Bernhard Riemann „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“ || Positionen der...

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6 Positionen der Forschung Die Riemannsche Geometrie ist heute ein zentrales und wesentliches Teilgebiet der Ma- thematik, mit vielfältigen Verknüpfungen zu anderen Teilgebieten. Dies ist unkontrovers. Die philosophischen Kämpfe sind weitgehend entschieden. Die moderne Physik ringt zwar noch um das grundlegende Problem der Vereinheitlichung aller Feldkräſte, genauer der einerseits mit den elektromagnetischen, schwachen und starken Wechselwirkungen, die schon im sog. Standardmodell zusammengefasst sind, andererseits, aber dass die Riemann- sche Geometrie einen hierfür wesentlichen Formalismus liefert, ist ebenfalls unumstritten. Eine Skizzierung der Positionen der Forschung kann also hier nur bedeuten, die Grund- gedanken und -aussagen der verschiedenen Richtungen der Fachforschung kurz zu umrei- ßen, soweit das ohne Benutzung eines fachspezifischen Formalismus und einer entspre- chend entwickelten Terminologie überhaupt möglich ist. Das Ziel dieses Abschnittes kann es nur sein, die wesentlichen Konzepte und Resultate zu erläutern, nicht aber, deren historische Entwicklung nachzuzeichnen. Für Einzelheiten und Literaturnachweise müssen wir auf die in der Bibliographie aufgeführten Monogra- phien und Gesamtdarstellungen verweisen. 6.1 Die globale Struktur von Mannigfaltigkeiten Eine Leitfrage der neueren Forschung ist die Beziehung zwischen der topologischen Struk- tur einer Mannigfaltigkeit und den Riemannschen Metriken, die sie tragen kann. Wir hat- ten schon bei der Darstellung der Überlegungen Riemanns erläutert, dass die Kugelober- fläche, also eine bestimmte zweidimensionale Mannigfaltigkeit, keine Metrik mit negativer Krümmung tragen kann. Es war dann naheliegend, entsprechende Fragen auch in hö- heren Dimensionen zu stellen. Allerdings muss hier erst einmal präzisiert werden, was überhaupt unter negativer oder positiver Krümmung zu verstehen, denn die Riemann- sche Krümmung wird in höheren Dimensionen durch einen Tensor und nicht mehr durch eine einzelne Zahl gegeben. Aus diesem Tensor lassen sich aber auf verschiedene Wei- 127 B. Riemann, Bernhard Riemann „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“, Klassische Texte der Wissenschaſt, DOI 10.1007/978-3-642-35121-1_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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6Positionen der Forschung

Die Riemannsche Geometrie ist heute ein zentrales und wesentliches Teilgebiet der Ma-thematik, mit vielfältigen Verknüpfungen zu anderen Teilgebieten. Dies ist unkontrovers.Die philosophischenKämpfe sindweitgehend entschieden. Die modernePhysik ringt zwarnoch um das grundlegende Problem der Vereinheitlichung aller Feldkräfte, genauer dereinerseits mit den elektromagnetischen, schwachen und starken Wechselwirkungen, dieschon im sog. Standardmodell zusammengefasst sind, andererseits, aber dass die Riemann-sche Geometrie einen hierfür wesentlichen Formalismus liefert, ist ebenfalls unumstritten.

Eine Skizzierung der Positionen der Forschung kann also hier nur bedeuten, dieGrund-gedanken und -aussagen der verschiedenen Richtungen der Fachforschung kurz zu umrei-ßen, soweit das ohne Benutzung eines fachspezifischen Formalismus und einer entspre-chend entwickelten Terminologie überhaupt möglich ist.

Das Ziel dieses Abschnittes kann es nur sein, die wesentlichen Konzepte und Resultatezu erläutern, nicht aber, deren historische Entwicklung nachzuzeichnen. Für Einzelheitenund Literaturnachweise müssen wir auf die in der Bibliographie aufgeführten Monogra-phien und Gesamtdarstellungen verweisen.

6.1 Die globale Struktur vonMannigfaltigkeiten

Eine Leitfrage der neueren Forschung ist die Beziehung zwischen der topologischen Struk-tur einer Mannigfaltigkeit und den RiemannschenMetriken, die sie tragen kann. Wir hat-ten schon bei der Darstellung der Überlegungen Riemanns erläutert, dass die Kugelober-fläche, also eine bestimmte zweidimensionale Mannigfaltigkeit, keine Metrik mit negativerKrümmung tragen kann. Es war dann naheliegend, entsprechende Fragen auch in hö-heren Dimensionen zu stellen. Allerdings muss hier erst einmal präzisiert werden, wasüberhaupt unter negativer oder positiver Krümmung zu verstehen, denn die Riemann-sche Krümmung wird in höheren Dimensionen durch einen Tensor und nicht mehr durcheine einzelne Zahl gegeben. Aus diesem Tensor lassen sich aber auf verschiedene Wei-

127B. Riemann, Bernhard Riemann „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“,Klassische Texte der Wissenschaft, DOI 10.1007/978-3-642-35121-1_6,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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sen Zahlen gewinnen. Die wichtigste Weise, die auch dem entspricht, wie Riemann denKrümmungstensor konzipiert hatte, besteht darin, die Krümmung von zweidimensionalenUntergebilden derMannigfaltigkeit zu bestimmen. Es handelt sich hier umdie sog. Schnitt-krümmung, also die Krümmung von infinitesimalen Ebenen, die durch zwei unabhängigeRichtungen aufgespannt werden. Da es sich bei diesen Ebenen um Flächen, also zweidi-mensionale Gebilde, handelt, reduziert sich deren Krümmung jeweils auf eine einzelnereelle Zahl. Man sagt dann, die RiemannscheMannigfaltigkeit trage negative Schnittkrüm-mung, wenn in allen Punkten für alle solchen Ebenen die Krümmung negativ ist. Mitdiesen Konzepten lässt sich dann zeigen, dass beispielsweise die höherdimensionalenAna-loga der Kugeloberfläche, die sog. Sphären, ebenfalls keine Metrik negativer Krümmungtragen können. Überhaupt führt die Existenz einer Metrik mit einer SchnittkrümmungfestenVorzeichens, sei dieses nun negativ oder positiv, zu starken topologischen Einschrän-kungen an die zugrundeliegende Mannigfaltigkeit. Dies ist für das Verständnis möglicherRaumstrukturen wichtig. DieTheorie negativ gekrümmter Metriken weist auch eine innigeVerbindung zurTheorie dynamischer Systeme auf. Der Grund liegt darin, dass bei negati-verKrümmung geodätische Linien, also kürzesteVerbindungen, d. h. Analoga euklidischerGeraden, die im gleichen Punkt beginnen, exponentiell auseinanderlaufen, statt nur linearwie im euklidischen Fall. Dieses exponentielleAuseinanderlaufen entspricht aber genauderexponentiellen Vergrößerung selbst kleinster Unterschiede, was charakteristisch für sog.chaotische Dynamiken ist. Der geodätische Fluss, also das Verfolgen geodätischer Lini-en, in Räumen negativer Krümmung ist daher ein Beispiel eines chaotischen dynamischenSystems, und infolgedessen können die hierfür entwickelten mathematischenMethoden inder Geometrie angewandt werden, und umgekehrt liefert die Geometrie somit ein wichti-ges Beispiel eines chaotischen dynamischen Systems, an welchem neue Erkenntnisse zumChaos gewonnen werden können. – Die Theorie von Riemannschen Mannigfaltigkeitenpositiver Krümmung führt dagegen in eine ganz andere Richtung. Wenn die Krümmungnicht nur positiv, sondern auch noch fast konstant ist, somuss der zugrundeliegende Raumschondie topologische Struktur einer Sphäre tragen, wie man insbesondere seit den grund-legenden Sphärensätzen von Klingenberg und Berger aus der 60er Jahren des 20. Jahr-hunderts weiß. Trotzdem stellt sich heute die Theorie von Räumen positiver Krümmungals weit weniger abgeschlossen dar als diejenige von Räumen negativer Krümmung. DieSphären selbst jedenfalls tragen sogar eine Metrik konstanter Krümmung, und die Räumekonstanter Krümmung stellen wichtige Modellräume in der Geometrie dar, mit deren Ei-genschaften dann diejenigen anderer RiemannscherMannigfaltigkeiten verglichen werdenkönnen.DieKlassifikation vonRäumen konstanterKrümmung selbst, sei diese nun positiv,negativ oder Null, der sog. Raumformen, ist schon lange abgeschlossen.Wie Riemann undHelmholtz schon erkannt hatten, sind dies gerade die Räume, in denen die freie Beweg-lichkeit starrer Körper möglich ist. Die Fragestellung hier war aber im Wesentlichen einetopologische oder gruppentheoretische. Das Problem lag nämlich darin begründet, dassman aus den Modellräumen der Sphäre (Kugeloberfläche) oder des euklidischen oder hy-perbolischen Raumes durch Quotientenbildung neue Räume von konstanter Krümmungund verwickelterer topologischer Gestalt gewinnen kann. Betrachten wir zur Veranschau-

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lichung zweidimensionale Beispiele, die sich allerdings auf gleicheWeise auch in beliebigenDimensionen durchführen lassen. Wir nehmen die Kugeloberfläche und identifizieren je-weils diametral gegenüberliegende Punkte, die sog. Antipoden,miteinander.Wir enthaltenalso einen neuen Raum, die sog. projektive Ebene, oder den Raumder elliptischen Geome-trie, dessen jeder Punkt einem Paar von Punkten, nämlich einem Antipodenpaar, auf derKugeloberfläche entspricht.Der gruppentheoretischeAspekt dieserKonstruktion erwächstaus der Tatsache, dass die Bewegung der Kugeloberfläche, die jeden Punkt in seinen Anti-poden überführt, die Abstandsverhältnisse unverändert lässt, denn der Abstand zwischenzwei Punkten ist der gleiche wie derjenige zwischen ihren Antipoden. Eine solche Bewe-gung eines Raumes, die die Abstandsverhältnisse invariant lässt, wird Isometrie genannt.Die Isometrien bilden eineGruppe, weil insbesondere dieHintereinanderausführung zwei-er Isometrien wieder eine Isometrie ist. Dies war schon der den Theorien von Felix Kleinund Sophus Lie zugrundeliegende Gedanke.

Ähnlich bilden die Verschiebungen (Translationen) der euklidischen Ebene eine Grup-pe. Eine Untergruppe dieser Translationsgruppe wird beispielsweise von denjenigenTranslationen gebildet, die die beiden Koordinaten eines Punktes um ganzzahlige Beträge(statt um beliebige reelle) verändern, denn die Hintereinanderausführung zweier derar-tiger ganzzahliger Verschiebungen ergibt wieder eine ebensolche. Identifiziert man nunjeweils Punkte in der Ebene, die durch eine solche ganzzahlige Verschiebung ineinanderüberführt werden können, oder, was nach dem Vorstehenden auf das Gleiche hinausläuft,deren Koordinaten sich nur um ganze Zahlen voneinander unterscheiden, so erhält maneine neue Fläche von den Zusammenhangsverhältnissen der Ringfläche. Eine derartigeFläche wird Torus genannt. Genauso wie die euklidische Ebene trägt also auch ein Toruseine Metrik der Krümmung Null. Auch die hyperbolische, die nichteuklidische Ebeneerlaubt solche Quotienten. Insbesondere hier ergibt sich übrigens ein inniger Zusammen-hang mit der wohl mathematisch wichtigsten der von Riemann entwickelten Theorien,der nach ihm benannten Riemannschen Flächen. Jeder solche Quotient trägt nämlich innatürlicher Weise auch die Struktur einer Riemannschen Fläche, und die Gesamtheit die-ser Flächen führt dann zum Riemannschen Konzept des Modulraumes. – Jedenfalls ist dieKlassifikation von Räumen konstanter Krümmung, oder in gruppentheoretischer Formu-lierung die Klassifikation der diskreten Untergruppen der Isometriegruppen von Sphäre,euklidischem und hyperbolischem Raum, von den Mathematikern gelöst worden.1 DerZusammenhang zwischen Riemannscher Geometrie und Gruppentheorie ist allerdingsnoch allgemeiner. Neben den Modellräumen konstanter Krümmung gibt es auch nochandere Riemannsche Mannigfaltigkeiten mit transitiven Isometriegruppen, d. h. welche,in denen Isometrien jeden Punkt in jeden beliebigen anderen überführen können. Diesführt dann in die Klassifikationstheorie der Liegruppen, denn Isometriegruppen sind

1 Man vgl. z. B. den SammelbandRaumtheorie, hrsg. v.Hans Freudenthal,Darmstadt,Wiss. Buchges.,1978, der dann allerdings auch inForschungszweige führt, die etwas abseits vondenHauptrichtungender modernen Geometrie liegen.

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Transformationsgruppen im Lieschen Sinne, und dieTheorie der symmetrischen Räume,2

denn so heißen die beschriebenen Räume, und deren Quotienten nach diskreten Gruppenvon Isometrien. Diese Theorien sind insbesondere von Killing, Cartan und Weyl entwi-ckelt worden. Die symmetrischen Räume bilden naturgemäß eine wichtige Klasse vonModellräumen in der Riemannschen Geometrie. Daneben weisen sie auch tiefliegendeund für die mathematische Forschung im 20. Jahrhundert fundamentale Beziehungen zurZahlentheorie auf. Dies soll hier allerdings nicht weiter ausgeführt werden. Der Hinweisauf die Tatsache, dass wir oben den Torus mit Hilfe der ganzen Zahlen konstruiert haben,muss als Andeutung genügen. Jedenfalls weist dies auf eine wesentliche, und wohl sogardie wichtigsten Teile der modernen mathematischen Forschung motivierende Einheitvon algebraischen, geometrischen und analytischen Strukturen hin, welche entscheidenddurch das Lebenswerk von Riemann inspiriert ist.

Wir hatten das Riemannsche Konzept der Schnittkrümmung als eine Möglichkeit dar-gestellt, das Krümmungsverhalten einer Mannigfaltigkeit durch Zahlen zu beschreiben.Für eine Riemannsche Mannigfaltigkeit der Dimension n erhält man auf diese Weise fürjeden Punkt derMannigfaltigkeit n(n-1)/2 Zahlen, denn so viele unabhängige Ebenenrich-tungen gibt es in einemPunkt.DurchMittelbildung lässt sich dies aufweniger Zahlen redu-zieren.Mitteltman über alle Ebenen, die eine gemeinsameRichtung enthalten, so bekommtman den sog. Riccitensor, welcher dann durch n Zahlen, die Anzahl der unabhängigenRichtungen in jedem Punkt, beschreibbar ist. Mittelt man dann noch über alle Richtun-gen, so erhält man eine einzige Zahl in jedem Punkt, die sog. Skalarkrümmung. Integriertman dann noch die Skalarkrümmung über die Punkte der Mannigfaltigkeit, so bleibt nurnoch eine einzelne Zahl für die gesamte Mannigfaltigkeit übrig, die sog. Totalkrümmung.Natürlich stellt jeder derartige Mittelungsschritt eine Vergröberung dar. Dementsprechendallgemeiner werden die Objektklassen. Beispielsweise gibt es wesentlich mehr Mannigfal-tigkeiten, die eineMetrik positiver Riccikrümmung oder Skalarkrümmung tragen können,als solche mit positiver Schnittkrümmung. In Dimensionen größer als 2 trägt sogar über-raschenderweise, wie von Lohkamp gezeigt, jede Mannigfaltigkeit eine Metrik negativerRiccikrümmung, so dass sich also aus der Existenz einerMetrik negativer Riccikrümmungkeine strukturellen Einschränkungen mehr herleiten lassen. Anders verhält es sich mit po-sitiver Riccikrümmung. DieUntersuchung der Riccikrümmung fürMannigfaltigkeiten derDimension 3 hat aber in jüngster Zeit zur Lösung eines der schwierigsten Probleme derTopologie und eines der berühmtesten ProblemederMathematik überhaupt, der sog. Poin-caréschen Vermutung, durch Perelman geführt. Zwar trägt nicht jede dreidimensionaleMannigfaltigkeit eine Metrik positiver Riccikrümmung, aber durch eine Veränderung derMetrik in Richtung zu konstanter Riccikrümmung lässt sich die zugrundeliegende Man-nigfaltigkeit in Teile zerlegen, die dann konstante Riccikrümmung tragen und welche sichin drei Dimensionen deswegen klassifizieren lassen. Hier zeigt sich ein grundlegender,insbesondere von Shing-Tung Yau entwickelter Gedanke, der Topologie, Geometrie undAnalysis miteinander verbindet, und der auch sonst zur Lösung zahlreicher wichtiger Pro-

2 s. oben S. 60

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bleme geführt hat. Das Konzept einer Mannigfaltigkeit als solcher beinhaltet noch keineMetrik. Man kann dies auch so wenden, dass ein und dieselbe Mannigfaltigkeit als topolo-gisches Objekt viele verschiedene RiemannscheMetriken tragen kann.Nun kannman, unddies ist der fruchtbare Gedanke, unter diesen vielen möglichen Metriken versuchen, einebesonders günstigeMetrik mittels eines Optimierungsprinzips auszuwählen. Hat man einesolche Metrik gefunden, worin meist die wesentliche technische Schwierigkeit besteht, soträgt diese Metrik als Lösung eines Optimierungsproblems bestimmte Eigenschaften, auswelchen man dann Rückschlüsse auf die Struktur der zugrundeliegendenMannigfaltigkeitziehen kann. Es sei bemerkt, dass dies kein logischer Zirkel ist, denn um die Existenz eineroptimalenMetrik nachzuweisen, mussman schonEigenschaften derMannigfaltigkeit her-anziehen. Die optimale Metrik erlaubt dann, aus diesen zugrunde gelegten Eigenschaftenandere abzuleiten, die mit alternativen Methoden typischerweise wesentlich schwierigeroder gar nicht zu gewinnen sind. – In umgekehrter Richtung kann man aber auch mittopologischen Methoden viele geometrische Informationen über Riemannsche Mannig-faltigkeiten gewinnen, wie insbesondere von Mikhail Gromov vorgeführt worden ist.

6.2 Riemannsche Geometrie undmoderne Physik

Die Konzepte der Riemannschen Geometrie sind nicht nur für die Allgemeine Relativi-tätstheorie grundlegend, sondern auch wesentlich für die moderne Quantenfeldtheorieund theoretischeElementarteilchenphysik, vom sog. Standardmodell bis zu den aktuellstenEntwicklungen wie der Stringtheorie.

Wir benötigen noch eine wichtige Verallgemeinerung des Konzeptes der Mannigfaltig-keit, dasjenige des Faserbündels. Wir hatten dieses Konzept schon oben aus historischerSicht diskutiert, s. S. 60ff. Hier wollen wir es auf etwas andere Weise unter systematischenGesichtspunkten einführen. Wie dargelegt, ist eine Mannigfaltigkeit ein NebeneinandervonPunktenmit qualitativen Lagebeziehungen. Dieses Konzept kann nun dahingehend er-weitert werden, dassman statt eines Punktes ein anderes Objekt nimmt. Für die Geometrieund theoretische Physik besonders wichtige Beispiele derartiger Objekte sind Liegruppenund Vektorräume. Dieses Objekt heißt dann Faser, und ein Faserbündel ist dann in ana-loger Weise ein Nebeneinander von Exemplaren der Faser. Wenn wir die Struktur derFaser unterdrücken und die einzelnen Exemplare nur als Punkte auffassen, erhalten wirwieder eine Mannigfaltigkeit. Diese Mannigfaltigkeit parametrisiert also die Menge derFaserexemplare. Die Exemplare der Faser liegen somit nebeneinander. Es muss aber nochspezifiziert werden, wie sie nebeneinander liegen. Dies bedeutet, dass man auch angebenmuss, wie man von einem spezifischen Element einer Faser zu einem bestimmten Elementeiner anderen Faser gelangt. Das Konzept, das dieses ausdrückt, heißt Zusammenhangdes Faserbündels. Es kann als eine Verallgemeinerung der oben besprochenen Parallelver-schiebung von Levi-Civita aufgefasst werden, welche zum Ausdruck bringt, wie man einRichtungselement in einem Punkt mit einem Richtungselement in einem anderen Punktidentifiziert, indemman ersteres längs einer gegebenenKurve parallel verschiebt. Die Rich-

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tungselemente liefern ein wichtiges Beispiel eines Faserbündels, das sog. Tangentialbündelder Mannigfaltigkeit. Die Richtungselemente in einem Punkt der Mannigfaltigkeit bildendie zu diesem Punkt gehörende Faser, Tangentialraum des Punktes genannt. Die abstrakteFaser ist hierbei ein Vektorraum von gleicher Dimension wie die zugrundeliegende Man-nigfaltigkeit, denn die Anzahl der linear unabhängigen Richtungen in einem Punkt, alsodie Dimension des Tangentialraumes, liefert gerade die Dimension der Mannigfaltigkeit.

Wir haben somit schon eines der beiden wichtigsten Beispiele für eine Faser gesehen,nämlich einen Vektorraum. Das andere Beispiel ist eine Liegruppe. Die beiden Beispielesind dadurch miteinander verknüpft, dass die strukturerhaltenden Transformationen ei-nes Vektorraumes eine Liegruppe bilden, und dass umgekehrt eine Liegruppe auf einemVektorraum operieren kann. Man spricht dabei auch von einer Darstellung der Liegruppe.

Die Liegruppe als abstraktes Objekt wird damit gewissermaßen durch ihre Wirkungals eines Vektorraumes konkretisiert. Dies ist nun für die theoretische Elementarteilchen-physik grundlegend. Ein Elementarteilchen, oder besser gesagt, ein Teilchentyp wie dasElektron oder ein bestimmtes Quark, wird durch seine Symmetrien konzeptionalisiert unddadurch von anderen Teilchen mit anderen Symmetrien unterschieden. Die Symmetrienlassen sich wiederum durch eine Liegruppe ausdrücken. Realisiert wird das Teilchen abererst durch dieWirkung dieser Gruppe auf einem Vektorraum, und die Beobachtungsdatenvon Teilchenstreuexperimenten werden in diesem Kontext interpretiert. Das Teilchen alssolches ist invariant, aber in der Beobachtungwird diese Invarianz gebrochen, undmanfin-det ein bestimmtes Element der Faser eines Vektorraumbündels. Die Faser drückt also dieverschiedenen Erscheinungswesen des Teilchens aus. Esmag sich nun eine bestimmteAna-logie mit dem Konzept der Mannigfaltigkeit als Nebeneinander von Punkten aufdrängen,auch wenn die Tragfähigkeit dieser Analogie wesentlich ungeklärt ist und zu Grundfra-gen der Vereinheitlichung der Feldkräfte führt. Genauso wie die Elemente der Faser denverschiedenen konkreten Erscheinungswesen eines seinerNatur nach symmetrischen Teil-chens entsprechen, also den beobachteten Brechungen dieser Symmetrie, so könnte auchein Punkt in einer Lorentzschen Mannigfaltigkeit als konkrete Erscheinung, als Ereignis,eines an sich hinsichtlich der Position in Raum und Zeit indifferenten Zustandes gedeutetwerden.

DieVereinheitlichung der Feldkräfte scheint aber schwieriger zu sein. Der derzeit popu-lärste Ansatz, die Stringtheorie, geht nicht mehr von punktförmigen Teilchen aus, sondernvon Elementarobjekten mit der Struktur einer Schleife, den Strings. Verschiedene Teilchenentsprechen dann den unterschiedlichen Anregungs- oder Vibrationszuständen eines sol-chen Strings. Bewegt sich eine solche Schleife, also ein eindimensionales Objekt, in derRaumzeit, so durchläuft es eine Fläche, die wieder als Riemannsche Fläche aufgefasst wer-den kann. Da man nun aber nach den Prinzipien der Quantenmechanik nicht angebenkann, welche Fläche durchlaufen wird, sondern nur weiß, dass kleinere Flächen, genau-er solchemit kleineremWirkungsintegral, wahrscheinlicher sind als größere, somussmanein sog. Feynmanintegral über allemöglichen Riemannschen Flächen bilden. Die dahinter-liegende mathematische Struktur führt zu einer faszinierenden Konvergenz eines großenSpektrums mathematischer Gebiete. Die Berücksichtigung einer zusätzlichen Symmetrie,

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der sog. Supersymmetrie, zwischen bosonischen oder Wechselwirkungsteilchen einerseitsund fermionischen oder Materieteilchen andererseits führt dann zur Superstringtheorie.Diese benötigt allerdings aus Gründen der mathematischen Konsistenz nicht mehr einvierdimensionales, sondern ein zehndimensionales Raumzeitkontinuum.Die sechs zusätz-lichen Dimensionen stellt man sich dabei als winzigkleine und daher makroskopisch nichtin Erscheinung tretende Räume vor. Diese kleinen Räumemüssen dabei wegen der auftre-tenden Teilchensymmetrien eine bestimmte Riemannsche Metrik tragen, die nach ihrenEntdeckern benannte Calabi-Yau-Metrik.