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12 Der kleine, elegant gekleidete Herr mit dicker Brille, Glatze und Schnurrbart, der jeden Nachmittag um Punkt halb drei schnellen Schrittes seinen Spaziergang durch den Grünewald machte, war einer der reichsten Einwohner Luxemburgs. Der 1900 im oberschlesischen Beuthen gebo- rene, im Juni 1933 als jüdischer Emigrant nach Luxemburg geflohene Hans Heinrich Leipziger hatte während des Zweiten Welt- krieges in New York ein globales Handels- imperium aufgebaut. Nach dem Krieg war er unter dem Namen Henry J. Leir als wohlhabender amerikanischer Trader in sein früheres Exilland zurückgekehrt. Im Großherzogtum erkaufte er sich durch großzügige Geschenke Einfluss und Be- ziehungen und begann von hier aus ei- nen Teil seiner internationalen Geschäfte abzuwickeln. Die Geschichten, die sich um den 1,60 Meter großen Leir ranken, sind phantas- tisch. Um ihn wuchert ein Gestrüpp an Mythen, sein Name ist zur Chiffre und zur Projektionsfläche geworden: Leir, der Pup- penspieler des europäischen Adels; Leir, der Strippenzieher des internationalen Waffenhandels; Leir, der Zeremonienmeis- ter der Weltpolitik; Leir, die graue Emi- nenz des Finanzplatzes; „King Leir“, der heimliche Graf von Luxemburg. Als Pen- dant hierzu finden sich auf den Internet- seiten der von Leirs Stiftungen finanzier- ten Einrichtungen biographische Notizen, die seltsam hohl und stereotyp klingen: „Mr. Leir was a cultivated, visionary, com- passionate, and generous industrialist, who did not forget the underprivileged. He was truly an astonishing individual with a strong sense of responsibility [...] An extraordinary gentleman.“ Naturge- mäß greift beides zu kurz: Leirs Biogra- phie ist prosaischer, vielschichtiger und widersprüchlicher als es diese eingekauften Hagiographien oder verschachtelten Kons- pirationserzählungen zulassen könnten ... Verzerrt spiegelt sich in ihr und um sie das kurze 20. Jahrhundert: der Niedergang der Imperien und der Aufstieg der Ideologien, der Vernichtungskrieg und die Shoah, die Zweiteilung der Welt und das Wettrüsten, das Ende der Kolonialherrschaft und die Entstehung des globalen Marktes. Viele die Leir persönlich kannten, sind noch am Leben. Sie galt es ausfindig zu machen und zum Sprechen zu bringen. Diese Vorgehensweise ist nicht ohne Ri- siko. Denn das Verhältnis der befragten Zeitzeugen zu Leir ist nicht unbefangen, viele waren zeitweilig finanziell von ihm abhängig, hatten für ihn Geschäfte ab- gewickelt und nicht wenige fühlen sich ihm auch heute noch verpflichtet. Den Quellen hat der Leser demnach respekt- los zu begegnen und sich zu fragen: Wer spricht? Zu welchem Zweck? Was will er verschweigen? Was hat er vergessen? 1 Wo- her weiß er, was er sagt? Dieses kollektive Flimmern von Überlieferungen früherer Angestellter, Familienangehörigen, Politi- kern und Freunden galt es mit Materialien aus Büchern, Archiven und dem Inter- net zu kreuzen, abzuwägen und zu einer Collage zu verkleben. 2 Der unsichtbaren Hand des Nacherzählers sollte der Leser jedoch ebenso stark misstrauen wie den Remineszenzen der Zeitzeugen: Hätte er andere Fragen gestellt, die Gespräche öfter oder seltener unterbrochen, wäre er ande- ren Spuren nachgegangen; das Gesamtbild wäre ein anderes geworden. Wanderjahre Hans Heinrich Leipziger kam am 28. Januar 1900 als ältestes von sechs Kindern von Johannah Bergmann und Isidor Leipziger in Beuthen zur Welt. Beuthen (heute Bytom) lag am süd-östlichen Zipfel Ober- schlesiens. Es war eine mittelgroße Grenz- stadt am Dreiländereck zwischen dem deutschen Kaiserreich, dem russischen Imperium und der K. K. Monarchie, ir- gendwo auf halbem Weg zwischen Breslau und Krakau. Beuthen besaß eine große jüdische Gemeinschaft und die Leipzigers waren Bestandteil dieser deutsch-jüdischen Symbiose. Besonders religiös waren sie nicht. Lady Marcelle Quinton, eine Nichte von Hans H. Leipziger (ihre Mutter war seine Schwester) meint mir gegenüber am Telefon: „Henry’s family was just as reli- gious as German Jews were. They celebrat- ed the High Holy Days and that sort of thing.“ Erstaunlich unbekümmert liest sich Lady Quintons Beschreibung der deutschen Vorkriegsstimmung in ihrer 2008 er- schienen Autobiographie. Die Idylle ihrer Kindheit sah sie in ihrer Großmutter (Leirs Mutter) verkörpert: „It was wonderful 20 th Century Man Die Geschichte des Hans Heinrich Leipziger alias Henry Linger alias Henry J. Leir (1900-1998) – Teil 1 Bernard Thomas forum 321 Geschichte

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Der kleine, elegant gekleidete Herr mit dicker Brille, Glatze und Schnurrbart, der jeden Nachmittag um Punkt halb drei schnellen Schrittes seinen Spaziergang durch den Grünewald machte, war einer der reichsten Einwohner Luxemburgs. Der 1900 im oberschlesischen Beuthen gebo-rene, im Juni 1933 als jüdischer Emigrant nach Luxemburg geflohene Hans Heinrich Leipziger hatte während des Zweiten Welt- krieges in New York ein globales Handels- imperium aufgebaut. Nach dem Krieg war er unter dem Namen Henry J. Leir als wohlhabender amerikanischer Trader in sein früheres Exilland zurückgekehrt. Im Großherzogtum erkaufte er sich durch großzügige Geschenke Einfluss und Be-ziehungen und begann von hier aus ei-nen Teil seiner internationalen Geschäfte abzuwickeln.

Die Geschichten, die sich um den 1,60 Meter großen Leir ranken, sind phantas- tisch. Um ihn wuchert ein Gestrüpp an Mythen, sein Name ist zur Chiffre und zur Projektionsfläche geworden: Leir, der Pup-penspieler des europäischen Adels; Leir, der Strippenzieher des internationalen Waffenhandels; Leir, der Zeremonienmeis- ter der Weltpolitik; Leir, die graue Emi-nenz des Finanzplatzes; „King Leir“, der heimliche Graf von Luxemburg. Als Pen-dant hierzu finden sich auf den Internet-seiten der von Leirs Stiftungen finanzier-ten Einrichtungen biographische Notizen, die seltsam hohl und stereotyp klingen: „Mr. Leir was a cultivated, visionary, com-passionate, and generous industrialist,

who did not forget the underprivileged. He was truly an astonishing individual with a strong sense of responsibility [...] An extraordinary gentleman.“ Naturge-mäß greift beides zu kurz: Leirs Biogra-phie ist prosaischer, vielschichtiger und widersprüchlicher als es diese eingekauften Hagiographien oder verschachtelten Kons- pirationserzählungen zulassen könnten ... Verzerrt spiegelt sich in ihr und um sie das kurze 20. Jahrhundert: der Niedergang der Imperien und der Aufstieg der Ideologien, der Vernichtungskrieg und die Shoah, die Zweiteilung der Welt und das Wettrüsten, das Ende der Kolonialherrschaft und die Entstehung des globalen Marktes.

Viele die Leir persönlich kannten, sind noch am Leben. Sie galt es ausfindig zu machen und zum Sprechen zu bringen. Diese Vorgehensweise ist nicht ohne Ri-siko. Denn das Verhältnis der befragten Zeitzeugen zu Leir ist nicht unbefangen, viele waren zeitweilig finanziell von ihm abhängig, hatten für ihn Geschäfte ab-gewickelt und nicht wenige fühlen sich ihm auch heute noch verpflichtet. Den Quellen hat der Leser demnach respekt-los zu begegnen und sich zu fragen: Wer spricht? Zu welchem Zweck? Was will er verschweigen? Was hat er vergessen?1 Wo-her weiß er, was er sagt? Dieses kollektive Flimmern von Überlieferungen früherer Angestellter, Familienangehörigen, Politi-kern und Freunden galt es mit Materialien aus Büchern, Archiven und dem Inter-net zu kreuzen, abzuwägen und zu einer Collage zu verkleben.2 Der unsichtbaren

Hand des Nacherzählers sollte der Leser jedoch ebenso stark misstrauen wie den Remineszenzen der Zeitzeugen: Hätte er andere Fragen gestellt, die Gespräche öfter oder seltener unterbrochen, wäre er ande-ren Spuren nachgegangen; das Gesamtbild wäre ein anderes geworden.

Wanderjahre

Hans Heinrich Leipziger kam am 28. Januar 1900 als ältestes von sechs Kindern von Johannah Bergmann und Isidor Leipziger in Beuthen zur Welt. Beuthen (heute Bytom) lag am süd-östlichen Zipfel Ober-schlesiens. Es war eine mittelgroße Grenz-stadt am Dreiländereck zwischen dem deutschen Kaiserreich, dem russischen Imperium und der K. K. Monarchie, ir-gendwo auf halbem Weg zwischen Breslau und Krakau. Beuthen besaß eine große jüdische Gemeinschaft und die Leipzigers waren Bestandteil dieser deutsch-jüdischen Symbiose. Besonders religiös waren sie nicht. Lady Marcelle Quinton, eine Nichte von Hans H. Leipziger (ihre Mutter war seine Schwester) meint mir gegenüber am Telefon: „Henry’s family was just as reli-gious as German Jews were. They celebrat- ed the High Holy Days and that sort of thing.“

Erstaunlich unbekümmert liest sich Lady Quintons Beschreibung der deutschen Vorkriegsstimmung in ihrer 2008 er-schienen Autobiographie. Die Idylle ihrer Kindheit sah sie in ihrer Großmutter (Leirs Mutter) verkörpert: „It was wonderful

20th Century Man Die Geschichte des Hans Heinrich Leipziger alias Henry Linger

alias Henry J. Leir (1900-1998) – Teil 1

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when my grandmother came to visit. She lived in Beuthen [...] and loved to travel. She was widowed very early, in 1911 (my grandfather Isidor was an architect, special- izing in building prisons). She came with a great load of presents. When I stayed with her, in 1937 I think, we went to the market together and she came home with a life carp wrapped in brown paper which was left to swim in the bathtub until it was time to be cooked. We went to Karlsbad every year [...] Omi retired to bed early with a hot water bottle, some pâté and green pickles which she loved and knew didn’t agree with her.“3

Als der Vater von Hans Heinrich, Isidor Leipziger, starb, drohte der Familie das Ab-rutschen in die Armut. Marcelle Quinton sagt mir: „Something had to be done with the six children. Some of them were only three years old. The funeral was on a Fri-day and on Sunday three of the children, including Henry went to Onkel Herrmann and his wife (a childless couple) and were brought up there. They all had a hard life; they knew what it was to be hungry. But they didn’t go under. Henry was very cle-ver. He had a very good mind, never forgot anything; God-given that is. The younger ones weren’t so clever. That sometimes happens in families: the brains run out…“ Die Rolle des pater familias bekam Leir sehr früh aufgezwungen und er legte sie zeitle-bens nicht mehr ab. Den Familienange-hörigen half er finanziell über die Runden und stellte einige von ihnen in seinen Fir-men ein. Etwa seine Schwester, Margarete Leipziger: „She was overworked and un-derpaid in my Uncle Henry’s office un-til she retired aged 75“, schreibt Marcelle Quinton in ihrer Autobiographie.

Später, vielleicht geprägt durch seinen Amerika-Aufenthalt, war Leir stets um seine Darstellung als Selfmademan be-müht. Jean Calmes, der 1969, frisch von der ETH-Zürich diplomiert, für Leir zu arbeiten anfing, erinnert sich an dessen Akademikerskepsis: „Wenn Sie ihn be-sucht hätten, wäre seine erste Frage ge-wesen: ,Wo haben Sie Ihre Studienzeit vergeudet?‘“ Doch ganz der Selfmademan war Leir nicht. Er hatte mit 16 sein Abitur am humanistischen Gymnasium gemacht und einige Jahre kaufmännische Lehre hinter sich. Neben seiner Arbeit hatte Leir

„kurzzeitig Chemie studiert, was er aber immer verschwieg“, so Jean Calmes.

Im Januar 1919 zog Leipziger nach Mann-heim, wo er für den Stahlproduzenten Wolf Netter & Jacobi in einer Angestell-tenposition zu arbeiten begann. Über Leirs Lehrlingszeit ist wenig in Erfahrung zu bringen. In einem Urteil des United States Court of Appeals Ninth Circuit von 1961 wird Leirs Zeit bei Wolf Netter wie folgt beschrieben: „His enterprises in Germany involved for the most part the purchase of raw materials for metal producers and the sale of their finished products.“ Genauer war er bei Wolf Netter & Jacobi für die Vertretung der Veitscher Magnesitwerke verantwortlich. Diese Werke in der öster-reichischen Steiermark waren damals die weltweit größten Hersteller von Magnesit, eines Rohstoffes, welcher zur Herstellung feuerfester Ausmauerungen von Stahlöfen genutzt wird. Diese Feuerfestprodukte vermarktete der Angestellte Leipziger an die Eisenindustrie und arbeitete sich in-nerhalb von nur wenigen Jahren zum Handlungsbevollmächtigten hoch.4

Hans H. Leipziger heiratete 1929 die zwei Jahre jüngere Erna Dora Schloss. Schenkt man seiner Haushälterin, die vierzig Jahre

lang beim Ehepaar Leir eingestellt war, Glauben, war die Hochzeit arrangiert. Der Onkel von Erna habe Leir zufällig im Zug getroffen und habe ihn auf seine ledige Nichte hingewiesen. Die Leirs hätten in ei-ner Zweckehe gelebt: „Sie haben sich nicht geliebt, aber respektiert. Zwischen den beiden wurde nie ein böses Wort gewech-selt“, sagt mir die ehemalige Haushälterin, die in diesem Artikel nicht namentlich in Erscheinung zu treten wünscht („Schrei-ben Sie einfach D. F.“, sagt sie mir, als ich sie einige Tage vor Abdruck des Artikels anrufe um ihre Zitate zu besprechen.) Getroffen hatte ich D. F. Anfang Au-gust in ihrem Belairer Appartement, wo sie zwischen japanischen Malereien und zwei Katzen lebt. Sie war eine holländi-sche Kriegsvollwaise, als sie im Novem-ber 1952 nach New York kam. Als sie am 17. Februar 1953 von Frau Leir die Tür geöffnet bekam, fand sie dort „ein neues Heim“. Die 24-Jährige lernte Deutsch, Englisch und Französisch, die Regeln des koscheren Haushalts, und dass es sich beim weißen Gewebe von Clementinen nicht um Schimmel handelt. Marcelle Quinton bemerkt trocken: „She used to sit on Mrs. Leirs lap, which I thought was being rather cosy with the domestics.“ Ih-ren Rausschmiss 1991 ohne Abfindung

Henry J. Leir fotografiert von Wolfgang Osterheld (1990)

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durch Henry Leir, als dessen Frau bereits ein Pflegefall war, empfand sie als famili-ären Verrat. Auf Herrn Leir ist sie seitdem nicht mehr gut zu sprechen, spricht hinge-gen von Frau Leir nur mit Hochachtung. „Sie war wie eine Mutter für mich“, sagt sie mir, sichtlich berührt.

Erna Schloss kam aus bürgerlichem Hause – einer jüdischen Weinhändlerfamilie aus der Gegend von Mainz – und sprach in ei-nem breiten rheinhessischen Dialekt. Ihre Familie war nicht nur weit wohlhabender als die von Hans Heinrich, sie war auch religiöser: In der Familie Schloss kochte man koscher und ging wöchentlich zur Synagoge. Zu ihrer Tante befragt, meint Marcelle Quentin: „She looked like an im-pressionist painting; very white skinned, very fat. She was very demanding and manipulative; a clever woman with no education whatsoever. It was a very close relationship. I would think Henry was

frightened of her.“ D. F. zufolge war Erna die Einzige, die ihren Ehemann zurecht-zuweisen wusste. Wenn sie wütend war, schritt sie zu seiner japanischen Keramik-sammlung, ergriff eine Vase und drohte sie zu Boden zu schmettern – „dann war er wieder on track“. Die Frage, ob Leir auch Mätressen hatte oder nicht (hatte er), ändert nichts daran, dass der intel-lektuell sprunghafte und nervös-febrile Leir in seiner Frau, die sich mehr für Bridge als für Business interessierte, eine Form von Beruhigung fand.

Im September 1931 wechselte Leipziger zur Bonner Magnesit GmbH, eine Kar-tellorganisation deutscher und österreichi-scher Magnesit-Hersteller, zwischen de-nen er die Quotenverteilung verwaltete. Größter deutscher Vertreter waren die Didier Werke AG mit Sitz in Berlin und Breslau. „Dort ist der Ausgangspunkt zu suchen, weshalb er überhaupt nach Lu-

xemburg kam“, sagt mir Helmut Koegel, der zwischen 1958 und 1974 u. a. als Ge-neraldirektor der Minerais SA für Leir ar-beitete und bei den Didier-Werken in die Lehre gegangen war. Der Generaldirektor der Didier war ein gewisser Dr. Edmund Bieneck und dieser war, Koegel nach, „stolzer Träger des goldenen Parteiabzei-chens der NSDAP“.5 Die Didier AG habe Leipziger 1933 einen Brief geschrieben, in dem sie ihm mitteilte, aufgrund seiner „nicht-arischen Abstammung“ sei eine Weiterführung seiner Tätigkeit als Ge-schäftsführer der Magnesit GmbH nicht erwünscht. Und so überquerte im Juni 1933 ein jüdischer Flüchtling namens Hans Heinrich Leipziger die deutsch- luxemburgische Grenze. Die Rechnung mit Dr. Bieneck sollte Henry J. Leir 15 Jahre später begleichen ...

Ein internationaler Trader im Luxemburg der 1930er Jahre

Am 8. Juni 1933 stellt sich Hans Heinrich Leipziger beim État civil der Stadt Luxem-burg vor und gibt an, am Vortag Residenz im Hotel Brasseur in der Grand-Rue ge-nommen zu haben. Selbst über den Tag seiner Ankunft legte sich im Nachhinein ein Nebel von Gerüchten: Mit nichts au-ßer einem kleinen Pappkoffer sei Leir in Luxemburg eingetroffen, wird man später erzählen. Ab diesem Zeitpunkt beginnt der Name Leipziger aber auch in den Ar-chivbeständen des Parquet général auf-zutauchen.6 In einem Bericht der Frem-denpolizei gibt Leipziger in der deutschen Amtssprache der Vorkriegszeit an: „Ich gedenke hierzulands meinen dauernden Aufenthalt mit meiner Ehefrau zu neh-men und von hier aus meine Geschäfte mit dem Ausland zu tätigen. Hierzulands nehme ich überhaupt keine gesellschaftli-chen Manipulationen vor.“

Am 11. August 1933, zwei Monate nach seiner Ankunft, gründet Leipziger die Minerais SA und legt somit den Grund-stein seines späteren Handelsimperiums. Nicht klar ist, von wo die 1 000 000 Lu-xemburger Franken Startkapital7 stamm-ten. Der Neffe von Leir, Marcello Leipziger, den ich in Lausanne erreiche, meint gehört zu haben, die Hälfte habe Leir selbst, die andere seine Frau Erna beigesteuert. Die Hauptaktivität der Minerais in den Drei-

Schnappschüsse

„Er war ein kleiner Mann, was auch manchmal Einiges erklärt, ein Self-Made-Man der in der materiellen Prosperität sein Ideal sah und der die Leute von seinen Ideen zu überzeugen wusste.“ (Anonym)

„Sein Geist funktionierte mit enormer Geschwindigkeit. Ein brillanter Intellekt. Schon nach dem ersten Halbsatz verstand er, um was es ging, und begann zu kombinieren.“ (Jacques Loesch)

„Un brasseur d’affaires de grande envergure, mais qui savait aussi comment se servir de l’argent qu’il gagnait pour acheter de l’influence politique. C’est ce qu’il a fait au Luxem-bourg.“ (Arno J. Mayer)

„Im Gespräch war er dominant. Sie haben Recht, Leir war klein: in Gesellschaft setzte er sich nie in den Stuhl, sondern stets auf die Seitenlehne, um über seinen Gesprächspartnern zu thronen. Leir konnte recht schroff sein: Er verstand Menschen nicht, die nicht in seiner Logik räsonierten. Er hatte einen ziemlich schmalen Anpassungsbereich.“ (Jean Calmes)

„Schon allein durch die Flamme in seinen Augen fiel seine kleine Statur nicht auf.“ (Pierre Schneider)

„Henry gab mir ein paar gute Ratschläge: ,Wissen Sie, Sie sollten nicht zu vertraulich mit Ihren Angestellten sein. Sie und ich, wir müssen uns als Kaiser betrachten, und unsere Angestellten sind da, um uns zu dienen!‘ Ich musste mich stark beherrschen, um nicht laut loszulachen!“ (Armand Hammer)

„Ich erinnere mich an seine Art und Weise, nach oben zu schauen, die Brille auf die Stirn gesetzt. Er hatte viele Gesichter. Er konnte sehr gentil sein oder auch sehr unmöglich. Divide et impera war Leirs Prinzip. Innerhalb der Firma unterhielt er Rivalitäten. Da wusste er zu intrigieren und Eifersuchten zu unterhalten.“ (Jean-Pierre Friedrich)

„Als ein enger Mitarbeiter die Firma mit einem recht großen Geschäft verlassen hatte, lief er durch die Büros und schrie: ,Das werde ich ihm nicht vergessen! Ich bin ein alter Jude: Auge um Auge, Zahn um Zahn!‘“ (Helmut Koegel)

„He wasn’t all that nice. He was a bully. He had an idea of what a gentleman was. He fell short of it. But anyway he was trying“ (Lady Marcelle Quinton)

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ßigern war die weltweite Vermarktung von Rohprodukten für die Stahlwerke. Sie lie-ferte Vanadium, Nickel, Chrom, Molyb-dän, Mangan, Niob und Magnesium von den Minen in die Fabriken. „Die Minerais war eine kleine Firma. Dort arbeiteten vielleicht 3 bis 4 Leute“, sagt mir Jacques Lennon, der damals als Laufbursche ein-gestellt war. Der Ingenieur und Bekannte Leirs, Félix Schroeder, beschreibt 1935 der Fremdenpolizei gegenüber die Aktivitäten der Minerais SA wie folgt: „Die Rohma-terialen für die feuerfeste Industrie [...] stammen aus Russland, Griechenland, der Türkei und Indien und werden an Fabri-ken im Ausland geliefert.“

Das globale Netz an Materialflüssen, Lie-feranten und Abnehmern, das Leipziger in einer Zeit stotternder Kommunikations-mittel spann, war beachtlich. Der ame-rikanische Historiker Arno J. Mayer, der als Jugendlicher in den 1940ern für Leir in New York arbeitete, sagt mir: „C’était quelqu’un qui avait une vision vraiment internationale d’un capitalisme globalisant avant la lettre. C’est ce qui m’a toujours impressionné chez lui.“

Vielleicht weil er keine akademische Spe-zialisierung und Formatierung durchlau-fen hatte, entpuppte sich Leipziger im Geschäft als origineller Denker. Er schlug Brücken zwischen unterschiedlichen wis-senschaftlichen Gebieten (wie Chemie, Elektrizität, Energie und Metallurgie) und dachte über nationalstaatliche Grenzen hinweg. Ein früherer Luxemburger Poli-tiker, der nicht genannt werden will, erin-nert sich: „Er war ein Visionär, ja, aber als Händler. Während Andere noch immer in Sektoren oder Ländern dachten, hat er sich über diese Grenzen hinweggesetzt. Für Leir war der Handel bereits damals ein global village. Er war seiner Zeit eigentlich voraus. Er war voller Ideen. Manchmal kamen einem diese fantasque vor.“

Als internationaler Trader war Leipziger im damaligen Industrie- und Agrarstaat Luxemburg ein Exot. Jean Calmes sagt mir: „Er war ein extravaganter Mann, schon vor dem Krieg hatte er monatli-che Telefonrechnungen in bis dato hier unbekannten Höhen. 1935 bezahlte Leir für Telefongespräche soviel wie heute eine ganze Bank! Die Post war ständig besorgt,

er würde seine Rechnungen nicht bezah-len ... “

Zukunftsvisionen und Todesangst

Extravagant und fantasque war auch das 1937 unter dem Pseudonym Tom Palmer bei Evy Friedrichs Malpaartes Verlag er-schienene Buch La Grande Compagnie de Colonisation, als dessen alleiniger Autor Leir lange Zeit galt.8 Es handelt sich um eine Art Briefroman, nur dass der Leser, anstatt einer privaten Korrespondenz, eine Collage aus fiktiven Zeitungsartikeln, Wirtschaftsberichten und Telegrammen liest. Aus diesem globalen Informations-fluss ergibt sich die Dynamik des Buches, welches die Literaturwissenschaftlerin Germaine Goetzinger kürzlich als „eine Art pseudo-dokumentarischer Weltwirt-schafts-Fiction-Roman“9 zu umschreiben versuchte. Der eigentliche Romanheld ist die Grande Compagnie de colonisation, eine multinationale Aktiengesellschaft mit Sitz auf dem Boulevard Royal und später am Rousegaertchen, die von Vertretern 18 europäischer Staaten geleitet wird. Den Urheber des großen Planes, ein „aufge-klärter Industrieller“, der erst am Ende des Buches durch seine posthum veröffentlich-ten Tagebucheinträge in Erscheinung tritt, taufte Leipziger auf Henry Linger, fikti-ver Prototyp von Henry J. Leir ... Doch eigentlich spielen Menschen in Leirs Zu-kunftsvision nur eine zweitrangige Rolle und treten höchstens auf als „farblose Unterzeichner der fiktiven Dokumente [...], als Marionetten einer gigantischen Weltwirtschaftsmaschinerie“.10

Im Artikel 2 der Gründungsstatuten der Grande Compagnie de colonisation wird ihr Zweck folgendermaßen definiert: „Die Kolonisation innerhalb und außerhalb Europas; die Errichtung von Kraftwer-ken, Bahnen, Brücken und sonstigen in-dustriellen Anlagen; die Verwendung von Kriegsmaterial zu friedlichen Zwecken; die Förderung von Ein- und Auswan-derung, sowie: alle Transaktionen, die dazu dienen, durch Anwendung friedli-cher Mittel den Industrien der beteilig-ten Länder Aufträge zu beschaffen und den allgemeinen Lebensstandard in den unterentwickelten Ländern der Erde zu heben.“ Als Gegenleistung für diese enor-men Infrastrukturarbeiten sichert sich die

Compagnie de colonisation das Recht auf die Ausbeutung der Ressourcen in den Ländern des Südens. Dieser Umstand hat Germaine Goetzinger zum Kommentar veranlasst, „der Nationalkolonialismus des 19. Jahrhunderts [sei] transformiert und weiterentwickelt [worden] zu einem para-doxalen Erwerbs- und Weltbefriedigungs-instrument, das Züge aufweist von dem, was heute Globalisierung genannt wird.“

Leir selbst hatte im Vorwort zur 1981 er-schienenen amerikanischen Neuauflage11

geschrieben, er sei in der Zwischenzeit mit der Wahl des Wortes „colonisation“ nicht mehr zufrieden: Würde er das Buch neuschreiben, würde er es durch „develop-ment“ ersetzen. Dazu schreibt die Litera-turwissenschaftlerin Fabienne Collignon: „The word switch would be simple ob-fuscation – [...] operations are imposed from above and dictated by a white metro-polis to outlying, exo-colonial, as well as ostensibly endo-colonial, meaning inside, outposts [...]“. Dieser Lektüre folgend, entlarvt Collignon Leirs Wunschwelt in ihrem Kern als „subterranean fantasy“: „It suffices to look at the Company’s projects, which begin with the hydro-power plant assembly in Peru and Bolivia in exchange for concessions on the countries’ copper mines; their demand for the exclusive rights to mineral resources in Angola and Mozambique; the construction of canals;

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their drillings for radium deposits in the Gobi Desert.“

Das Buch sorgt bei Erscheinen „für un-gläubiges Kopfschütteln“ und Batty Weber fragt sich aus wessen Hirn „alle diese zeit-gemäß über der Zeit stehenden Gedan-ken“12 entsprungen waren. Mit der lange Zeit ungeklärten Frage der Autorenschaft des Buches hat Leir zeitlebens kokettiert. Als Jean-Paul Friedrich (genannt Jemp), der Sohn des Verlegers Evy Friedrich, Leir auf das Buch ansprach und ihn bat, es zu signieren, weigerte dieser sich: „Weißt du, ich bin ein Blümchen das im Schatten ge-deihen möchte.“ Der früheren liberalen Luxemburger Außen- und Wirtschaftsmi-nisterin Colette Flesch drückte er hinge-gen ein Exemplar des Buches in die Hand und meinte: „Lesen Sie das! Sie werden dann ganz viel verstehen.“ Sie las es, hatte aber ihre Schwierigkeiten: „Ehrlich ge-sagt, ich verstand überhaupt nichts“, er-innert sie sich. „Ich hatte den Eindruck, Leir sah das Buch ein wenig wie eine Autobiographie.“

Jean Calmes, ein enger Mitarbeiter Leirs, dessen Vater Christian Calmes das Nach-wort zur amerikanischen Fassung schrieb, glaubt, im Roman „Visionäres“ zu lesen: „Der Zweite Weltkrieg, der Marshall-Plan, die UNO, der gemeinsame Binnenmarkt, aber auch Entwicklungen in der Minerali-enextraktion, etwa dass in der Wüste Gobi Uranminen angelegt würden. Und das zu einer Zeit, wo außer Curie in Paris noch kein Mensch von Uran sprach!“ Gerade der Umstand aber, dass so vieles von dem was im Buch stand, später auch tatsäch-lich eintrat, wurde Leir zunehmend un-heimlich. Sein Unbehagen steigerte sich im Alter zur Zwangsvorstellung. Denn das Buch endete mit einem Nekrolog sei-nes fiktiven Alter-Egos. In der Typogra-phie der Luxemburger Zeitung, datiert auf den 28. Januar 1970 (auf den Tag genau Leirs 70. Geburtstag) stand dort zu lesen: „Heute starb im Alter von 70 Jahren der Industrielle Henry Linger. Der Verstor-bene war vor etwa 40 Jahren aus Deutsch-land hierher gezogen und hat viel zu An-sehen und Entwicklung der Wirtschaft im Großherzogtum beigetragen.“ „Leir selbst hat geglaubt (zumindest hat er es gesagt), er würde mit 70 im Jahr 1970

sterben“, sagt mir Jean Calmes. Helmut Koegel bestätigt dies: „Leipziger-Linger- Leir: Er hatte in der Tat schreckliche Angst, dass das Buch seine Todesanzeige vorwegnehmen würde. Für ihn war das real.“ Am 29. Januar, dem Tag nach sei-nem 70. Geburtstag, ging es ihm dann aber besser: „Ab dann wollte er unbedingt 100 Jahre alt werden!“ Möglicherweise eine bloße Spielerei von Seiten Leirs? „Wenn man alle seine Aktien aus seinen Geschäften kurz vor dem Jahr 1970 ver-kauft, geht das schon über pure Spielerei hinaus!“, antwortet mir Calmes. „Er war ein sehr geordneter Mann, ein richtiger Preuße! Er wollte immer, dass seine Ge-schäfte geregelt waren. Sein Betrieb mit all den Angestellten sollte überleben. Ab 1970 bezeichnete sich Leir als ‚Survivor‘.“

Im amerikanischen Sinn des Wortes „Sur-vivor“ war Leir, als europäischer Jude, be-reits mit seiner Atlantiküberquerung am 16. Dezember 1939 zum Überlebenden geworden. Im oberschlesischen Beuthen, seiner Geburtsstadt, war im Jahr zuvor in der „Reichskristallnacht“ die Synagoge angezündet und völlig niedergebrannt worden. In den darauffolgenden vier Jahren wurde die jüdische Bevölkerung von Beuthen fast vollständig ausgelöscht. Johannah Leipziger, Leirs Mutter, starb 1942 in dem von den Nazis als böhmi-schen Luftkurort namens Theresienbad präsentierten, in Wirklichkeit jedoch auf Auslöschung des Lebens ausgerichteten Konzentrationslager Theresienstadt. In der Leichenkammer am Ausfallstor der Straße stapelten sich über fünfhundert Tote, mehrschichtig übereinanderliegend. Die Leichen wurde in einem der vier, vier-undzwanzigstündig in Betrieb gehaltenen und an der Grenze ihrer Kapazität arbei-tenden Verbrennungsöfen des Krematori-ums verbrannt.

Alle ihre Kinder und Enkel hatten sich über den Atlantik ins Exil gerettet, sie aber war geblieben. Sie habe die Famili-engräber nicht zurücklassen wollen, meint Marcelle Quinton, ihre Enkelin. Ihr war 1941 über Marseille die Flucht ins New Yorker Exil geglückt und sie lebt heute in London, wo sie 1951 ihren Mann Anthony Quinton kennenlernte. „We had a very fortuitous trip around Europe be-fore we were able to go to the promised

land. I didn’t get to America till 1940, my father till 1941, which was a comple-tely different thing from coming there in 1938 like Henry. Every month counts, you know“, sagt sie mir am Telefon. Und fügt mit stolzem Stoizismus hinzu: „Eve-rybody has something. It depends if you let it dominate your life. It’s a question of character. Although, I since don’t find tra-vel to really be the thrill it’s meant to be. Because I’m always aware that sometimes you travel, because you want to get out of somebody’s way who’s at your heels...“

Über seine Flucht vor den Nazis über zwei Stationen in den 1930ern sprach Leir spä-ter kaum. Pierre Schneider, ein früherer Angestellter der Minerais SA, resümiert Leirs Verhältnis zu seiner Geschichte wie folgt: „Seine Vergangenheit war geschäft-lich. Das war im Grunde sein Leben.“

„The smallest of the large firms“

Während die meisten Flüchtlinge im Exil nur knapp über die Runden kamen, baute sich Leir, ausgehend von seinem Büro an der Ecke zwischen der 42nd Street und der Fifth Avenue (gegenüber der New York Public Library) in der Zeit zwischen 1939 und 1945 ein Handelsimperium auf. Noch vor seiner Übersiedlung hatte er die US Continental Ore Company gegründet. Sie verkaufte Mangan, Phos-phor, Titan und Vanadium weltweit an die Stahlindustrie. Vor der Lieferung mussten diese Erze aber erst unzählige Male trans-formiert werden. Alle diese technischen Prozesse, beginnend in der Mine in Afrika, Südamerika oder China bis hin zum reifen Produkt und dem Transport, liefen unter der Aufsicht von Leirs Firma. Innerhalb von wenigen Jahren schrieb die Continental jährliche Umsatzzahlen von rund 500 Millionen Dollar. Die Conti-nental Ore war damit zur „smallest of the large firms“ geworden, wie es Louis Lipton 1998 in einem Interview mit der New York Times formulierte.13 Um den New Yorker Hauptsitz der Continentale Ore bildete sich in den nächsten Jahrzehnten eine Vielzahl von Filialen in etwa 40 Ländern: International Metals SA, Intermétal, Con-tinentale SA, Continentale nucléaire SA, Continental Resources SA, Lux Ore and Smeltering, Continental Erzgesellschaft,

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Luxor, Continental e Minerali, Société anonyme d’importations und Dutzende weitere. Diese Firmen unterhielten Bü-ros in Luxemburg, London, Paris, Tokio, Mexiko-City und in Düsseldorf, beschäf-tigten um die 1 500 Angestellte und be-saßen, Ende der 1960er, u. a. Minen in Portugal, Mexiko, Uganda, Kenia und Tansania sowie Abmachungen mit chine-sischen Magnesiumminen.

Zu Leirs Firmen gehörte ebenfalls die Düngemittelfirma International Ore and Fertilizer Corporation (Interore genannt). Sie hatte zum Zeitpunkt ihres Verkaufes 1963 Zweigniederlassungen in 27 Ländern und Vertragspartner in 59 Ländern. Die Firma bestritt über 50 Prozent des gesam-ten amerikanischen Düngemittel-Exports und war damit, wie es der neue Eigen-tümer Armand Hammer in einem Tele-gramm vom 21. September 1963 an John F. Kennedy schrieb, der „größte unabhän-gige amerikanische Düngerlieferant der Welt“. Im Telegramm köderte Hammer den amerikanischen Präsidenten mit dem strategischen politischen Potential, wel-ches er in einer Firma dieses Ausmaßes zu wittern glaubte: „Ich denke, dass un-ser Unternehmen imstande sein dürfte, amerikanisches Know-how zu vermitteln, um hungernden Menschen in der ganzen Welt zu helfen und ihren Lebensstandard zu verbessern, was die richtige Antwort auf den Kommunismus und andere Un-terdrückungssysteme ist, die den Frieden gefährden.“14

So wurde Leir in weniger als einem Jahr-zehnt zum Millionär. Zusammen mit seiner Frau und seiner Schwiegermutter bezog er eine Neun-Zimmer-Wohnung im Majestic (Central Park West, Nr. 115, gleich neben dem Dakota, das Apart-menthaus, das John Lennon bewohnte und vor welchem er erschossen wurde). D. F., die langjährige Haushälterin der Leirs, erzählt mir, sie sei noch in ihrem ersten Jahr von Henry Leir gefragt wor-den: „Wie viel Geld denken Sie, dass ich habe?“ Die Haushälterin tippte verlegen auf 100 000 US-Dollar. Amüsiert gab Leir zu Antwort: „Weit gefehlt – ich besitze 17 Millionen!“ Am Ende seines Lebens soll Leir, noch immer D. F. nach, ein Ver-mögen von an die 200 Millionen Dollar akkumuliert haben.

Wie es Leir gelang, in weniger als ei-nem Jahrzehnt zwei der weltweit größten Handelsfirmen in zwei für die damaligen geostrategischen Interessen so zentralen Bereichen aufzubauen, ist nicht ganz klar. Marcelle Quinton glaubt, ihr Onkel habe zu jener Zeit eigentlich nur reüssieren können, ein kommerzielles Absaufen wäre unmöglich gewesen: „He sort of swam on the events. Like lying in the water on a salt lake, it was impossible to sink, really. There was a great optimism in America. The de-pression was over, everybody was buoyant: we’re going to get Hitler in weeks. You’d have to be very stupid not to make money in 1940 in New York…“ Jean Calmes er-klärt sich den Erfolg durch den wirtschaft-lichen Aufschwung des Stahlsektors in den fünf Kriegsjahren: „Das ist die Öko-nomie der Kriege! Leir hatte bereits da-mals ein für seine Zeit enormes Netzwerk in allen Ländern der Welt, in denen Erze vorkamen, geflochten. Von Indien nach China über Brasilien und Russland. All diese Kontakte zu den Minen bestanden bereits, die Materialflüsse konnten sofort anlaufen.“ Pierre Schneider, der zu Beginn der 1960er anfing für Leir zu arbeiten, erklärt sich dessen Erfolg in den 1940ern durch die „sehr großen Gewinnmargen“: „Bei größeren Verschiffungen konnte man in sehr kurzer Zeit sehr viel herausschla-gen. Leir wusste, wo die interessantesten und die billigsten Erzquellen lagen, und

wo man sie verladen und ausschiffen konnte, er kannte die gesamte Geographie auswendig.“

Neben den weltwirtschaftlichen und welt-politischen Umständen hatte der Aufstieg Leirs aber auch mit dessen ganz persönli-cher Arbeitswut zu tun. „Er war ein Ge-triebener“, sagt mir seine Haushälterin. Dem stimmt Jean Calmes zu: „Ständig hat er gearbeitet, Wochenenden durch, Worte wie ,Ferien‘ oder ,Rente‘ hatten für ihn keine Bedeutung.“ Noch am 14. Juli 1998, dem Tag vor seinem Tod, begab sich ein Greis namens Leir in seine New Yorker Büros. Marcelle Quinton, die ihn ein hal-bes Jahrhundert zuvor öfters in Manhattan getroffen hatte, erinnert sich: „With him, everything was related to work. A boss sets a tone for an enterprise and he was very strict as an employer. At the end of every day, all his employees had to stand in a row, a bit like children in third grade, and had to tell him what they made that day and how much money they earned. When Henry wasn’t satisfied, he would shout at them. Some would burst into tears and then go home. He was pretty dreadful.“ Zu Leirs Arbeitswut kam seine Kontrollmanie. „Er hat delegiert, wollte aber gleichzeitig ständig über alles auf dem Laufenden gehalten werden“, sagt Jean-Pierre Friedrich (genannt Jemp), der für die Aufsicht der Auslandsbüros verant-

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Henry J. Leir fotografiert von Wolfgang Osterheld (1990)

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wortlich war. Leirs Akribie in Detailfragen nahm teilweise schrullige Züge an. Es sei vorgekommen, erzählt mir Friedrich, dass Leir kleine Büroangestellte angeschrien habe, weil er der Meinung war, diese hät-ten zu teures Toilettenpapier gekauft.

Die „tüchtigen Jungs“

Wer die Namensliste der engeren Leir-Mitarbeiter durchgeht, dem fällt auf, dass neben einigen direkten Verwandten von Herr und vor allem Frau Leir (Margarete und Marcello Leipziger, Louis Lipton, Allen Doctor), viele bereits vor der Ein-stellung durch ihre familiäre Vorge-schichte an Leir gebunden waren: Roland Stantons Mutter war eng mit Erna D. Leir befreundet, Jean-Pierre Friedrich war der Sohn von Evy Friedrich, dem Verleger von Schnogs und Leirs Science-Fiction- Roman; Pierre Schneider war der Sohn von Jean Schneider, einem Bekannten Leirs aus den 1930er Jahren und Arno J. Mayer, der als Jugendlicher in den New Yorker Büros aushalf, war der Sohn von Frantz Mayer (nach dem Krieg Frank Mayer), ein Vertrauensmann von Leir, der 1958 zeitweilig als neuer Chef der Minerais SA gehandelt wurde.15

Leir stellte seine Verwandten als Ange-stellte ein und behandelte seine Ange-

stellten wie Familienangehörige. Wer mit früheren Mitarbeitern Leirs spricht, der kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich der kinderlose Leir intellektuell reproduzierte. Die engen Mitarbeiter Leirs von damals tragen einige seiner Züge: Sie wurden zu Fachleuten im Trading, mach-ten sich selbstständig, wurden vermögend (wenngleich nicht millionenschwer wie ihr früherer Vorgesetzter) und, wenn sie nicht gestorben sind, arbeiten sie noch heute (den beinahe 90-jährigen Jacques Lennon erreichte ich in seinem New Yorker Büro).

„Für die Leute, die direkt mit ihm zu tun hatten, war der Kontakt zu Leir eine Art Universität, ein ständiger Lehrgang“, sagt mir Jean Calmes, der neben Roger Ehrmann, Helmut Koegel, Jemp Friedrich und Pierre Schneider zur zweiten Gene-ration des engeren Mitarbeiterstabs von Leir zählte. „Er hat von uns Direktoren immer als ‚meine tüchtigen Jungs‘ gespro-chen“, erinnert sich Jemp Friedrich. Leir habe dafür gesorgt, dass seine Praktikan-ten aus guten Familien stammten, sagt Pierre Schneider: „Er wollte héritiers ein-stellen, vor allem solche, die einen Betrieb in der Stahlindustrie hätten übernehmen können. Für die Treffen mit Klienten legte Leir außerdem Wert darauf, dass seine jungen Angestellten gutaussehend waren.

Für ihn war das ein nicht unwesentliches Kriterium.“

Leirs „tüchtige Jungs“ waren fast alle Quereinsteiger im internationalen Tra-ding. Jemp Friedrich erklärt mir, wie er dazu kam, bei Leir zu arbeiten: „Im März 1966, ich war damals 27 Jahre alt, gingen mein Vater und ich ins Theater. In der Pause zeigt mein Vater auf einen kleinen, unscheinbaren Mann und sagt mir: ,Das ist einer der reichsten Männer in Luxemburg‘.‘‘ In dem Moment drehte Leir sich um und kam auf meinen Vater zu, um ihn zu begrüßen. Nachdem mein Vater mich vorgestellt hatte, packte Leir mich beim Arm, ließ meinen Vater stehen und fragte mich: ,Junge, was machst du beruflich?‘ – ,Ich arbeite bei einem Trans-portgeschäft‘, antwortete ich. Darauf er: ,Willst du nicht lieber einkaufen und ver-kaufen?‘ Noch in der gleichen Woche saß ich bei ihm im Vorstellungsgespräch. Er hat mir viele Fragen gestellt, die ich alle mit ,Nein‘ beantwortet habe: ‚Kennst du was von Chartering?‘ – ,Nein‘; ,Kennst du was von hoher Finanz‘ – ,Nein‘; ,Kennst du was von Erzen‘ – ,Nein‘. Ich dachte bei mir: ,Das ist das negativste Interview, das du je hattest.‘ Am Ende des Gespräches aber meinte Leir: „Das ist alles sehr gut so! Du hast keine Vorurteile, wir können dich genau so ausbilden, wie wir wollen.“ Das Interview ist noch sehr lebendig in meinem Kopf. Er hat mich z. B. gefragt: ,Glaubst du an Gott?‘ Wiederum war meine Antwort ,Nein‘. Darauf hat er mich angeschaut und gemeint: ‚Du bist ein sehr intelligenter Mensch.‘ Ich habe dann von ganz unten in der Firma angefangen, von der Picke auf.“

Leir habe nur an eine Ausbildung geglaubt, und zwar an die, die er selbst gab, sagt mir ein früherer Bekannter von ihm: „Er hat seine Jünger in Zucht genommen, gedrillt und geschult.“ Die noch mangelhaften Kommunikationssysteme seiner Zeit ver-suchte Leir durch eine Armee an jeder-zeit mobilisierbaren, loyalen Angestellten zu kompensieren: „Er hat sich nur Leute ausgesucht, die bereit waren, zu egal wel-chen Bedingungen zu arbeiten: egal wo, egal wie lang. Die waren quasi 24 Stunden direkt oder indirekt in seinem Dienst. So hatte Leir bereits damals ein ultraschnelles Netzwerk hergestellt.“

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Henry J. Leir fotografiert von Wolfgang Osterheld (1990)

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Deren Schaltzentrale lag in New York bei Louis Lipton, Jacques Lennon und Eric Lomnitz, der ersten Generation von Leirs Jüngern. „Die drei L“ waren seine engsten Mitarbeiter, seine Entourage. Sie verband, neben ihrer lebenslangen Loyalität zu Leir, der Umstand, dass sie sehr jung rekrutiert worden waren und alle jüdische Exilan-ten waren. (Das unmittelbare Umfeld Leirs blieb auch in Manhattan ein deut-sches: Man aß Braten und man sprach deutsch.) Bis auf Lomnitz hatten sie, kurz nach Ankunft in den USA, ihre Namen ändern lassen; angefangen mit Leipziger, der, praktisch gesinnt, seinen Namen auf die ersten drei und den letzten Buchstaben abkürzte. Marcelle Quinton nach war die Namensänderung geschäftsbedingt: „The reasons were economical not categorical. You’re making your prospects better by having a normal name that people can pronounce. And Leir is a perfectly good sounding English name.“

„Liebenstein, being a less clever man, called himself Lipton which is a clearly made-up name, sounds terrible, very pre-tentious, I think“, fügt sie hinzu. Louis Lipton war ein Verwandter von Erna D. Leir. Von Eric Lomnitz wurde gesagt, er wäre anfangs eingestellt worden „um Leirs Aktentasche zu tragen“, so Koegel. „Lomnitz war sehr sprachgewandt, geist-reich und elegant, ein Produktmanager aber war er nicht. Er hat sich mehr um die Verwaltung gekümmert; das große Geld hat er nicht gemacht.“

Jacques Lennon (geboren Jacques Leib) war ein junger Luxemburger (er wohnte auf der Place Wallis) als er 1937 mit 14 Jahren, auf Empfehlung des Luxemburger Rabbiners Serebrenik, für Leir zu arbei-ten anfing. „Ich war eigentlich noch ein Kind“, erzählt er am Telefon. Drei Jahre später folgte er Leir in die USA. Dort schrieb er sich anfangs ins College ein, en-gagierte sich später in die Armee, durch-lief das „basic training“ und kämpfte sich durch Nordafrika nach Italien. „Und dann habe ich den Krieg gewonnen“, sagt er am Telefon und lacht. Nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten absolvierte er, dank des GI-Bill, ein Universitätsstudium. Marcelle Quinton sagt von ihm: „He was thought to be the best of the lot.“ Jean Calmes nach war Jacques Lennon „ein spi-

ritueller Sohn“ für Leir. (Als ich ihn frage, ob er mit Herrn Leir „sehr eng verbun-den“ gewesen sei, antwortet mir Lennon: „Eng genug. Ich habe sehr viel bei ihm gelernt.“) Helmut Koegel sah in Lennon „den Mann vom Business“. Leir habe die großen Ideen gehabt, Lennon sei hinge-gen derjenige gewesen, der diese auch aus-zuführen wusste – er war ein strategische-rer Denker als sein Ziehvater. Anfang der 1970er war Lennon, der als Laufbursche in den kleinen Büros der Luxemburger Minerais SA angefangen hatte, Executive Vice-President der New Yorker Continen-tal Ore Corporation.

Und dann gab es noch Ronald P. Stanton. Von Leirs „tüchtigen Jungs“ brachte er es geschäftlich am Weitesten. Das Wirt-schaftsmagazin Forbes umschrieb den internationalen Trader kürzlich mit dem Oxymoron: „a quiet philanthropist [seine Spenden gehen bis zu 100 Millionen Dol-lar] who often appears at the top of lists of most charitable Americans“. Stanton wurde in Wiesbaden geboren und kam 1937, im Alter von 9 Jahren mit seiner Mutter, Hedi Steinberg, in die Vereinigten Staaten. Er war ein uneheliches Kind, „a fact that he resented very much“, meint Marcelle Quinton. Seine Mutter wurde zur besten Freundin von Frau Leir und Roland bekam einen Job in der Düngemit-telfirma Interore. Lady Marcelle Quinton erinnert sich: „I developed an instant re-pulsion for him. Maybe because his hair was so blonde that it looked like a plate of scrambled eggs. He was very ruthless and uneasy-going. He wanted the money more than anything, being the success: He had the idea this would make him hand-some and young.“ 1965 gründete Stanton die Transammonia Inc., deren CEO der 84-Jährige heute noch ist. Transammonia, (ihrer Homepage nach „a global trading firm that markets, trades, distributes and transports fertilizer products, liquefied pe-troleum gases, petrochemicals, methanol and petroleum products“) ist auf Platz 34 der größten US-Unternehmen (Forbes) und macht einen Umsatz von 6 Milliarden Dollar. D. F., die Haushälterin der Leirs, spricht von einer „Rivalität“ zwischen den beiden Millionären: Dass der jüngere Stanton soviel mehr Geld gemacht hatte als er selbst, habe Leir nur schwer vertra-gen können.

Das Leirsche Geschäftsmodell

Henry J. Leir führte sein multinationales Unternehmen demnach quasi als Famili-enbetrieb („a family corporation“, wie das New Yorker Bezirksgericht die Continen-tal Ore bezeichnete). „Verwalten ist nicht das richtige Wort im Kontext der Con-tinental Ore oder der Minerais. Das was wir heute unter Verwaltung einer Firma verstehen, hat bei ihm eigentlich nicht existiert. Ihm ging es darum, Geschäfte zu machen“, sagt mir Pierre Schneider. Ver-waltet wurden die Firmen von Leir per-sönlich, wie mir Helmut Koegel erklärt: „Es gab ja noch keine Computer zu der Zeit; Leir hat sicher irgendwie die Über-sicht darüber behalten, wo genau er aber seine Unterlagen speicherte, weiß ich nicht.“ Noch undurchschaubarer wird das Organigramm des Leirschen Impe-riums durch den Umstand, dass es zwi-schen den einzelnen Gesellschaften keine finanziellen Querverbindungen gab: „In ihnen steckte nicht einmal offiziell Kapital der Continental Ore, so dass etwa die Minerais nicht offiziell als Filiale der Continental hätte erscheinen können.“

Selbst wenn Leir sich in Detailfragen als pedantisch erweisen konnte, war seine Vorgehensweise „extrem sprunghaft“, wie mir Helmut Koegel erklärt: „Ich erinnere mich, dass er Leute kennengelernt hat in der Türkei, in Marokko oder in Tansania, mit denen er eine Firma gründete, die immer ,Continentale‘ im Namen tragen sollte. Eigentlich wusste niemand von uns, was in diesen Firmen genau vorging. Die lokalen Verwalter waren seine Buddys, denen schickte er Geld und sagte, was zu machen sei. Wenn ein solches Projekt aber in die Hose ging, dann rief er mich ins Büro und sagte: ‚Koegel, hast du mal die Unterlagen? Ich glaube nicht, dass wir da weitermachen wollen. Fahr mal hin, dass wir das loswerden. Und sieh zu, dass wir unser Geld wiederkriegen!‘ Er hatte Blitz-ideen, die manchmal auch sehr gut waren. Wir hätten das strukturierter gemacht, wir hätten Reportings eingeholt; er aber machte das quasi im Alleingang, über persönliche Telefonate. Was einige Pleiten erklärt.“

Manchmal jedoch gelangen ihm Coups, die keiner für möglich hielt (Koegel schätzt die Erfolgsquote auf 20 Prozent,

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andere hingegen wesentlich höher). In diesen Geschäften spielte Leir meist die Rolle des Vermittlers. Direkte Investitio-nen in schwere Infrastrukturanlagen wa-ren Leirs Sache nicht, er war kein Indus- trieller. Die österreichische Zeitschrift für Industrie und Finanzwesen, Der Volkswirt, erklärte Anfang der 1960er, warum Be-triebe auf Leirs Vermittlungen zurückgrif-fen: „ [...] in der Regel [muss man] ein ausländisches Handelshaus einschalten, um auf den Märkten Fuß zu fassen, die man [...] noch nicht bearbeitet hat. Für derartige Geschäftsanbahnungen, die vielfach die Überwindung beträchtlicher Schwierigkeiten voraussetzen, muss dann selbstverständlich ein entsprechendes Ent-gelt bezahlt werden, in der Regel in der Form einer Provision; das ist ein absolut korrekter Vorgang. Es ist vor allem auch zu bedenken, dass ein Exportgeschäft, das einem Unternehmer neue Märkte er-schließt, nicht nur das Zustandekommen eines einzelnen Geschäftes, sondern viel-mehr die Anknüpfung einer dauernden Geschäftsverbindung ermöglicht und in-folgedessen auf einen längeren Zeitraum eine Entlohnung beanspruchen kann.“16

Leirs größter Coup war ein 250-Millionen- Dollar-Deal, den er zwischen Südafrika und Japan eingefädelt hatte. Am 28. De-zember 1962 unterzeichnete Japans füh-render Stahlproduzent Yawata Iron &

Steel Co. mit der südafrikanischen African Metals Corp. (Amcor) ein Abkommen auf 10 Jahre über die Lieferung von jähr-lich 500 000 Tonnen Roheisen. „The go- between from start to finish was Conti-nental“, wusste Business Week einen Mo-nat später zu berichten.17 „Der Deal war außergewöhnlich, lag aber gleichzeitig auf der Hand“, erklärt mir Jean Calmes. „Da die Japaner weder Energie noch Eisen- erze hatten, sollten sie beides kombiniert in Form von Roheisen aus Südafrika im-portiert bekommen. Dieses brauchten sie dann nur noch durch ihre Walzstraßen laufen zu lassen.“ Business Week nannte die Vermittlung „the brainchild of Conti- nental’s volatile president“ und spekulierte auf eine Kommission von einem Prozent (2,5 Millionen Dollar) für Leirs Gruppe, „a shot in the arm for Continental – which, with an annual volume that has doubled over the past seven years, hardly needs it“. Business Week gegenüber gab sich Leir hörbar Mühe, gelassen zu klingen: „After all, there’s nothing to be astonished about. This has been my speciality since 1919.“

Um den Deal zwischen dem rassistischen Regime in Pretoria und der traditionalis- tischen japanischen Industrie zu ermögli-chen, bedurfte es jahrelanger zermürben-der Verhandlungen und Vermittlungen durch Leirs lokale Vertreter sowie einiger politischer Verbiegungen. Dem südafrika-

nischen Apartheid-System nach waren Ja-paner „rassisch“ nämlich als „non-white“ eingestuft. Der Immorality Act verbot ihnen sexuelle Beziehungen zu „Weißen“ und der Group Areas Act definierte, in welchen Wohngebieten sie zu leben hatten. Japaner durften keinen Alkohol ohne Ge-nehmigung kaufen, nicht in „weißen“ Ho-tels übernachten, in „weißen“ Restaurants nicht essen. Diese rassistischen Diskrimi-nierungen würden auch für die nun zu erwartenden japanischen Handelsdelega-tionen gelten. Dem südafrikanischen Pre-mierminister und Architekten der institu-tionalisierten „Rassentrennung“, Hendrik Verwoerd, kam die Befürchtung, dass sich diese rassistischen Diskriminierungen un-vorteilhaft auf den von Leir vermittelten Deal auswirken könnten. Exklusiv für ja-panische Staatsbürger ließ er die Auszeich-nung „honorary white“ einführen, welche diesen die gleichen Rechte zugestand wie den „Weißen“. (Die ungefähr 7 000 in Südafrika lebenden Chinesen wurden hin-gegen weiterhin als „non-white“ diskrimi-niert, aber sie erhielten immerhin ... Ein-trittsrecht in die Schwimmbäder. „It would be extremely difficult for our gatekeepers to distinguish between Chinese and Japa-nese“, erklärte der Vorsitzende des kom-munalen Komitees für Gesundheit und Nahversorgung dem Time Magazine.18) Zu den politischen Verstrickungen des Ab-kommens zwischen Südafrika und Japan befragt, meint Jean Calmes: „War der Deal eine politische Aktion? Ich denke nicht, die Sache bot sich förmlich an, sie musste aus logischen wirtschaftlichen Gründen gemacht werden.“

It’s not personal, it’s strictly business

Bisweilen trieb Leir seine politische An-passungsfähigkeit bis ins Extreme. Helmut Koegel erzählt von einem Besuch, den Henry Leir kurze Zeit nach dem Krieg dem Chef der Didier Werke AG und Ex-Nazi, Dr. Edmund Bieneck, abstattete: „Als die Didier Werke AG in Berlin und in Breslau bereits untergegangen waren und sich in Wiesbaden neu zu formieren be-gannen, reiste Leir nach Westdeutschland und sprach bei Bieneck vor. Er sagte ihm: ,Wir beide haben noch eine alte Rech-nung offen. Wegen Ihnen bin ich damals geflogen. Doch ich bin nicht nachtragend, ich verlange lediglich eine Kompensa-

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tion.‘“ Diese Entschädigung forderte Leir in Form von Vertretungen und Zuschlä-gen von lukrativen Geschäften der Didier ein. „Bieneck war zwar sehr arrogant, aber im Geschäft ein absoluter Fachmann und meinte: ,Sehr gut, Herr Leir, das können Sie haben ... Wenn Sie mir Ihrerseits bei meinem Entnazifizierungsverfahren hel-fen, haben wir einen Deal.‘ Das war ein typischer Handel à la Leir. Das war seine Stärke im Business. Er hatte aus allem einen Vorteil rausgeschlagen; er hat sich nicht geniert.“ Nur wenige Jahre später war ein bundesdeutsche Betrieb namens Didier Werke Weltführer in den feuer- festen Produkten.

Für die paranoide Zeit des Kalten Krie-ges war Leirs Business-Ökumene beacht-lich: Die Firmen des am 10. August 1944 vor dem Southern District Court in New York naturalisierten US-Bürgers Leir ex-portierten Stickstoff nach China, machten Deals mit dem sozialistischen Kuba und pflegten enge Handelsbeziehungen mit den Ostblockstaaten und Sowjetrussland; gleichzeitig machten sie Geschäfte mit Südafrika, Israel und der Regierung der Vereinigten Staaten.

Leirs Geschäfte gerieten zeitweise gar in Widerspruch zu den geostrategischen Interessen der Vereinigten Staaten. Vor dem Obersten amerikanischen Gerichts-hof19 attackierte Henry J. Leir 1962 das Monopol der Union Carbide and Carbon Corporation im Vanadium-Vertrieb. Die US-Regierung hatte 1942 Vanadium als dem Markt zu entziehendes Kriegspro-dukt definiert – um sicherzustellen, dass genügend Reserven für die Kriegspro-duktion vorhanden waren – und als al-leinigen Vertreiber eine Filiale der Union Carbide ernannt. Kurze Zeit später geriet der Vanadium-Vertrieb unter die Aufsicht des Manhattan-Projekts, welches seiner-seits das Monopol erneut an eine Filiale der Union Carbide vergab. Die von Leirs Anwalt Joseph L. Alioto (welcher sieben Jahre später Bürgermeister von San Fran-cisco werden sollte) geführte Anklage, habe „viele Rohstoffe aus den strategi-schen Reserven befreit und auf den Markt gebracht, wo sie auch hingehörten. Die Strategie der Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg die Welt durch die Kontrolle von strategischen Rohstof-

fen wie Wolfram oder Titan zu dominie-ren, wurde nicht unwesentlich durch Leir gestört“, sagt Jean Calmes.

Auch Leirs Verhältnis zu Israel war nicht ungetrübt. „Leir war kein Zionist. Das Land Israel an sich hat ihn eigentlich nicht sonderlich interessiert“, meint seine ehe-malige Haushälterin. Der Luxemburger Generalkonsul Israels und frühere Mit-arbeiter Leirs, Pierre Schneider, meint zu wissen, Leir habe sich nicht mit „den ex-tremen Fraktionen“ eingelassen und meint damit Minister „der Rechtsregierungen“. Helmut Koegel erinnert sich seinerseits an ein Treffen zwischen dem israelischen Generalstabschef, Mordechai Maklef, und Leir in dessen Sommerresidenz in Ridge-field. Der Militär habe Leir dazu bewegen wollen „ein paar Millionen im Toten Meer zu versenken“, um dort, am tiefsten Punkt der Erde, ein gigantisches Magnesiumwerk hochzuziehen. Leir lehnte freundlich ab.

Demnach war Leir wohl weder ein ra-dikaler Zionist noch ein eingefleischter US-Imperialist. Sein persönlicher Be-kanntenkreis war breit gestreut: Mit dem österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky und dem tunesischen Staatsprä-sidenten Habib Bourgiba war er ebenso befreundet wie mit dem langjährigen Jerusalemer Bürgermeister und linken Zionisten Teddy Kollek. Auch die da-mals von dem jungen Tunesier Béchir Ben Yamed herausgegebene Zeitschrift Jeune Afrique, unterstützte Leir in ihren kritischen Anfangsjahren in den 1960ern und 1970ern finanziell. Und obgleich ein Großhändler, schrieb er in den 1930ern ein Buch zusammen mit dem Mitbegrün-der der Gruppe Revolutionärer Pazifisten, Karl Schnog, und war mit dem linken Journalisten Evy Friedrich, der zwischen 1957 und 1964 in Ost-Berlin wohnte und arbeitete, befreundet.20 Jean Calmes meint dazu: „Das konnte Leir ohne Probleme auf einen Nenner bringen. Seiner Auffassung nach waren das keine Widersprüche.“ Der Sohn von Evy Friedrich, Jean-Pierre, der bei DuPont de Nemours entlassen worden war, als die Direktion erfuhr, dass er in der DDR studiert hatte („Wahrscheinlich glaubten sie, ich betriebe Wirtschaftsspio-nage oder Ähnliches“), erinnert sich an ein Gespräch mit Leir: „Als ich ihm später von meinem Rausschmiss erzählt habe, hat er

nur gemeint, das würde er nun aber nicht verstehen, die Amerikaner würden doch sagen, man solle mit den Russen Geschäfte machen! Leir behielt seine politische Mei-nung für sich und war offen gegenüber allen. Er war ein Business-Mann.“

Bereits 1948 wurde Leir von seinem Chauffeur durch die Länder hinter dem gerade zugezogenen Eisernen Vorhang kutschiert. Er besuchte dort Nickel- und Chromminen. Den Betreibern versprach er direkte Finanzspritzen in Form von Vorschüssen, die es ihnen erlauben soll-ten, sich kurzfristig über Wasser zu halten. Glaubt man Helmut Koegel, dem frühe-ren Generaldirektor der Minerais SA, war Korruption eine gängige Praxis, um in den Ostblockstaaten Kontrakte an Land zu ziehen: „Ich war x-mal anfangs der 60er in der Tschechoslowakei, um dort Kun-den abzuwerben. Dort lief nicht immer alles sauber ab. Um einen Auftrag zu be-kommen, hat man einem Parteibonzen auch schon mal etwas zugestochen.“ Und fügt hinzu: „Ich weiß nicht, ob Ihnen das meine Ex-Kollegen erzählt haben, viele von ihnen werden sicherlich nicht einmal davon gewusst haben.“

Nein, erzählt hatten sie mir nichts davon. Leir führte getrennte Buchhaltung: Je nach Bedarf schaltete Leir gezielt einzelne Filialen oder Mittelsmänner ein. Viele Ge-schäfte und Transaktionen liefen somit an der Luxemburger Minerais vorbei; selbst in den Chefetagen am hauptstädtischen Churchill-Platz bekamen die meisten nur teilweise Einblick in bestimmte Bereiche von Leirs Aktivitäten gewährt. Der An-walt und ehemalige Verwaltungsratspräsi-dent der Minerais, Jacques Loesch, rückt die Luxemburger Filiale in internationale Perspektive: „Vergessen Sie bitte nicht, dass es neben der Minerais noch eine Viel-zahl anderer Firmen gab, die alle von der Hauptgesellschaft in New York abhingen. Wenn Sie Leirs Gruppe im Ganzen be-trachten, war die Minerais noch eher eine kleine Struktur.“22

Henry J. Leir in China

Der diskrete Henry J. Leir geriet zeitle-bens nur selten in die Schlagzeilen. Doch als man am 28. Juni 1961 im österreichi-schen Nationalrat über die sogenannte

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„Stickstoff-Affäre“ debattierte, war die Stimmung durch monatelange Auseinan-dersetzungen in der Presse aufgeladen. Ein Bericht des österreichischen Rechnungs-hofes21 hatte Ungereimtheiten bei einem 1954 zwischen dem Schweizer Interore-Ableger Société anonyme d’importations (SADI) und dem Staatsbetrieb Österreichi-sche Stickstoffwerke unterzeichneten Ab-kommen aufgedeckt. Das stenographische Protokoll der parlamentarischen Debatte ist 50 Seiten lang und verzeichnet Dut-zende Zwischen- und Gegenrufe.23„Ein Skandal einmaligen Ausmaßes“, „ein wirt-schaftlicher Hochverrat an Österreichs Wirtschaft“ sei es, dass „ein ausländisches – achten Sie darauf: ausländisches – Kor-respondenzbüro, nämlich die Firma SADI in Lausanne, zum Generalvertreter für die Länder der ganzen Welt [...] bestellt hat“, befand der Abgeordnete und spätere In-nenminister Franz Hetzenau, der in Leir den „bekannten Herr Leipziger, der sei-nerzeit aus Österreich emigrierte“ zu er-kennen glaubte.

Für Leir war die Generalvertretung für den Auslandsexport der Österreichschen Stick-stoffwerke ein rentables Geschäft: Dem Rechnungshof nach, vergütete seine SADI 3 Prozent aller Nettoeinträge der Stick-stoffwerke in Linz, umgerechnet ca. 109,9 Millionen Schilling an Kommissionen für die Jahre 1954 bis 1958. Den größ-ten Teil der Produktion der Stickstoff-werke in Linz setzte die SADI an China ab. So wurden Millionen Tonnen Dünger von Linz aus in die Chinesische Provinz verschifft.24

Für die Österreicher Politik lag der eigent-liche Skandal aber woanders und wurde im Nationalrat nur am Rande als Mut-maßung geäußert. Denn eigentlich waren die an Leirs Unternehmen ausbezahlten Provisionen teilweise in Form von Retro- Kommissionen an die Generaldirektion der Stickstoffwerke zurückgeflossen. Helmut Koegel bestätigt das: „Die ganze Geschichte war eigentlich eine politische: Der Generaldirektor der Stickstoffwerke war ein Mann der SPÖ und über ihn flos-sen Gelder zurück in die Parteikasse.“

Als ich Koegel frage, wie sich die Frage der politischen Kontexte und geostrate-gischen Interessen firmenintern stellte,

antwortet er: „Überhaupt nicht. Alles, was erlaubt war und womit man Geld verdie-nen konnte, wurde gemacht. Wir waren von niemandem angehalten zu schauen, ob das nun besonders schicklich oder po-litisch korrekt war. Das Prinzip lautete: Wir machen nichts, das sichtbar gegen das Gesetz verstößt ...“

Kanonenritt

Fast zwangsläufig stellt sich in diesem Kontext die Frage nach Leirs Kontakten zur Waffenindustrie. Da Ernest Backes in seinem Buch Leir mit dem Titel des „größten Waffenhändlers der Welt“25 ver-sehen hatte, erwarteten die meisten mei-ner Gesprächspartner sie schon im Vor-aus. Die Dementis fielen kategorisch aus.

Mit Waffenexporten habe die Minerais SA nichts zu tun gehabt, bezeugten alle früheren Mitarbeiter Leirs, mit denen ich sprach. Evy Friedrich, hörbar erregt, sagt mir z. B.: „Ich schwöre auf alles, was mir heilig ist (ich glaube das ist ein Satz, den ich zuvor noch nie gesagt habe), dass die Minerais nie mit so was gehandelt hat. Ich selbst war ein gebranntes Kind, was das angeht. Ich habe meine Jugend in einem deutschen Deportationslager verbracht. Es wäre keinem eingefallen, irgendetwas mit Waffen zu tun haben zu wollen. Das wäre gegen unser aller Ethik gegangen. Das kann ich Ihnen formell versichern.“

Auch Jean Calmes, der in den 1970ern und 1980ern eng mit Leir zusammenar-beitete, weist die Behauptung, Leir habe Waffen exportiert, zurück. „Das beruht auf einer fundamentalen Unkenntnis seiner Prinzipien. Leir war ein Rohstoff-mann: Er wusste weder etwas von Fertig-produkten noch von Nebenprodukten der Stahlproduktion. Waffenhandel wäre in dieser Konstellation schier unmöglich ge-wesen.“ Ob er genügend Überblick über alle Aktivitäten der Leir-Gruppe gehabt hätte, um sich dessen sicher zu sein, will ich wissen. Jean Calmes beantwortet die Frage mit „Ja“.

Fragt man jedoch nach der Produktion von Waffen, werden Calmes Antworten vorsichtiger: „Zu unserem Bedauern gab es einige Zwischenfälle ... Überschnei-dungen, z. B. bei einer Legierung mit ab-gereichertem Uran, welches wir für For-schungszwecke einsetzten. Abgereichertes Uran hat ein ähnliches Gewicht wie Blei, also sehr hoch ...“ Ob abgereichertes Uran nicht bei der Herstellung von panzer-brechenden Waffen Verwendung finde, frage ich nach. „Genau. Und da sind wir auch einmal reingerutscht. Aber lediglich auf metallurgischer Ebene, nicht in der Waffenproduktion. Den potentiellen Ge-brauch von abgereichertem Uran für mi-litärische Zwecke hat man uns aber vorge-worfen ... zu Recht.“

Glaubt man den Mitarbeitern Leirs, schien sich die Frage, zu welchen Fertigproduk-ten die Lieferungen an Rohstoffen in den Fabriken im Endeffekt benutzt würden, im Unternehmensalltag nicht zu stellen. Friedrich sagt mir: „Wir wussten schließ-lich nicht, wo das alles hingehen würde. Rostfreier Stahl kann sowohl für die Pro-duktion von Küchenwaschbecken als von Leopard Panzern gebraucht werden.“ Der von Koegel fast beiläufig erwähnte Um-stand, dass der israelische Generalstabs-chef Leir in Ridgefield besucht hatte, deu-tet darauf hin, dass gute Kontakte zu Leir, dem weltweit vernetzten Lieferanten von seltenen Erden, für Regierungen nicht nur ökonomisch, sondern durchaus auch mi-litärisch von Interesse waren. Ob Leir tat-sächlich, wie Ernest Backes schreibt, Uran nach Israel und Südafrika verschiffen ließ, ist nicht bewiesen (und auch schwer nach-zuweisen). Die vermeintlichen Uranliefe-rungen gehören demnach bis auf Weiteres ins Leirsche Mythenarsenal.

Stellenweise jedoch verwischen die Gren-zen zwischen Hans Heinrich Leipziger, Henry J. Leir und Albert Linger. Die Wunschvorstellung einer durch die kühle Organisationsgewalt kapitalisti-scher Technokratie umgewälzten Welt, die der deutsche Flüchtling Leipziger in seinem Luxemburger Exil entwarf (und seinem fiktiven Alter-Ego Linger in die Schuhe schob) und vom Amerikaner Leir mitverwirklicht wurde, blieb an sich eine ambivalente. Ihr entsprach der Wunsch nach einer brutalen Auflösung der na-

forum 321 Geschichte

„The whole world should be run like a Swiss hotel.“

(Lady Marcelle Quinton)

Page 12: Bernard Thomas 20 Century Man - forum.lu · burg vor und gibt an, am Vortag Residenz im Hotel Brasseur in der Grand-Rue ge-nommen zu haben. Selbst über den Tag seiner Ankunft legte

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tionalstaatlichen Grenzen, aber auch die Sehnsucht nach einer endgültigen Fixie-rung und Befriedigung des Weltgesche-hens, einem von der Marktwirtschaft er-zwungenen Ende der Geschichte. Als mich Lady Quinton eines Samstagmorgens im August anruft, macht sie eine etwas rät-selhafte Bemerkung. „The whole world should be run like a Swiss hotel“, sagt sie und zieht den Vergleich mit Luxemburg. Möglicherweise hatte der Umstand, dass der internationale Trader Henry J. Leir nach dem Krieg gerade die überschaubare, sichere Festungsstadt im Herzen des alten dreckigen Europas zu seiner Wahlheimat und europäischen Schaltzentrale erkor, den sentimentalen Hintergrund, dass ihm hier diese Fiktion der Kalkulierbarkeit bereits verwirklicht schien ... u

Interview mit Jean Calmes (7. Mai 2012; 18. August 2012)/Jacques Loesch (15 Juni 2012; 17. August 2012)/ Arno J. Mayer (18. Juli 2012)/ Pierre Schneider (20 Juli 2012)/ Marcello Leipziger (27. Juli 2012)/ Jean-Pierre Friedrich (22. Juli 2012)/ Ernest Backes (23. Juli 2012)/ Marcelle Quinton (30. Juli 2012)/ Helmut Koegel (30. Juli 2012; 21. August 2012)/ Jacques Lennon (6. August 2012)/D. F. (17. August 2012)/ Colette Flesch (21. August 2012)

Geschichte September 2012

... to be continued

Im 2. Teil des Leir-Porträts, welches in der kommenden Ausgabe erscheint, berichtet forum über Henry J. Leirs Beziehungen zur Luxemburger Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.

Denn Erinnerungen funktionieren nicht wie ein Video-Rekorder: „La mémoire est plutôt vivante que morte, elle procède par mécanismes incessants de stockage, de remémoration, d’oubli, de brouillage, de ré-articulation à chaque fois différente de bribes de souvenirs.“ Gilles Pinson; Valérie Sala Pala, „Peut-on vraiment se passer de l’entretien en sociologie de l’action publique ?“, Revue française de science poli- tique 5/2007 (Vol. 57), S. 555-597.

Der Titel und die Idee eines längeren Artikel zu Henry J. Leir stammen von Jürgen Stoldt; Laurent Schmit hat mir bei der Relektüre und den Recherchen geholfen. Den beiden sei hiermit herzlich gedankt!

Marcelle Quinton; Anthony Quinton, Before We Met, Half Moon Press, 2008, S. 25

Ob, wie Ernest Backes schreibt, Leirs erste Aus-landsreisen nach Luxemburg führten, wo er schon 1921 Stahl vom Unternehmen ARBED für seinen Chef ein-gekauft haben soll, konnte nicht mit Sicherheit festge-tellt werden. (Siehe: Ernest Backes, Denis Robert, Das Schweigen des Geldes, Die Clearstream Affäre, Zürich, Pendo-Verlag, 2003, S. 325)

Ob Bieneck tatsächlich Träger des „goldenen Parteiabzeichen der NSDAP“ war, ist nicht mit letz-ter Sicherheit festzustellen. Helmut Koegel nach, war das „allgemein gewusst“. Die im Bundesarchiv Berlin- Lichterfelde gelagerten Unterlagen der Mitgliederkartei der NSDAP belegen, dass der am 3. September 1900 geborene Kaufmann Edmund Bieneck am 16. Novem-ber 1939 die Parteimitgliedschaft beantragt hatte und am 1. Februar 1940 in die NSDAP aufgenommen

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wurde (Mitgliedsnummer: 7456257). Das späte Datum, an dem die Parteimitgliedschaft ausgestellt wurde, lässt eigentlich nur den Schluss zu, dass, falls die Infor-mation von H. Koegel denn stimmt, Dr. Bieneck zu den ca. 900 Personen zählte, die das „goldene Parteiab- zeichen“ „ehrenhalber“ aufgrund „besonderer Ver- dienste“ zugestanden bekamen. Diese Auszeichnung war nämlich sonst nur den ersten 100 000 NSDAP-Mitgliedern vorbestimmt. In einem Antrag an das Reichsamt für Sippenforschung auf die „Erteilung eines Abstammungsbescheids“ findet sich ebenfalls ein For-mular, in dem Bieneck eigenhändig in der Rubrik „Mit-gliedschaften“ angab: SA, DAF, NSV.

Archives nationales du Luxembourg. Mémorandum Parquet général : Division de la Police des étrangers / Dossier Henry J. Leir

http://www.industrie.lu/SAdesMinerais.html;

Die Debatte um den Autor des Buches, an der sich neben den Historikern Christian Calmes, René Neuens und Henri Wehenkel auch die Enthüllungsjournalis- ten Denis Robert und Ernest Backes beteiligt haben, scheint heute abgeschlossen. Germaine Goetzinger belegt überzeugend, dass die Autorenschaft höchst-wahrscheinlich eine doppelte war: Karl Schnog, ein zeit-weiliger Nachbar und guter Bekannter der Leipzigers fungierte als Ghostwriter, während der Aufbau und die Ideen von Hans H. Leipziger selbst stammen. Siehe:Germaine Goetzinger, „Malpaartes – ein unbekannter Exilverlag in Luxemburg“ in: Exilforschung – ein inter-nationales Jahrbuch, Band 22, 2004

Ibidem, S. 94

ibidem, S. 95

Tom Palmer, La Grande Compagnie de Colonisation – Documents of a New Plan, Clark University Press, Worcester, 1981. Die amerikanische Fassung erhält neben einem Nachwort von Christian Calmes Einiges an Materialien zu Leir.

Batty Weber, „Abreisskalender“, Luxemburger Zeitung, 22. Dezember 1937

„Henry J. Leir, 98, Key Figure in Metals Trading and Philanthropy“, New York Times vom 18. Juli 1998

Zu Armand Hammer und dem Aufkauf der Interore, siehe: Steve Weinberg, Armand Hammer. The Untold Story und Hammers Autobiographie von 1987. Ernest Backes zitiert aus diesen beiden Büchern auf S. 337-341 (deutsche Fassung) seines Buches.

In einem vor 10 Jahren veröffentlichten Interview sprach der Historiker Arno J. Mayer über seine Zeit bei Leir: „J’ai quitté le business car je me suis rendu compte que pour bien réussir il fallait être malhonnête. Mais cela a joué sur ma manière de fonctionner, en me donnant une certaine indépendance, une possibilité de claquer la porte en cas de désaccord. Je savais que je pouvais gagner ma vie.“ Zitiert aus: „Un historien dissident? Entretien avec Arno J. Mayer“, Interview von

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André Loez und Nicolas Offenstadt in Genèses, Nr. 49, Dezember 2002.

„Der Rechnungshof und die Provisionsgeschäfte“, Der Volkswirt, Nr. 34

„Trader’s brainchild a Bonanza“, Business Week vom 3. Februar 1962

„South Africa: Honorary Whites“, Time Magazine, 19. Januar 1962

http://www.law.cornell.edu/supremecourt/text/ 370/690

Zu Karl Schnog und Evy Friedrich sei auf die Online-Ausgabe des Luxemburger Autorenlexikons verwiesen: www.autorenlexikon.lu

Österreichischer Rechnungshofbericht 2626/11/60 vom 18. Juli 1960

Dass Helmut Koegel neben der Minerais auch noch weitere Gesellschaften des Leir-Imperiums betreute, gibt seinen Aussagen demnach mehr Gewicht.

Nachzulesen im Archiv des österreichischen Natio-nalrates: www.parlament.gv.at

Zu Leirs China-Exporten sei die Lektüre der in der englischen Fassung von La Grande Compagnie de Colo-nisation (S. 171) abgedruckten Korrespondenz angera-ten. Am 18. Juli 1968 sandte Leir einen Thesenbrief an den Sinologen und Lyndon B. Johnson-Berater Arthur Doak Barnett, in welchem er in 8 Punkten die möglichen geostrategischen Nutzen solcher Handelsbeziehungen zu unterstreichen versucht. Es gibt einen ähnlich gear-teten Brief, den Henry J. Leir im September 1982 an den amerikanischen Botschafter in Bern, H. E. Faith Ryan Whittelsey, schickte, in dem er – wieder in 8 Thesen – die Verstärkung der Handelsbeziehungen zu Latein-amerika und die Wiederaufnahme von Beziehungen zu Kuba forderte. Wie die Korrespondenz mit dem amerikanischen Botschafter in den Nachlass von Pierre Moussa, dem ehemaligen PDG von Paribas, gelangte, ist unklar, beweist aber, dass Leir gut im französischen Patronat vernetzt war, wo selbst die skurrileren Gedan-kengänge Leirs Verbreitung fanden. Siehe: Centre d’archives d’histoire contemporaine de Sciences Po Paris, Fonds Pierre Moussa, carton PM9, dossier 1, fiche „Correspondance 1967-1982 “

Den Beleg für diesen schwerwiegenden Vorwurf bleibt Backes allerdings schuldig: „Irgendwann zwi-schen 1948 und 1952 soll auf der Titelseite einer der großen amerikanischen Zeitschriften wie Newsweek oder Time ein Porträt von Henry Leir erschienen sein, als dem damals ,größten Waffenhändler der Welt‘. Diese Information wurde uns von einer sowohl dem großherzoglichen Hof als auch Leir sehr nahestehen-den Person zugetragen. Die fragliche Zeitschrift konn-ten wir nicht ausfindig machen, doch wurde uns die Information von mehreren Schlüsselfiguren im – offizi-ellen wie inoffiziellen – Waffenhandel, die an mehreren Orten über den Globus verteilt tätig sind, bestätigt.“ Das Schweigen des Geldes, S. 328

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