Bernhard Hoetger - Heidelberg...

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Bernhard Hoetger Geboren 1874 in Dortmund-H örde/Westfalen, gestorben 1949 in Beatenberg, Schweiz Neben Maillol, Lehmbruck und Brancusi gehört Bernhard Hoet ger zu den wichtigsten Erneuerern in der Skulptur nach Rodin, das heißt zu den Wegbereitern des Expressionismus und der Moderne. Innerhalb der schriftlichen Zeugnisse Hoetgers, die er teilweise als expressionistische Pamphlete veröffentlichte, gehört >Der Bildhauer und der Plastiken 1919, zu seinen auf schlußreichsten Essays, von Kasimir Edschmid 1920 in die für den ganzen Expressionismus bedeutsame Textsammlung Schöpferische Konfession< aufgenommen. Darin heißt es: »Kunst ist Welt, ist umfassend, ist Ganzheit, ist GOTT. Der Künstler ist Läuterungsgefäß schönster und grauenhaftester Erlebnisse, erschreckender Ästhetiker, Tänzer auf Totenfeldern, ein Filter, ein Entgifter. Die Kunst schafft das ethische Gehirn, wird Kraft... Die Bildhauerei als Kunst ist monumental... Die Plastik als Kunst ist rhythmisch, ist offene Leidenschaft .. V Einerseits belegen diese Sätze den Einfluß der Ästhetik Nietz sches, andererseits die ethische Komponente des Expressionis mus, die Synthese aus Ethos und Eros in der Kunst der Jahre vor und nach 1914, die auch Autoren wie Rene Schickele, Abb. 1 Fkondite, 1904. Bronze, Höhe 48 cm. Bremen, Sammlung Roselius E. von Sydow, Willi Wolfradt und Alfred Kuhn betonten. 2 Expressionismus war alles andere als ein Formexperiment bloß ästhetischer Natur; er war vielmehr der Wille zur Erneuerung des Menschen und der maroden Gesellschaft. In seinen Ab schnitten >Weltenwende< und >Goethe und Tolstoi< hat Kuhn dies dargelegt. Drittens belegen Hoetgers Sätze seine Bewußt heit von der Differenz zwischen der malerischen Gesetzen verbundenen Plastik (die Transitorik und Momentaneität ermöglicht) und der auf die große geschlossene, blockhafte Form verpflichteten Skulptur (die aus der Meißeltechnik kommt und antitransitorisch ist, verdichtet zu symbolhafter Gestalt).' Und viertens verweist uns Hoetgers Charakterisierung der Pla stik als rhythmisch und offene Leidenschaft auf den das späte 19. Jahrhundert beherrschenden Meister Rodin und seinen um und nach 1900 dominierenden Einfluß." Denn auch Hoetger gehört zu denjenigen Plastikern am Beginn des 20. Jahr hunderts, wie Edwin Scharff, Brancusi, Lehmbruck, Bourdelle, Kolbe, Albiker, Haller u. a., die in Rodins Bann gerieten. Als Meisterschüler von Karl Janssen studierte Hoetger vor Lehmbruck an der Kunstakademie Düsseldorf, blieb jedoch nach einer ParisExkursion mit dem Kunsthistoriker Paul Clemen im Jahre 1900 zur Weltausstellung und RodinRetrospektive 5 aus Begeisterung für die Stadt und für Rodin in Paris. Unter ärmsten Verhältnissen schuf Hoetger eine Reihe von meisterhaften Pla stiken zwischen 1901 und 1904 (L'Aveugle, Fecondiie-, Abb. 1), in denen er sich ganz dem Vitalismus und dem transitorischen Stil der Plastik in Bronze bei Rodin hingab. Die Gruppe der Blinden zeigte Hoetger 1901 im Salon der Societe des Artistes Independants. Er lernte Julius MeierGraefe kennen. Stilistisch von Rodin beeinflußt, thematisch aber vom Realismus des Bel giers Meunier, schuf er Arbeiterfiguren, die in Paris bekannt wurden. Zusammen mit Carl Milles gründete er die >Societe des Artistes Realistes Internationalst Der sozialkritische Zeichner Theophile Steinten vermittelte Hoetger die Mitarbeit an der Zeitschrift >L'Assiette au Beurre<; er erhielt im Oktober 1903 eine Sondernummer mit dem Titel >Dur Labeun. Karl E. Osthaus lernte Hoetger kennen und richtete ihm in Hagen die erste Einzelausstellung ein. 6 Im 1903 gegründeten »Salon dAutomne< stellte Hoetger in der zweiten Ausstellung (Herbst 1904) die Büste Fruchtbarkeit aus; ferner entstand die durch Picassos Rosa Periode beeinflußte Gruppe eines stehenden Liebespaares. 7 Im Jahre 1905, nach der Heirat mit Helene (Lee) Haken entstanden die beiden entscheidenden Skulpturen Bildnis Lee Hoetger und der schöne Elberfelder Torso; Hoetger zeigte sie im Salon dAu tomne, wo sie neben Maillols Femme, (La Mediterranee) stan den; 1907 fanden Liberfelder Torso und Maillols hockende Femme wieder in einem Raum von Peter Behrens auf der Internationa len Kunstausstellung in Mannheim zusammen. Im Pariser Herbstsalon sah sie Rodin, und er lobte Maillols und Hoetgers Plastiken in seinem Interview mit Louis Vauxcelles für >Gil Blas« (1905) auf eine Weise und mit Worten, die die neue Wende Originalveröffentlichung in: Barron, Stephanie (Hrsg.): Skulptur des Expressionismus. 2., korrigierte Auflage, München 1984, S. 98-103

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Bernhard Hoetger

G e b o r e n 1874 in D o r t m u n d - H ö r d e / W e s t f a l e n , g e s t o r b e n 1949 in Beatenberg, Schweiz

N e b e n Maillol, Lehmbruck und Brancusi g e h ö r t Bernhard H o e t ­ger zu d e n wicht igs ten Erneuerern in der Skulptur nach Rodin, das heißt zu den Wegbere i t e rn des Express ionismus und der M o d e r n e . Innerhalb der schriftl ichen Zeugnisse Hoetgers , die er tei lweise als expressionis t ische Pamphle t e veröffent l ichte , g e h ö r t >Der Bildhauer und der Plastiken 1919, zu seinen auf­schlußreichsten Essays, v o n Kasimir Edschmid 1920 in die für den ganzen Express ionismus bedeu t s ame Tex t sammlung Schöpfe r i s che Konfession< a u f g e n o m m e n . Darin heißt es: »Kunst ist Welt, ist umfassend, ist Ganzhei t , ist G O T T . Der Künst ler ist Läute rungsgefäß schöns ter und grauenhaf t e s t e r Erlebnisse, erschreckender Ästhet iker , Tänzer auf Totenfeldern, ein Filter, ein Entgif ter . Die Kunst schaff t das ethische Gehirn, wird Kraft... Die Bildhauerei als Kunst ist m o n u m e n t a l . . . Die Plastik als Kunst ist rhythmisch , ist of fene Leidenschaft .. V

Einerseits be legen diese Sätze den Einfluß der Ästhet ik Nietz­sches, andererse i ts die ethische K o m p o n e n t e des Expressionis­mus, die Syn these aus Ethos und Eros in der Kunst der Jahre v o r und nach 1914, die auch A u t o r e n wie Rene Schickele,

Abb. 1 Fkondite, 1904. Bronze, Höhe 48 cm. Bremen, Sammlung Roselius

E. v o n Sydow, Willi Wolf rad t u n d Alf red Kuhn be ton ten . 2

Express ionismus war alles andere als ein Formexper imen t bloß ästhet ischer Natur ; er war vielmehr der Wille zur Erneuerung des M e n s c h e n und der m a r o d e n Gesellschaft . In seinen A b ­schni t ten >Weltenwende< und >Goethe und Tolstoi< hat Kuhn dies dargelegt . Dri t tens be legen H o e t g e r s Sätze seine Bewußt­heit v o n der Differenz zwischen der malerischen Gese tzen v e r b u n d e n e n Plastik (die Transitorik u n d M o m e n t a n e i t ä t ermöglicht) und der auf die g r o ß e geschlossene, blockhaf te Form verpf l ichte ten Skulptur (die aus der Meißel technik k o m m t und anti­ transitorisch ist, verdichte t zu symbo lha f t e r Gestal t ) . ' U n d vier tens verweis t uns H o e t g e r s Charakter i s ie rung der Pla­stik als rhy thmisch und offene Leidenschaft auf den das späte 19. Jahrhunder t beher r schenden Meis te r Rodin und seinen um und nach 1900 domin ie renden Einfluß." D e n n auch H o e t g e r g e h ö r t zu den jen igen Plastikern am Beginn des 20. Jahr­hunder ts , wie Edwin Scharff, Brancusi, Lehmbruck, Bourdelle, Kolbe, Albiker, Haller u. a., die in Rodins Bann ger ie ten.

Als Meis terschüler v o n Karl Janssen s tudier te H o e t g e r vor Lehmbruck an der Kuns takademie Düsseldorf , blieb jedoch nach einer Paris­Exkursion mit d e m Kunsthis tor iker Paul Clemen im Jahre 1900 zur Weltauss te l lung und Rodin­Re t rospek t ive 5 aus Begeis te rung für die Stadt und für Rodin in Paris. U n t e r ärmsten Verhältnissen schuf H o e t g e r eine Reihe v o n meis te rhaf ten Pla­stiken zwischen 1901 und 1904 (L'Aveugle, Fecondiie-, Abb. 1), in denen er sich ganz d e m Vital ismus und d e m t ransi tor ischen Stil der Plastik in Bronze bei Rodin hingab. Die G r u p p e der Blinden zeig te H o e t g e r 1901 im Salon der Societe des Art is tes Independants . Er lernte Julius Meie r ­Grae fe kennen. Stilistisch v o n Rodin beeinflußt , themat isch aber v o m Realismus des Bel­giers Meunier , schuf er Arbei te r f iguren , die in Paris bekannt wurden . Z u s a m m e n mit Carl Milles g r ü n d e t e er die >Societe des Art is tes Realistes In ternat ionals t Der sozialkritische Zeichner Theophi le Steinten vermi t te l te H o e t g e r die Mitarbe i t an der Zeitschrif t >L'Assiette au Beurre<; er erhielt im O k t o b e r 1903 eine S o n d e r n u m m e r mit d e m Titel >Dur Labeun. Karl E. O s t h a u s lernte H o e t g e r kennen und r ichtete ihm in H a g e n die ers te Einzelausstel lung ein.6 Im 1903 g e g r ü n d e t e n »Salon d A u t o m n e < stellte H o e t g e r in der zwei ten Auss te l lung (Herbst 1904) die Büste Fruchtbarkeit aus; ferner en t s tand die durch Picassos Rosa Per iode beeinf lußte G r u p p e eines s tehenden Liebespaares.7 Im Jahre 1905, nach der Heirat mit Helene (Lee) Haken en t s t anden die beiden en t sche idenden Skulpturen Bildnis Lee Hoetger und der schöne Elberfelder Torso; H o e t g e r zeig te sie im Salon d A u ­tomne , w o sie neben Maillols Femme, (La Medi te r ranee) stan­den; 1907 fanden Liberfelder Torso und Maillols hockende Femme wieder in einem Raum v o n Peter Behrens auf der Internat iona­len Kunstauss te l lung in M a n n h e i m zusammen . Im Pariser Herbs tsa lon sah sie Rodin, und er lob te Maillols und H o e t g e r s Plastiken in seinem In terv iew mit Louis Vauxcelles für >Gil Blas« (1905) auf eine Weise und mit Worten , die die neue W e n d e

Originalveröffentlichung in: Barron, Stephanie (Hrsg.): Skulptur des Expressionismus. 2., korrigierte Auflage, München 1984, S. 98-103

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Abb. 2 Relief im Platanenhain, 1911-14. Stein. Mathildenhöhe, Darmstadt

in der Skulptur zur f rühexpress ionis t i schen Formensprache , zu beruh ig te r Statuarik und zu blockhaf ter Verdichtung ahnen lie­ßen: »Hoetger fand den Weg, den ich suchte, und wäre ich nicht ein alter M a n n , ich woll te diesen W e g gehen , den W e g zum Monumentalen, der der einzig r ichtige ist.«8

Dami t erweis t sich das Jahr 1 9 0 5 / 0 6 auch v o n der Seite her als Schlüsseljahr: es ist ein Jahr vor der g r o ß e n Gaugu in ­Ret rospekt ive (4. Exposi t ion Salon d 'Automne) , es ist die Kon­f ron ta t ion R o d i n ­ H o e t g e r , es ist das Jahr der Vol lendung der Mediterranee durch Maillol, v o n der Harry Graf Kessler eine Steinfassung bestellen sollte, und es ist die defini t ive G r ü n d u n g der Gemeinschaf t >Brücke< im nietzscheschen Sinne in Dresden (Heckel, Kirchner, Pechstein, Schmidt­Rott luff) . 9

Diese Fakten und künst ler ischen Ereignisse l iegen somit vor der W e n d e Picassos zur primit iven Form (Tete de Femme, Selbst-bildnis, 1906, Demoiselles d'Avignon, 1907) 1 0 und vor Brancusis A b w e n d u n g v o n Rodins Stil, die Brancusi erst nach 1907 voll­zieht {La Friere für ein Grabmal , vol lendet 1910). Die Gemälde v o n Paula Modersohn­Becke r g e h ö r e n u n b e d i n g t auch in dieses Spekt rum der Formenvere in fachung und Ausdruckssuche, ebenso die Bilder des naiven Zöllners Henri Rousseau, der 1905 im Herbs t sa lon mit drei Arbei ten ver t re ten war. H o e t g e r und Picasso kauf ten Bilder v o n ihm.1 1

H o e t g e r s Ü b e r w i n d u n g des rodinschen Bronze­Stils, seine Besinnung auf die dichte, knappe Form (Lächeln und Gedanken-flug, 1906), auf s t renge Meißelarbei t aus d e m Block (Büste Lee Hoetger, M a r m o r 1905) und die Rezept ion exotischer , pr imi t i ­v e n Formen durch Kenntnis der Kunst der Naturvö lke r und der Malerei und Plastik v o n Paul Gauguin , diese Besinnung er fo lg te also vor Brancusi berei ts 1905. Dabei m u ß die Kenntnis der Plastik Maillols und der Kunst Gaugu ins eine wicht ige Rolle gespiel t haben. Maillol und H o e t g e r lernten einander 1904 oder 1905 kennen, da beide ihre neuen Werke im avantgard is t i schen Salon d A u t o m n e zeigten, in d e m auch Bilder der >Fauves<, v o n Rcdon und Kandinsky sowie die Plastiken v o n Bourdelle zu sehen waren . 1 2

Die beiden weiblichen Typen, Lächeln und Gedankenflug, v o n 1906, der Elberfelder Torso v o n 1905 und der 1909 g e f o r m t e Darmstädter Torso (Auf t rag des E. v o n der Heyd t ) haben H o e t ­ger bekannt gemach t . 1907 verläßt er Paris, um sich in Deutsch­land aufzuhal ten. Es en ts tehen ü b e r w i e g e n d Kuns tgewerbe ­O b j e k t e und Möbel . 1910 wird in Elberfeld der sog. Gerechtig-keits-Brunnen (Auf t rag E. v o n der Heyd t ) aufgestel l t . Z u v o r

ha t te H o e t g e r das Grabmal der mit ihm be f reunde ten Maler in Paula Modersohn­Becker , die 1907 ges to rben war, für den Friedhof in W o r p s w e d e ausgeführ t . Im September 1910 stellt er bei Kandinsky und M a r c auf der zwei ten Auss te l lung der >Neuen Künst le rvere in igung München< sechs Plastiken aus. 1911 erhält er die Berufung an die Darms täd te r Künstler­Kolo­nie. Für die M a t h i l d e n h ö h e schafft er 1911­1914 die vier g r o ß e n Reliefs mit Figurenfr iesen für den Platanenhain (Abb. 2).13 Die meisten dieser Werke markieren einen lyrischen Expressionis­mus, in den sich for tan mehr und mehr exot ische Elemente und Formen der Primit iven Kunst mischen: H o e t g e r studiert sowoh l die romanische und got i sche Skulptur als auch die Kunst der N e g e r und des Fernen O s t e n s . Die A d a p t i o n der kubischen Formen der Negerplas t ik lag ohneh in seit u m 1907 in der Luft; Carl Einsteins Buch >Negerplastik< v o n 1915 impliziert berei ts eine gewisse Kritik der Pr imi t iven­Mode . 1 4

Der Ausbruch des Krieges hat sich in H o e t g e r s Schaffen ­ im G e g e n s a t z zu Lehmbruck — nicht prägend ausgewirkt . H o e t g e r s Kunst erreicht einen H ö h e p u n k t mit der ägypt is ieren­den Büste der Tänzer in Sent M'Ahesa (1917, Bronze vergoldet) , die ihrerseits belegt , daß die füh renden Expressionisten keines­w e g s die Gesta l t des M e n s c h e n au fgegeben , w e n n auch zum Teil einer »deformation« (Andre Salmon) u n t e r w o r f e n haben. Dabei handel t es sich u m eine D e f o r m a t i o n aus Phantas ie u n d Gefühlsüberschuß, aus Willen u n d visionärer Emotion. Bei H o e t g e r k o m m t vor allem als starkes Element die A n v e r w a n d ­lung exot ischer ode r ägypt i scher Formen hinzu. Dies trifft

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Abb.3 Pietä für die Gefallenen der Novemberrevolution, Bremen, 1919-22. Porphyr. 1933 von den Nationalsozialisten zerstört

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Abb. 4 Friedensmal: Niedersachsenstein, 1915-22. Ziegel. Worpswede

auch auf späteren Skulpturen zu. Hier ist besonde r s die für die gefal lenen Arbe i t e r u n d Soldaten der N o v e m b e r r e v o l u t i o n in Bremen konzipier te Pietä zu nennen (Abb. 3). Im Jahre 1919 w i d m e t H o e t g e r diese G r u p p e der Bremer Arbe i te r schaf t und ihrem Rat und führ t sie bis 1922 in P o r p h y r aus. Sie wird auf d e m Friedhof zu Bremen­Walle aufgestel l t . 1 5 Die NS­Bürokrat ie hat sie 1933 zers tören lassen. H o e t g e r engag ie r t e sich 1919 für die sozialistischen Ziele der Revolut ion , trat der >November­gruppe< bei, deshalb auch galt er den Nationalsozia l is ten als besonde r s hassenswer t .

Die Pietä für die Bremer Arbei te r ist ein express ionis t isches Denkmal , wie es nur wen ige gab. Sie realisiert eine schmerzens­reiche Mut te rges ta l t , die ihren t o t en Sohn ­ einen j ungen Arbei te r ­ klagend vorweis t . Das christliche M o t i v der Pietä wird, wie auch bei Lehmbruck, d e m Ausdruck des zei tgenössi ­schen Leids anverwande l t . 1 6 A b e r H o e t g e r schuf ein zwei tes express ionis t isches Denkmal für Gefallene, nämlich für die Kriegs to ten der G e m e i n d e Worpswede , den glücklicherweise v o n den Nationalsozial is ten nicht zers tör ten Niedersachsenstein (Abb. 4). A u s Ziegels te inen aufgemauer t , quasi ein riesiger Vo­gel, der sich über die Landschaf t erhebt , ist dieses Friedensmal ein express ionis t ischer Phönix . 1 7 Der erste Entwurf s t ammt aus d e m Jahre 1915, die A u s f ü h r u n g er fo lg te bis 1922.

Seinem E n g a g e m e n t für die sozialen Fragen seiner Zeit ent­sprechend und als einer der füh renden Plastiker und

Kuns tgewerb le r seiner Epoche kann m a n H o e t g e r auch in ande­ren Projekten erkennen. U m 1 9 1 6 / 1 7 en twi r f t er die A n l a g e einer Fabrik und Arbei te rs ied lung für den Fabrikanten Bahlsen, die TET­Stadt . 1 8 U n d 1927 erhält er den Auf t rag , die Fassade des Volkshauses zu Bremen mit Figuren zu schmücken (Abb. 5); es wird sein Denkmal der Arbeit. 1928 vol lende t er die acht Gestal ten, ein Zyklus der Lebensalter: alte u n d j unge Menschen , ausgemerge l t e Arbei ter , einen e rwachenden Arbei te r und einen M a n n mit Kind. Im G e g e n s a t z zu den ideal is ierenden Konzep­t ionen für Arbei te r ­Denkmäler , wie sie das späte 19. Jahrhunder t hervorb rach te (Dalou, Meunier , Rodin, Bou­chard und Lehmbruck), thematis ier t Hoe tge r , wie Käthe Koll­witz, die A u s b e u t u n g des Arbei te rs durch die kapitalist ische Industr ie .1 9 In den Figuren für das Volkshaus Bremen sind alle Formen der Negerplas t ik und Ä g y p t e n s zuguns t en eines neuen Realismus übe rwunden . Lediglich, daß die Gesta l ten nicht in Kleidern auf t re ten , sondern in zeit loser Nackthei t , verb inde t sie partiell mit der expressionis t ischen Ges ta l tung .

Im Jahre 1933 w u r d e n die Figuren v o n den Nationalsozial i­sten zerstört , H o e t g e r als >entartet< diffamiert und 1936 im SS­O r g a n >Schwarzes Korps< scharf angefe inde t . Jahrelang w u r d e n lediglich Kleinbronzen v o n den Volkshaus­Figuren in der Bre­mer Böt tchers t raße au fbewahr t und ausgestel l t . A b e r z u m 100. G e b u r t s t a g H o e t g e r s beschloß der Senat v o n Bremen, den Zyklus der >miserables< zu rekonstruieren: 1979 w u r d e dieser Zyklus des »Lebens unter d e m Stigma der Arbeit« wieder am ehemal igen Gewerkscha f t shaus angebrach t . 2 0

Z u m Absch luß sei zitiert, was C.E. Uphoff im Geist des expressionis t ischen Jahrzehnts , 1919, über H o e t g e r schrieb und w a s heu t e noch signifikant ist: »Eine neue Menschhe i t wird herau fkommen , das heißt: ein neuer Geist will k o m m e n . D e n n M e n s c h sein, heißt geist ig sein . . . Durch den Geist v e r m a g der M e n s c h Neues , N i e d a g e w e s e n e s zu erzeugen und zu gesta l ten . . . . D e r neue Menschenge i s t dräng t nach Gemeinschaf t .« 2 1

Die Idee des neuen M e n s c h e n u n d der neuen Gesel lschaf t war zu jener Zeit die Synthese aus Sozialismus und Chris ten­tum, wie sie Tolstoi, ihr Ahne , vo l l zogen hat te . In der 1919 erschienenen Broschüre A n alle Künstler!< hat es Ludwig M e i d ­ner leidenschaftl ich ausgerufen: »Denn es g e h t um den Sozialis­m u s ­ das heißt: um Gerecht igkei t , Freiheit und Menschenl iebe! ­ u m Gottes Ordnung in der Welt.« D.S.

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I i ^ ü ü I Abb. 5 Gewerkschaftshaus-Volkshaus, Bremen, 1928, mit realistischen Skulpturen von Hoetger auf der Vorderansicht

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Anmerkungen

1 Bernhard Hoetger : >Der Bildhauer und der Plastiker<, in: Cicerone, XI, 1919, S. 172 (ebenso: Schöpfer ische Konfession«, Berlin 1920, in: Tri­büne der Kunst und Zeit, 13, S. 52­60); ­ G e o r g Biermann/Kasimir Edschmid: Sammlung der Werke von B. Hoetger, Galerie Erich Cüpper, Aachen, Leipzig 1916

2 Rene Schickele, in: Die Weißen Blätter, 7, 1920, S. 337 f. ­ Carl Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin 1926, 1931; ­ E. von Sydow, Die deutsche expressionistische Kultur und Malerei, Berlin 1920, S. 117: »... aber innen glüht die Seele in Übermenschlichkeit«. — E. von Sydow, >Das religiöse Bewußtsein des Expressionismus und >Der doppel te Ursprung des Expressionismus<, beide in: Neue Blätter für Kunst und Dichtung, Dresden, 1, 1919, S.193f . und 227f . ­ Alfred Kuhn: Die neuere Plastik, München 1921, S. 109­114; ­ Willi Wolfradt, in: Tribüne der Kunst und Zeit, XI: Die neue Plastik, S.9­90. ­ W. Paulsen, Expressionismus und Aktivismus, Straßburg 1934

3 Vgl. dazu W. Hofmann: Die Plastik des 20. Jahrhunderts, Frankfurt /M. 1958 4 Zum Rodin­Bann vgl. J. Meier­Graefe, >Das plastische Ornament«, in:

PAN, 1898, S.258. ­ J.A. Schmoll­Eisenwerth: »Brancusi und Rodin ­ein Beispiel kontradiktorischer Filiation­, in: Festschrift Luitpold Dussler, München 1972, S. 457­480. — Rodin rediscovered, Ausstel lungskatalog National Gallery of Art, Washington 1981. ­ Claude Keisch (Hrsg.), Auguste Rodin — Plastik, Zeichnungen, Graphik, Nationalgalerie Berlin/ D D R 1979; ­ J. A. Schmoll­Eisenwerth: Rodin­Studien, München 1983

5 W. Werner (Hrsg.); B. Hoetger ­ Plastiken aus den Pariser Jahren, Bremen 1977. ­ D. Schubert, Die Kunst Lehmbrucks, Stu t tga r t /Worms 1981, S. 51, 63. ­ Vgl. ferner den Ausstel lungskatalog Rodin, Pavillon de

Hannovre, Paris 1900; ­ Jutta Dresch/D. Schubert: Düsse ldorf ­ eine Großs tad t auf dem Weg in die Moderne< in: Der Westdeutsche Impuls 1900­1914, Düsseldorf Kunstmuseum, 1984, S. 105­125

6 W. Werner (Hrsg.): B. Hoetger a. a. O.; ­ zu Hoe tge r und K. E. Osthaus (Ausstellungen in Hagen N o v e m b e r 1903, Januar 1906) vgl. Herta Hesse­Frielinghaus: Karl Ernst Osthaus, Recklinghausen 1971 und »Die Folkwang­Idee des Karl E. Osthaus<, in: Der Westdeutsche Impuls 1900­1914, Hagen 1984, S. 49­50.

7 K. E. Schmidt, »Bernhard Hötger«, in: Zeitschrift für bildende Kunst, 16, 1905, 37 f.

8 L. Vauxcelles, in: Gil Blas, 1905 (zitiert nach W. Werner, a .a .O. , 1977). ­ Vgl. auch den Text von Vauxcelles über Hoetger von 1905, in: G. Biermann/K. Edschmid /Max Osborn /L . Roselius: Bernhard Hoetger ­Bildhauer, Bremen 1930, S.25f .

9 H. R. Hoetink, »Mediterrane Meditaties<, in: Bulletin Museum Boymans­van­Beuningen, 1963, S. 30­54, ­ Zur Gruppe >Brücke< vgl. W.­D. Dube, in: »Expressionism ­ a german intuition 1905­1920«, Ausstel lungskata­log N e w York 1980, dt. München 1981, S.95f . ­ G. Reinhardt, »Die frühe Brücke<, in: Brücke­Archiv, Berlin, Heft 9/10 , 1977/78 , S.28ff . ­D. Schubert, »Nietzsche­Konkretionsformen in der bildenden Kunst 1890­1933<, in: Nietzsche­Studien, Berlin, 10/11, 1981/82, S . 3 I 5

10 Ron Johnson, »Picasso's Demoiselles d A v i g n o n and the Theat re of Absurd<, in: Arts Magazine, O k t o b e r 1980, S.5­16, und Mark Rosen­thal, »The Nietzschean Character of Picasso's early development<, in: Arts Magazine, O k t o b e r 1980, S. 87 ff.

11 Vgl. Jeanine Warnod, Bateau­Lavoir 1892­1914, Paris 1975, Genf 1976, S. 123 f.

12 Donald E. Gordon: Modern Art Exhibitions 1900­1916, Bd. [/IL Mün­chen 1974, übergeht Hoetger unverständlicherweise bei den Herbstsa­lons, S. 102 und 137.

13 H. Hildebrandt, Der Platanenhain ­ ein Monumentalwerk Bernhard Hoet­gers, Berlin 1915 und D. Schubert, »Hoetgers Waldersee­Denkmal von 1915 in Hannover«, in: Wallraf­Richartz­Jb. Bd. 43, 1982, S. 231­246.

14 Carl Einstein, Negerplastik, 1915, 2. Auflage 1920. ­ Heidemarie Oehm, Die Kunsttheorie Carl Einsteins, München 1976. ­ Carl Einstein: Werke, Band I 1908­1918, hrsg. von R.P. Baacke/J. Kwasny, Berlin 1980, S. 245 ff.

15 C.E. Uphoff , »Hoetger«, in: Cicerone, XI, 1919, S. 427­438. ­ S.D. Gallwitz, Dreißig Jahre Worpswede, Bremen 1922, S. 47f . ­ D. Schubert, in: Festschrift Wolfgang Braunfels, Tübingen 1977, S. 403. ­ R. P. Baacke/ M. Nungesser : »Ich bin ­ Ich war ­ Ich werde sein.« Drei Denkmäler der deutschen Arbe i t e rbewegung in den zwanziger Jahren, in: Wem gehört die Welt ­ Ausstel lungskatalog Berlin 1977, S .29 l f . ; ­ Dieter Golücke/P. Elze (Hrsg.): Bernhard Hoetger ­ Bildhauer, Maler, Baukünst­ler, Designer, Worpswede 1982, S.48; ­ Hoetger­Ausstellungs­Katalog von D. Golücke, Dor tmund M u s e u m am Ostwal l 1984.

16 Die Pietä wird überwiegend in denjenigen Kriegsdenkmälern adaptiert, die, statt »Helden« zu feiern, die Toten beklagen, so von F. Behn (Viersen), von Lehmbruck (Zeichnungen 1918) und Hoetger (vgl. D. Schubert: Die Kunst Lehmbrucks, Worms 1981, Tafel 206­212 und S.237f.)

17 Hoe tge r schrieb selbst einen kleinen Text zum Niedersachsenstein (vgl. S.D. Gallwitz, siehe Anm. 15, S.48­50 ­ L. Roselius/Suse Drost , siehe Bibliographie, S. 75 f.). Der Text befindet sich im Archiv Worpswede , Haus im Schluh (für freundliche Hilfe danke ich Herrn Hans­H. Rief, Worpswede) . A m 10. Mai 1931 deute te Hoe tge r das Denkmal brieflich so: »Es wurde aber kein Kriegerdenkmal, sondern ein Trauermal mit d e m Hinblick auf Frieden.« Vgl. dazu meinen Beitrag im Wallraf­Richartz­Jb. Bd. 44, 1983: »Zur Wandlung eines expressionistischen Kriegerdenkmals ­ Hoetgers Niedersachsenstein 1915­1922«.

18 Die neue TET­Fabrik, Ausstel lungskatalog Kunstverein Hannover , 1917. ­ Wolfgang Pehnt: Die Architektur des Expressionismus, Stutt­gart 1974

19 Claude Keisch, in: Bildende Kunst, Berl in /DDR 1971, S. 187­193. ­J. A. Schmoll gen: Eisenwerth, »Denkmäler der Arbeit«, in: Hans­Emst Mitt ig/Volker Plagemann, Denkmäler im 19. Jahrhundert, München 1972, S. 275 ff. ­ Zu Rodins Projekt auch Renate Liebenwein­Krämer, »Le monumen t au travail«, in: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen 25, 1980, S. 117 ff.

20 G. Biermann, »Hoetgers Denkmal der Arbeit«, in: Cicerone, XXI, 1929, S.49f . ­ Wolfgang Schmitz, »Unter dem Stigma der Arbeit ­ Zur Wiederherstel lung eines Zyklus von B. Hoetger in Bremen«, in: Tenden­zen, München , Nr. 126/127, 1979, S . 8 0 f . ­ D . Golücke/P. Elze, a .a .O. , S. 49. f.; ­ Dieter Hönisch: »Überlebensfries der arbei tenden Menschen«, in: Der Tagesspiegel, 15.Jan. 1981; ­ Katalog der Aussi. B. Hoetger, Dor tmund Museum am Ostwall , von Dieter Golücke, Dor tmund 1984, S. 108­113.

21 C. E. Uphoff , »Hoetger«, in: Cicerone, XI, 1919, S. 429. ­ An alle Künstler!, hrsg. von W. Hasenclever, Kurt Eisner, L. Meidner , Paul Zech, J.R. Becher, Max Pechstein u.a., Berlin 1919

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102 Hoetger

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54 yl/ter Mann, 1928; um 1970 gegossen B r o n z e

6 4 x 2 2 , 9 x 1 9 c m

P r i v a t s a m m l u n g

Die als Kat. 55, 57, 58, 59 gezeigten Bronzefiguren aus der Nationalgalerie Berlin sowie zwei weitere Figuren aus Dort­mund wurden als Vorbild zur Herstellung der größeren Figuren benutzt, die 1928 am Gewerkschaftshaus­Volks­haus in Bremen aufgestellt worden sind. Nachdem sie von den Nationalsozialisten zerstört worden waren, ersetzte man sie 1979 durch Kopien. Alier Mann und Müder Arbeiter mit gekreuzten Armen (Kat. 56) wurden um 1970 in Dort­mund nach den Originalbronzen neu gegossen.

55 Alte Frau, 1928 B r o n z e

6 1 x 2 3 x 2 1 c m

S t a a t l i c h e M u s e e n P r e u ß i s c h e r K u l t u r b e s i t z ,

N a t i o n a l g a l e r i e Ber l i n

Auf dem Sockel bezeichnet .Hoetger . und .A. Bischoff Düsseldorf­. Siehe Kommentar zu Kat. 54

56 Müder Arbeiter mit gekreuzten Armen, 1928; um 1970 gegossen B r o n z e

6 6 , 3 x 2 3 , 2 x 2 7 c m

P r i v a t s a m m l u n g

Siehe Kommentar zu Kat. 54

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Hoetger 103

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4 (l ^31 • J r v

*; • 5 7 58 Arbeiter mit Kind, 1928 Bronze 77x20x26 cm Staatliche Museen Preußischer Kultur­besitz, Nationalgalerie Berlin Auf dem Sockel bezeichnet .Hoetger . und .A. Bi­

schoff Düsseldorf.. Siehe Kommentar zu Kat. 54

Junges Mädchen, 1928 Bronze 76x16x17 cm Staatliche Museen Preußischer besitz, Nationalgalerie Berlin Auf dem Sockel bezeichnet »Hoetger* schoff Düsseldorf.. Siehe Kommentar

Kultu

und »A. Bi­zu Kat. 54

5 9

Jüngling, 1928 Bronze 70x22x19 cm Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Nationalgalerie Berlin Auf dem Socke! bezeichnet »Hoetger« und »A. Bischoff Düsseldorf«. Siehe Kommentar zu Kat. 54