sich neben dem auffällig
hoch qualifizierten Segment ein ausgeprägter gering qualifizierter Anteil, mit einem schwach
ausgeprägten mittleren Segment – eine Verteilung, die im genauen Gegensatz zur Qualifikati-
onspyramide der alteingesessenen Bevölkerung steht. Relativ zu ihrer Gesamtzahl sind Zu-
wanderInnen häufiger AkademikerInnen als alteingesessene WienerInnen, zugleich hat aber
ein größerer Anteil keine abgeschlossene Schulbildung oder nur Pflichtschulabschluss.
Migration und Dequalifizierung
Allerdings besteht auch die Gefahr von Dequalifizierung, bei der aus dem Ausland mitgebrach-
te Ausbildungen und Berufserfahrungen am heimischen Arbeitsmarkt nicht anerkannt und ver-
wertet werden. Tatsache ist, dass Österreich bzw. Wien wenig mit der Zuwanderung im höher
qualifizierten Bereich anfangen. Von der gesamten in Wien 2008 verfügbaren Arbeitskraft von
Personen in erwerbsfähigem Alter mit außerhalb der „alten“ EU-15 gemachten Abschlüssen
von der Matura aufwärts übten nur 35% mittlere, höhere, leitende oder selbständige Tätigkei-
ten aus. Dies ist eine Folge mangelnder Anerkennung von im Ausland erworbenen formalen
7 Tertiäre Ausbildung hier: Universität, Fachhochschule, hochschulverwandte Lehrangebote und Hochschul-
lehrgänge; zugewanderte Personen: außerhalb Österreichs Geborene mit und ohne österreichische Staatsbürgerschaft; Auswertung basiert auf der Arbeitskräfteerhebung 2007 (Mikrozensus), Statistik Aus-tria; Berechnungen der MA 5 Referat Statistik und Analyse
20
Bildungsabschlüssen (speziell im mittleren, berufsorientierten Ausbildungssegment) bzw. dem
fehlenden Wissen über deren Inhalte. Dies hat aber auch mit Sprachschwierigkeiten, dem Feh-
len von Netzwerken sowie mit Diskriminierung zu tun. Auch für die Zuwanderung aus den
„neuen“ EU-Mitgliedstaaten ist typisch, dass mittel bis hoch qualifizierte Personen nach Öster-
reich kommen, die aber zu beträchtlichem Teil in gering qualifizierten Tätigkeiten beschäftigt
sind.8
8 European Integration Consortium IAB, CMR, fRDB, GEP, WIFO, wiiw (2009): Arbeitsmobilität in der EU vor
dem Hintergrund der Erweiterung und dem Funktionieren der Übergangsregelungen, Studie im Auftrag der Europäischen Kommission
21
4 Mobilität von und nach Wien MORGEN
Annäherungen an das Bild der künftigen Mobilität von und nach Wien sind von mehreren Sei-
ten aus möglich:
Die demografische Prognose für Wien schreibt mit Hilfe von Annahmen über die künftige
Entwicklung von Geburten, Sterbefällen und Wanderungsbewegungen den Umfang der
Bevölkerung in die Zukunft fort.
Die Abwägung grundsätzlicher migrationsbezogener Trends gibt Auskunft über die vo-
raussichtliche „Zuwanderungsgeographie“ Wiens in den kommenden Jahren, Bedarfslagen
des Wiener Arbeitsmarktes und den globalen Kontext.
Die Betrachtung der unterschiedlichen Migrationsregime, unter denen die Zuwande-
rung nach Wien erfolgt, zeigt insbesondere auch die Spielräume für eine eigenständige
Gestaltung der Zuwanderung nach Wien auf.
22
4.1 Mit welcher Bevölkerungsentwicklung ist zu rechnen?
Die Bevölkerungsprognose für Wien9 kalkuliert internationale Zuwanderung auf der Basis der
Erfahrungen der vergangenen Jahre mit ein. Um die Unsicherheiten der künftigen Entwicklung
zu berücksichtigen, wird die Prognose in mehreren Varianten zur Entwicklung von Fertilität,
Mortalität und Migration erstellt. Nicht nur im plausibelsten Hauptszenario, sondern auch dem
Alterungsszenario mit hoher Lebenserwartung, aber niedriger Fertilität und Zuwanderung, be-
findet sich Wien auf einem sicheren Wachstumspfad. Zuwanderung ist mitentscheidend dafür,
in welchem Ausmaß Wien künftig wachsen wird.
Grafik 6: Ausgewählte Szenarien Bevölkerungsentwicklung Wien 2009-2030
1.400.000
1.500.000
1.600.000
1.700.000
1.800.000
1.900.000
2.000.000
1990
1995
2000
2005
2010
2015
2020
2025
2030
reale Entwicklung
Hauptszenario
Alterungsszenario
9 Statistik Austria, Bevölkerungsprognose 2009 für Wien
23
4.2 Von welchen Annahmen kann Wien ausgehen?
Zunehmende Bedeutung der EU-Binnenmigration,
stagnierende Bedeutung der Drittstaatszuwanderung
In den vergangenen Jahren hat sich ein signifikanter Wandel in der Zuwanderung nach Wien
vollzogen. Stellten in der Vergangenheit Länder außerhalb der EU die größten Anteile der
Neuzuwanderung, so ist heute und absehbar für das anbrechende Jahrzehnt die Binnenmigra-
tion innerhalb der EU die dominante Form der Zuwanderung nach Wien.
Demgegenüber haben die EU-Erweiterungen 2004 und 2007 sowie die geltenden zuwande-
rungsrechtlichen Bestimmungen (insbesondere in Folge des NAG 2005) zu einem relativen
Bedeutungsverlust der Zuwanderung aus sog. Drittstaaten, die nicht der Union angehören, ge-
führt. Der Zuzug von Flüchtlingen ist rückläufig, wird künftig jedoch – mehr als von jeder asyl-
rechtlichen Regelung – von internationalen politischen, ökonomischen und wohl auch ökologi-
schen Entwicklungen abhängig bleiben, die sich über einen Zeithorizont von 10 oder 15 Jahren
stark ändern können.
Sowohl bei der EU-Binnenmigration als auch bei der Drittstaatenzuwanderung dominieren
Herkunftsländer im mittel-, südost- und osteuropäischen Raum, was den historisch gewachse-
nen Wanderungsbeziehungen Wiens, seiner geographischen Lage und den bestehenden Ein-
kommensunterschieden entspricht.
Der derzeit deutlichen Ost-West-Migrationsneigung innerhalb der EU 27+ langfristig entgegen
wirken die ökonomischen Aufholprozesse in den „neuen“ Mitgliedstaaten, die zu einer langsa-
men Angleichung der Einkommensverhältnisse führen. In dieselbe Richtung wirkt die eigene
demografische Entwicklung der östlichen bzw. südöstlichen Mitgliedstaaten, die auch hier in
den meisten Fällen durch Alterung und Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter
gekennzeichnet ist.
In längerfristiger Perspektive werden sich die geographischen Zuwanderungsschwerpunkte
Wiens daher wahrscheinlich verschieben, da sowohl demographische als auch wirtschaftliche
Entwicklungen in den ost- und südosteuropäischen Ländern nahelegen, dass diese Staaten ih-
re Rolle als Auswanderungs- und Entsendeländer von Arbeitskraft sukzessive verlieren wer-
den. In kurz- und mittelfristiger Perspektive bis Ende des Jahrzehnts kann jedoch von einer
Prävalenz der Migrationsbeziehungen Wiens in diesen Raum ausgegangen werden.
24
Anziehungskraft und Bedarfslagen des Wiener Arbeitsmarktes
Beschäftigungsmöglichkeiten am Wiener Arbeitsmarkt und Bedarfslagen der Wiener Arbeitge-
berInnen machen – unabhängig von der rechtlich-politischen Steuerung – die wirtschaftlichen
Faktoren aus, die ZuwanderInnen nach Wien führen. Dabei bewirkt der Strukturwandel der
Wiener Wirtschaft als Ausdruck von grundlegenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Entwicklungstrends auch eine Veränderung der in Wien benötigten Qualifikationen. Im Kern
geht es um den Wandel hin zu einer wissensintensiven Dienstleistungsökonomie mit hoher
Wertschöpfung, bei gleichzeitigem relativen Bedeutungsverlust des produzierenden Sektors.
Während das Arbeitsplatzangebot im industriellen Bereich seit Jahren schrumpft, entstehen
neue Arbeitsplätze im Bereich der hochwertigen unternehmensnahen Dienstleistungen, in For-
schung und Entwicklung.
Speziell im Bereich der höher qualifizierten technischen und naturwissenschaftlichen Berufs-
bilder entwickelt sich die Beschäftigung überdurchschnittlich positiv.10 Gleichzeitig stellt der
Mangel an diesbezüglich spezialisiertem Personal und AbsolventInnen einschlägiger Ausbil-
dungen ein strukturelles Problem am heimischen Arbeitsmarkt dar. Selbst durch Bildungsre-
formen, die den Erwerbspotenzialen im oberen Qualifizierungsbereich umfassend entsprechen
und breitflächig ein höheres Ausbildungsniveau bereitstellen, können nicht alle Bedarfslagen
am Arbeitsmarkt erfüllt werden: In einem Umfeld immer stärkerer Spezialisierungen und breite-
rer Arbeitsteilung ist gerade ein kleines Land wie Österreich auf die Verfügbarkeit des Know-
how von internationalen Fachkräften angewiesen.
Bei all dem gilt, dass die Anziehungskraft des heimischen Arbeitsmarktes abhängig von kon-
junkturellen Entwicklungen ist. Die vergangenen Jahre der Hochkonjunktur und die darauf fol-
gende Finanz- und Wirtschaftskrise sind europaweit eine Erinnerung daran, dass sehr direkte
Zusammenhänge zwischen hohem Wachstum, expandierenden Arbeitsmärkten und verstärkter
Zuwanderung bestehen; bzw. dass Wachstumseinbrüche zu einer signifikanten Abnahme der
Zuwanderung und deutlichen Rückwanderungsströmen führen können.
Globale Mobilität von Hoch- und Höchstqualifizierten
Im hoch- und höchstqualifizierten Bereich ist, angetrieben durch die ökonomischen und tech-
nologischen Kräfte der Globalisierung, ein zunehmend weltweiter Arbeitsmarkt entstanden. Ein
wesentlicher Faktor dabei ist der Aufstieg von zahlreichen Schwellenländern, der ein gut aus-
gebildetes Arbeitskräftepotential hervorbringt, das auch international mobil ist. Gleichzeitig
steigen in den hochentwickelten Ländern die Anstrengungen, attraktivere Zuwanderungsbe-
10 Mittelfristige Beschäftigungsprognose – Teilbericht Wien. Berufliche und sektorale Veränderungen 2006 bis
2012; WIFO Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung 2008
25
dingungen für Schlüsselkräfte zu gewährleisten sowie Talente und Innovatoren an sich zu bin-
den.
Am oberen Ende der Qualifikations- und Bildungsleiter gibt es somit ein beträchtliches interna-
tionales Wanderungspotenzial, verbunden mit mehr Wettbewerb um diese „besten Köpfe“ von
Seiten der führenden Wirtschafts- und Innovationsstandorte. Ob Wien in dieser Gleichung ei-
nen „brain gain“ oder „brain drain“ erfährt und zu einem Knoten im weltweiten Fluss der Spit-
zenqualifizierten wird, ist einerseits von den zuwanderungsrechtlichen Rahmenbedingungen,
andererseits von der Attraktivität und globalen Wahrnehmbarkeit Wiens als einem Ort abhän-
gig, an dem hoch- und höchstqualifizierte oder innovationsfreudige Menschen für sich und ihre
Angehörigen eine Perspektive vorfinden – seien sie nun aus dem Ausland zugewandert oder in
Österreich aufgewachsen.
26
4.3 Welche Migrationsregime werden bestimmend sein?
Als Hauptstadt eines Mitgliedstaates der Europäischen Union erlebt Wien Zu- und Abwande-
rung aus drei Bezugsräumen: Österreich, Ländern der EU und sog. Drittstaaten, die nicht der
EU angehören. Für Menschen, die aus diesen drei Räumen nach Wien kommen, bestehen im
Hinblick auf ihre Rechte und Einstiegschancen große Unterschiede. Auch wenn in der Folge
Bildung, Erfahrung, Alter, Geschlecht oder gesellschaftlich-kultureller Hintergrund hauptent-
scheidend für das individuelle Fortkommen werden, ist der rechtliche Rahmen der Zuwande-
rung doch wichtig genug, um die Mobilität nach und von Wien nachhaltig zu prägen und zu
strukturieren. Er bestimmt wesentlich über die konkreten Integrationschancen der neu Zuwan-
dernden.
Während die unbeschränkte innerösterreichische Mobilität eine Selbstverständlichkeit ist und
EU-BürgerInnen (so sie nicht Übergangsbestimmungen am Arbeitsmarkt unterliegen) eher in-
formellen Hürden gegenüberstehen, sind ZuwanderInnen aus Drittstaaten mit mehr oder weni-
ger ausgeprägten, teils gravierenden, Einschränkungen konfrontiert. Für die internationale Mo-
bilität nach und von Wien bestehen somit unterschiedliche Zuwanderungsregime: Neben dem
Rahmen der EU-Binnenmobilität sind dies im Bereich der Drittstaatenzuwanderung die von
Rechtsansprüchen abgeleitete Familienzusammenführung (familienorientierte Mobilität), Ar-
beitsmarktzuwanderung (berufsorientierte Mobilität) sowie Asylmigration (humanitär begründe-
te Mobilität). Aus der Sicht der Aufnahmestadt Wien bedeuten die unterschiedliche Ausstat-
tung mit Rechten, die verschieden gelagerten Motive für einen Zuzug nach Wien sowie die he-
terogenen materiellen bzw. sozialen Startbedingungen differenzierte Anforderungen im Integ-
rationsbereich. Auch die Möglichkeiten der Steuerung und Gestaltung sind im Rahmen der
einzelnen Zuwanderungsregime unterschiedlich ausgeprägt.
EU-Binnenmobilität
Migrationsregime 1
Drittstaatenmobilität
Migrationsregime 2
ÖsterreichBinnen-mobilität
beschäftigungs-orientierte Mobilität
familien-orientierte Mobilität
EU27Binnen-mobilität
humanitärbegründete
Mobilität
27
5 Charakteristika künftiger Migration und Mobilität Fünf Settings für Gestaltbarkeit
Es ist offensichtlich, dass für künftiges politisches Handeln im Zusammenhang von Migration
und Mobilität mehrere Facetten zu berücksichtigen sein werden. Aus Wiener Sicht werden fünf
„Settings“ mit jeweils differenzierten Ausprägungen von Bedeutung sein:
Neuzuzugfamilien-orientierteDrittstaaten-mobilität
Neuzuzug aus der EU
Neuzuzug aus Österreich
Neuzuzugberufs-orientierteDrittstaaten-mobilität
Neuzuzughumanitär begründeteDrittstaatenmobilität(dunkel=Asylberechtigte,hell=Asylwerbende inGrundversorgung)
Neuzuzug nach Wien im Jahr 2008
Jedes dieser fünf Settings – im obigen Organigramm sind die quantitativen Relationen zwi-
schen ihnen maßstabsgetreu dargestellt (Basis Neuzuzug 2008) – wird im Folgenden unter
drei zentralen Gesichtspunkten betrachtet, um ein plastisches Bild zukünftiger Herausforde-
rungen und Aufgaben zu schaffen:
Charakteristik & Umfang (Wesen und Quantitäten)
Perspektive MigrantInnen (Bedürfnisse und Erwartungen)
Politische Optionen (Steuerung und Gestaltung)
28
5.1 Setting 1: Österreichische Binnenmobilität
(= Migrationsregime 1)
Charakteristik und Umfang
ZuwanderInnen aus den anderen Bundesländern machen aktuell etwa 40% des jährlichen Ge-
samtzuzugs nach Wien aus. Ein Viertel von ihnen verfügt selber nicht über die österreichische
Staatsangehörigkeit. Bei den Zuwanderungsmotiven spielen Bildungsinteressen (Wiens Hoch-
schulen bilden 56% aller in Österreich Studierenden aus11) und Beschäftigungsinteressen
(Wien stellt 20% der Erwerbstätigen in Österreich, aber 28% der Erwerbstätigen im höchstqua-
lifizierten Bereich12) wichtige Rollen. Als Resultat ist die innerösterreichische Zuwanderung
tendenziell jung und höher qualifiziert; temporäre Zuwanderung und Rückwanderung sind gang
und gäbe. Die Abwanderung betrifft zu zwei Dritteln die Suburbanwanderung in das Umland,
bei der die betreffenden Personen als Arbeits- und BildungspendlerInnen meist weiterhin zum
Fortkommen Wiens beitragen: Auch die (im Volkszählungsjahr 2001) täglich 208.000 Einpend-
lerInnen und 86.000 AuspendlerInnen gehören zum Mobilitätsbild Wiens. Die Abwanderung ins
Umland ist der alleinige Grund dafür, dass die innerösterreichische Wanderungsbilanz seit
Jahren negativ für Wien ist.
Wenn ich aus einem der Bundesländer nach Wien komme...
Österreichische ZuwanderInnen haben in der Regel neben der völligen rechtlichen Gleichstel-
lung und der Abwesenheit von Sprachbarrieren einem enormen Vorteil: Sie wissen Bescheid,
über die Funktionsweise des heimischen Arbeitsmarktes oder auch der Gesundheits- und So-
zialversicherungssysteme, und sie verfügen über Nachweise von Bildung und Qualifikationen,
die dem in Wien herrschenden Standard entsprechen. In die wesentlichen Systeme des Leis-
tungs- und Sozialstaats sind sie von vornherein integriert und Diskriminierung aufgrund der
Herkunft ist für sie kein Thema. Politische Teilhabe und Mitbestimmung ist eine demokratische
Selbstverständlichkeit. Haben diese ZuwanderInnen selber einen Migrationshintergrund, kann
dieses Bild aber schon wieder anders aussehen.
11 (Ordentliche) Studierende an öffentlichen Universitäten und Fachhochschulen, Hochschulstatistik
2008/2009, Statistik Austria 12 „Höchstqualifiziert“ hier: Personen mit tertiärer (akademischer) Ausbildung (ISCED 5-6); Mikrozensus-
Arbeitskräfteerhebung, 2. Quartal 2009, Statistik Austria
29
Steuerungsmöglichkeiten & Gestaltbarkeit
Der seit Jahrzehnten kontinuierliche und deutliche Zufluss von Zuwandernden aus dem übri-
gen Österreich zeigt, dass Wien seine Funktion als Verwaltungs-, Wirtschafts-, Bildungs-, In-
novations- und Kulturhauptstadt des Landes erfolgreich wahrnimmt. Nichts deutet darauf hin,
dass Wien als Wohn-, Arbeits- und Ausbildungsort für ZuwanderInnen aus anderen Bundes-
ländern an Attraktivität verliert und diese Rolle nicht auch künftig aufrechterhalten kann.
Die große Herausforderung für Wien ist jedoch die Dämpfung der Abwanderung in das Um-
land. Bei dieser bleiben Arbeitskraft und Humanressourcen zwar meist für die Stadt erhalten,
aber es entstehen erhebliche ökologische und infrastrukturelle Folgekosten, während Kaufkraft
abfließt und die Steuerbasis sinkt. Dem entgegenwirken kann Wien durch die weitere Erhö-
hung seiner Lebensqualität, die (auch kostenseitige) Attraktivität seiner Bildungs- und Sozial-
einrichtungen und Investitionen in attraktive, innovative und flexible Wohnangebote innerhalb
der Stadtgrenzen, die die Vorteile des Wohnens im Umland kompensieren. Insbesondere kön-
nen die großen, bereits in Umsetzung befindlichen Stadtentwicklungsvorhaben der nächsten
zehn bis fünfzehn Jahre sowie die innerstädtische Stadterneuerungstätigkeit genutzt werden,
um jungen Familien, die typischerweise ins Umland ziehen, attraktive Angebote zu machen.
Der kosmopolitische und kulturell vielfältige Charakter Wiens, der aus der internationalen Zu-
wanderung resultiert, kann auch hier eine entscheidende Rolle spielen, um EinwohnerInnen in
der Stadt zu halten.
30
5.2 Setting 2: EU-Binnenmobilität
(= Migrationsregime 1)
Charakteristik & Umfang
Europäische Migration und Mobilität ist aus österreichischer Sicht heute schon zwischen 21
Staaten der EU, des übrigen EWR und der Schweiz ohne jegliche Barrieren möglich.13 2011
erweitert sich dieser Raum durch den freien Arbeitsmarktzugang für Angehörige jener acht
Staaten, gegenüber denen Österreich (zusammen mit Deutschland) derzeit noch Übergangs-
fristen in Anspruch nimmt. Spätestens mit Jahresbeginn 2014 wird die gesamte heutige EU-27
ein Binnenmarkt sein. Gegenwärtig stellen EU-BürgerInnen etwa 50% der jährlichen Zuwande-
rung von ausländischen StaatsbürgerInnen.
Herkunftsgruppen aus EU-Mitgliedstaaten wie Deutschland, Polen oder Rumänien hatten in
den vergangenen Jahren die stärksten Wachstumsraten zu verzeichnen. Der relativ hohe An-
teil von mittel- bis hoch Qualifizierten unter den EU-ZuwanderInnen (deren Qualifikationsstruk-
tur jener des Wiener Bevölkerungsschnitts gleicht) hat zu einer deutlichen Verbesserung in der
Bildungsstruktur der Wiener Migrationsbevölkerung geführt.14
Eine auf die Zukunft der nächsten fünf bis zehn Jahre orientierte Migrationspolitik aus Wiener
Sicht muss vom künftigen Normalfall EU-27 (+ EWR und Schweiz) bei einem fortgesetzten Er-
weiterungsprozess ausgehen und mögliche Übergangsphasen in Bezug auf den Arbeitsmarkt
in ihre Überlegungen mit einbeziehen. Die mit dem Erweiterungsprozess der EU einhergehen-
de Liberalisierung der Zuwanderungsmöglichkeiten wird eine Konstante bleiben – nicht zuletzt,
weil gerade solche Länder eine europäische Perspektive haben, mit denen Wien eine jahr-
zehntelange Zuwanderungsgeschichte verbindet. Die EU-Binnenmigration wird für Wien also
auch deshalb immer bedeutender, weil relevante Herkunftsländer zukünftig von Drittländern zu
EU-Mitgliedsländern werden und beträchtliche Zuwanderungsströme damit in ein grundsätzlich
anderes Migrationsregime geraten.
Der Zustrom von EU-BürgerInnen ist für die Stadt vorteilhaft, weil ein gemeinsamer institutio-
neller und politischer Rahmen, nämlich die EU, verbindet. Es kommen junge Menschen, die
Kaufkraft mitbringen, um in einer der attraktiven Hauptstadtuniversitäten zu studieren. Es wan-
dern qualifizierte Arbeitskräfte zu, die im Rahmen ihres Unternehmens nach Wien geschickt 13 15 „alte“ Mitgliedstaaten vor der Erweiterung 2004; EWR-Staaten Norwegen, Island und Liechtenstein;
Schweiz auf Basis von Europaabkommen; für Malta und Zypern (2004 der EU beigetreten) hat Österreich keine Übergangsfristen in Anspruch genommen.
14 U.a. European Integration Consortium IAB, CMR, fRDB, GEP, WIFO, wiiw (2009): Arbeitsmobilität in der EU vor dem Hintergrund der Erweiterung und dem Funktionieren der Übergangsregelungen, Studie im Auf-trag der Europäischen Kommission; Klaus Nowotny, Robert Hierländer (2009): FAMO Fachkräftemonitoring – Migrations- und Pendelpotentiale in Wien und den slowakischen Grenzregionen zu Österreich, WIFO Ös-terreichisches Institut für Wirtschaftsforschung
31
werden oder die aufgrund einer offenen Stelle ihren Wohnsitz verlagern. Und es ziehen Ar-
beitskräfte in die Stadt, die auch häufig wieder zurückkehren, sobald die Nachfrage nachlässt.
Temporäre Niederlassungen, kurzfristige Pendelmigrationen aber auch zeitlich unbestimmte
Aufenthalte sind typische Migrationsmuster für viele ZuwanderInnen aus der Union. Derartige
Formen der Mobilität werden vor allem deshalb möglich, weil die EU einen stabilen rechtlichen
Rahmen bildet, der für die/den Einzelnen Gleichstellung und Sicherheiten in Bezug auf den
Beschäftigungszugang, aber auch Rückwanderung und späteren Wiederzuzug bietet. Die
manchmal nachgesagte Tendenz der Zuwanderung in die sozialen Netze ist bei der EU-
Binnenmobilität nicht nachweisbar.
Wenn ich aus einem anderen EU-Staat nach Wien komme …
Obwohl rechtlich österreichischen StaatsbürgerInnen weitgehend gleichgestellt, haben es Per-
sonen, die den Mobilitätsraum EU nutzen, dennoch mit zahlreichen informellen Hürden zu tun.
Für Aufenthaltszweck und Betätigung angemessene Deutschkenntnisse sind dabei oft nur eine
von vielen Herausforderungen. Soweit nicht schon im Herkunftsland der/die künftige Arbeitge-
berIn in Wien bekannt ist, stehen die meisten ZuwanderInnen aus dem EU-Raum vor der Auf-
gabe, eine ihren Berufserfahrungen und Qualifikationen entsprechenden Beschäftigung zu fin-
den.
Um eine Dequalifikation zu vermeiden, benötigen sie Orientierungswissen über die hiesigen
Mechanismen und Einrichtungen der Arbeitsplatzvermittlung. Auf der Seite der ArbeitgeberIn-
nen gefragt ist Offenheit gegenüber im EU-Ausland erworbenen Qualifikationen sowie den
Chancen, die sich für das Unternehmen durch MitarbeiterInnen aus der Union ergeben kön-
nen; in Kombination mit Zugang zu fundierten Informationen über die mit den verschiedensten
Abschlüssen aus dem EU-Raum verbundenen Fähigkeiten. Nur unter solchen Bedingungen
können faktische Hürden und Diskriminierungen vermieden und eine unter gesamtwirtschaftli-
chen Gesichtspunkten nutzbringende Allokation des Arbeitskräftepotenzials gewährleistet wer-
den. Was für den Arbeitsmarkt gilt, hat für die meisten Bereiche Gültigkeit: wer nicht mit öster-
reichischen Schulen, Krankenhäusern oder Gemeindewohnungen aufgewachsen ist, benötigt
ein besonderes Orientierungswissen, um alle Möglichkeiten, die sich aus der rechtlichen
Gleichstellung ergeben, bestmöglich nutzen zu können.
Politische Teilhabe ist für EU-BürgerInnen in Wien nur sehr eingeschränkt möglich. Um das
Wahlrecht auf Bundesebene zu erlangen, müssen sie ihre ursprüngliche Staatsbürgerschaft
aufgeben – wenig zeitgemäß angesichts des in der EU erreichten Integrationsstands und der
vorherrschenden Mobilitätsmuster. Das aus der Unionstaatsbürgerschaft abgeleitete kommu-
nale Wahlrecht für EU-BürgerInnen wird in Wien sehr eng interpretiert und lediglich auf Be-
zirksebene eingeräumt.
32
Steuerungsmöglichkeiten & Gestaltbarkeit
Zuwanderungsrechtlich ist die EU-Binnenmobilität weder planbar noch steuerbar. In Anbe-
tracht von Niederlassungsfreiheit und Wegfall sämtlicher aufenthalts- und beschäftigungsrecht-
licher Steuerungsmöglichkeiten erhalten dagegen Instrumente einer Informations- bzw.
Anreizsteuerung eine ungleich stärkere Bedeutung. Wo mobile EU-BürgerInnen die freie Wahl
zwischen Zielländern und -städten in der Union haben, können „weiche“ Faktoren wie z.B. Le-
bensqualität, günstiger Wohnraum, familiengerechtes Umfeld, Innovationsklima etc. den ent-
scheidenden Ausschlag für den Entschluss geben, sich an einem bestimmten Zielort niederzu-
lassen. Die gezielte Vermittlung von Bedarfslagen am Arbeitsmarkt, von Informationen über
vorhandene Beschäftigungsmöglichkeiten bzw. über Sparten mit geringen Aussichten für Zu-
wanderInnen kann ein effektives Instrument der Anreiz- und Informationssteuerung sein. Ge-
rade die durch die Mitgliedschaft ermöglichte enge Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten
und ihren Behörden erleichtert es, Signale an jene potenziellen ZuwanderInnen auszusenden,
die aufgrund ihrer Qualifikation benötigt werden.
Verpflichtende integrationspolitische Instrumente, wie sie für Drittstaatsangehörige implemen-
tiert wurden, sind für ZuwanderInnen aus dem EU-Raum dagegen rechtlich unzulässig: kein/e
EU-BürgerIn kann z.B. zu einem Sprachkurs genötigt werden. (Derzeit stammen gut 20% der
Wiener Zuwanderungsbevölkerung aus nicht-deutschsprachigen EU-Staaten.) Für die Integra-
tionspolitik bedeutet dies, dass Leistungen zum erleichterten Zurechtfinden und Zusammenle-
ben viel stärker auf Freiwilligkeit und Attraktivität des Angebots basieren müssen. Da die Bin-
nenzuwanderung aus dem EU-Raum wie kein anderer Mobilitätstyp vom Phänomen der Kurz-
zeit- und Pendelmigration geprägt ist, stellt sich auch die Frage, welche Unterstützungsleis-
tungen für Gruppen notwendig und adäquat sind, deren kurzfristiger und/oder wiederholter
Aufenthalt in Wien nicht von vornherein auf eine permanente Niederlassung oder Einbürgerung
hinausläuft.
33
5.3 Setting 3: Berufsorientierte Drittstaaten-Mobilität
(= Migrationsregime 2)
Charakteristik & Umfang
Beschäftigungsmotivierte Zuwanderung aus Drittstaaten findet zurzeit im Prinzip nur statt,
wenn der oder die Betroffene bereits über eine/n ArbeitgeberIn in Österreich verfügt. Das gilt
für (nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz quotenpflichtige) Schlüsselkräfte und
(quotenfreie) WissenschafterInnen genauso wie für (kontingentgebundene) Saisonarbeitskräf-
te. Die Zuwanderung ist außerdem in der Regel nur dann möglich, wenn der/die ArbeitgeberIn
nachweisen kann, dass am inländischen Arbeitsmarkt keine adäquate Arbeitskraft verfügbar
ist. Eine der wenigen Ausnahmen gilt für WissenschafterInnen. Die geltende Rechtslage sieht
also vor, dass beschäftigungsorientierte Zuwanderung aus Drittstaaten nur temporär im Nied-
riglohnsektor sowie im hoch- und höchstqualifizierten Bereich möglich ist.
Eine Sonderstellung nehmen StudentInnen aus Drittstaaten ein, die auf Grundlage der Studi-
enplatzzusage einer österreichischen Universität (und meist auch des Nachweises eines Sti-
pendiums) einen längerfristigen Aufenthalt zu Ausbildungszwecken nehmen dürfen. Auch die-
se Form der Zuwanderung ist letztlich – unabhängig von einer möglichen späteren Laufbahn in
Wien – berufsorientiert und findet im höher qualifizierten Segment statt.
Quantitativ sind die genannten Teilregime der Drittstaatenzuwanderung von geringer Bedeu-
tung. So wurden 2008 österreichweit nur 3.103 beschäftigungsorientierte Erstaufenthaltstitel
vergeben15, etwa die Hälfte davon für Wien. Bei den unselbständigen Schlüsselkräften, die hier
den Hauptanteil ausmachen, wirkt neben der obligatorischen Arbeitsmarktprüfung vor allem die
geforderte Bruttoentlohnung16 als faktische Zuwanderungsbremse. Für Studierende aus Dritt-
staaten wurden zudem 2008 österreichweit 2.320 Erstaufenthaltsbewilligungen erteilt.17 Damit
entfielen knapp 29% der Erstzuwanderung aus Drittstaaten auf Personen, die sich aus einer
beruflichen Motivation im weitesten Sinne in Österreich niederließen.18
Auch am anderen Ende der Qualifikationsleiter, wo temporäre Beschäftigungsbewilligungen für
Drittstaatsangehörige („Saisonniers“) erteilt werden, gilt: Quantitativ ist diese Zuwanderung
von untergeordneter Bedeutung. Die Zahl der in Wien im gering qualifizierten Bereich pro Mo-
nat aufrechten Saisonarbeitsgenehmigungen schwankt (2008) zwischen rund 100 (im Winter) 15 Umfasst Schlüsselkräfte und Selbständige, Rotationsarbeitskräfte, Betriebsentsandte, ForscherInnen,
KünstlerInnen sowie Sonderfälle unselbständiger Erwerbstätigkeit; BMI Bundesministerium für Inneres, Fremdenstatistik 2008
16 60% der SV-rechtlichen Höchstbeitragsgrundlage; dies entspricht im Jahr 2009 2.412,- Euro monatlich. 17 BMI Bundesministerium für Inneres, Fremdenstatistik 2008 18 Als Anteil der 2008 insgesamt 17.756 für ganz Österreich vergebenen Erstaufenthalts- und Erstniederlas-
sungsbewilligungen (ohne Inlandsgeburten von DrittstaatsbürgerInnen) sowie Erstaufenthaltstitel-Familienangehörige; BMI Bundesministerium für Inneres, Fremdenstatistik 2008
34
und rund 1000 (im Sommer) und ist an die Vorgaben der jährlichen Niederlassungsverordnung
gebunden.19 Der Aufenthalt der in Wien v.a. in der Land- und Forstwirtschaft befristet Beschäf-
tigten beträgt maximal sechs Monate und basiert nicht auf einem Aufenthaltstitel, sondern ei-
nem Visum. Aufenthaltsverfestigung und Familiennachzug sind nicht möglich, jedoch greifen
viele Unternehmen immer wieder auf dieselben (einmal angelernten) Personen zurück.
Wenn ich als HochqualifiziertEr aus einem Drittstaat nach Wien komme…
Unter den höher und höchst Qualifizierten gibt es viele, die besonders mobil sind und ihre Ent-
scheidung, nach Wien zu kommen (bzw. hier zu bleiben) von optimalen Aufenthalts- und Be-
schäftigungsbedingungen abhängig machen. ForscherInnen, WissenschafterInnen und andere
„InnovatorInnen“, aber auch internationale Unternehmen mit multinationaler Belegschaft lassen
sich bei ihren Niederlassungsentscheidungen nicht zuletzt von dem Kriterium leiten, dass der
Begleitaufwand möglichst gering sein soll. Sie meiden Orte, an denen die Erteilung von Auf-
enthaltsgenehmigungen und -verlängerungen lange dauert, aufenthalts- und beschäftigungs-
rechtliche Hürden für Angehörige existieren oder auch unnötig viel Zeit für die Suche nach
passenden Beschäftigungs- oder Ausbildungsmöglichkeiten für mitgebrachte Familienangehö-
rige verloren geht. Hingegen haben Städte, in denen der entsprechende Aufwand gering ist,
einen entscheidenden Vorteil im internationalen Wettbewerb um diese Personengruppen.
Berufsorientierte Zuwanderung hat einen Ausgangspunkt auch in der Bildungsmobilität junger
Menschen, die durch ein Studium eine Bindung zum Zuwanderungsland entwickeln. Für sie
spielen neben der Attraktivität des Hochschulangebots unkomplizierte Einreise- und Aufent-
haltsbedingungen sowie Möglichkeiten zum Nebenverdienst eine Rolle. Damit AbsolventInnen
heimischer Universitäten aus Drittstaaten ihre Ausbildung zugunsten Wiens einsetzen können,
sind jedoch Möglichkeiten zur Aufenthaltsverfestigung und Zugänge zum Arbeitsmarkt nötig.
Durch die häufig nur temporär geplante Zuwanderung ist das Interesse an gesellschaftlicher
und politischer Mitbestimmung im Zuwanderungsland unter Hoch- und Höchstqualifizierten in
vielen Fällen nur gering ausgeprägt bzw. es überwiegt das Zugehörigkeitsgefühl zum Ur-
sprungsland („Expat“). Politische Partizipation im Rahmen der repräsentativen Demokratie ist
wegen der fremden Staatsbürgerschaft, deren Aufgabe meist auch nicht gewollt ist, ausge-
schlossen. Die Nicht-Teilhabe am politischen Fortkommen der Gaststadt wird aber problema-
tisch, wenn eine hohe Anzahl derartiger ZuwanderInnen ansässig ist, diese die öffentlichen
Einrichtungen der Stadt nutzen bzw. mitfinanzieren und somit ein großes Teilhabepotenzial
brachliegt. Umso wichtiger ist die Möglichkeit auch für diese Gruppe von Zuwandernden, über
die vorhandenen partizipativen Mitbestimmungsformen am Schicksal Wiens Anteil nehmen zu
können.
19 AMS Arbeitsmarktdaten
35
Steuerungsmöglichkeiten & Gestaltbarkeit
Insgesamt ist die berufsbezogene Mobilität aus Drittstaaten das Segment, in dem die national-
staatliche Steuerungsfähigkeit am stärksten gegeben ist. Österreich nutzt zurzeit diesen Frei-
raum im Sinne einer möglichst restriktiven Zuwanderungspolitik, die nur die für einen hochent-
wickelten Industriestaat unbedingt notwendige Migration aus der Welt jenseits der Europäi-
schen Union zulässt.
Als Folge spielt, wie die Zahlen zeigen, Österreich bzw. Wien faktisch keine Rolle im weltwei-
ten, v.a. die Industrie- und Schwellenländer Asiens und Amerikas einbeziehenden Wettbewerb
um Talente und Spitzenqualifikationen. Ohne europäische Perspektive ist der österreichische
Arbeitsmarkt oft zu klein und wenig attraktiv für potenzielle ZuwanderInnen, die ebenso gut
z.B. in die USA gehen könnten.20 Anders als in vielen Ländern haben in Österreich ausgebilde-
te HochschulabsolventInnen aus Drittstaaten praktisch keine Perspektive zur Aufenthaltsver-
festigung und Beschäftigung. Weltweite Sichtbarkeit und Spitzenleistungen stellen für die hei-
mische Forschungs- und Hochschullandschaft an sich schon große Herausforderungen dar,
der bestehende fremdenrechtliche Rahmen stellt dabei einen zusätzlichen Nachteil dar.
Für Wien bedeutet dies, dass innerhalb eines relativ eng gesteckten Rahmens Elemente einer
Attraktivitätsstrategie erfolgreich sein können, die – vermittelt über die ArbeitgeberInnen und
Forschungs-/Hochschuleinrichtungen als „Mentoren“ dieser Zuwanderung – auf die Lebens-
qualitäten der Stadt und die hier vorhandenen Chancen verweist; bzw. auf die Attraktivität des
Wiener Hochschulangebots. Für darüber hinausgehende Möglichkeiten, internationales Hu-
mankapital zu gewinnen, ist die Stadt stark auf den Bund und die Ausgestaltung des österrei-
chischen Fremdenrechts angewiesen.
20 Die 2009 von den EU-Mitgliedstaaten beschlossene, bis 2011 in innerstaatliches Recht umzusetzende,
sog. Blue Card-Richtlinie schafft einen europaweit einheitlichen Aufenthaltstitel für Hochqualifizierte, der Erleichterungen bei Niederlassung und schrittweisen Arbeitsmarktzugang bietet. Die ursprüngliche Intenti-on, durch eine Einwanderungsmöglichkeit in den gesamten EU-Raum Europa weltweit als Zuwanderungs-ziel für Hochqualifizierte attraktiver zu machen, wurde allerding nur bedingt erreicht. Im Vergleich etwa zur amerikanischen Green Card handelt es sich um ein sehr bürokratisches und eingeschränktes Modell. Auch InhaberInnen einer Blue Card werden oft nicht automatisch innerhalb der EU weiterwandern können, da sich die Mitgliedstaaten (darunter Österreich) das Recht vorbehalten haben, die Niederlassung in solchen Fällen nach einzelstaatlichem Recht (d.h. in Österreich dem bestehenden arbeitsplatzgebundenen Quoten-system) zu handhaben. Die reale Bedeutung der Blue Card für die Zuwanderung nach Österreich bleibt ab-zuwarten.
36
5.4 Setting 4: Familienorientierte Drittstaaten-Mobilität
(= Migrationsregime 2)
Charakteristik & Umfang
Wo einmal eine Herkunftsgruppe etabliert ist und ihren Aufenthalt verfestigen konnte, kommt
es zu Folgemigration. ErstzuwanderInnen fungieren als Ankerpersonen und soziale Kristallisa-
tionskerne, die den Weg für nachwandernde MigrantInnen bereiten. Internationale Mobilität
aufgrund von Familiengründungen und -zusammenführungen ist typisch für alle Einwande-
rungsgesellschaften. 2008 entfielen österreichweit etwa 62% der Erstzuwanderung von Dritt-
staatsangehörigen auf Familienangehörige, die zum ersten Mal einen Aufenthaltstitel erhalten
haben (inklusive der Angehörigen von österreichischen StaatsbürgerInnen und jener der meist
hochqualifizierten, berufsorientiert Zugewanderten).21 Diese knapp 11.000 Personen entspra-
chen 11% der Gesamtzuwanderung von ausländischen StaatsbürgerInnen nach Österreich.
Rund 5.000 davon waren Familienangehörige von in Österreich lebenden Drittstaatsangehöri-
gen, das entsprach etwas mehr als 5% des Neuzuzugs von ausländischen StaatsbürgerInnen.
Für Wien bedeutete dies im Jahr 2008 insgesamt etwa 6.000 zugezogene Familienangehörige
aus Drittstaaten.22 Als Folge der im NAG 2005 enthaltenen Kriterien (u.a. Mindesteinkommen
der/des in Österreich lebenden PartnerIn) ist, entsprechend der Intention des Gesetzes, der
Anteil der familienorientiert Zuwandernden in den letzten Jahren zurückgegangen.
Weil bei der Gewährung der Einwanderung nicht Ausbildungsniveau oder Fähigkeiten, sondern
die Erfüllung eines Rechtsanspruches von in Österreich Ansässigen ausschlaggebend ist, ver-
fügen die zuwandernden Personen über das denkbar breiteste Spektrum an Bildung, Qualifika-
tionen, Sprachkenntnissen und Berufserfahrungen, mit höchst unterschiedlichen Vorausset-
zungen für einen erfolgreichen Einstieg in den Wiener Arbeitsmarkt und das Zusammenleben
in der Stadt. Über den Weg der familienorientierten Zuwanderung erhält Wien geringer qualifi-
zierte ZuwanderInnen ebenso wie eine beträchtliche Zahl von gut Ausgebildeten und hoch
Qualifizierten.23
21 Als Anteil der 10.993 für Familienangehörige vergebenen Erstaufenthaltstitel von insgesamt 17.756 für
ganz Österreich vergebenen Erstaufenthalts- und Erstniederlassungsbewilligungen (ohne Inlandsgeburten von DrittstaatsbürgerInnen) sowie Erstaufenthaltstitel-Familienangehörige; ohne Berücksichtigung der Zahl von Asylanträgen; BMI Bundesministerium für Inneres, Fremdenstatistik 2008
22 Berechnet analog dem Anteil für ganz Österreich aus der Gesamtzahl von rund 9.500 im Jahr 2008 in Wien vergebenen Erstaufenthalts- und Erstniederlassungsbewilligungen (ohne Inlandsgeburten von Drittstaats-bürgerInnen) sowie Erstaufenthaltstitel-Familienangehörige, Quelle: Stadt Wien, MA 35 Einwanderung, Staatsbürgerschaft, Standesamt; Berechnung der MA 17 Integrations- und Diversitätsangelegenheiten und der Wiener Zuwanderungskommission
23 Eine im Frühjahr 2009 durchgeführte Erhebung unter den EmpfängerInnen des Wiener Bildungspasses im Rahmen des Startcoachings ergab, dass (bei einem Frauen- bzw. Männeranteil von 57 bzw. 43%) insge-samt 14% einen Hochschulabschluss vorweisen können, 28% eine höhere Schule und 17% eine Fachschu-le abgeschlossen haben, 35% über Pflichtschulabschluss verfügen und 5% über keinen Schulabschluss.
37
Wenn ich aus einem Drittland als Familienangehörige/r nach Wien komme …
Die Vielfalt an beruflichen, qualifikatorischen und sozialen Hintergründen der in diesem Rah-
men nach Wien Kommenden geht mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen einher. Während
für die einen die Anerkennung und tatsächliche Inwertsetzung der mitgebrachten Qualifikatio-
nen im Vordergrund steht, benötigen andere Zusatzschulungen oder Zugang zu Ausbildungs-
möglichkeiten im tertiären Bildungssektor, und für wiederum andere liegt der Schlüssel in Ba-
sisqualifizierungen (bis hin zur Alphabetisierung), im Aufbau oder der Vertiefung von Deutsch-
kenntnissen und in der Vermittlung von gesellschaftlichem Orientierungswissen.
Mit anderen Worten: Es benötigen gerade die – in der Regel dauerhaft zugezogenen – Fami-
lienangehörige einen Zuwanderungsort, der über „Aufnahmekompetenz“ verfügt: Mit Bildungs-,
Arbeitsmarkt- und Sozialeinrichtungen, die wissen, dass die individuellen Bedürfnisse und Vo-
raussetzungen äußerst breit gestreut sind, Angebote auf den verschiedensten Niveaus anset-
zen müssen und die imstande sind, individuell maßgeschneiderte Unterstützungsleistungen
anzubieten oder zu vermitteln.
Von überragender Bedeutung für einwandernde Familienangehörige ist vor allem der unver-
zügliche Zugang zum Arbeitsmarkt. Die Bedeutung eines freien Zugangs zur Erwerbstätigkeit
kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Letztlich stellt die Arbeitsmarktpartizipation einen
Königsweg zu sozialer Einbindung in der Aufnahmegesellschaft, Erwerb von Sprachroutine, fi-
nanzieller Unabhängigkeit und Integration im Sinne eines gesellschaftlichen und wirtschaftli-
chen Aufstiegs dar.
Die familienorientierte Mobilität betrifft den Löwenanteil jener aus Drittstaaten kommenden
Personen, die mit der Zuwanderung ihren Lebensmittelpunkt permanent nach Wien verlagern.
Für diese MigrantInnen ist eine deutliche Einbürgerungsperspektive, die frühzeitig zu Teilhabe
und Partizipation motiviert, ein wichtiger integrationspolitischer Anreiz.
Steuerungsmöglichkeiten & Gestaltbarkeit
„Steuerbar“ im eigentlichen Sinn ist die familienorientierte Drittstaatenmobilität nicht – insbe-
sondere dort, wo große und lang etablierte Zuwanderungsbevölkerungen bestehen wie in
Wien. Wer grundsätzlich ja zu Zuwanderung sagt, muss auch ja zur Zuwanderung zumindest
von engen Familienangehörigen sagen: Keinem/er MigrantIn kann im liberalen Rechtsstaat
verboten werden, eine/n EhepartnerIn im Herkunftsland zu suchen. Verschärfungen von Zu-
wanderungsregeln für Familienangehörige sind nur bis zu einem bestimmten Grad menschen-
Auch wenn das Sample (n=135) nicht vollständig repräsentativ für die Gesamtheit der familienorientierten Zuwanderung nach Wien ist, gibt es doch einen starken Hinweis auf den realen Bildungshintergrund der Zuwandernden; KlientInnen- und TrainerInnenbefragung von „StartWien“, TriConsult im Auftrag der MA 17 Integrations- und Diversitätsangelegenheiten
38
rechtskonform und finden ihre Grenze im grundrechtlichen Schutz des Familienlebens, der eu-
ropäischen Menschenrechtskonvention und gemeinsamem EU-Recht.24 Darüberhinaus sollte
eine zeitgemäße Regelung des Familiennachzugs die Existenz von „neuen“ Formen der Fami-
lie (Patchwork-Familien, gleichgeschlechtliche Partnerschaften,...) berücksichtigen. Anders als
bei der berufsorientierten Zuwanderung von Arbeitskräften handelt es sich nicht um eine mig-
rationspolitisch frei gestaltbare Einwanderung, sondern in der Regel um die Erfüllung eines
Rechtsanspruchs der Zuwandernden. Familienzusammenführungen sowie transnationale Ehe-
gründungen von ZuwanderInnen der ersten oder zweiten Generation, aber auch von alteinge-
sessenen ÖsterreicherInnen werden auch in Zukunft einen beträchtlichen Teil der Zuwande-
rung aus Drittstaaten nach Wien ausmachen.
Gut gestaltbar ist hingegen die integrationsunterstützende Begleitung dieser Einwanderung,
beginnend mit einer auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmten Beratung und Orientie-
rungshilfe bei der Zuwanderung und dann im Verlauf des Niederlassungsprozesses. Diese
Unterstützungen können Spracherwerbsmaßnahmen umfassen, aber auch Qualifikations- und
Weiterbildungsangebote und Maßnahmen zur Vermittlung von Orientierungs- und Alltagswis-
sen.
Der fremdenrechtlich ausgestaltete Charakter der Drittstaatenzuwanderung erlaubt es dabei,
alle betroffenen Personen zu erreichen. Faktisch sämtliche Maßnahmen auf Bundes- oder
Landesebene, die in der medialen Debatte als „umfassende Integrationspolitik“ apostrophiert
werden – beginnend mit der „Integrationsvereinbarung“ des Bundes – beziehen sich primär auf
diesen Ausschnitt der Gesamtzuwanderung.
24 Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert jedem Menschen unabhängig von seiner Na-
tionalität das Recht auf Achtung seines Familienlebens. Nach der Judikatur des EGMR lässt sich (entspre-chend dem Recht von Staaten auf Kontrolle der Einwanderung von Nichtstaatsangehörigen) zwar kein ge-nereller Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung ableiten. Jedoch sind die Staaten zu einer Abwä-gung der Interessen der betroffenen Familie und des Staates verpflichtet, woraus sich, je nach Einzelfall, auch Nachzugsansprüche ableiten lassen. Die EU-Richtlinie betreffend das Recht auf Familiennachzug von 2003 begründet einen Rechtsanspruch auf den Nachzug von Ehegatten und minderjährigen Kindern von niedergelassenen Drittstaatsangehörigen, räumt den Mitgliedstaaten aber große Freiräume bei der Ausges-taltung ein. Die Neuorganisation des österreichischen Fremdenrechts im Jahr 2005 war primär von dem Bestreben motiviert, diese Form der Zuwanderung einzudämmen und insbesondere die Eheschließung bzw. das Zusammenleben von bi-nationalen Paaren zu erschweren. Nichtsdestotrotz ergibt sich aus den europarechtlichen Vorgaben in vielen Fällen ein Rechtsanspruch auf Familiennachzug.
39
5.5 Setting 5: Humanitär begründete Drittstaaten-Mobilität
(= Migrationsregime 2)
Charakteristik & Umfang
Die Aufnahme von Flüchtlingen ist seit Jahrzehnten fester Bestandteil der Wiener Zuwande-
rungsrealität. Unabhängig von allen Veränderungen der Asylgesetzgebung der vergangenen
Jahre hat noch jede Flüchtlingsbewegung, die aufgrund einer Krise Österreich erreicht hat, zur
Etablierung und Verfestigung neuer Herkunftsgruppen in Wien geführt. Die Hauptgründe dafür
liegen in den Schutzvorgaben des humanitären Völkerrechts und den Sachzwängen von Mas-
senfluchtbewegungen, die eine faktische Aufnahme von Flüchtlingen bedingen.
Von ihrem Umfang her ist die Flüchtlingszuwanderung aktuell von geringer Bedeutung für
Wien. Österreichweit rund 3.900 positive Asylbescheide bzw. humanitär begründete Aufent-
haltstitel im Jahr 2008 sind vor dem Hintergrund von rund 95.000 ausländischen Staatsange-
hörigen zu sehen, die in diesem Jahr insgesamt nach Österreich zugezogen sind.25 Die jährli-
che Zahl der sich in Wien in der Grundversorgung befindlichen AsylwerberInnen liegt seit 2006
konstant bei knapp 7.000 Personen, die Zahl der aus dieser Gruppe Asyl erhaltenden Perso-
nen beträgt zwischen 700 und 1.000 pro Jahr.26 Die Bildungsstruktur der anerkannten Konven-
tionsflüchtlinge ist breit gestreut, umfasst auch gut Ausgebildete und variiert mit den jeweils
dominanten Herkunftsländern.
Wenn ich als Flüchtling nach Wien komme…
Im wesentlichen ist das integrationspolitische Anforderungsprofil der humanitär begründeten
Zuwanderung dem der familienorientierten Zuwanderung sehr ähnlich: Weil sie nicht aufgrund
von Bedarfslagen am Arbeitsmarkt und aus sehr unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen
erfolgt, umfasst sie Menschen mit den unterschiedlichsten Bildungsniveaus, aus allen Alters-
gruppen und mit den verschiedensten gesellschaftlich-kulturellen Hintergründen. Daraus erge-
ben sich sehr breit gestreute Bedürfnisse nach Unterstützungsmaßnahmen.
Eine problematische Besonderheit ergibt sich für Zuwandernde über den Asylweg jedoch aus
der häufig langen Verfahrenszeit, der damit verbundenen Unsicherheit über die Einwande-
25 BMI Bundesministerium für Inneres, Jahresstatistik Asyl 2008 und Fremdenstatistik 2008 bzw. Statistik
Austria, Wanderungsstatistik 2008 26 Quelle: Fonds Soziales Wien, Berechnung der MA 17 Integrations- und Diversitätsangelegenheiten.
Die tatsächlichen Gesamtzahlen der AsylwerberInnen bzw. Asyl erhaltenden Personen in Wien liegen hö-her, da nicht alle von ihnen in die Grundversorgung gelangen. Entsprechend der Bund-Länder-Vereinbarung zur Versorgung von Asylsuchenden entfällt auf Wien eine Quote von knapp 20% aller öster-reichweit in die Grundversorgung aufgenommen Personen, die jedoch regelmäßig überschritten wird.
40
rungsperspektive in Österreich und die Umstände der Flucht. Damit einher geht die Gefahr ei-
ner nachhaltigen Dequalifizierung, da der Zugang zum Arbeitsmarkt für AsylwerberInnen ver-
sperrt ist, berufliche Fähigkeiten verloren gehen bzw. veralten, Weiterbildung im Rahmen der
Flüchtlingsbetreuung selten möglich ist und Bildungsabschlüsse bzw. Qualifikationsnachweise
verloren gegangen sind.
Dazu kommt in vielen Fällen eine belastende Vorgeschichte, die für viele Flüchtlinge aus Ge-
walt, traumatisierenden Erlebnissen, strapaziösen Fluchtverläufen oder erzwungenen Tren-
nungen vom Familienverband bestehen. Die physischen und psychischen Folgen erlittener
Verfolgung können erhebliche Barrieren für einen raschen und erfolgreichen Einstieg in Beruf
oder Ausbildung darstellen.
So keine späteren Rückkehrmöglichkeiten in den Heimatstaat bestehen oder die Betroffenen
sich ein neues Leben aufgebaut haben – eine Rückkehr also auch trotz verbesserter Lage im
Herkunftsland nicht mehr in Frage kommt – führt die Flüchtlingszuwanderung in der Regel zu
einer permanenten Einwanderung. Die Anforderungen in Bezug auf politische Teilhabe und Er-
langung der Staatsbürgerschaft sind daher ganz ähnlich gelagert wie bei der familienorientier-
ten Zuwanderung, wobei Asylberechtigte schon nach sechs Jahren (sonst: zehn Jahre) die
Staatsbürgerschaft beantragen können und die ursprüngliche Staatsbürgerschaft bestehen
bleiben kann.
Steuerungsmöglichkeiten & Gestaltbarkeit
Eine präventive und konfliktlösende Politik, die das Ausmaß von Flüchtlingsströmen aufgrund
von zwischen- und innerstaatlichen Konflikten, politischer Verfolgung, Unterentwicklung und
ökologischen Krisen zu reduzieren strebt, ist gemeinsame Aufgabe der internationalen Staa-
tengemeinschaft. Die Krisenhaftigkeit des globalen Systems wird jedoch auf absehbare Zeit in-
ternationale Flüchtlingsströme, die auch Europa erreichen, hervorbringen. Die Steuerungsfra-
ge verschiebt sich damit zur Fähigkeit der Zielländer, die Aufnahme von Flüchtlingen entspre-
chend ihrer völkerrechtlichen und humanitären Verpflichtungen zu gewährleisten.
Im Binnenraum der Europäischen Union und der hier verwirklichten Bewegungsfreiheit bedeu-
tet dies, dass eine effektive Asylpolitik nur gemeinsam von Mitgliedstaaten und EU verwirklicht
werden kann. Die vorhandenen Steuerungsprinzipien („Dublin“: u.a. Zuständigkeit des Erstein-
reiselands, sichere Drittstaaten) dienen ursprünglich der Reduzierung der Antragszahlen in
den wichtigsten Zielländern – darunter Österreich – , funktionieren jedoch angesichts von nati-
onal unterschiedlichen Asylpraktiken und -judikaturen, Bewegungsfreiheit innerhalb der EU
und der Anziehungskraft von bereits etablierten Diasporagemeinden in den verschiedensten
Städten Europas nur sehr schlecht. Die Schaffung eines tatsächlichen gemeinsamen Asylsys-
tems als Teil des „Stockholmer Programms“ ist, im Spannungsfeld mitgliedstaatlicher und ge-
41
samteuropäischer Interessen, zu einem Schlüsselprojekt der EU im anbrechenden Jahrzehnt
geworden.
Im Einklang mit der restriktiven asylpolitischen Linie anderer EU-Staaten ist das österreichi-
sche Asylsystem nur noch sehr eingeschränkt zugänglich. Von der Rechtslage her haben prak-
tisch nur noch Personen, die über den Luftweg aus dem Fluchtland bzw. einem „unsicheren“
Drittland gekommen sind, die Möglichkeit, in Österreich einen Asylantrag zu stellen, ohne dass
die heimischen Behörden einen anderen (EU-) Staat als zuständig erkennen oder sie/ihn zu-
rückschicken. Der relativ geringe Umfang der humanitär begründeten Zuwanderung in Wien
erklärt sich auch daraus.
Angesichts der auf den übergeordneten Entscheidungsebenen angesiedelten politischen Ver-
antwortung bleiben für Wien Gestaltungsspielräume nur bei der Unterstützung bzw. Integration
von AsylwerberInnen, die sich in laufenden Verfahren befinden, Asylberechtigten sowie subsi-
diär Schutzberechtigten27; bzw. bei der Einklagung von eigenen Vorstellungen gegenüber dem
Bund. Die Stadt kann aber auch im Rahmen der Mitwirkungswirkungsrechte an der österreichi-
schen EU-Politik und ihrer europäischen Interessensvertretung alle Bestrebungen auf europäi-
scher Ebene unterstützen, die auf eine Harmonisierung von Asylrecht und Asylpolitik zielen
und die hohe humanitäre Standards bei Zugang zu Arbeitsmarkt und Grundversorgung sowie
Zugang zu zügigen Verfahren bzw. wirksamen Rechtsbehelfen gewährleisten.
27 Subsidiär Schutzberechtigte sind Personen, deren Asylantrag zwar abgewiesen wurde, aber deren Leben
oder Gesundheit im Herkunftsland bedroht wird und die deshalb nicht abgeschoben werden können (non-refoulement). Sie sind daher weder AsylwerberInnen noch Asylberechtigte im Sinne der Genfer Flücht-lingskonvention, benötigen aber Schutz etwa vor den Folgen eines bewaffneten Konflikts, willkürlicher Ge-walt, Menschenrechtsverletzungen, Folter oder unmenschlicher Behandlung.
42
6 Was Wien künftig tun kann und soll
Alle für den Bereich Migration / Mobilität / Vielfalt skizzierten und ausgeführten Überlegungen
und Gegebenheiten zusammengefasst ist Wiens heutige Ausgangsituation für kommende Ent-
wicklungen durch drei charakteristische Komponenten definiert:
1 Wien ist Stadt der Zuwanderung
Wien ist eine durch Migration und internationale Mobilität der vergangenen 50 Jahre
geprägte zentraleuropäische Metropole mit einer pluralen Gesellschaft. Bedeutende
ökonomische und politische Umwälzungen in Europa wie international haben Wiens
Bevölkerungsentwicklung über die Jahrzehnte geformt und stabilisiert bzw. eine
Schrumpfung der Stadt verhindert. Zuwanderung ist in Wien ebenso wie in anderen er-
folgreichen Großstädten und Metropolen Faktum und treibender Faktor für Wohlstand,
Wirtschaftswachstum und Innovation. Will Wien wettbewerbsfähig bleiben, die demo-
grafische Altersstruktur tendenziell verbessern und weiterhin Prosperität ermöglichen,
dann ist und bleibt Migration eine zentrale Erfolgskonstante. Um von der Zuwanderung
zu profitieren, sind alle Formen der Mobilität – von der berufsorientierten über die fami-
lienorientierte zur humanitär begründeten Zuwanderung – als Potenzial an Begabun-
gen, Qualifikationen, Sprachkenntnissen, Berufs- und Lebenserfahrungen zu sehen,
das durch intelligente Aufnahme- und Integrationspolitiken freigesetzt werden kann.
2 Wien hat hohes Entwicklungspotenzial
Wien ist sowohl im Selbstverständnis der politisch Verantwortlichen wie auch in der
Wahrnehmung der Bevölkerung und der internationalen Öffentlichkeit eine reiche und
kulturell vielfältige Metropole mit hoher Lebensqualität. Die wirtschaftliche, gesell-
schaftliche und soziale Substanz macht Wien im Kontext der europapolitischen Gege-
benheiten und Entwicklungsperspektiven zu einem attraktiven Standort für Wirtschaft,
Wissenschaft, Kultur, Dienstleistungen und internationale Organisationen. Wien kann
dieses Potenzial durch offensive Nutzung der gegebenen Chancen, durch die Förde-
rung der Offenheit der Stadt sowie mit intensivem stadtaußenpolitischem und stadtau-
ßenwirtschaftlichem Engagement konsequent realisieren.
3 Wien agiert im europäischen und internationalen Rahmen
Wie die bisherigen Entwicklungen einerseits und die rechtlichen Gegebenheiten ande-
rerseits vor Augen führen, hat Wien in den fünf zentralen Ausformungen (Settings) der
beiden Migrationsregime „(EU-)Binnenmobilität“ und „Drittstaaten-Mobilität“ beschränk-
te Steuerungsmöglichkeiten, aber dafür einige Gestaltungsoptionen. Neben der inner-
österreichischen und der EU-Binnenmobilität findet Zuwanderung nach Wien heute
primär aus jenen europäischen Staaten (inkl. Türkei) statt, die sich bereits mit der EU
in Beitrittsverhandlungen befinden bzw. denen über kurz oder lang von der EU eine
Beitrittsperspektive angeboten werden wird, womit es sich langfristig auch hier um Bin-
nenmobilität handeln wird.
43
6.1 Zentrale Aktionsfelder
Diese Rahmenbedingungen berücksichtigend kommen die Mitglieder der Wiener Zuwande-
rungskommission zu den nachfolgend ausgeführten Schlussfolgerungen und Empfehlungen.
Da die Kommission mit dem Auftrag eingesetzt wurde, Vorschläge, Anregungen und Empfeh-
lungen für künftiges migrations- und integrationspolitisches Handeln zu entwickeln, nimmt
die Kommission in der Darstellung ihrer Vorschläge die Perspektive von stadtverantwortlichen
PolitikerInnen ein und formuliert dementsprechend die Empfehlungen.
Die folgenden Empfehlungen, die als unterschiedliche Maßnahmen und Aktionen wie z.B. „för-
dern“, „investieren“, „erleichtern“ etc. formuliert sind, verstehen sich und sind zu lesen als For-
derungen der Stadtpolitik an sich selbst, an den Bund, an die MigrantInnen und an die Wiener
Bevölkerung insgesamt.
Wien steht für ...
Wien fördert ...
Wien investiert ...
Wien verbindet ...
Wien ermöglicht ...
Wien erleichtert ...
Wien steigert ...
Wien informiert ...
Wien umwirbt ...
Wien fordert ...
44
Wien steht für
Akzeptanz, Gleichbehandlung und ein diskriminierungsfreies Zusammenleben:
Als gleichberechtigteR MitbürgerIn anerkannt werden, frei von Ablehnung und Ignoranz
gegenüber der eigenen Person zu leben und nicht diskriminiert zu werden, sind Vorausset-
zung für gesellschaftliche Teilhabe und Identifizierung mit dem Zuwanderungsland. Wien
verfolgt eine offensive Gleichstellungsstrategie und eine effektive Anti-
Diskriminierungspolitik am Arbeitsplatz, bei der Wohnungssuche und im Alltag. Mit ihrer
Kommunikations- und Öffentlichkeitsarbeit verstärkt die Stadt die gesellschaftliche Ächtung
von Diskriminierung und signalisiert Anerkennung und Wertschätzung. Die Medien der
Stadt bilden die Zuwanderungsrealität ab und zeigen mit ihrer Bildsprache und Themen-
setzung, wie sehr sich Wien durch Migration und internationale Mobilität geändert hat.
Wien kommuniziert offensiv ein der sozialen Realität entsprechendes Selbstbild – ein Bild,
das die WienerInnen an ihre Ursprünge als eine durch Zuwanderung gewachsene Stadt er-
innert.
die Beachtung der Grundrechte und Respektierung der Menschenwürde: Wien fordert
von allen Teilen der Stadtgesellschaft, Alteingesessenen und Zugewanderten gleicherma-
ßen, die Anerkennung der unverhandelbaren, u.a. in der Europäischen Menschenrechts-
konvention festgelegten Grundrechte – insbesondere der demokratischen Grundwerte, der
Gleichstellung der Geschlechter und der Religionsfreiheit – sowie die Einhaltung der recht-
lichen Normen. Gegenseitiger Respekt und Akzeptanz vielfältiger Lebensstile sind die Vo-
raussetzungen für das Zusammenleben in einer pluralisierten Gesellschaft. Sozialen Ver-
haltensweisen und Traditionen sind dort Grenzen zu setzen, wo sie der freien Entfaltung
der Persönlichkeit, der selbstbestimmten Lebensgestaltung und der Teilhabe am modernen
Gemeinwesen entgegenstehen. Ebenso ist Bildungsbenachteiligung in Familien entgegen-
zutreten, u.a. durch die Förderung der Geschlechtergleichheit in den Schulen und Kinder-
gärten.
die Verantwortung aller für das Zusammenleben: Zugewanderte WienerInnen tragen für
das Zusammenleben in der Stadt, für die künftige Wirtschaftsentwicklung und die internati-
onale Wahrnehmung von Wien ebenso Verantwortung, wie es von jenem Teil der Bevölke-
rung verlangt wird, der hier geboren und aufgewachsen ist. RepräsentantInnen von
MigrantInnenvereinen und -organisationen sind zentrale MeinungsbildnerInnen und Multi-
plikatorInnen, die wesentlich dazu beitragen können, Integration im Sinne des beidseitigen
Einstehens für Vielfalt, Offenheit und Antidiskriminierung zu realisieren. Nicht Assimilierung
ist das Ziel, sondern Leben von Vielfalt auf Basis verbindlicher Standards für alle.
45
Wien fördert
die Weiterentwicklung des europäischen Hochschul- und Forschungsraums: Der eu-
ropäische Hochschul- und Forschungsraum ermöglicht die Mobilität von Wissenschaftle-
rInnen und StudentInnen in früher nicht da gewesener Form. Er bietet Wiener Forschungs-
und Hochschuleinrichtungen ein Spielfeld zur Herausbildung neuer Schwerpunkte und Ex-
zellenzfelder. Die Stadt unterstützt mit ihren Strategien für CENTROPE und den Donau-
raum die Fähigkeit der Wiener Universitäten und Fachhochschulen, StudentInnen und For-
scherInnen aus diesem Raum in Wien Chancen anzubieten, sei es durch Stipendien, Fel-
lowships oder Mitfinanzierung von Hochschulkooperationen. Sie ermöglicht in städtebauli-
cher Hinsicht die Herausbildung von qualitativ hochwertigen Forschungs- und Hochschul-
infrastrukturen, die mit ihrer Attraktivität WissenschafterInnen und StudentInnen anziehen.
aus humanitären Gründen Zuwandernde: Weil sie einer moralischen, grund- und men-
schenrechtlichen Verantwortung entspricht, bekennt sich Wien zur humanitär begründeten
Zuwanderung, die Wien zum Zufluchtsort vor politischer Verfolgung, gesellschaftlicher Re-
pression, inner- und zwischenstaatlichen Konflikten macht. Wien nimmt seine internationa-
le Verantwortung ernst und sieht in AsylwerberInnen, die sich in laufenden Verfahren be-
finden, Asylberechtigten sowie subsidiär Schutzberechtigten eine in vielerlei Hinsicht
schutzbedürftige Personengruppe, die in besonderer Weise zu unterstützen ist. Letzten
Endes geht es immer um das Wohlergehen, die Anerkennung und die Sicherheit von ein-
zelnen Menschen, die ihren Platz und eine Perspektive im Leben suchen. Die geleistete
Unterstützung betrifft insbesondere die Vermeidung einer beruflichen Dequalifizierung, wo-
zu auch die Forderung nach Zugang zu Beschäftigung für AsylwerberInnen gehört.
46
Wien investiert
in Bildungsaufstieg und Bildungszugang: Das Bildungssystem spielt in der Zuwande-
rungsgesellschaft eine Schlüsselrolle für die Fähigkeit von MigrantInnen bzw. ihren Kin-
dern, Teilhabe in der Aufnahmegesellschaft zu erreichen. Kinderbetreuungseinrichtungen
und Schulen legen den Grundstein für sozialen Aufstieg und ein gelingendes Leben. Wien
arbeitet aktiv daran, dass diese Einrichtungen ihre gesellschaftliche Aufgabe als Integrati-
onsmotoren mit hoher interkultureller Kompetenz wahrnehmen können. Die Stadt setzt
Maßnahmen, um die Bildungspartizipation speziell in den ersten Lebensjahren durch Früh-
förderung und frühe Sprachförderung – auch in den Muttersprachen – zu erhöhen. Sie baut
Angebote der schulischen Sozialarbeit, an der Schnittstelle zur außerschulischen Jugend-
betreuung, aus und stärkt Jugendliche und deren Eltern in ihrer Ambition, eine höherwerti-
ge Ausbildung zu absolvieren. Sie investiert massiv in die Kapazitäten und Personalres-
sourcen von Schulen, Kindergärten und Einrichtungen der Jugendarbeit. Nicht nur Chan-
cengleichheit und sozialer Zusammenhalt motivieren diese Politik, sondern auch die Wett-
bewerbsfähigkeit Wiens als wissensbasierte Dienstleistungsmetropole.
in ZuwanderInnen, denen Einstieg und Aufstieg noch nicht gelungen ist: Wien nutzt
die vorhandenen Potenziale und unterstützt Bildungsaufstieg und soziale Mobilität jener
Teile der ansässigen Zuwanderungsbevölkerung, die über nur geringe Qualifikationen ver-
fügen, am Arbeitsmarkt nicht erfolgreich sind oder Sprachschwierigkeiten haben. Besonde-
re Zielgruppen solcher Maßnahmen einer „nachholenden Integration“ sind Zugehörige der
„zweiten Generation“ ohne Schulabschluss und Berufsausbildung, nicht erwerbstätige
Frauen mit geringen Deutschkenntnissen und niedrigqualifizierte Langzeitarbeitslose. Da-
bei geht es auch darum, solche Eigenschaften zu fördern, die unabhängig von formaler
Bildung bestehen, wie Bildungsaspiration und Aufstiegswille oder Gründungsgeist und Ge-
schäftstüchtigkeit.
in Stadtteile und Stadtviertel: Die Gewährleistung von sozialem Zusammenhalt und ei-
nem entspannten Miteinander bilden eine der ersten Voraussetzungen für den Erfolg
Wiens als internationale, aufnahmefähige Stadt. Der langjährige Einsatz für eine sanfte
Stadterneuerung, die auf soziale Durchmischung und vitale Gewerbestrukturen zielt, sowie
die hohe Dichte der stadteilbezogenen Einrichtungen zum Management des Zusammenle-
bens bzw. der Förderung lokaler Potenziale trägt heute schon zum sozialen Zusammenhalt
bei. Die Stadt stärkt die Zukunftsfähigkeit dieses Rahmens, indem sie die ressortübergrei-
fende Gesamtkoordination verbessert und ihre Instrumente gezielt einsetzt, um das Mitei-
nander zu gewährleisten. Sie verbreitert die interkulturelle Kompetenz in der
Gemeinwesenarbeit und entwickelt ihre Fähigkeiten, kleinräumige Entwicklungen einzu-
schätzen und Spannungen präventiv zu begegnen. Durch ein umfassendes Monitoring gibt
sich Wien ein Steuerungsinstrument, mit dem Integrationsprozesse verfolgt, frühzeitig in-
terveniert und die Wirksamkeit von politischen und administrativen Maßnahmen bewertet
werden können.
47
in Erfolg, der keine Grenzen kennt28: UnternehmerInnen mit Migrationshintergrund re-
präsentieren ein Drittel der Wiener Unternehmen, verbessern die Angebotsvielfalt, sorgen
für funktionierende Versorgungsstrukturen und stärken mit ihren grenzüberschreitenden
Kontakten den Wirtschaftsstandort. Die Stadt, der Wiener Wirtschaftsförderungsfonds
WWFF und die Wirtschaftskammer Wien unterstützen diese UnternehmerInnen, ihre
KundInnenbasis auszubauen, internationale Beschaffungs- und Versorgungsketten effizi-
ent zu gestalten oder ein größeres Handelsvolumen zwischen Wien und den Herkunftslän-
dern zu schaffen. Gleichzeitig nimmt die Wertschätzung für die Leistung der zugewander-
ten Selbständigen für die Internationalisierung der Wiener Wirtschaft zu. Nach außen hin
wächst der Ruf Wiens als ein Ort, der Zugezogenen mit Initiative und Unternehmergeist ei-
ne Chance gibt. Die Stadt zieht Menschen an, die in Wien ein Unternehmen gründen, auf-
bauen und Arbeitsplätze schaffen möchten.
28 Slogan der im Herbst 2009 durchgeführten Bewusstseinskampagne von WWFF und WKW zu den Leistun-
gen der Wiener Unternehmen mit internationalen Wurzeln.
48
Wien verbindet
das Potenzial seiner ZuwanderInnen mit seiner internationalen Wirtschaftsstrategie:
Eine halbe Million Menschen mit internationalen Wurzeln sind ein unschätzbares Potenzial
an interkulturellen Erfahrungen, Sprachkenntnissen und Wissen über die Wien umgeben-
den Länder und darüber hinaus – dieselben Länder, die für die Wiener Wirtschaft vorrangi-
ge Zukunftsmärkte darstellen. Wien nutzt seine ZuwanderInnen als wirtschaftliche, aber
auch kulturelle Brückenköpfe in die Herkunftsländer, als VermittlerInnen und Vernetzer-
Innen in einer globalisierten Welt. Mit Partnern in Wirtschaft und Unternehmensverbänden
initiiert die Stadt Kompetenzzentren, die Wiener Unternehmen und ihre MitarbeiterInnen fit
für den Markteintritt in den Zielländern machen, nicht zuletzt beim nötigen interkulturellen
Know-how. Umgekehrt dienen sie als Lotsen und Wegbereiter für Unternehmen, die aus
den betreffenden Ländern nach Wien kommen. Die Stadt unterstützt aber auch die hier
gegründeten Unternehmen mit internationalen Wurzeln bei der Nutzung ihrer grenzüber-
schreitenden Kontakte für eine Verdichtung der Handelsbeziehungen Wiens.
die in der Stadt vertretenen Religionen und Bekenntnisse: Die in Wien vorhandene,
jahrzehntelang gepflegte Tradition des Dialogs und der Zusammenarbeit zwischen den Re-
ligionsgemeinschaften bietet eine solide Basis dafür, dass diese auch künftig ihre Verant-
wortung für das Miteinander und den sozialen Zusammenhalt wahrnehmen. Die seit bald
100 Jahren bestehende gesetzliche Anerkennung bzw. Verankerung des Islam als Religi-
onsgemeinschaft oder auch der lebendige Dialog mit den orthodoxen Kirchen sind zu-
kunftsweisend für ein Gemeinwesen, das auf dem gegenseitigen Respekt aller Bekennt-
nisse – von den etablierten Religionsgemeinschaften über neu hinzukommende Glaubens-
gemeinschaften bis hin zur Gruppe der Konfessionslosen – fußt, und in dem Missachtung
von Grundrechten, Intoleranz oder Islamophobie keinen Platz haben. Wien anerkannt und
unterstützt die karitative und soziale Rolle, die die Religionsgemeinschaften gerade im Zu-
wanderungsbereich spielen. Damit unterschiedliche Kulturbegriffe, Traditionen und Religi-
onen so wenig Missverständnisse und Konflikte im alltäglichen Leben hervorrufen wie
möglich, stärkt Wien den interkulturellen Dialog und bietet, wo nötig, Unterstützung bei der
partnerschaftlichen Beilegung von Differenzen.
49
Wien ermöglicht
die Inwertsetzung mitgebrachter Qualifikationen: Ein großer Teil der ZuwanderInnen
kann mitgebrachte Ausbildungen und Berufserfahrungen nicht verwerten – zu ihrem Nach-
teil und zum Nachteil des Wirtschaftsstandorts Wien. Um eine Dequalifizierung zu verhin-
dern, ermöglicht Wien unabhängige Beratungen und mahnt gegenüber dem Bund Ände-
rungen der rechtlichen Rahmenbedingungen und Praktiken ein. Maßnahmen auf Wiener
Ebene umfassen einerseits Angebote zur Nachqualifizierung, um bestimmte Ausbildungs-
elemente nachzuholen; andererseits gezielte Anerkennungsförderungen oder Unterstüt-
zung für Unternehmen bei der Berücksichtigung von nicht-heimischen Abschlüssen. Die
Implementierung des europäischen Qualifikationsrahmens (eines „Übersetzungsinstru-
ments“, das die nationalen Qualifikationen europaweit vergleichbar und verständlich
macht) wird aktiv unterstützt. Auch die Herausforderung der Zertifizierung von Teilqualifika-
tionen bzw. informellen Qualifikationen und von im Ausland erworbenen praktischen Be-
rufserfahrungen wird angegangen.
soziale und berufliche Aufwärtsmobilität: Um einer dauerhaften Verfestigung von struk-
turellen Benachteiligungen am Arbeitsmarkt gegenzusteuern, verstärkt Wien seine An-
strengungen zur Höherqualifizierung und Weiterbildung. Die Offensive nimmt, unabhängig
von der Herkunft, alle Gruppen in den Blick, deren Beschäftigungsfähigkeit in der sich
wandelnden Arbeitswelt infrage steht und bietet ihnen neue Chancen am Arbeitsmarkt. Sie
umfasst unter anderem modulare Maßnahmen mit Teilabschlüssen, begleitende (Fach-)
Deutschkurse oder begleitende Sozialarbeit und Bildungsberatungsangebote und beachtet
die besonderen, oft informellen Kommunikationsanforderungen gegenüber MigrantInnen.
Jugendliche aus bildungsfernen Schichten erhalten mehr individuelle Zuwendung und Be-
ratung, an den Schnittstellen zwischen Schule, Jugendbetreuung und Arbeits-
markt/Unternehmen wird verstärkt zusammengearbeitet, und die Zahlen derer, die die
Schule ohne formellen Abschluss verlassen, gehen zurück.
eine Integrationsbegleitung, die Eigenverantwortung freisetzt: Viele Familien oder
Neuzugewanderte nutzen die institutionellen Bildungs- und Beratungsangebote kaum. In-
novative Formen einer aufsuchenden, niedrigschwelligen MigrantInnen-, Familien- und El-
ternberatung aktivieren zu einer eigenverantwortlichen Aneignung von Fähigkeiten, die ei-
ne erfolgreiche Integration erleichtern. Als logische Fortsetzung des bestehenden Start-
coaching in Richtung einer bedarfsgerechten Integrationsbegleitung initiiert und fördert
Wien dieses Modell, überlässt die Durchführung aber (frei von jedem politischen Anliegen)
der Zivilgesellschaft – insbesondere Mitgliedern der einzelnen Herkunftsgruppen, die über
das größte Verständnis für die Unterschiede zwischen Ursprungs- und Aufnahmegesell-
schaft verfügen. Das Angebot stellt eine Schiene zur „nachholenden“ Integration bzw. zu
Zugang zu Orientierungswissen, Arbeitsmarktpartizipation, Bildung und Qualifikation, Em-
powerment und Emanzipation dar; und orientiert sich an international erprobten Vorbildern
(Stadtteilmütter, FamilienpatInnen, Integrations-Mentoring).
50
politische Teilhabe seiner zugewanderten BürgerInnen: Wien nutzt alle verfügbaren
Freiräume zur Förderung der politischen Teilhabe seiner zugewanderten BürgerInnen, un-
abhängig vom auf Bundesebene festgelegten Rechtsrahmen. Durch die Gewährung des
kommunalen Wahlrechts für EU-BürgerInnen auch für den Gemeinderat – über die Be-
zirksebene hinaus – erhält mit einem Schlag ein Drittel der in Wien lebenden ausländi-
schen StaatsbürgerInnen das Recht, die Geschicke der Stadt mitzubestimmen. Auch für
Drittstaatsangehörige werden Instrumentarien zur besseren politischen Teilhabe entwi-
ckelt. Kampagnen zur Erhöhung der Wahlbeteiligung werden so umgesetzt, dass sich ins-
besondere neu Eingebürgerte angesprochen und eingeladen fühlen. Die Einbürgerung
selbst wird von den Behörden der Stadt so gestaltet, dass durch Gebühren und die Verfah-
rensabläufe möglichst wenige Barrieren für Einbürgerungswillige entstehen. Themenspezi-
fische Beratungsstrukturen unter Einbindung fachkompetenter MigrantInnen erleichtern die
Einbeziehung der spezifischen Perspektiven und Interessen der Zuwanderungsbevölke-
rung in Entscheidungsprozesse.
51
Wien erleichtert
Orientierung für Neuankommende: Jeder und jede, der/die nach Wien kommt, hat ein
anderes Wissen über die Stadt und das Funktionieren ihrer Gesellschaft und Einrichtun-
gen. Jeder und jede hat somit ein anderes Bedürfnis nach Information, Orientierungswis-
sen, Anleitung oder Unterstützung und Hilfe. Das an den/die imaginäre/n Durchschnitts-
einwandererIn angepasste Standard-Paket an Einstiegshilfe oder Sprachkursen kann es
nicht geben. Wien baut sein Startcoaching aus, macht es zu einem breit angenommenen
Angebot auch für EU-BürgerInnen und spricht weitere Gruppen von Zugewanderten an, für
die es heute noch nicht zugeschnitten ist. Freiwilligkeit und Attraktivität der daran anknüp-
fenden Unterstützungsleistungen sind die Eckpfeiler des Modells, das einen Kontrapunkt
zu verpflichtenden, inflexiblen, kostenintensiven und wenig bedarfsgerechten Ansätzen
darstellt.
den Start unter schwierigen Bedingungen: Manchmal erfordern Bildungshintergrund
und gesellschaftliches Umfeld der Zuwandernden große Anstrengungen, um materielles
Fortkommen, Chancengleichheit und Gleichberechtigung zu erreichen. Hier sind spezifi-
sche integrationspolitische Strategien gefragt. Die Anerkennung von mitgebrachten Be-
rufsausbildungen bzw. informellen Qualifikationen oder auch früh ansetzende Angebote im
Sprach- und Weiterbildungsbereich ebnen den Weg zu adäquater Erwerbstätigkeit und ge-
sellschaftlicher Teilhabe. Die Philosophie des an individuelle Bedürfnisse angepassten
„Wiener Bildungspasses“ wird in weitere, daran anknüpfende Maßnahmen weitergetragen,
die nach den jeweiligen individuellen Bedürfnissen angeboten werden. So nutzt Wien das
Potential auch dieser ZuwanderInnen und minimiert zukünftige Probleme.
die Niederlassung von Schlüsselkräften, Höchstqualifizierten und Angehörigen: Um
sich ohne Ablenkungen ihrer Tätigkeit – die für die Stadt meist von besonderem Wert ist –
widmen zu können, haben international mobile UnternehmerInnen, Beschäftigte in Schlüs-
selverantwortungen, Spitzenqualifizierte oder auch MitarbeiterInnen multinationaler Kon-
zerne das Bedürfnis nach einem schnellen und unkomplizierten Einstieg. Wien schafft die
besten Bedingungen dafür, mit Niederlassungsformalitäten (im Fall von Drittstaatsangehö-
rigen), die zum One-Stop-Shop werden, Unterstützung bei der Erlangung von behördlichen
Genehmigungen, wenn es sich z.B. um UnternehmerInnen handelt, beim Finden von Aus-
bildungsplätzen in internationalen Schulen oder Kindergärten oder von Arbeitsplätzen für
Angehörige, bei der Information über das vielschichtige Wohnangebot oder die vorhande-
nen sozialen Dienstleistungen.
52
Wien steigert
die Fähigkeit der Stadt, ihre Leistungen in der vielfältigen Gesellschaft zu erbringen:
In dem Maße, in dem die Stadt als Dienstleisterin für alle fungiert, steigt die positive Identi-
fikation mit Wien. Um für alle Teile der Stadtgesellschaft gleichwertige Leistungen erbrin-
gen zu können, passt Wien die Angebote seiner Verwaltung und kommunalen Unterneh-
men kontinuierlich an die vielschichtigen Lebenslagen der von Zuwanderung und internati-
onalen Mobilität geprägten Stadt an. Qualität, Effizienz und Wirksamkeit der Dienstleistun-
gen werden erhöht, indem Leistungen auf ihre Zugänglichkeit für alle hin überprüft, die
Vielfalt der KundInnenschaft anerkannt, interkulturelle Kompetenzen gestärkt und neue
Antworten für die Organisationsentwicklung gefunden werden. Die Stadt wird zur Vorreite-
rin beim erfolgreichen Management von Diversität und zeigt exemplarisch, wie sich die
Einrichtungen der Aufnahmegesellschaft verändern und öffnen können, um in der Zuwan-
derungsgesellschaft die Interaktions- und Kommunikationsfähigkeit mit der Bevölkerung
nicht zu verlieren.
die Beschäftigung von MitarbeiterInnen mit Migrationshintergrund bei der Stadt:
Die Beschäftigung von MigrantInnen bei der Stadt Wien nutzt sprachliche und soziokultu-
relle Kompetenzen und steigert die Qualität der öffentlichen Dienstleistungen. Sie erfüllt
aber auch eine wichtige gleichstellungspolitische Vorbildfunktion und eröffnet ZuwanderIn-
nen Einstiegs- und Aufstiegsmöglichkeiten bei der größten Arbeitgeberin Wiens. Entspre-
chend ihrer diversitätspolitischen Zielsetzungen und aufbauend auf die bereits gesetzten
Schritte bewirbt Wien gegenüber der Zuwanderungsbevölkerung verstärkt Berufsbilder bei
der Stadt und überprüft Aufnahmeverfahren auf versteckte Zugangshürden. Der in den
kommenden Jahren absehbare Personalbedarf in den Sozial- und Bildungsberufen bietet
eine gute Gelegenheit, in Partnerschaft mit einschlägigen Ausbildungseinrichtungen inter-
kulturelle Kompetenzen für den öffentlichen Dienst zu gewinnen.
53
Wien informiert
in relevanten EU-Staaten über Wiens Arbeitsmarkt: Die EU-Binnenmigration kennt spä-
testens ab 2014 keine rechtlichen Beschränkungen. Wien kann die Mobilität aus den EU-
Staaten – insbesondere aus den „neuen“ Mitgliedstaaten – zu gestalten versuchen, indem
potenzielle ZuwanderInnen offensiv über die aktuelle Wirtschafts- und Beschäftigungslage
in Wien, den daraus resultierenden Bedarf, den Wohnungsmarkt und die Ausbildungslage,
aber auch die „weichen“ Qualitäten Wiens als Stadt zum Leben und Arbeiten, informiert
werden. Wien entwickelt hierzu vielschichtige Informationskooperationen mit Massenmedi-
en, Außenhandelsstellen, Verwaltungen und Interessenvertretungen in den in Frage kom-
menden Städten und Ländern. Dadurch werden ZuwanderInnen gewonnen, die mit ihren
Fähigkeiten die Humanressourcenbasis stärken und die besonders zu Wachstum und Be-
schäftigung beitragen können. Ein solcher Schwerpunkt kann und soll gesetzt werden, oh-
ne das in der Bevölkerung Wiens bereits vorhandene Potenzial an gut qualifizierten Perso-
nen zu vernachlässigen.
seine Bevölkerung über Wachstumschancen durch Mobilität: Wien entwickelt gemein-
sam mit Interessenvertretungen, Wirtschaftsunternehmen, Universitäten, Medien sowie
Schlüsselpersonen aus den Migrantencommunities sowie Persönlichkeiten des öffentlichen
Lebens kontinuierliche Informationsaktionen, die sichtbar machen, dass Wiens Stärke und
Bedeutung in Zentraleuropa auch wesentlich davon lebt, dass Migration aus diesen und
anderen internationalen Räumen stattfindet. Wien informiert gemeinsam mit Partnern aus
Wirtschaft und Gesellschaft die Wiener Bevölkerung über kommende Veränderungen
durch die Arbeitsmarkt-Freizügigkeit in der EU-27.
54
Wien umwirbt
hochqualifizierte Fachkräfte in der EU: Wiens Wirtschaft wird auch in Zukunft hochquali-
fizierte Fachkräfte in den verschiedensten Sektoren von Industrie, Forschung und Innova-
tion benötigen. Wien initiiert gemeinsam mit wirtschaftsrelevanten Interessenvertretungen
(IV, WKW, AK) und Förderagenturen (WAFF; WWFF, ABA) offensive Werbemaßnahmen
für die Gewinnung hochqualifizierter Arbeitskräfte aus EU-Staaten. Diese Maßnahmen ge-
hen Hand in Hand mit informations- und servicebezogenen „Erleichterungsangeboten“ für
EU-BürgerInnen bei der Niederlassung in Wien.
die Schlüsselkräfte der Wissensgesellschaft: WissenschafterInnen und ForscherInnen,
KünstlerInnen und Kreative sowie alle anderen „Innovatoren“ im weitesten Sinn sind
Schlüsselgruppen, um in der entstehenden Wissensökonomie Dynamik, Wachstum und
neue Arbeitsplätze zu schaffen. Es sind hochmobile Gruppen, deren Produktivität vom in-
ternationalen Austausch abhängig ist. Wien macht ihnen Angebote, kommuniziert interna-
tional die Leistungsfähigkeit seiner Forschungseinrichtungen, die in Wien vorhandenen
Möglichkeiten der Innovations- und Technologieförderung, die Qualitäten der Stadt als Ort
der Inspiration und als Brutstätte neuer Ideen und Produkte in einem kreativen Milieu. Die
Stadt erleichtert ihre Niederlassung und hilft ihnen und ihren Angehörigen beim Zurechtfin-
den mit Wohnen, Schulen oder Beschäftigung.
StudentInnen als künftige Höchstqualifizierte: Junge Menschen auszubilden und ihnen
im Anschluss eine Beschäftigungsperspektive zu geben, ist ein Patentrezept, um Talente
anzuziehen und in der Folge Qualifikation und Innovationsgeist an die Stadt zu binden.
Auch wenn internationale AbsolventInnen heimischer Hochschulen Wien verlassen, blei-
ben sie „Alumni“ der Stadt und Bezugspunkte für den Fluss von Ideen und Gütern zwi-
schen Wien und der Welt. Die Stadt unterstützt die Wiener Universitäten und Fachhoch-
schulen bei ihren Internationalisierungsbestrebungen und hilft ihnen, eine Zunahme der
Zahl der Studierenden aus der EU sowie aus Drittstaaten nicht als Belastung, sondern als
Zeichen von Attraktivität zu werten. Gegenüber dem Bund macht sie sich für die Berück-
sichtigung der höheren Zahl an Studierenden bei der Zuweisung von öffentlichen Geldern
stark.
55
Wien fordert
eine angemessene österreichische Zuwanderungspolitik: Vom Bund verlangt Wien alle
Anstrengungen, um eine Weiterentwicklung der österreichischen Migrationspolitik in Rich-
tung eines kriteriengeleiteten Zuwanderungsmodells zu erreichen. Dieses soll insbesonde-
re die Qualifikationen und Kompetenzen von MigrantInnen, also Ausbildung, Berufserfah-
rungen und Sprachkenntnisse, in den Vordergrund stellen und den flexiblen Zuzug von
Menschen aus Drittstaaten ermöglichen, die absehbar zu Wirtschafts- und Beschäfti-
gungswachstum beitragen werden. Gleichzeitig muss das Modell das Gelingen von Integ-
ration und den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft im Auge behalten. Damit das Po-
tenzial an Talent und Qualifikationen, das solcherart gezielt ins Land geholt wird, tatsäch-
lich freigesetzt wird, müssen auch die dem Zuzug nachgelagerten öffentlichen Akteure in
der Lage sein, Einstieg und Aufstieg der Zugewanderten ausreichend zu fördern und zu
begleiten.
einen Rechtsrahmen, der aus Zugezogenen BürgerInnen macht: Wer will, dass sich
MigrantInnen wie BürgerInnen dieser Stadt verhalten – die Demokratie, Meinungsfreiheit
und Gleichstellung verinnerlicht haben, die Rechte erhalten aber ebenso Verantwortung
und Pflichten übernehmen – muss sie auch als BürgerInnen willkommen heißen. Die wich-
tigsten rechtlichen Rahmenbedingungen dafür werden auf Bundesebene festgelegt. Wien
setzt sich daher für demokratische Teilhabemöglichkeiten seiner BürgerInnen, eine deutli-
che und reale Einbürgerungsperspektive, die die Schiene zur Übernahme staatsbürgerli-
cher Verantwortung legt, sowie die Anerkennung der gesellschaftlichen Realität der zahl-
reichen, mit Herkunfts- und Ankunftsland gleichermaßen verbundenen WienerInnen ein.
die institutionelle Verankerung von Integration und Migration als politische
Querschnittsmaterie auf Bundesebene: Der gesamte Bereich Migration / Mobilität / Viel-
falt ist eine Querschnittsmaterie, bei der es wesentlich um das gelingende Zusammenspiel
etwa von Arbeits- und Wohnungsmarkt oder von Bildungs- und Qualifizierungsfragen geht.
Die Komplexität und Prozesshaftigkeit von Zuwanderungs- und Integrationspolitik sowie
die anspruchsvollen, damit verbundenen Kommunikationsaufgaben verlangen nach res-
sortübergreifender Koordination und Schwerpunksetzung. Sie kann jedoch keinesfalls –
wie derzeit der Fall – vorrangig unter „Sicherheitsgesichtspunkten“ gestaltet werden. Eine
zukunftsweisende Lösung ist beispielsweise durch ein eigenes Ministerium, jedenfalls aber
durch die Einsetzung einer eigenen Einrichtung im Verantwortungsbereich der Bundesre-
gierung erreichbar. Gerade im Zusammenspiel mit den Städten könnte eine derartige Ein-
richtung an nachhaltigen Erfolgen arbeiten.
56
6.2 Exemplarische Maßnahmen für ausgewählte Aktionsfelder
exemplarische Maßnahmen z.B. für „Wien fördert
die Weiterentwicklung des europäischen Hochschul- und Forschungsraumes“
Wiener Programm zur individuellen Förderung von postgraduellen StudentIn-
nen und WissenschafterInnen aus dem zentral-, südost- und osteuropäischen
Raum (Modell Fulbright-Stipendien)
exemplarische Maßnahmen z.B. für „Wien investiert
in Bildungsaufstieg und Bildungszugang“
Ausbau und interkulturelle Qualitätsoffensive der Kindergärten in Wien – mehr
ausgebildete PädagogInnen, günstigere Betreuungsverhältnisse, interkulturell
qualifizierte MitarbeiterInnen.
Einführung einer sozialen Indexierung von Kindergärten und Schulen als In-
strument zur Festlegung von Schwerpunkteinrichtungen, die in der Folge mehr
Ressourcen erhalten und bei der Aufgabenerfüllung verstärkt unterstützt wer-
den – ohne dass dies zu Exklusionsmomenten und sozialen Spannungen führt.
Präventive sozialarbeiterische Unterstützung und Bildungscoaching zunächst
für Schwerpunktschulen, dann für ganz Wien – SchülerInnen, die aus dem Sys-
tem zu fallen drohen, werden aufgefangen, Eltern unterstützt und Jugendliche
zu weitergehenden Ausbildungen animiert.
Verstärkte Anstrengungen zur Umsetzung der gemeinsamen Schule für 10 bis
14-Jährige, die die soziale Bildungsmobilität und Durchlässigkeit des Bildungs-
systems erhöht.
Flächendeckende Gewährleistung der Wahlmöglichkeit von ganztägigen Schul-
formen, die den Nachmittag für die Vermittlung von Lerninhalten und die indivi-
duelle Förderung nutzen; Sommerschulen als Nachhilfemöglichkeit für alle.
Förderung der Beherrschung der Muttersprachen durch Ausbau des Angebots
an bilingualen Schulen und flächendeckende Einführung wichtiger Mutterspra-
chen als Maturafächer.
Unterstützung von Bildungsambitionen in den Herkunftsgruppen durch Be-
wusstseinsbildung, Information und Setzen von Impulsen in Zusammenarbeit
mit Vereinen und Medien der Communities.
57
exemplarische Maßnahmen z.B. für „Wien investiert
in Stadtteile und Stadtviertel“
Fortführung und Ausbau des Wiener Integrations- und Diversitätsmonitorings in
Richtung eines Stadtteilmonitorings.
exemplarische Maßnahmen z.B. für „Wien investiert
in Erfolg, der keine Grenzen kennt29:
Erweiterung der von WWFF und WKW im Bereich des migrantischen Unter-
nehmertums gesetzten Awareness- und Support-Aktivitäten um Internationali-
sierungsaspekte.
exemplarische Maßnahmen z.B. für „Wien verbindet
das Potenzial seiner ZuwanderInnen mit seiner internationalen Wirtschaftsstrategie
Schaffung eines Kompetenzzentrums Türkei als Sprungbrett für Wiener Unter-
nehmen in diesen aufstrebenden Markt und als Gateway für türkische Unter-
nehmen in den EU-Markt, in weiterer Folge auch für die Region CENTROPE
sowie den südost-/osteuropäischen und den arabischen Raum.
exemplarische Maßnahmen z.B. für „Wien ermöglicht
die Inwertsetzung mitgebrachter Qualifikationen
Neues Angebot des WAFF für die Validierung vorhandener Qualifikationen, be-
stehend v.a. aus Nachqualifizierungsmöglichkeiten und Nostrifizierungsförde-
rungen.
exemplarische Maßnahmen z.B. für „Wien ermöglicht
soziale und berufliche Aufwärtsmobilität“
Neue, vom WAFF initiierte, niederschwellige Fortbildungsangebote, die „aufsu-
chend“ über MultiplikatorInnen, Vereine, Stadtteilmanagements etc. vermittelt
werden.
29 Slogan der im Herbst 2009 durchgeführten Bewusstseinskampagne von WWFF und WKW zu den Leistun-
gen der Wiener Unternehmen mit internationalen Wurzeln.
58
exemplarische Maßnahmen z.B. für „Wien ermöglicht
eine Integrationsbegleitung, die Eigenverantwortung freisetzt“
Erprobung des Modells in einem Bezirk mit einem hohen Anteil von MigrantIn-
nen an der Gesamtbevölkerung.
exemplarische Maßnahmen z.B. für „Wien ermöglicht
politische Teilhabe seiner zugewanderten BürgerInnen“
Überprüfung des verfassungsrechtlichen Spielraums und Einführung des Wahl-
rechts zum Wiener Gemeinderat für in Wien lebende EU-BürgerInnen unter
Einhaltung des verfassungsrechtlichen Rahmens.
Kampagne zur Erhöhung der Wahlbeteiligung bei der Gemeinderatswahl 2010,
die – frei von Wahlwerbeinhalten – mit der benutzten Bildsprache und den ge-
wählten Kommunikationskanälen auch wahlberechtigte ZuwanderInnen an-
spricht.
exemplarische Maßnahmen z.B. für „Wien steigert
die Beschäftigung von MitarbeiterInnen mit Migrationshintergrund bei der Stadt“
Überprüfung des verfassungsrechtlichen Spielraums und Einführung des Wahl-
rechts zum Wiener Gemeinderat für in Wien lebende EU-BürgerInnen.
Offensive „Wien braucht dich“ (in Anlehnung an die Kampagne der Wiener Po-
lizei), zur Gewinnung von WienerInnen mit Migrationshintergrund für einen Be-
rufsweg bei der Stadt Wien, als Außenwerbungs- und Inseratenkampagne.
exemplarische Maßnahmen z.B. für „Wien informiert
in relevanten EU-Staaten über Wiens Arbeitsmarkt"
Exemplarische Erprobung des Modells in der Slowakei, da hier einerseits eine
ausgeprägte Migrationsneigung gegenüber Wien besteht, andererseits Wien
etablierte Kooperationsbeziehungen unterhält.
59
7 Daten zu den Grafiken im Kommissionsbericht
7.1 Grafik 1 „Migration von und nach Wien nach Herkunft (Staatsbürgerschaft) 2008“
Zuzug Wegzug Bilanz
insgesamt 69.901 58.997 +10.904
davon aus
Österreich 26.547 32.135 -5.588
Europa gesamt, exkl. AT 32.315 19.307 +13.008
EU-27 minus Österreich 20.183 11.664 +8.519
Europa Drittstaaten 12.132 7.643 +4.489
Afrika 2.099 1.681 +418
Asien 6.362 4.508 +1.854
Amerika 1.530 962 +568
Andere 1.048 404 644
Anmerkung: „Europa gesamt“ und „Europa Drittstaaten“ inklusive Türkei und Russland
60
7.2 Grafik 2 „Wiens Bevölkerung 2008 nach Migrationshintergrund“
Wiens Gesamtbevölkerung 1.687.271
davon mit Migrationshintergrund 545.770
davon ohne Migrationshintergrund 1.141.501
Wiens Bevölkerung mit Migrationshintergrund kommt aus
EU-27 minus Österreich 179.015
Europa Drittstaaten (ohne Türkei) 190.689
Türkei 71.864
Asien 61.614
Afrika 22.013
Amerika 12.326
Sonstige 8.249
61
7.3 Grafik 3 „Wiens MigrantInnen-Bevölkerung 2008 – die 25 wichtigsten Herkunftsländer“
Herkunftsland
Serbien, Montenegro und Kosovo 109.579
Türkei 71.864
Deutschland 42.433
Polen 38.531
Bosnien und Herzegowina 31.568
Kroatien 19.924
Tschechische Republik 19.907
Rumänien 18.259
Ungarn 13.879
Slowakei 10.031
Mazedonien 10.425
Volksrepublik China 9.653
Russische Föderation 9.416
Iran 8.747
Philippinen 8.660
Ägypten 8.516
Bulgarien 8.260
Indien 8.214
Italien 5.951
USA 4.838
Frankreich 4.479
Nigeria 4.465
Großbritannien 4.174
Ukraine 3.304
Schweiz 3.053
62
7.4 Grafik 4: „Wanderungsbilanzen Wien 2002-2008 nach Staatsbürgerschaft / Herkunft“
2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008
Insgesamt +21.488 +17.094 +19.658 +17.181 +6.772 +13.081 +10.904
davon aus
Österreich -861 -4.318 -6.187 -3.985 -4.553 -4.343 -5.588
Europa gesamt +16.606 +16.597 +19.886 +16.999 +8.608 +13.504 +13.008
EU-26 +5.431 +5.094 +8.359 +7.304 +4.935 +9.496 +8.519
Europa Drittstaaten +11.175 +11.503 +11.527 +9.695 +3.673 +4.008 +4.489
Afrika +1.416 +952 +2.165 +993 +244 +476 +418
Asien +3.927 +3.289 +3.151 +2.281 +1.655 +2.286 +1.854
Amerika +329 +323 +271 +442 +370 +619 +568
63
7.5 Grafik 5: „Ausgewählte Szenarien Bevölkerungsentwicklung Wien 2009-2030“
Jahr Reale Entwicklung Hauptszenario Alterungsszenario1990 1.497.712 1991 1.512.599 1992 1.529.979 1993 1.543.471 1994 1.546.059 1995 1.540.830 1996 1.540.591 1997 1.541.543 1998 1.541.552 1999 1.545.386 2000 1.551.236 2001 1.562.536 2002 1.582.841 2003 1.600.888 2004 1.620.250 2005 1.641.653 2006 1.656.619 2007 1.667.820 2008 1.680.170 1.680.170 1.680.1702009 1.691.475 1.690.0642010 1.700.295 1.695.9802011 1.710.292 1.702.7312012 1.721.863 1.710.7082013 1.734.211 1.719.1452014 1.746.751 1.727.4082015 1.759.676 1.735.7462016 1.772.597 1.743.7672017 1.784.746 1.750.7232018 1.795.894 1.756.4252019 1.806.414 1.761.2272020 1.816.478 1.765.3332021 1.826.297 1.768.9772022 1.835.832 1.772.2552023 1.845.079 1.775.2242024 1.854.147 1.777.8362025 1.863.075 1.780.0452026 1.871.937 1.782.0612027 1.880.772 1.784.0052028 1.889.350 1.785.6852029 1.897.646 1.787.0942030 1.905.883 1.788.247
64
8 Mitwirkende der Wiener Zuwanderungskommission
Vorsitzender der Kommission
Thomas Oliva, Dr.
Geschäftsführer des Österreichischen Verbandes der Markenartikelindustrie
Ständige Mitglieder der Kommission
Shams Asadi, Dipl.-Ing.
Magistrat der Stadt Wien, Unabhängige Bedienstetenschutz-Beauftragte
Gudrun Biffl, Univ.-Prof. Dr.
Donau-Universität Krems, Leiterin des Zentrums für Migration, Integration, und Sicherheit
Heinz Fassmann, Univ.-Prof. Dr.
Universität Wien und Österreichischen Akademie der Wissenschaften
August Gächter, Mag.
Zentrum für Soziale Innovation (Mandat nach Abschluss der Beratungen zurückgelegt)
Kenan Güngör, Dipl.-Soz.
[difference:], Wissenschaftlicher Berater
Siegfried Haas, Dr.
Generalsekretär der Österreichischen Orient-Gesellschaft Hammer-Purgstall
Hikmet Kayahan
Freier Mitarbeiter der "Initiative Minderheiten Wien
Ulrike Mangl, Mag.
Stadtschulrat für Wien
Rainer Münz, Univ.-Prof. Dr.
Leiter der Forschungsabteilung der Erste Group Bank AG
Gamze Ongan
Leiterin des Beratungs-, Bildungs- und Therapiezentrums "Peregrina
Bernhard Perchinig, Dr.
Österreichische Akademie der Wissenschaften
Mario Rieder
Geschäftsführer der Wiener Volkshochschulen GbmH
Andrea Rohrauer, Mag.
Leiterin der Abteilung Weiterbildung und Elternbildung in „Die Kinderfreunde Wien“
Sieglinde Rosenberger, Univ.-Prof. Dr.
Universität Wien
Edwin Schäffer, Mag.
Wirtschaftskammer Wien
Thomas Scharf, Dr.
Geschäftsführer der Gesellschaft für Stadtentwicklung und Stadterneuerung
65
Renée Schroeder, Univ.-Prof. Dr.
Universität Wien
Neslihan Turan-Berger, Dipl.-Ing.
Wohnfonds Wien
Josef Wallner
AK-Wien
Hilde Weiss, Univ.-Prof. Dr.
Universität Wien
Beratung & Management der Kommission
Eugen Antalovsky, Dr.
Geschäftsführer Europaforum Wien
Johannes Lutter, Dr.
Stv. Geschäftsführer Europaforum Wien
Alexander Wolffhardt, Mag.
Europaforum Wien
Claudia de Waal
Europaforum Wien
Autoren & Redaktionsteam des Kommissionsberichts
Eugen Antalovsky, Dr.
Europaforum Wien
Heinz Fassmann, Univ.-Prof. Dr.
Mitglied der Kommission
Thomas Oliva, Dr.
Vorsitzender der Kommission
Josef Wallner
Mitglied der Kommission
Alexander Wolffhardt, Mag.
Europaforum Wien
66
Mitwirkende der Kommissionshearings
"Anno '93" - Österreichisch-kroatischer Dachverein
Ägyptischer Club
Arbeiter-Samariterbund Österreichs
Asylkoordination
ATIB - Türkisch Islamische Union in Österreich
Bahá'í Religionsgemeinschaft Österreich
Beratungszentrum für Migranten und Migrantinnen
Caritas der Erzdiözese Wien
Diakonie Österreich
Erzdiözese Wien
Evangelische Kirche in Österreich
Evangelisch-lutherischen Diözese Wien
FEYKOM - Verband der kurdischen Vereinen in Österreich
Gemeinschaft zum Andenken an Guru Nanak Dev Ji
GIF-Gesellschaft unabhängiger iranischer Frauen in Österreich
helping hands
Initiative Minderheiten
Interface
Islamische Föderation in Wien
Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich
Islamische Liga der Kultur
Israelitische Kultusgemeinde
PanAfa Pan African Forum in Austria
Rotes Kreuz Wien
Safran - Verein der jungen Generation Iran - Österreich
Sozial Global AG
Verein "Wiener Sozialdienste"
Verein bosnischer Muslime Gazi Husrev-Beg
Verein 'Projekt Integrationshaus'
Volkshilfe Wien
Wiener Hilfswerk
WK-Wirtschaftskammer Wien
ZARA - Zivilcourage und Antirassismus-Arbeit
Wien, Jänner 2010