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Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 124/1, 2014 © Franz Steiner Verlag, Stuttgart BESPRECHUNGEN Émile BENVENISTE, Dernières leçons. Collège de France 1968 et 1969. Édition établie par Jean- Claude Coquet et Irène Fenoglio; préface de Julia Kristeva; postface de Tzvetan Todorov (Hautes Études), Paris: EHESS/Seuil/Gallimard, 2012, 210 S. Il faut rappeler ici l’épisode de l’étudiant américain qui, au cours d’une séance de la So- ciété Linguistique, avait déclaré innocemment: « Le plus grand linguistique de France, Martinet, a dit que… », Benveniste s’est alors levé pour déclarer: « Le plus grand linguiste français, c’est moi ! ». (Martinet 1993, 83) Einem größeren Publikum ist Émile (Ezra) Benveniste (1902–1976) – zumindest in Deutsch- land – erst nach Erscheinen der beiden mit Problèmes de linguistique générale überschriebenen Bände (Benveniste 1966, 1974) bekannt geworden. Hierzulande wird er vor allem als Begrün- der einer besonderen Form der Diskurslinguistik wahrgenommen, der sog. linguistique de l’énociation. Sein Ruf als „bedeutendster Sprachwissenschaftler Frankreichs“, den er glaubte gegenüber seinem Widerpart André Martinet verteidigen zu müssen, beruhte jedoch auf For- schungen in einem ganz anderen Bereich. Er galt als herausragender Vertreter der historisch- vergleichenden Sprachwissenschaft, vor allem als Sanskritforscher und Iranologe. Seine erste wissenschaftliche Arbeit, die er unter Leitung des heute fast vergessenen Joseph Vendryes angefertigt hatte, behandelte die „sigmatischen Konjunktiv- und Futurformen des archaischen Lateins“. Die Bio-Bibliograe von Georges Redard am Ende des Bandes (S. 151–174) infor- miert ausführlich über seine Feldarbeit bei den Indianern West-Kanadas und Alaskas sowie bei den Inuit im äußersten Norden des Kontinents, durch die er hoffte, sich von den durch die indoeuropäischen Sprachen vermittelten Denkmustern zu befreien. Dass er darüber hinaus ein Verehrer Rainer Maria Rilkes war, gelegentlich Artikel für L’Humanité, das Organ der kom- munistischen Partei, schrieb und dass er zusammen mit den Surrealisten Louis Aragon, André Breton und Paul Éluard ein Manifest gegen die französisch-spanische Intervention in Marokko unterzeichnet hat, muss erwähnt werden, um deutlich zu machen, dass er nicht der unscheinbare Schreibtischgelehrte war, als der er in seinen letzten Jahren erscheinen mochte. Der hier vorzustellende Band gilt den letzten Vorlesungen, die Benveniste vom Dezember 1968 bis Dezember 1969 am Collège de France gehalten hat, bis ihn am 6. Dezember 1969 ein Gehirnschlag traf, von dem er sich nicht mehr erholen sollte. Die 15 Vorlesungen des Winters 1968/69 wurden von den beiden Herausgebern in zwei mit „Sémiologie“ und „Langue et écriture“ überschriebene Kapitel gegliedert. In der letzten Vorlesung verspricht Benveniste, das Thema des vorangegangenen Zyklus wieder aufzunehmen. Diese 16 von den beiden Herausgebern editierten Texte (dazu später) bilden den Kern des Bandes. Von dessen gut 200 Seiten entfallen etwa 60 auf Paratexte: Ein Vorwort von Julia Kristeva, die Benveniste freundschaftlich ver- bunden war, eine Einführung der beiden Herausgeber Jean-Claude Coquet und Irène Fenoglio, die bereits erwähnte Bio-Bibliograe von Georges Renard, eine Übersicht über Benvenistes nachgelassene Manuskripte von Émilie Brunet und schließlich ein Nachwort von Tzvetan Todorov. Benvenistes Vermächtnis wird somit umrahmt von Beiträgen zweier Wissenschaftler bulgarischer Herkunft. Das ist sicherlich kein reiner Zufall. Benvenistes Eltern waren lange Jahre für die Alliance Israélite Universelle in Bulgarien tätig, seine Mutter ist dort gestorben. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014

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BESPRECHUNGEN

Émile BENVENISTE, Dernières leçons. Collège de France 1968 et 1969. Édition établie par Jean-Claude Coquet et Irène Fenoglio; préface de Julia Kristeva; postface de Tzvetan Todorov (Hautes Études), Paris: EHESS/Seuil/Gallimard, 2012, 210 S.

Il faut rappeler ici l’épisode de l’étudiant américain qui, au cours d’une séance de la So-ciété Linguistique, avait déclaré innocemment: « Le plus grand linguistique de France, Martinet, a dit que… », Benveniste s’est alors levé pour déclarer: « Le plus grand linguiste français, c’est moi ! ». (Martinet 1993, 83)

Einem größeren Publikum ist Émile (Ezra) Benveniste (1902–1976) – zumindest in Deutsch-land – erst nach Erscheinen der beiden mit Problèmes de linguistique générale überschriebenen Bände (Benveniste 1966, 1974) bekannt geworden. Hierzulande wird er vor allem als Begrün-der einer besonderen Form der Diskurslinguistik wahrgenommen, der sog. linguistique de l’énociation. Sein Ruf als „bedeutendster Sprachwissenschaftler Frankreichs“, den er glaubte gegenüber seinem Widerpart André Martinet verteidigen zu müssen, beruhte jedoch auf For-schungen in einem ganz anderen Bereich. Er galt als herausragender Vertreter der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, vor allem als Sanskritforscher und Iranologe. Seine erste wissenschaftliche Arbeit, die er unter Leitung des heute fast vergessenen Joseph Vendryes angefertigt hatte, behandelte die „sigmatischen Konjunktiv- und Futurformen des archaischen Lateins“. Die Bio-Bibliografi e von Georges Redard am Ende des Bandes (S. 151–174) infor-miert ausführlich über seine Feldarbeit bei den Indianern West-Kanadas und Alaskas sowie bei den Inuit im äußersten Norden des Kontinents, durch die er hoffte, sich von den durch die indoeuropäischen Sprachen vermittelten Denkmustern zu befreien. Dass er darüber hinaus ein Verehrer Rainer Maria Rilkes war, gelegentlich Artikel für L’Humanité, das Organ der kom-munistischen Partei, schrieb und dass er zusammen mit den Surrealisten Louis Aragon, André Breton und Paul Éluard ein Manifest gegen die französisch-spanische Intervention in Marokko unterzeichnet hat, muss erwähnt werden, um deutlich zu machen, dass er nicht der unscheinbare Schreibtischgelehrte war, als der er in seinen letzten Jahren erscheinen mochte.

Der hier vorzustellende Band gilt den letzten Vorlesungen, die Benveniste vom Dezember 1968 bis Dezember 1969 am Collège de France gehalten hat, bis ihn am 6. Dezember 1969 ein Gehirnschlag traf, von dem er sich nicht mehr erholen sollte. Die 15 Vorlesungen des Winters 1968/69 wurden von den beiden Herausgebern in zwei mit „Sémiologie“ und „Langue et écriture“ überschriebene Kapitel gegliedert. In der letzten Vorlesung verspricht Benveniste, das Thema des vorangegangenen Zyklus wieder aufzunehmen. Diese 16 von den beiden Herausgebern editierten Texte (dazu später) bilden den Kern des Bandes. Von dessen gut 200 Seiten entfallen etwa 60 auf Paratexte: Ein Vorwort von Julia Kristeva, die Benveniste freundschaftlich ver-bunden war, eine Einführung der beiden Herausgeber Jean-Claude Coquet und Irène Fenoglio, die bereits erwähnte Bio-Bibliografi e von Georges Renard, eine Übersicht über Benvenistes nachgelassene Manuskripte von Émilie Brunet und schließlich ein Nachwort von Tzvetan Todorov. Benvenistes Vermächtnis wird somit umrahmt von Beiträgen zweier Wissenschaftler bulgarischer Herkunft. Das ist sicherlich kein reiner Zufall. Benvenistes Eltern waren lange Jahre für die Alliance Israélite Universelle in Bulgarien tätig, seine Mutter ist dort gestorben.

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014

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Er hat wiederholt seine Verbundenheit mit diesem Land zum Ausdruck gebracht. Schon mit elf Jahren hatte er seinen Geburtsort Aleppo verlassen, der damals noch zum Osmanischen Reich gehörte, um mit einem Stipendium der Organisation, für die seine Eltern tätig waren, in Paris eine Ausbildung zum Rabbiner zu beginnen. Daraus wurde nichts. Er schlug die Universitäts-laufbahn ein, studierte historisch-vergleichende Sprachwissenschaft bei Vendryes und Meillet, dessen Nachfolger er gleich zweimal wurde, zuerst an der École pratique des hautes études, dann am Collège de France. Nachdem er die französische Staatsangehörigkeit erhalten hatte, änderte er seinen Vornamen von Ezra in Émile.

Julia Kristeva bietet in ihrem Vorwort einen Paralleltext zu Benvenistes letzten Vorle sungen. Ihr Stil ist immer ein wenig schillernd, sie tänzelt souverän auf der Scheidelinie zwischen Pa-raphrase und Kommentar. Benveniste wird als Bewunderer und gleichzeitig als „Überwinder“ Saussures eingeführt. In seiner terminologisch eigenwilligen Unterscheidung zwischen le sé-miotique und le sémantique (nur der Artikel weist darauf hin, dass keine Disziplinen, sondern nomina qualitatis gemeint sind) artikuliere sich, so Kristeva, seine Kritik an Saussure, der nicht habe zeigen können, wie mit dem rein negativ-differenziell defi nierten Zeichensystem langue ‚Sinn‘ ausgedrückt und vermittelt werden könne. Durch eine bloße ‚Anwendung‘ des Systems in Form der parole könne dies nicht erklärt werden. Zu Recht geht sie besonders ausführlich auf den Komplex langue et écriture ein, denn zu diesem Thema fi ndet sich noch so gut wie nichts in den Problèmes de linguistique générale.

Der Inhalt der Einzelvorlesungen, so wie er von den Herausgebern präsentiert wird, setzt sich aus Benvenistes eigenen Notizen und Aufzeichnungen der wenigen Hörer seiner Vorlesungen zusammen; die zuletzt genannten wurden in kleinerer Drucktype gesetzt. 29 Reproduktionen der (erstaunlich gut lesbaren) handschriftlichen Notizen des Gelehrten runden das Ganze ab. Die Kürze der einzelnen Vorlesungen überrascht; in einigen Fällen hätten Benvenistes Aufzeich-nungen für eine Vorlesungsstunde ohne die erwähnten ‚Zutaten‘ auf einer Druckseite Platz ge-funden. Bei der folgenden knappen Inhaltsangabe kann nicht konsequent zwischen Benvenistes eigenen Notizen und den Aufzeichnungen der Hörer unterschieden werden.

Die ersten sieben Vorlesungen (2.12.1968–27.1.1969) sind einer Einführung in die sémio-logie gewidmet. Der Gegenstand der Allgemeinen Sprachwissenschaft, die Sprache, so Benve-niste, bedeute (signifi e) „en dehors de tout emploi“ (S. 60). Es geht ihm also auch im Hinblick auf die Sprache nicht – wie etwa Martinet oder Georges Mounin – um eine „sémiologie de la communication“, sondern um eine „sémiologie de la signifi cation“. In diesem Punkt und in der Betonung der Notwendigkeit der Existenz eines ‚Interpretanten‘ bei allen Zeichensystemen weiß er sich mit Peirce einig. Ansonsten werden zunächst Peirce und dann Saussure vorgestellt und gewürdigt, im Anschluss daran jedoch entschieden kritisiert. Die fünfte Vorlesung (S. 77–80) ist wohl die wichtigste des ersten Teils. Hier werden Grundüberzeugungen des Vortragenden in reichlich apodiktischer Form geäußert: Die Sprache sei das einzige Zeichensystem, das im Hinblick auf sich selbst als ‚Interpretant‘ fungieren könne (eine Analogie zu Peirces thirdness wird zurückgewiesen). Dies sei entscheidend für das (viel diskutierte) Verhältnis von Sprache und Gesellschaft: Gesellschaftliche und sprachliche Strukturen seien, wie schon Sapir erkannt habe, „anisomorph“: „il faut abandonner l’idée que le langage refl ète la société“ (S. 78). Nach Ansicht des Berichterstatters lässt sich das in deutscher Syntax unter Vermeidung der aktiven Diathese treffender ausdrücken: „In der Sprache spiegelt sich die Gesellschaft nicht wider“. Im Anschluss wird nämlich gleich betont, dass die Sprache umgekehrt die Gesellschaft inter-pretieren könne. Die Sprache enthalte die Gesellschaft. Durch die Personalpronomina je/tu einerseits und il andererseits würden die Relationen des Dialogs und der Alterität gestiftet, ohne die keine Gesellschaft möglich sei (vgl. Benveniste 1966, Kap. 18 und 20; Benveniste 1974, Kap. 5). In den beiden folgenden Lektionen wird die Einzigartigkeit der Sprache im Vergleich

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zu anderen Zeichensystemen nochmals hervorgehoben. In der etwas schlichten Ausdrucksweise des Berichterstatters: Nur die Sprache kann ihre eigene Metasprache sein. Dies alles wird in einer zugleich allusiven und apodiktischen Form vorgetragen, die bei den Hörern erhebliche Vorkenntnisse voraussetzt.

Vergleichbares gilt auch für die Lektionen, die sich mit dem Thema „Sprache und Schrift“ beschäftigen (Nr. 8–15). Zunächst wird darauf hingewiesen, dass zur Erfi ndung der Schrift eine außerordentliche Abstraktionsleistung notwendig war. Die Schrift gebe nicht die tatsächlich gesprochene, sondern die „innere Sprache“ wieder, ohne der Prosodie und der das Sprechen begleitenden Gestik Rechnung zu tragen (S. 91); sie sei kein „Abbild der Sprache“, sondern Abbild der Vorstellungen der Sprecher von ihrer Sprache (S. 110). Die im Cours de linguistique générale (CLG, S. 45) vertretene Ansicht, die Schrift sei lediglich ein Substitut der gesprochenen Sprache, wird als „idée banale“ zurückgewiesen (S. 95). Es folgt eine knappe Geschichte der verschiedenen Schriftsysteme. Alle seien unabhängig voneinander entstanden, es gebe keine kontinuierliche Entwicklung, sondern nur einen engen Zusammenhang zwischen Sprach- und Schrifttyp. Dieser sei im Chinesischen, wo das Prinzip ‚eine Silbe = eine (lexikalische) Bedeutung = ein Zeichen‘ herrsche, besonders stark ausgeprägt. In der Frühphase der Schrift war diese nie Abbildung des Diskurses, sondern immer Abbildung der Gegenstände des Diskurses. Langsam macht sich, vor allem bei mehrsilbigen Sprachen, das phonetische Prinzip geltend, bis es sich bei den Griechen mit Einführung der Vokalzeichen völlig durchgesetzt hat.

All das ist nicht neu. Bemerkenswert ist lediglich die Art und Weise, wie wohlbekannte Fakten kommentiert und in welchen Zusammenhängen sie gesehen werden: Ursprünglich sei die Schrift ein Mittel neben der Sprache gewesen, Dinge und Sachverhalte mitzuteilen, die sich in räumlicher und zeitlicher Distanz zu den Gesprächspartnern befi nden; erst mit der Einführung des phonetischen Prinzips sei sie ein ‚Abbild‘ der sprachlichen Form der Botschaft geworden. In der Schrift ‚semiotisiert‘ die Sprache sich selbst. Die Sprache wird nun selbst ein Gegen-stand des Sprechens und Denkens. Einige Jahre später sollte Walter J. Ong diesen Gedanken ausführlich entwickeln (Ong 1982, Kap. 4); er zitiert allerdings nur Derrida, Benveniste wird nicht erwähnt. Wer einen Eindruck davon gewinnen wolle, versichert dieser, wie das Verhält-nis von Sprache und Schrift vor der Entstehung einer Sprachwissenschaft gesehen worden sei, solle – statt den allzu häufi g zitierten Kratylos zu bemühen – lieber einen Blick in Platons Philebos werfen, wo die Entstehung der grammatikē technē beschrieben werde (S. 117 ff.). Manche Gedanken bestechen durch ihre Plausibilität: In der Didaktik komme heute das Lesen vor dem Schreiben, in genetischer Hinsicht gelte jedoch die umgekehrte Reihenfolge (S. 121). In den Benennungen für ‚schreiben‘ sowie im Mythos, in der Literatur und in der Philosophie spiegele sich die Wertschätzung der Schrift in verschiedenen Kulturen wider: Hochschätzung im Osten, Geringschätzung im Westen. „[…] littera enim occidit, Spiritus autem vivifi cat“, hatte Paulus an die Korinther geschrieben (2 Kor 3,6). Er nimmt damit ein Motiv auf, das Platon im Phaidros entworfen hatte: die ‚Festnagelung‘ und damit Abtötung der lebendigen Rede durch ihre schriftliche Fixierung (S. 125).

In der letzten Vorlesung des ersten Zyklus wird noch einmal auf die Behandlung der Schrift im CLG Bezug genommen (S. 45 f.). Dort wird am Beispiel des Litauischen demonstriert, dass die Schriftlosigkeit einer Gesellschaft keineswegs mit beschleunigtem Sprachwandel einhergehen müsse. Der archaische Charakter dieser Sprache zeige, „combien la langue est indépendante de l’écriture“ (ebd.). Dieser Objektsatz wird von Benveniste völlig aus dem Zusammenhang gerissen, in Form eines Hauptsatzes zitiert und damit zu einer Behauptung erhoben, der man seines Erachtens nicht zustimmen könne. Alle Fragen nach dem Zusammenhang von Sprache und Schrift zeigten sich in einem neuen Licht, wenn man von dem Prinzip ausgehe, dass die Schrift eine sekundäre Form der Rede (parole) sei (S. 131). Soll damit gesagt werden, dass die

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Schrift ein Phänomen sei, dem man nur in actu, nicht in potentia gerecht werden kann? Zwar sollte man an Vorlesungsnotizen nicht den Maßstab anlegen, der für eine sorgfältig ausgearbei-tete Abhandlung angemessen wäre; dennoch muss es erlaubt sein, auf zahlreiche Unklarheiten und Widersprüche zu verweisen. So wird immer wieder gezeigt, dass mit Hilfe der Schrift homophone Formen disambiguiert werden: vin, vingt, vint, vain, vainc… (S. 134). Manchmal ‚disambiguiert‘ die gesprochene Sprache jedoch auch homographe Formen, wie etwa im Fall von dt. modern und modern.

Die allerletzte Vorlesung, mit der der neue Zyklus beginnt und die wenige Tage vor dem Schlaganfall des Vortragenden gehalten wurde, kündigt Erläuterungen zu zentralen Punkten von Benvenistes Sprachauffassung an, die allerdings zum Teil bereits in den Problèmes de linguistique générale angelegt waren:

[…] il est impossible de passer du « signe » à la « phrase », impossible de faire coïncider cette distinction avec la distinction saussurienne de « langue » et « parole », parce que le signe est discontinu et la phrase, continue. L’énonciation n’est pas une accumulation de signes: la phrase est d’un autre ordre de sens. (S. 142)

Damit erhalten die berühmt-berüchtigten Sätze des Cours, „La phrase est le type par excellence du syntagme. Mais elle appartient à la parole, non à la langue“ (CLG, S. 172), eine völlig neue Fassung. Dieser Passus begründet die bereits erwähnte Unterscheidung von le sémiotique und le sémantique, die den Hörern der letzten Vorlesung noch nicht geläufi g war. Man gewinnt den Eindruck, Benveniste kombiniere die beiden klassischen Dichotomien des CLG, langue vs. parole einerseits und syntagmatique vs. associatif (später paradigmatique) andererseits, in ähnlicher Weise wie Hjelmslev (System vs. Verlauf [Prozess]) oder Halliday (System vs. Struktur). In beiden Fällen bleibt das Analogon der langue auf ein Inventar beschränkt, aus dem Elemente ausgewählt und anschließend auf der nachgeordneten Ebene kombiniert werden können (vgl. Albrecht 2007, S. 139 f., 84 f.). Aber diese Vermutung beruht auf fl üchtigen Spekulationen des Berichterstatters, und die angedeutete Analogie greift sicherlich zu kurz (vgl. jedoch das Nachwort von Todorov, S. 192 f.). Für eine gründlichere Untersuchung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede ist hier nicht der Ort.

Todorovs Nachwort ist weniger ‚theorielastig‘ als das Vorwort Julia Kristevas. Weit häufi ger werden die veröffentlichten Arbeiten Benvenistes zitiert als die Vorlesungen, um die es in die-sem Band geht. Am Ende wird ein Gedanke geäußert, der es verdient, hier referiert zu werden: Benveniste hat nicht die Zeit (und möglicherweise auch nicht den Mut) gefunden, ein wirklich großes, in allen Einzelheiten ausgearbeitetes Werk zu verfassen:

[…] du coup il n’est jamais disponible pour un travail de longue haleine, qui couronne-rait ses recherches de plusieurs décennies, et doit se contenter de ces études dispersées, porteuses d’aperçus fulgurants, mais fragmentaires et répétitives. (S. 195)

Das klingt nicht sehr schmeichelhaft am Ende einer Würdigung, trifft jedoch sehr genau zu.An wen wendet sich der hier vorgestellte schmale Band? An die Wissenschaftshistoriker im

Allgemeinen und an die Schüler und Verehrer Benvenistes im Besonderen. Saussure, mit dem Benveniste sich immer wieder verglichen und an dem er sich gerieben hat, war noch weniger publikationsfreudig, und dennoch ist er zum Gegenstand einer kaum mehr zu überblickenden Sekundärliteratur geworden. Ein wenig ‚Benveniste-Pfl ege‘ neben so viel ‚Saussureologie‘ kann dem Wissenschaftsbetrieb nicht schaden.

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Bibliografi e

ALBRECHT, Jörn, Europäischer Strukturalismus. Ein forschungsgeschichtlicher Überblick. 3., erweiterte Aufl age, Tübingen: Narr, 2007. (= TBL 501).

BENVENISTE, Émile, Problèmes de linguistique générale I, Paris: Gallimard, 1966.BENVENISTE, Émile, Problèmes de linguistique générale II, Paris: Gallimard, 1974.CLG = Saussure, Ferdinand de, Cours de linguistique générale, Paris: Payot, 1971.MARTINET, André, Mémoires d’un linguiste. Vivre les langues. Entretiens avec Georges Kassai

et avec la collaboration de Jeanne Martinet, Paris: Quai Voltaire, 1993.ONG, Walter J., Orality and Literacy. The Technologizing of the Word, New York: Methuen, 1982.

Heidelberg Jörn ALBRECHT

Hélène BOUGET, Écritures de l’énigme et fi ction romanesque. Poétiques arthuriennes (XIIe–XIIIe siècles) (Nouvelle Bibliothèque du Moyen Âge, 104), Paris: Champion, 2011, 533 S.

Die umfangreiche Studie von Hélène Bouget stellt eine gekürzte und überarbeitete Fassung ihrer Dissertation dar, die 2007 an der Université Rennes 2 eingereicht wurde. Sie befasst sich mit der Frage des Rätselhaften im französischen Artusroman nach Chrétien de Troyes, genau-er: mit Werken des Zeitraums 1190–1240, einem beachtlichen Textkorpus, das einerseits die Gralromane umfasst (von den Continuations de Perceval hin zum Tristan en prose), anderer-seits die „récits sans Graal“ (wie etwa Le bel inconnu von Renaut de Beaujeu und die Raoul de Houdenc zugeschriebenen Romane). Einleitend wird die Bedeutung des Themas für die Artus-literatur insgesamt herausgestellt, in der zahllose Protagonisten mit wundersamen, rätselhaften Erscheinungen konfrontiert werden, deren senefi ance sie – zusammen mit dem Leser – im Zuge ihrer queste zu entschlüsseln versuchen. Bisweilen scheint darin gar die wichtigste Intention der Autoren zu liegen: „susciter l’énigme et faire croire à une réponse“ (S. 10). Während die Forschung sich dem Aspekt des merveilleux als solchem bereits ausgiebig gewidmet hat, blieb eine Untersuchung der Struktur und der Funktion des Rätselhaften bislang ein Desiderat (S. 11). Entsprechend macht es sich Bouget zur Aufgabe, die „enjeux littéraires, rhétoriques, stylistiques, poétiques, voire génériques“ des Phänomens zu eruieren, um auf diesem Wege der Faszination, die bis heute vom Artusroman ausgeht, auf den Grund zu gehen (S. 12).

Ein erster Teil der Arbeit (S. 23–140) ist terminologischen Aspekten, der Defi nition verschie-dener Kategorien von ‚Rätseln‘ sowie der Stilanalyse des „discours énigmatique“ gewidmet. Auch wenn der französische Terminus énigme selbst erst ca. 1370 begegnet und die untersuchten Romane die Begriffe merveille und devinaille verwenden, sind doch die mit dem lateinischen Konzept des aenigma verbundenen Vorstellungen in den Texten durchaus präsent. Seit Cicero wird aenigma vor allem als rhetorische Figur begriffen, die – etwa in Form der Metapher – eine „parole mystérieuse, mais porteuse de sens“ darstellt (S. 15). Im Zuge der theologisch-philoso-phischen Umdeutung nähert sich die Figur der Allegorie bzw. dem Symbol – einer semblance, deren senefi ance auf die christliche Heilslehre verweist, so dass sich die rhetorische zu einer hermeneutischen Verwendung erweitert. Die lateinischen Poetiken entwickeln die Theorie des involucrum bzw. integumentum: Der rätselhafte Diskurs, die paroles obscures, dienen als ‚Hülle‘ bzw. ‚Decke‘, unter denen sich die zu erschließende ‚Wahrheit‘ verbirgt (welche in den Romanen meist die Themen Tod und Schicksal betrifft, so etwa in den Reden Merlins). Zum Teil konkretisieren die Texte dieses Verfahren auf der Handlungsebene anhand von „coffres fermés“

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oder „tombeaux à soulever“ – Gegenstände, deren ‚Öffnung‘ dem Helden Antworten verspricht. Dabei bleibt dessen queste (und jene des Lesers) jedoch meist ohne endgültige Aufklärung, wie etwa im Fall des Gralsrätsels: „Le trope sert ici de programme de lecture, avertissant que les tentatives d’élucidation sont vaines parce que le seul langage possible sur le Graal est le langage par énigme“ (S. 33). Damit scheint die prinzipielle Unbeantwortbarkeit der Rätsel in der Artuswelt weniger ein Erkenntnisproblem zu sein als vielmehr eine Strategie der Autoren, das heißt eine „manipulation“ des Publikums, mittels derer die Spannung erhalten und die Fortsetzbarkeit des „genre romanesque en pleine expansion“ gewährleistet werden soll (S. 63).

Einen Sonderfall unter den énigmes stellt die devinette (Rätselfrage) als autonome Gattung dar, eine „défi nition dialoguée“ (Todorov), die in die Handlung eingelagert wird, so etwa im Tristan en prose, wo die Reihe der devinailles in Versform erscheint und schon dadurch eine „forme fi gée et archaïque“ darstellt (S. 85), ein „rituel“ mit einem kodifi zierten Ablauf (S. 87). Von diesem Fall abgesehen erweisen sich die ‚Rätsel‘ der Artusromane meist als „échange pro-blématique“ (S. 94), als Kombination aus einer höchst subjektiven Frage, die ein Protagonist aus persönlicher Betroffenheit, aus Angst oder Neugier stellt, und einer verspäteten, unbefriedi-genden, vorläufi gen Antwort, die erst am Ende einer langen Reihe von aventures gegeben wird, was die Komplexität der Problematik unterstreicht. Eine Analyse der Syntax ergibt sowohl für die devinette als auch für den „échange problématique“ den Befund, dass einerseits Frage wie Antwort sehr differenziert und vielschichtig ausfallen und andererseits eine direkte Fragestel-lung beinahe vollständig fehlt: Es dominiert ein indirekter Diskurs, in dem eine Vielzahl von sprachlichen Varianten durchdekliniert wird. Als Beispiel mag auch hier die Gralsfrage dienen: „[L]a question cruciale ‚qu’est le Graal?‘ ne se pose jamais en ces termes“ (S. 116) – stattdessen wird der Leser bzw. Hörer mit einer „prolifération de questions“ überschüttet, die gezielt der „confusion“ Vorschub leistet (S. 127). Percevals Fragen sind „fl oues, interchangeables“: „Per-ceval énumère des sujets sans rien demander réellement“ (S. 129), so dass eine verbindliche Antwort nirgends wirklich intendiert ist.

Der zweite Teil der Untersuchung (S. 141–212) erörtert zunächst das Romanpersonal, das im Besitz eines höheren Wissens ist und sich dem suchenden Ritter als Aufklärer anbietet. Bouget unterscheidet einerseits diabolische Figuren, die absichtlich falsche Erklärungen geben und damit die Anbindung der semblance an die senefi ance verhindern („Le diable est l’ennemi du sens“, S. 157), und andererseits Vertreter der göttlichen Wahrheit, meist Mönche und Einsiedler, die in der Lage sind, Zeichen lesbar zu machen, Träume zu interpretieren und das Schicksal vorauszusagen, und das heißt auch: den Sinn des Romans selbst zu entschlüsseln. Allerdings machen diese Auserwählten von ihrem „pouvoir d’élucidation“ letztlich kaum Gebrauch: Ihre Auskunft erschöpft sich meist in moralisierenden „bon conseils“, die bei den Fragenden keine wirkliche Erkenntnis anstreben, vielmehr verhindern sie ein „apprentissage individuel“ durch gezielte Zurückhaltung von Wissen. Auch dies hat erzähltechnische Gründe: „Le maintien du secret relance la quête herméneutique“ (S. 165), wir haben es prinzipiell mit „œuvres ouvertes“ zu tun. So wie Merlin seine Gesprächspartner verlacht, amüsieren sich die Autoren in ihrem „statut démiurgique“ über die „confusion“ ihrer Leser (S. 176). Im Falle des Gralsrätsels ist das Wissen des Roi Pêcheur gar „incommunicable“, „sa parole sera toujours empêchée“ (S. 171) – jedoch nur, weil im Zuge der Christianisierung des Motivs die Antwort derart auf der Hand liegt, dass es sich um ein „secret de polichinelle“ (S. 173) handelt, denn „le Roi Pêcheur n’a plus rien à révéler et son savoir en creux n’existe que dans la référence littéraire au Conte du Graal“ (ebd.).

Den „fi gures du savoir“ gegenüber stehen die „quêteurs de sens“, die Bouget als „sujet pensant et interrogeant“ defi niert, ausgezeichnet durch „humanité“ und „subjectivité“ (S. 187). Doch in ihrer „recherche herméneutique“ sind Perceval, Gauvain und Galaad paradoxerweise durch ihr Schweigen gekennzeichnet bzw. durch eine problematische Kommunikation: „questions sans

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réponse ou réponses jamais demandées, décalées, incomplètes ou inadéquates“ (S. 197). Ent-sprechend besteht das eigentliche Anliegen der Gralromane nicht darin, die „fausses énigmes“ des Grals, der Lanze etc. inhaltlich zu klären („une énigme tuée dans l’œuf“, S. 199), sondern im Aufzeigen eines Weges, das richtige Fragen zu lernen („apprendre à questionner“, ebd.). Dabei handelt es sich jedoch um einen per defi nitionem unabgeschlossenen Prozess: Wenn die Continuations alle Fragen zu beantworten scheinen, werfen ebendiese Antworten neue Rätsel auf, die der „apparente clôture du texte“ entgegenstehen (S. 205). Durch diesen erzähltechni-schen ‚Trick‘ („astuce romanesque“, S. 210) entstehen immer neue Rätsel und damit immer neue Gralromane, „à la manière d’infi nies boîtes gigognes“ (S. 211). Das Rätsel ist eine Maschine zur Generierung von Literatur: „L’enjeu ne sera pas d’éclaircir ces questions, mais d’ouvrir le cycle à tous les possibles narratifs“ (S. 224).

Der dritte Teil der Publikation (S. 215–336) widmet sich den „effets d’énigme“ als „mode d’écriture“, und zwar mit Blick sowohl auf die Produktion als auch auf die Rezeption. Die Autoren kreieren gezielt eine „atmosphère d’attente“, indem sie dem Leser/Hörer Antworten versprechen, die ihm letztlich vorenthalten werden – nicht weil der Sinngehalt für eine Er-klärung zu komplex wäre, sondern weil ein solcher Sinn gar nicht existiert, es sich somit um einen „symbolisme sans signifi ance“ handelt (S. 218). Diese Verweigerung einer Aufklärung des Mysteriösen verschafft dem Rezipienten einerseits ein Lesevergnügen („la beauté et le plaisir d’une situation obscure“, S. 219) und andererseits die Erfahrung der Frustration („ré-ception déceptive où l’attente jamais comblée se transforme en leurre“, ebd.), aus der dann die Motivation für weitere Lektüren erwächst: Der Autor „ment et deçoit le lecteur, pris au piège d’un roman qui refuse de livrer des réponses“ (S. 227). Dieser „appel à la continuation“, der aus der konstitutiven Offenheit der Werke resultiert, stellt folglich das Grundprinzip des „fonc-tionnement de l’œuvre“ dar: Das Versteckspiel („jeu de cache-cache“, S. 215), das die Autoren mit der Offenbarung einer vermeintlichen ‚Wahrheit‘ treiben, stellt sich als die grundlegende Kompositionsregel der Artusliteratur heraus („trait constitutif du genre romanesque“, S. 227).

In ihrem Versuch, eine „poétique de l’énigme“ herauszuarbeiten (S. 249), untersucht Bouget zunächst die konkreten Erzählmechanismen. So hat das Rätselhafte zum einen eine „fonction dramatique“: Es dient als Ankündigung oder Rahmen einer aventure, die sich als Umsetzung des Rätsels lesen lässt (etwa die Träume Galehauts im Lancelot en prose). Zum anderen spielt das Rätsel eine strukturierende Rolle, es stellt bisweilen den ‚roten Faden‘ dar und trägt zur Ko-härenz der Werke bzw. der Romanzyklen bei. Besonders die Gralsrätsel stellen solche „facteurs d’unité et de continuité“ (S. 260) dar (in der Continuation Gerberts gar ein „squelette de la narration“, S. 266), aber auch die rätselhafte Identität des Helden kann als „énigme directrice“ dienen, etwa im Lancelot en prose oder im Bel inconnu (etliche tabellarische Übersichten ver-deutlichen dies). Le bel inconnu kann sogar als regelrechter „roman à énigme“ gelten, da er das Rätsel bereits im Titel trägt und dies von Anfang an zum Hauptthema macht (wie auch L’Âtre périlleux und Le Chevalier aux deux épées). Darüber hinaus materialisieren einige Autoren ihre ‚rätselhafte‘ Kompositionstechnik („écriture de la faille ou de la béance“, S. 268) in einem Bild, etwa in der Metapher des zerbrochenen Schwertes in den Continuations. Auf intertextueller Ebene kann ein Rätsel auch als „motif narratif“ begegnen, das im Prozess der „ré-écriture“ von einem Werk zum nächsten übernommen und dabei ‚resemantisiert‘ wird („repris, transformé et réactualisé“, S. 287), wie etwa jenes der kahlen Gralsbotin (Perlesvaus, Lancelot en prose). Vielfach werden auch Einzelaspekte zu einem Motivkomplex kombiniert, wie in der Suite du Roman de Merlin, in der die Motive Lanze/Schwert, Verletzung des Königs, verwüstete Erde, Heilung des Königs und Wiederherstellung der Herrschaft zusammengefügt werden. Bisweilen werden diese Elemente auch miteinander verschmolzen: So fi ndet sich im Chevalier aux deux épées ein blutendes Schwert.

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Auf der Seite der Rezipienten bleiben diese Kompositionstechniken nicht ohne Folgen („lectures de l’énigme“, S. 295). Wie Perceval auf seiner queste versucht der Leser vergeblich, die Leerstellen der Texte zu füllen, er partizipiert also an der Sinnsuche, die auf diese Weise ein spielerisches Moment erhält. Zugleich ist das Mysteriöse eine ästhetische Erfahrung: Wie Perceval und Gauvain vor der Schönheit des Grals verstummen, ist der Leser von der „beauté inhérent[e] à la lecture d’un propos voilé“ gefangen (S. 297). „La démarche herméneutique se double de cet aspect esthétique“ (ebd.): Der Artusroman intendiert also eine „double réception, ludique et transcendantale“ (S. 301). Auf der Ebene des Spielerisch-Ästhetischen ist auch die Fiktionalität der Romane zu erklären: Die imaginäre Welt eines Textes erscheint dabei als eine von vielen möglichen Welten, auf welche die ungelösten Rätsel verweisen. Die zahlreichen „suites“, „continuations“ und „cycles“ aktualisieren immer nur eine aus dieser Vielzahl von potentiellen Welten. So ist fi ktionale Literatur immer ‚unvollständig‘, und der Artusroman setzt mittels des Rätselhaften genau diese „incomplétude“ in Szene und macht damit seine „nature fi ctive“ explizit (S. 329). Entsprechend ‚verbietet‘ er dem Leser durch das ungelöste Rätsel, an die Illusion einer geschlossenen Welt zu glauben, was einen revolutionären Umgang mit den Konventionen des Erzählens darstellt („un cas de subversion narrative“, „une mise en cause des cadres de l’intrigue romanesque“, ebd.). Die Autoren fordern vom Leser die Bereitschaft, stets „d’autres bifurcations, d’autres focalisations, d’autres ouvertures du récit“ mitzudenken (S. 331) und sich dieser Potentialität bewusst zu sein, deren Grenzen die Romane gezielt aus-testen (S. 332). In diesem Sinne bescheinigt Bouget den Autoren eine „modernité romanesque“ (ebd.), die – trotz des theologischen Hintergrunds – die Autonomie der Kunst, „l’espace de liberté voué au rêve“ (S. 333) privilegiert.

Der vierte und letzte Teil untersucht detailliert die beiden großen „paradigmes énigmatiques“: den Gral und die Identitätssuche (S. 337–472). Beide Paradigmen werden in den Gralromanen miteinander verknüpft, so dass sie weniger „concurrentiels“ als vielmehr „complémentaires“ erscheinen und dem Artusroman damit den „plus haut degré d’énigmaticité“ verleihen (S. 473). Für Perceval, Lancelot und Galaad stellt die „quête du Graal“ zugleich eine „quête de soi“ dar (S. 474); erst in den späten Romanzyklen, im Tristan en prose und in der Post-Vulgata, fi ndet eine „nette défl ation du paradigme du Graal et un infl échissement de celui de l’identité“ statt (ebd.). Hier werden diese allenfalls noch ironisch anzitiert, um den überholten Charakter dieser Romantradition hervorzuheben und diese durch neue Erzählmuster zu überwinden: „[L]a tradition arthurienne est reprise pour mieux voler en éclats“ (S. 475). Damit endet eine langlebige ‚Poetik des Rätselhaften‘, deren Mechanismen sich offenbar erschöpft haben, so dass sie höchstens noch aus der Negation heraus neue Romanzyklen zu generieren imstande sind.

Insgesamt kann man der Arbeit von Bouget bescheinigen, dass sie ein höchst komplexes, wenn nicht ‚rätselhaftes‘ Thema systematisch und erschöpfend behandelt und dabei zugleich das Kunststück vollbringt, die gezielt verworrenen Erzählstränge des umfangreichen Textkorpus auf anschauliche, gut lesbare Art zu entwirren. Indem sie die „écriture énigmatique“ als intentionelle Erzählstrategie der Autoren entlarvt, die den Leser gezielt in Verwirrung stürzen, um ihn mit dem – nicht eingelösten – Versprechen einer Aufl ösung zur weiteren Lektüre anzuhalten und damit die Fortschreibung des Artusromans zu legitimieren, praktiziert Bouget eine erfrischend unorthodoxe Textanalyse, die in der mediävistischen Literaturwissenschaft über die Galloro-manistik hinaus sicherlich Schule machen wird. Zugleich liefert die Autorin das Werkzeug für die Auseinandersetzung mit der aktuellen Wiederbelebung des Interesses an mittelalterlichen Erzählstoffen, deren Zauber offenbar ungebrochen ist – eine Faszination, deren Funktionsme-chanismen auch dem neuzeitlichen Leser nunmehr offenkundig geworden sind.

Münster Karin BECKER

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Corin BRAGA, Les Antiutopies classiques (Lire le XVIIe siècle, 11), Paris: Classiques Garnier, 2012, 350 S.

Mit dem vorliegenden Band schließt Corin Braga ein über einen langen Zeitraum verfolgtes Forschungsprojekt vorläufi g ab, das von der Beschäftigung mit den, vom Autor so genannten, „quêtes initiatiques manquées“ ausgegangen ist und zunächst zu zwei Büchern geführt hat, die dieses „scénario archétypal“ (S. 9) in der mittelalterlichen Literatur verfolgt haben: La Quête manquée de l’Éden oriental (2004) und La Quête manquée de l’Avalon occidentale (2006). Auf der Grundlage dieser scheiternden Reisen setzte sich Braga in der Folge mit den Gründen auseinander, die zum Umschlag der Utopie in ihre negative Schwestergattung geführt haben, was wiederum in zwei Bände mündete, die ein „diptyque“ bilden (S. 7). In beiden Studien geht es ihm um die „antiutopies classiques, du XVIIe et du XVIIIe siècle, beaucoup moins connues et commentées que les plus célèbres antiutopies du XXe siècle“ (S. 305); diese tatsächlich mitunter vernachlässigten Texte stärker in den Fokus der Forschung zu rücken, ist eines der Verdienste dieser Forschungen Bragas.

Der rumänische Komparatist führt drei Hauptgründe für das Entstehen dieser „antiutopies classiques“ an: Während er im ersten Buch des Diptychons, Du paradis perdu à l’antiutopie aux XVIe–XVIIIe siècles, das 2010 in derselben Reihe bei Garnier erschienen ist, die religiösen Gründe samt der Rolle der Kirche in den Blick nahm, was sehr überzeugend ausfi el, verfolgt er im hier zu besprechenden zweiten Band zwei philosophische Strömungen, die das utopische Denken unterhöhlten: Er möchte aufzeigen, wie „le rationalisme et l’empirisme […] ont porté aux XVIIe–XVIIIe siècles des coups décisifs à l’optimisme utopique et ont déterminé l’apparition des contre-utopies classiques“ (S. 7).

Dieses interessante Unterfangen fordert allerdings bereits in diesem Eingangszitat eine grundlegende Überlegung heraus, denn man muss sich fragen, ob diese beiden philosophischen Schulen den utopischen Vorstellungen tatsächlich „des coups décisifs“ versetzt haben, wenn doch gerade das 18. Jahrhundert, das ohne Zweifel einen Höhepunkt beider Strömungen dar-stellt, gleichzeitig seit langer Zeit als „âge d’or“ der Utopie gilt, wie etwa Raymond Trousson in seiner nach wie vor maßgeblichen Utopiegeschichte festhält und andere Autoren bestätigen.1

Daher muss man den ersten Teil der zitierten Aussage wohl als etwas übertrieben werten, was aber keineswegs für den zweiten gilt, denn Braga legt schlüssig dar, wie Rationalismus und Empirismus in der Tat das Aufkommen früher anti-utopischer Werke maßgeblich befördert haben. In den beiden Teilen, in die sich seine Studie aufteilt, stellt er die zwei Strömungen und ihre Folgen für Utopien und voyages imaginaires ausführlich vor, wobei er zunächst jeweils die philosophischen Grundlagen anschaulich und umfassend referiert. Dabei gelingt es ihm immer wieder, interessante Querverbindungen zwischen den Denkrichtungen herzustellen, die sich gegen utopische Schriften wenden: Etwa dass die Philosophen des Rationalismus die Verurtei-lung der Fantasie der Kirche in gewisser Weise fortführten und so utopiekritisches Schreiben in vergleichbarer Weise anregten (S. 22): „La deuxième attaque contre l’imaginaire utopique et fantastique est venue de la nouvelle science cartésienne. […] La démarche du philosophe français [Descartes] concordait, paradoxalement, avec celle de la théologie chrétienne.“

1 Vgl. Raymond Trousson, Voyages aux pays de nulle part. Histoire littéraire de la pensée utopique, Brüssel: Éditions de l’Université de Bruxelles, 31999, S. 113: „On le dit volontiers, le XVIIIe siècle est l’âge d’or de l’utopie.“ Vgl. dazu auch Hans-Günter Funke, „Die Utopie der französischen Aufklärung: Formen, Themen und Funktionen einer literarischen Gattung“, in: ders., Reise nach Utopia. Studien zur Gattung Utopie in der französischen Literatur, Münster: LIT, 2005, S. 61, wo Funke prägnant herausstellt, wie die Utopieproduktion im 18. Jahrhundert eine Blütezeit erlebt, wie es sie erst Ende des 19. Jahrhunderts noch einmal geben sollte.

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Die profund dargelegten theoretischen Hintergründe fl ießen sodann in die umfangreichen Textanalysen ein, in denen Braga die Auswirkungen von Empirismus und Rationalismus auf die utopische Literatur anhand zahlreicher Beispiele des 17. und 18. Jahrhunderts verfolgt. Dabei ist zunächst das große Korpus der Studie hervorzuheben; dieses Korpus fi ndet sich zudem am Ende des Bandes chronologisch aufgelistet und vermittelt einen guten Überblick über Texte mit anti-utopischen Tendenzen vor 1800. Beeindruckend ist die genaue Kenntnis der Primärwerke durch Braga wie auch sein Vermögen, Verbindungen zwischen den Werken und den zuvor referierten (wissenschafts-)philosophischen Traktaten der Zeit sichtbar zu machen. Besondere Anerkennung gebührt Bragas umfassenden Kenntnissen der mittelalterlichen Literatur, die er immer wieder gewinnbringend einbringt, wodurch er manchen bisher nicht erkannten Bezug der frühneuzeitlichen Texte hervortreten lässt. Weiterhin kann man hervorheben, dass Braga durch seine Analysen einige Werke erschließt, die bisher recht unbekannt waren (wie etwa Les Fourmis des Schweizers Emerich de Vatel). Etwas schade ist nur, dass er nicht auf die vor einigen Jahren entdeckten spanischen Beispiele von Cándido María Trigueros („El mundo sin vicios“) oder Andrés Merino (Monarquía columbina. Su gobierno y causa de su ruina) eingeht, die sein Spektrum früher gegenutopischer Texte, das sich nahezu ausschließlich auf französi-sche, englische und wenige italienische Beispiele beschränkt, wertvoll ergänzen und in einen weiteren Zusammenhang hätten rücken können; dies gilt umso mehr, als zwischen diesen beiden spanischen Texten und den von Braga kommentierten Werken von Mandeville und Tiphaigne de la Roche interessante Querverbindungen bestehen.2

Schwerer als diese – in der Forschung ohnehin weit verbreitete – Vernachlässigung der spanischen (anti-)utopischen Literatur wiegt indes eine gewisse Beliebigkeit bei der Auswahl der Werke, die unter dem Oberbegriff „antiutopies“ verhandelt werden. So wird über viele Seiten hinweg Rétifs La Découverte australe par un homme volant analysiert, obwohl Braga selbst zum Ausdruck bringt, dass der Text eher der positiven Gattung zuzuschlagen ist, und sogar ausführt, dass „Rétif de la Bretonne entre […] parfaitement dans le schéma de l’utopie“ (S. 145). Ebenso kann die Einordnung von Jean Bodins La République als Anti-Utopie überra-schen: Braga bezeichnet diese Schrift, deren theoretischen Charakter er nicht in Abrede stellt, als „une antiutopie, dans le sens etymologique et polémique du terme“ (S. 52).

Gerade diese Erwähnung eines „sens etymologique et polémique“ des Terminus „antiutopie“ ist dabei bedeutsam, denn die konstatierte Beliebigkeit der Textauswahl liegt wohl in erster Linie in der unklaren Terminologie begründet, die Braga verwendet; man hätte gerne gewusst, was er denn nun genau unter einer „antiutopie“ versteht, was leider an keiner Stelle erschöpfend erläu-tert wird. Obgleich gerade auf dem Gebiet der Utopieforschung so viele verschiedene Termini existieren, die von verschiedenen Autoren verschieden ausgelegt werden, erachtet es Braga nicht als nötig, seine Verwendung der Begriffe näher zu erklären. Dieses Problem verschärft sich noch dadurch, dass er neben „antiutopies“ auch von „contre-utopies“ und „dystopies“ spricht, wobei die ersten beiden Termini für ihn Synonyme zu sein scheinen und wohl Texte meinen, die sich primär gegen positive Utopien richten (wobei dies auch die Frage aufwirft, weshalb er nur in der einen Variante den Bindestrich verwendet…), während „dystopies“ scheinbar Welten be-zeichnen, die durch die Versammlung negativer Eigenschaften der realen Welt gebildet werden. Dies deuten jedenfalls die Beschreibungen auf S. 117 an, während die Unterschiede auf S. 68 wie an vielen anderen Stellen eher wieder nivelliert scheinen, was zu einer nicht unerheblichen Verwirrung des Lesers führt. Die zusätzliche Einführung des Begriffs „hétérotopie“ (S. 157),

2 Vgl. dazu Matthias Hausmann, Die Ausbildung der Anti-Utopie im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Von Charles Nodier über Emile Souvestre und Jules Verne zu Albert Robida (1833–1882), Heidelberg: Winter, 2009, S. 90–94.

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ohne jeden Bezug auf Foucault und mit reichlich unklarer Verwendung, erhöht diese Konfusion noch, zumal es hier zum einen heißt, Sades Tamoé sei „une hétérotopie“, zum anderen aber auch „une utopie […] construite en défi et aux antipodes des utopies classiques, c’est-à-dire […] une contre-utopie, syntagme où chacun des termes conserve son sens […]“ (S. 157, kursiv im Orig.), so dass die Handhabung der Bezeichnungen weiter verschwimmt.

Diese reichlich vage Terminologie ist bedauerlich, da sie der Argumentation Bragas mitunter deutlich schadet, die andererseits so viele interessante Überlegungen bietet. So entwickelt Braga ein Schema, das helfen soll, die Klassifi kation von (Anti-)Utopien systematischer zu fassen. Er baut dabei auf Arbeiten von Carmelina Imbroscio und Martin Schäfer auf, indem er sich auf die Einstellung des Erzählers wie des Autors zur utopischen Gesellschaft konzentriert. Braga defi niert vier mögliche Fälle (S. 68):

1. L’auteur et le narrateur s’accordent pour penser que la cité décrite est une topie positi-ve; 2. L’auteur la voit comme une topie positive, mais le narrateur la ressent comme une topie négative; 3. L’auteur l’imagine comme une topie négative, alors que le narrateur est convaincu de sa positivité et de son excellence; 4. L’auteur et le narrateur s’accordent pour dire que la cité est une topie négative.

Während der erste und der vierte Typus klar der (reinen) Utopie bzw. Anti-Utopie zuzuordnen sind, interessieren Braga vor allem die beiden Fälle in den Mittelpositionen, als deren Merk-mal er jeweils den „narrateur en position dystopique“ herausstellt. Für den zweiten Typ führt er Veiras’ L’Histoire des Sévarambes als Beispiel an, für den dritten Foignys La Terre australe connue und Swifts Gulliver’s Travels. Das Auseinanderklaffen der Ansichten von Autor und Erzähler sei ein zentrales Merkmal, um in Texten einen Wechsel von Utopie zu Anti-Utopie zu erkennen, wie er im Folgenden noch genauer ausführt (S. 69 f.): „Le critère décisif pour la tendance antiutopique reste la contradiction entre auteur et personnage, la dénégation par le premier de l’attitude du second.“ Dieser Ansatz, der ein Kategorienspektrum von der reinen Utopie zur reinen Anti-Utopie ermöglichen möchte, hat auf den ersten Blick einiges für sich, indes scheinen zwei Probleme auf, die kurz kommentiert seien. Das erste betrifft die Beurtei-lung der Position des Autors, die in vielen Texten nicht einfach zu bestimmen und von der des Erzählers abzugrenzen ist. Bereits bei seinem ersten Beispiel, nämlich Veiras, räumt Braga dies auch ein, als er zugibt, wie schwer es sei, „de cerner ses vraies intentions [de Veiras]“ (S. 68), aber er refl ektiert dies nicht weiter, sondern folgt der Ansicht nicht genauer genannter „com-mentateurs“ des Werks. Auch bei späteren Analysen werden mitunter einfach Meinungen des jeweiligen Autors postuliert, ohne dies näher zu begründen, oder dessen Meinung als letztlich unentscheidbar dargestellt, was in der Analyse von Tiphaignes L’Histoire de Galligènes auftritt, wo es heißt (S. 133): „Quoiqu’il en soit de l’intention de l’auteur, euphorique ou dysphorique […].“ Damit aber wird dieses Kriterium jeden Werts beraubt, und es bleibt fraglich, ob die Aufspaltung der Meinung von Erzähler und Autor ein gangbarer Weg für die Einteilung dieser Texte sein kann, zumal gerade im Bereich der frühen (Anti-)Utopien nach wie vor nicht weni-ge Autoren unbekannt sind, so dass die Meinung des Autors bzw. deren Trennung von der des Erzählers mitunter äußerst spekulativ bleiben muss.

Zum zweiten kann man sich fragen, ob es solche Aufspaltungen in gegenläufi ge Positionen zwangsläufi g nur in Texten gibt, die auf dem Weg zur Anti-Utopie sind. Nicht zuletzt Stephen Greenblatt hat in seiner luziden Deutung der Utopia ja herausgestellt, wie gerade deren Autor in diesem Werk unter Verwendung der Erzählerfi guren zwischen self-cancellation und self-fashioning schwankt.3 Dort, in der ersten positiven Utopie der Neuzeit, wird demnach ein

3 Vgl. Stephen Greenblatt, Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare, Chicago/London: University of Chicago Press, 1980, S. 33–58 zur genauen Analyse der Utopia, wobei der stetige

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permanenter Widerstreit zwischen Erzähler und Autor ausgefochten, wie er von Braga nur als typisch für den Übergang zur Anti-Utopie angesehen wird. Daher scheint Bragas Einteilung ein interessanter Ansatz, um den Weg von Utopie zu Anti-Utopie näher zu fassen, der aber wohl noch einer weiteren Verfeinerung bedarf. Dass ein entsprechend adaptiertes Modell durchaus nützlich sein kann, weist Braga nach, indem es ihm in der Folge gelingt, dank seines Schemas einige negative Seiten in bekannten Utopien des 17. Jahrhunderts noch schärfer herauszustel-len, als dies lange erfolgt ist. Dabei verweist er insbesondere darauf, dass sich problematische Seiten einer vermeintlich perfekten Welt vor allem dadurch andeuten, dass der Erzähler nicht mehr in diese Gesellschaft integriert werden kann, was ab dem Ende des 17. Jahrhunderts in immer mehr Texten der Fall ist.

Den Endpunkt von Bragas Überlegungen bilden Werke von Jules Verne, an denen er einige Aspekte bespricht, die er zuvor anhand von Texten des 17. und 18. Jahrhunderts analysiert hatte. Dabei präsentiert Braga interessante Fluchtlinien, indem er etwa die Verbindungen von Voyage au centre de la terre und Les Indes noires zu den vorherigen utopischen Reisen ins Erdinnere aufzeigt und deren Weiterentwicklung durch Verne kommentiert, denn „[l]e voyage souterrain ne sera plus jamais le même après Jules Verne“ (S. 248). An manchen anderen Stellen lässt die Behandlung von Vernes Texten allerdings zu wünschen übrig: So wird Michel Verne nie erwähnt, obwohl Braga L’étonnante aventure de la mission Barsac, wo Michels Beteiligung sicher, und Eternel Adam, wo sie immerhin nicht auszuschließen ist, anspricht; die potentiel-len Eingriffe des Sohnes hätten zumindest bedacht werden müssen, gerade wenn man Eternel Adam als „œuvre en quelque sorte conclusive de Jules Verne“ wertet (S. 312). Dass Stahlstadt wenig später unter die „paradis artifi ciels“ (S. 312 und 313) Vernes gezählt wird, hätte wohl selbst den so selbstsicheren Stadtgründer Herrn Schultze überrascht, ist doch diese Stadt das vielleicht deutlichste Beispiel einer infernalen Stadt in Vernes Romankosmos (wenn man von der weitgehend Michel Verne zuzuschreibenden Ausgestaltung von Blackland in L’étonnante aventure de la mission Barsac absieht).

Letztlich sei am Werk Vernes noch ein abschließender Punkt diskutiert: Dessen Texte gelten Braga als paradigmatisches Beispiel für die Veränderungen der anti-utopischen Literatur im 19. Jahrhundert, weshalb er sie in der abschließenden „Conclusion“ unter dem Untertitel „Les antiutopies à l’âge moderne“ verhandelt. Hier könnte man indes einwenden, dass just die Texte, die Braga von Verne anführt, keine sonderlich guten Beispiele für moderne Anti-Utopien sind. Dafür wäre Paris au XXe siècle sicher der geeignetste Text gewesen, da dieser von Hetzel ab-gelehnte Roman in vielerlei Hinsicht die Struktur der großen Anti-Utopien des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt. Andererseits ist es vielleicht bezeichnend, dass Braga eben nicht Paris au XXe siècle als Beispiel einer ‚modernen‘ Anti-Utopie auswählt, denn er betont zwar abschließend, dass es sich bei den von ihm analysierten Texten, mithin also den von ihm so bezeichneten „antiutopies classiques“, um ein „(sous)genre bien démarqué de l’utopisme“ handele (S. 315), aber gerade die hier erwähnte eindeutige Trennlinie wird nie klar angesprochen. Diese ent-scheidende Trennlinie zwischen den gegenutopischen Texten des 17. und 18. Jahrhunderts und den voll ausgebildeten Vertretern des 20. Jahrhunderts ist in der von Braga nie angesprochenen Zeitdimension zu sehen. Die echte Ausprägung der Anti-Utopie zeichnet sich durch ihre Warn-funktion aus, wie etwa Hinrich Hudde aufgezeigt hat, der die „warnende Funktion“ als „das Ethos der Antiutopie“ bezeichnet.4 Eine solche Warnfunktion ist aber nur über eine Situierung

Widerstreit von self-fashioning und self-cancellation auf S. 57 f. noch einmal zusammenfassend verhandelt wird.

4 Hinrich Hudde, „Groteske Satiren auf utopische Gleichheit. Wilhelm Busch: ‚Eduards Traum‘ und Jerome K. Jerome: ‚The New Utopia‘“, in: arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft 16 (1981), S. 55–61, S. 59.

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der fi ktiven Welt in der Zukunft zu leisten, denn erst die zeitliche Situierung gibt dem Leser das Gefühl, die bedrohliche Gesellschaft komme zwangsläufi g auf ihn zu, was den Aufforde-rungscharakter der Anti-Utopie ermöglicht. Diese über die Zeitdimension bestehende Grenze zwischen den beiden Formen des gegenutopischen Schreibens wurde von Michael Winter schon frühzeitig herausgearbeitet:

Im „Weiterdenken“ der eigenen Gegenwart liegt allerdings der Unterschied zwischen politisch-utopischer Satire und „Anti-Utopie“. Während die politische Satire die negati-ven Gegenwartselemente ins Groteske überzeichnet und in die „negative Idealität“ eines historisch gleichzeitig gedachten, phantastischen Narrenstaates überträgt, verlängert die „Anti-Utopie“ die negativen Elemente ihrer Gegenwart in einem angenommenen nega-tiven, historischen Entwicklungsprozeß zu der unausweichlichen Katastrophe eines total schlechten Zukunftsstaates.5

Daher kann man sich fragen, ob man nicht noch stärker zwischen den von Braga hier beschrie-benen Texten und der echten Anti-Utopie, die in der Folge von Emile Souvestres Le Monde tel qu’il sera entsteht, trennen sollte. Dies könnte man auch mit dem bereits angesprochenen Punkt der Terminologie verbinden und fragen, ob generell der Terminus ‚antiutopies‘ für diese Texte schon zutreffend ist oder ob man sie nicht unter einem anderen Begriff subsumieren sollte, der sie stärker von den späteren Ausprägungen abhebt (wozu mir die von Braga vorgeschlagene Lösung, mit einem unterscheidenden Adjektiv, nämlich „antiutopies classiques“, zu arbeiten, nur begrenzt sinnvoll erscheint).

Die zitierten Ansichten Huddes und Winters sind Braga aber wohl schon allein daher entgan-gen, da er in seiner Arbeit keinen einzigen deutschsprachigen Forschungsbeitrag berücksichtigt (außer der zwar sicher bedeutenden, nicht aber gerade aktuellen Studie von Schulte-Herbrüggen aus dem Jahre 1960…). Aus der deutschen Forschung sind in den letzten Jahren einige Impulse zur Erforschung von Utopie und Anti-Utopie gekommen (neben den bereits zitierten Studien von Funke, Winter und Hudde könnte man auch an die Arbeiten von Till R. Kuhnle, Richard Saage und einigen anderen denken), aber Bragas Studie ist ein Beispiel dafür, wie wenig dies mitunter selbst von Komparatisten wahrgenommen wird.

Um mit einer etwas positiveren Note zu enden, sei zusammenfassend ausgeführt, dass Braga in seinen beiden Werken zu den Frühformen anti-utopischen Schreibens wichtige Aspekte erhellt, die zum Umschlag der positiven Utopie in ihre negative Schwestergattung geführt haben und die bisher noch nicht derartig umfassend und systematisch beschrieben worden sind. Er zeigt anhand eines großen Korpus, dass der Pessimismus, der zur Attacke auf utopische Modelle führte, „est beaucoup plus ancien que les contestations adressées aux utopies totalitaires du XIXe et du XXe siècle“ (S. 315). Gleichzeitig ist zu konstatieren, dass der erste Band des die Gründe dieser Entwicklung beschreibenden Diptychons (zu den religiösen Ursachen) der empfehlenswertere ist.

Wien Matthias HAUSMANN

5 Michael Winter, Compendium Utopiarum. Typologie und Bibliographie literarischer Utopien. Teilbd. 1: Von der Antike bis zur deutschen Frühaufklärung, Stuttgart: Metzler, 1978, S. 41. „(Utopisch-)politische Satire“ bezeichnet im Sprachgebrauch Winters Werke wie diejenigen, die Braga in seiner Studie beschreibt, während er „Anti-Utopie“ nur auf die kanonischen Texte des 20. Jahrhunderts bezieht.

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Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 124/1, 2014© Franz Steiner Verlag, Stuttgart

Sylvain DETEY/Jacques DURAND/Bernard LAKS/Chantal LYCHE (Hgg.), Les variétés du français parlé dans l’espace francophone. Ressources pour l’enseignement (L’essentiel français), Paris: Ophrys, 2010, 295 S. + DVD.

Um den bekannten Ausruf zu Malherbe etwas abzuwandeln, auch wenn sonst keine Gemein-samkeiten festzustellen sind: „Enfi n une vue d’ensemble des variantes diatopiques de la langue française parlée!“. Der Band von Sylvain Detey, Jacques Durand, Bernard Laks und Chantal Lyche füllt eine große Lücke für alle diejenigen, die nach einer übersichtlichen Darstellung und gut dokumentierten Materialien und Dokumenten für den Unterricht gesucht haben. Mit der vorliegenden Arbeit verfügen wir jetzt über eine umfangreiche, die gesamte Frankophonie erfassende Sammlung von diatopischen Varianten des gesprochenen Französisch. Das Besondere, Neue an dem Band ist die Kombination von gedrucktem Buch und auf DVD gespeicherten Da-ten und Unterlagen, wobei Ersteres den theoretischen Teil bildet, während die DVD die Daten, Sprachaufnahmen von Gesprächen mit 30 verschiedenen Sprechern und einer Dauer von jeweils gut fünf, gelegentlich auch über zehn Minuten, insgesamt 2,5 Std., und ihre Transkription sowie Informationen zu den Sprechern mit Kommentaren und Erläuterungen liefert. Entstanden ist die Arbeit im Zusammenhang mit dem Projekt PFC, Phonologie du français contemporain; für mehr Informationen über das Projekt siehe http://www.projet-pfc.net.

Der gedruckte Teil beginnt mit einer Einführung in Methodik, Grundlagen und Ziele des Werkes. Es folgen Überlegungen zur Stellung der Mündlichkeit im Varietätenraum sowie zu Varietäten und Registern und schließlich zum Umgang mit der phonetisch-phonologischen und der prosodischen Ebene, die im Mittelpunkt der Arbeit mit den Texten stehen sollen. Hier wird dann eine Auswahl der Aussprachevarianten der 94 Referenzwörter des PFC exemplarisch vor-gestellt und kann von der DVD abgehört werden. Exemplarisch werden Unterschiede aufgezeigt und diskutiert. Es folgt eine Diskussion wesentlicher Aspekte der mündlichen Syntax. Ansätze zur Kritik bieten sich hier kaum, es sei denn Überlegungen dazu, wie speziell und detailliert diese Aspekte in einem Einführungswerk behandelt werden sollten und ob hier nicht vielleicht gelegentlich zu viele Details zur Sprache kommen; es geht ja schließlich um l’essentiel, wie der Titel der Reihe sagt. In Kapitel 5 werden dann didaktische Ansätze diskutiert und dafür auch persönliche Daten der Sprecher und der Inhalt der Interviews aufgelistet, Aufgabenstellungen werden vorgeschlagen und Texte exemplarisch analysiert. Dabei zeigt sich, dass ein wichtiger Aspekt der Dokumente auch in ihrem Inhalt liegt, in dem es überwiegend um das tägliche Leben der Sprecher geht.

Im zweiten noch im Buch enthaltenen Teil geht es um Fragen der Norm und des français de référence sowie um die Frage, bei welchen Sprechern dieses Französisch zu fi nden ist. Die Sprachproben selbst, die in sechs Gruppen bzw. Kapiteln zusammengestellt sind, werden zusammenfassend vorgestellt, die Charakteristika der betreffenden Gebiete bzw. der Sprecher herausgearbeitet: Éléments de synthèse. Die Transkription der Gesprächstexte und genauere Informationen zu den Sprechern und den Gesprächen befi nden sich neben den Sprachaufnah-men dann auf der DVD. Es beginnt mit La France hexagonale septendrionale, gefolgt von der méridionale, dann La Belgique und La Suisse, und schließlich L’Afrique et les DROM und L’Amérique du Nord. Die Sprachaufnahmen sind von hoher Qualität und dazu vom Inhalt von Interesse und mit Bezug zu ihrem Ursprung.

Erwähnt seien schließlich noch die Bibliographien, zunächst spezieller ausgerichtet am Ende eines jeden Kapitels und dann eine sechsseitige Bibliographie générale am Schluss des Werkes, auf die noch ein Glossaire und der Index folgen.

Natürlich könnte man es auch ganz anders machen, aber hier liegt jetzt endlich ein Werk vor, das kompakt einen Überblick über die diatopischen Varietäten des français parlé bietet, wobei

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56 Besprechungen

Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 124/1, 2014© Franz Steiner Verlag, Stuttgart

bei der Auswahl der Sprecher auch die diastratische Ebene berücksichtigt wurde. Wir verfügen damit für Seminare zur gesprochenen (französischen) Sprache, deren konkrete Ausrichtung dann sehr vielfältig sein kann, über eine wertvolle Grundlage. Das Buch und die begleitende DVD sollten in keiner Seminarbibliothek – und nicht nur dort – fehlen.

Die Erfahrungen im Umgang mit der DVD waren weniger erfreulich, die erste funktionierte nur begrenzt, um sich schließlich als beschädigt zu erweisen. Der Verlag reagierte auf meine Anfrage nicht, erst über die ZfSL kam Ersatz. Offensichtlich war ich nicht der einzige Betrof-fene, denn einer der Mitarbeiter berichtete mir von ähnlichen Erfahrungen mit seiner DVD. Die neue DVD funktioniert jetzt, braucht aber für den Start weiterhin allzu lange, bei einer erneuten Benutzung sind weiterhin regelmäßig zwei von drei Ports belegt, sodass nur ein Neustart des PC hilft (vielleicht liegt es ja an meinem PC). Mit dem auf der DVD befi ndlichen Firefox portable scheint das Problem lösbar zu sein, aber den muss ich eigens von der DVD starten. Für größere Benutzerfreundlichkeit bleibt also einiges zu tun, denn man möchte ja einen möglichst raschen Zugriff auf die Dokumente haben, gerade auch bei der Verwendung im Unterricht.

Riethnordhausen Peter STEIN

Joëlle DUCOS/Olivier SOUTET, L’ancien et le moyen français (Que sais-je?, 3935), Paris: Presses Universitaires de France, 2012, 127 S.

Es ist in der Que sais-je?-Reihe üblich, dass alte Darstellungen nach einem gewissen Zeit-raum gegen neue ausgetauscht werden. So folgen in unserem Fall auf Guiraud 1963 und Zink 1987 nun Ducos/Soutet (zu den beiden Vorgängerveröffentlichungen vgl. die Rezension von P. Wunderli in RF 103, 1991, 270–274). Bei der vorliegenden Publikation ist neu, dass der bisher auf zwei Bändchen verteilte Stoff auf ein einziges komprimiert wird und dass sich zwei Autoren die Aufgabe teilen.

Die Einleitung (3–8) lässt sich nicht auf explizite Äußerungen zum Thema ,Neukonzeption‘ ein, sondern befasst sich mit der zeitlichen und räumlichen Begrenzung des Gegenstandes – nun abweichend vom Titel als français médiéval zusammengefasst. Wenn auch als terminus a quo die Straßburger Eide genannt werden, so hält sich die weitere Darstellung nicht streng an diese Grenzlinie, sondern schließt auch – vor allem im Phonetikkapitel – die vorausgegangene Entwicklung in die Betrachtung ein: „Du latin au protofrançais“ (15–19). Ähnliches gilt für die Endbegrenzung fi n du XVe siècle. Auch hier werden Ereignisse, die jenseits der Jahrhun-dertwende liegen, wie z. B. der Erlass von Villers-Cotterêts, in die Darstellung aufgenommen. Das Spannungsverhältnis von Synchronie und Diachronie ist als Konfl ikt virulent: Zunächst ist zwar von état und tranche chronologique die Rede, dann schiebt sich jedoch immer mehr die Beschreibung von évolutions in den Vordergrund, was beim Umfang der zu behandelnden Epoche nicht sonderlich überraschend ist.

Auf die Introduction folgen vier Kapitel, von denen das erste mit seinem Titel „De la va-riété des dialectes à la stabilisation de la langue“ nicht ohne Weiteres zu erkennen gibt, dass neben der Beschreibung der dialektalen Vielfalt vor allem die großen Linien der phonetischen Entwicklung skizziert werden. Mit dem Lautwandel ist die Frage der Ausgliederung eng ver-bunden; in der Debatte geben die Autoren einer sprachimmanenten Argumentation, wie sie von G. Straka vertreten wurde, den Vorzug gegenüber Substrat- und Superstraterklärungen. Bei der Behandlung der altfranzösischen Dialekte wird besonders auf die jüngere francien-Kontroverse eingegangen und von Lodges Spoken Koiné Hypothesis berichtet.

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Wie schon bei der Periodisierungsfrage angeklungen, kommt neben der linguistique interne auch die linguistique externe zum Zuge. Sie ist vor allem im zweiten Kapitel vertreten, das den Status- und Funktionswandel des Französischen zum Thema hat. Die Autoren beschreiben in drei Etappen untergliedert, wie die einzelnen schriftsprachlichen Domänen von der Vernaku-larsprache erobert werden (35–59). Im Rahmen dieses sprachsoziologischen Kapitels handelt ein kurzer Abschnitt von der französischen Graphie. Der code graphique wird trotz seiner auf-fälligen und erklärungsbedürftigen Verselbstständigung nur als wenig Beachtung verdienendes Randphänomen angesehen.

Den Schwerpunkt bildet das dritte, den évolutions morphosyntaxiques gewidmete Kapitel; es ist nicht nur das umfangreichste, sondern auch das detaillierteste und dichteste (60–106). Mit einer streng gegliederten Beschreibung der tief greifenden Umstrukturierungen im Bereich der Morphosyntax bietet sich für O. Soutet die Gelegenheit, seine besondere Vertrautheit mit der Materie brillant unter Beweis zu stellen. Hier gelingt es der Darstellung am besten, der ständigen Gefahr eines bloßen Aufzählens und Katalogisierens zu entgehen. Die verwirrende Faktenfülle wird in die großen Entwicklungslinien eines Paradigma- und Alternanzabbaus sowie eines Ausbaus der Analytisierungsverfahren eingeordnet. Über diesen „évolutions lourdes“ kommen die auch vorhandenen, jedoch gerne übersehenen gegenläufi gen Phänomene wie z. B. die „ré-fection des adjectifs épicènes“ nicht zu kurz. Den in jüngerer Zeit besonders interessierenden Grammatikalisierungsphänomenen wird im Zusammenhang mit der Bildung von Adverbien und Präpositionen ebenfalls Beachtung geschenkt. Das Kapitel endet mit einem Ausblick zum Thema Wortstellung und berichtet unter Bezugnahme auf C. Marchello-Nizia von sich abzeichnenden typologischen Veränderungen.

Mit lediglich 17 Seiten wird der Lexik (Kapitel IV) der geringste Raum zugestanden, was eine äußerste Reduzierung des Beispielmaterials erforderlich macht. Am Anfang steht eine Vor-stellung der repräsentativen Wörterbücher des mittelalterlichen Französisch (glaubt man einem ärgerlichen Druckfehler, so erfasst der Godefroy nur den Zeitraum bis zum 11. Jahrhundert). Weitere Themen sind die historische Zusammensetzung des Wortschatzes, eine Übersicht über die hauptsächlich genutzten Möglichkeiten der Wortschatzerweiterung sowie einige Bemerkun-gen zur lexikalischen Diversität (Fachwortschätze, Diastratik).

Das Bändchen schließt, ohne dass die Darstellung mit einer resümierenden Konklusion ab-gerundet wird. Es folgt jedoch noch eine kompakte Bibliographie, in der aktuelle Handbücher genannt werden, die als Grundlage gedient haben und sich auch für eine vertiefende Lektüre eignen. Offen bleibt, an welchen Leserkreis sich der summarische Überblick wendet, der sich in seiner gedrängten Form mit zahlreichen Andeutungen begnügen muss und gleichzeitig gewisse linguistische Vorkenntnisse voraussetzt. Die Autoren haben die Schwierigkeiten der Auswahl und Präsentation gesehen und äußern ihre Skrupel bei verschiedenen Gelegenheiten (u. a. 60 oder 103).

Berlin Klaus HUNNIUS

Claudia ECKHARDT-KAMPS, Das Implizite im Text. Untersuchungen zur Kriegsberichterstattung im Irakkonfl ikt 2003 in der französischen Tageszeitung Le Monde (Bonner Romanistische Arbeiten, 104), Frankfurt am Main u. a.: Lang, 2011, 184 S.

Dass jede sprachliche Äußerung in ihrer jeweils der Situation angepassten Realisationsform bestimmte Informationen nicht nur explizit und direkt, sondern vor allem auch implizit und

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indirekt vermittelt, gehört zum Grundwissen alltäglichen Sprachhandelns und bildet das Fun-dament jeder Kommunikation. Die Erkenntnis, dass sprachliche Zeichen grundsätzlich vage Bedeutungskonturen haben, die erst im jeweiligen Kontext je nach Intention der Kommunika-tionspartner spezifi sch gefüllt werden, führt die Linguistik von der Semantik in die Pragmatik, wodurch ab den 70er Jahren völlig neue, stets auf den Sprachgebrauch orientierte Sichtweisen in den Vordergrund treten und mit zahlreichen, meist interdisziplinär abgeleiteten Theorien erklärt werden. Die Tatsache, dass zwischen Sagen und Meinen oft große Diskrepanzen bestehen, hat aber nicht nur linguistische, sondern vor allem angewandte Relevanz und wird soziokulturell, sozialpsychologisch, politisch, pädagogisch u. ä. unter den verschiedensten Gesichtspunkten geltend gemacht: Was zwischen den Wörtern vermittelt wird oder ‚zwischen den Zeilen‘ steht, wird als die eigentliche Handlungskraft der symbolischen Äußerungen angesehen und im Spannungsfeld zwischen sozialer Schonung und Verschleierung zum einen und gezielter Meinungsbildung oder gar Manipulation zum anderen immer wieder neu nutzbar gemacht. Die Aufmerksamkeit gilt dabei nicht mehr den ‚greifbaren‘ sprachlichen Formen selbst, sondern den ‚Mitgemeintes‘ auslösenden Mechanismen und dem damit verbundenen Wirkungspotenzial im Gefüge verbalen Alltagshandelns. Mit dem zunehmenden Interesse für die omnipräsente und sich ständig differenzierende Medientextualität bekommt die Rolle impliziter oder indirekter Aussagen gesellschaftspolitische und marktrelevante Bedeutung, die Aufdeckung spezifi scher Formen der Produktion und Rezeption des Impliziten ist aber noch kaum zentrales Thema einer sich mittlerweile breit etablierenden Medienlinguistik.

Diese Lücke versucht die vorliegende Arbeit von Claudia Eckhardt-Kamps (fortan CEK) aufzugreifen. Dass sie nicht geschlossen oder wenigstens systematisch überzeugend abgehandelt werden kann, liegt an der Schwierigkeit und Komplexität eines solchen Unterfangens: Zwar rührt die Auseinandersetzung mit dem „Impliziten im Text“ an das – philosophische – Wesen von Sprache, dieses ist aber immer nur außersprachlich bedingt und als solches spezifi sch zu klären. Die Fragestellung kann daher nicht rein linguistisch gelöst und verallgemeinert werden; sie stellt demnach auch keine linguistische Thematik im eigentlichen Sinne dar. Es nimmt daher nicht wunder, dass sich die Arbeit in einer gewissen Widersprüchlichkeit verfängt und meines Erachtens vergeblich versucht wird, aus rein kontextinhärenten Erkenntnissen allgemein sys-tematische Regularitäten oder Prinzipien für sprachliche Gangarten des Impliziten abzuleiten. Dennoch setzt CEK mit diesem Versuch, sprachliche Mittel in ihrer Funktion als „Trojanisches Pferd“ (S. 10) zu identifi zieren, einen wichtigen Baustein im Schnittpunkt zwischen Semantik und Pragmatik, der im Folgenden näher vorgestellt und gewürdigt werden soll.

Zumal die gegebene fuzziness der Fragestellung analytisch nur sehr begrenzt behandelt werden kann, schränkt sich die Autorin sowohl thematisch als auch funktional und damit textspezifi sch stark ein auf „die Kriegsberichterstattung im Irak-Konfl ikt 2003 in der franzö-sischen Tageszeitung Le Monde“. Sie greift damit a priori einen problematischen Bereich der öffentlichen Medienkommunikation auf, in dem zwei Positionen – die amerikanische Pro- und die europäische Contra-Kriegsposition (mit Frankreich als Wortführer) – aufeinanderprallen und demnach gerade die implizite Informationsvermittlung und -verwertung eine wichtige Rolle spielt bei der scheinbaren Ausbalancierung von Divergenzen als Spiegel nicht nur politischer Tendenzen, sondern vor allem zweier gegensätzlicher Welten. Wie in den Vorbemerkungen (Kapitel 1, 9–14) ausgeführt wird, verleitet die Vorliebe und Häufi gkeit von Euphemismen in der Kriegsberichterstattung – sie wurde von CEK in ihrer Qualifi kationsschrift festgestellt – zur Ausweitung der Fragestellung auf weitere sprachliche Katalysatoren des Impliziten. Diese Zielsetzung wird daher theoretisch neu untermauert (Kapitel 2 und 3, 15–68), führt zur Erstel-lung eines Untersuchungsdesigns bzw. eines anwendbaren Analyseinstrumentariums (Kapitel 4,

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69–78) und wird schließlich analytisch auf ein kleines Korpus aus drei verschiedenen Textsorten (anhand je zweier Texte) angewandt (Kapitel 5, 79–157).

Die erweiterte Aufgabenstellung, sprachlichen Konstruktionen nachzuspüren, die Impli-zitheitscharakter haben und diesen im Text auch strategisch geltend machen, führt die Autorin automatisch von der Semantik in die Pragmatik. Demnach gibt diese das Hauptgerüst zur Erstellung einer Theorie des Impliziten in der Sprache ab, wobei die wichtigsten Ansätze – so der Eindruck beim Lesen der Arbeit – in einem ersten Teil in Form von grundlegendem Hand-buchwissen aufgearbeitet bzw. deren zentrale Erkenntnisse auf die analytische Brauchbarkeit hin schrittweise abgeklopft werden: Klarerweise kommt dabei der Sprechakttheorie und den Konzepten der Performativität, der Illokution und ihren Modifi kationssignalen sowie der Indi-rektheit ein besonderes Augenmerk zu. Ihre Verdienste führen die pragmatische Linguistik in zwei verschiedene theoretische Richtungen, der kognitiven Pragmatik auf der Basis von Grice (mit dem Konzept der Implikatur) und Sperber/Wilson (mit dem Konzept der Relevanz) einer-seits, und der integrierten Pragmatik französischer Prägung (Ducrot, Anscombre, Moeschler/Reboul u. a. mit den spezifi schen Auslegungen von argumentation und polyphonie) andererseits. Diese hier gut beleuchtete Differenzierung ermöglicht die Erfassung des Impliziten generell als ökonomisches Inferenzverfahren, das sich aus situationsgesteuerter Relevanzsetzung einerseits und sprachgeleiteten Hinweisen sowie bekannten Diskursstrukturen andererseits speisen kann. Außerhalb der Tatsache, dass beide Pragmatik-Richtungen hier sehr gut anhand der wichtigs-ten Erkenntnisse aufgearbeitet werden und daher auch für Laien verständliche Einblicke in die schwierigen Theorienkonstrukte im Spannungsverhältnis zwischen sprachlichen und au-ßersprachlichen Phänomenen anbieten, kommt aus den – oft sehr redundant gehaltenen, aber dadurch gut lesbaren – Ausführungen wenig Neues oder gar konkret analytisch Umsetzbares für eine allgemeine Defi nition des Impliziten heraus: Das Fazit liegt nach wie vor in der Nicht-Wörtlichkeit beabsichtigter Zeichensetzung, die allen Texten auf allen Sprachebenen immanent sein kann, in den jeweiligen Situationen aber unbedingt ersichtlich und damit für die Rezipienten entsprechend deutbar sein muss. Nachdem solche Verfahren vor allem in der Sprache der Politik und ihrer Vertextungsformen in der Presse vermutet werden, widmet sich das 3. Kapitel mit dem Titel „Zeitungssprache – Politikersprache“ diesen beiden Bereichen in kursorischer und aus der Sicht des heutigen – medienlinguistischen – Forschungsstands in banaler Weise. Dabei überwiegt wieder der klassische semantische Blick auf die wertenden Schlagwörter und deren Manipulationspotenzial. Unter „Zeitungssprache“ wird unrefl ektiert die von Lüger in den späten 70ern präsentierte, auf den dominierenden Sprechhandlungsmustern beruhende, aber mittlerweile längst überholte Textsortentypologie subsumiert, aus der schließlich Berichte, Leitartikel und Interviews mit dem Ziel ausdifferenziert werden, möglichst viele und möglichst unterschiedliche Verfahren impliziten Sprachgebrauchs ‚dingfest‘ machen zu können.

Das theoretisch breit vorbereitete Vorhaben klafft mit der empirischen Realität auseinander: Nicht einzelne Sprachformen vermitteln Implizites, sondern deren komplexe Verbindungen untereinander in Vernetzung mit Kontext und Subjekten, deren Vorwissen, Gemeinsamkeiten und emotionaler Beteiligung. So sind die aus der Theorie abgeleiteten Untersuchungskategorien eigentlich enttäuschend, umfassen sie doch inklusive Konzepte, die da aufgezählt werden als zum einen die erwartbaren, weil altbekannten lexikalisch-semantischen Einheiten wie Schlag-wörter, Euphemismen, Metaphern und Redewendungen (Kapitel 4.2., 71–77), die in Form von Isotopieketten auch satz- und textsemantisch wirksam sein können (wie, wird allerdings nicht vorab geklärt und erst aus der Analyse anhand einer ganz anderen Wortklasse, nämlich der synsemantischen Funktionswörter, ersichtlich. Hier müsste dringend der gut entwickelte For-schungsbereich der Konnektoren und Partikel eingearbeitet werden, der z. B. auch bei Ducrot eine wichtige Rolle spielt!); zum anderen geht es um das pragmatische Konzept der Präsup-

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positionen als den stets mitgemeinten (und nie kontroversen) Voraussetzungen, die mit jedem sprachlichen Ausdruck – ganz egal welcher Natur – unterschwellig mittransportiert werden.

Ein derartig unkonturiertes Analyseinstrumentarium zwingt geradezu zur minutiösen Über-prüfung in der Textrealität und kann dort nur anhand einzelner ausgewählter Textbeispiele genauer nachvollzogen werden: Kapitel 5 besteht daher aus der schrittweisen, hermeneutisch gehaltenen Analyse von 1. zwei Leitartikeln, 2. zwei Berichten bzw. Nachrichtenformaten (eine Vermischung der Begriffe ist aus der Sicht der Medienlinguistik problematisch), und 3. zwei Interviews, die in Le Monde zur Situation des Irak-Kriegs von 2003 veröffentlicht wurden. Dabei werden die Texte einer Translatierung gleich in alle Ebenen zerlegt, die Struktur des Impliziten grafi sch nachskizziert, dann im Zusammenspiel aller Textebenen und der Rekonstruktion des Vorwissens Schritt für Schritt herausgeschält und schließlich in Bezug zur Textsorte funktio-nal (im Sinne der Hermeneutik eher traditionell ‚intuitiv‘) interpretiert. Es bestätigt sich, dass Implizites grundsätzlich durch die verschiedensten Sprachmittel evoziert werden kann. Viele Formen sind allerdings dabei, die keineswegs vorab als zentrale Instrumentarien aufbereitet worden sind; andere wiederum sind dabei, die in der traditionellen Lexikologie und Grammatik viel zu wenig eine Rolle spielen oder in der Textlinguistik und Textpragmatik schon vielfach behandelt worden waren und so neue Akzente setzen könnten. CEK geht darauf nur punktuell ein. Sie fasst die Heterogenität der Formen und Funktionen in einem 6. Schlusskapitel (161–169) zu drei Gruppen zusammen: den wortimmanent, den satzimmanent und den satzübergreifend evozierten impliziten Informationen, womit wir eigentlich vor keiner neuen Erkenntnis stehen. Damit schafft die Autorin schwammig defi nierte Kategorien (161), die ihr aber eine Quantifi -zierung ermöglichen und in den jeweiligen Textsorten prozentuell nachgewiesen werden. Es entstehen drei Tabellen mit Messergebnissen, die den jeweiligen Textintentionen entsprechend eine Zunahme des Impliziten vermerken und zwar in direkter Proportionalität zur Subjekti-vität bzw. zur gewollten Meinungsbildung (d. h. Interviews wären am reichsten an impliziten Sprachmitteln). Dieses durchaus einsichtige Ergebnis entbehrt jedoch jeglicher Wertigkeiten, Relationen etwa zur Textlänge etc. sowie vergleichbaren Forschungsergebnissen. Es bleibt auch fraglich, ob mit dieser sehr schmalen Analyse und dem begrenzten Datenmaterial tatsächlich Regularitäten impliziten Sprachgebrauchs abgeleitet worden sind, die zu einer angemessenen Interpretation der gegebenen Informationen und damit „zum besseren Verständnis von Zeitungs-artikeln“ (so 167) führen. Was man schmerzlich vermisst, sind intermediale, interkulturelle und intertextuelle Vergleiche sowie Bezüge zur journalistischen Kultur Frankreichs im Gegensatz etwa zu anderen etc.

Das Verdienst der Arbeit liegt demnach lediglich in der Bewusstmachung einer zwar allge-genwärtigen, aber bisher wenig bemerkten, weil empirisch schwer greifbaren Thematik, die weit über die Linguistik hinausführt. Das angefügte Literaturverzeichnis zeigt eine Ansammlung von Überblicks- und Grundlagenwerken aus Journalistik und (vorrangig deutschsprachiger) Sprach- und Textwissenschaft, aus denen zwar erste theoretische Bausteine zur möglichen Charakteristik des Impliziten herausgefi ltert werden können, die aber bis auf wenige Ausnahmen (man denke dabei an das hier m. E. viel zu wenig kritisch referierte Werk von Kerbrat-Orecchioni L’implicite von 1986) mit dem eigentlichen Thema wenig zu tun haben – Beweis genug, dass man die Arbeit von CEK lediglich als Anstoß verstehen muss für ein noch weitgehend unbestelltes, zukunfts-trächtiges Forschungsfeld, um das sich vor allem die Medienlinguistik weiter bemühen muss, und das in synchroner, diachroner und komparatistischer Hinsicht.

Salzburg Gudrun HELD

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Susanne FRIEDE/Dorothea KULLMANN (Hgg.), Das Potenzial des Epos. Die altfranzösische Chanson de geste im europäischen Kontext (Germanisch-Romanische Monatsschrift, 44), Heidelberg: Winter, 2012, VII + 458 S.

Der Band ist das Ergebnis eines 2008 in Göttingen veranstalteten Kolloquiums. Nicht nur der Titel Das Potenzial des Epos. Die altfranzösische Chanson de geste im europäischen Kon-text, sondern auch der Umfang von 19 Aufsätzen (davon drei in französischer Sprache) machen deutlich, dass es sich hierbei um ein Projekt mit hohem Anspruch handelt. Diesen formulieren die Herausgeberinnen Susanne Friede (Göttingen) und Dorothea Kullmann (Toronto) – nachdem sie die bisherige Forschung zur europäischen Rezeption der Chansons de geste als mangelhaft charakterisiert haben – auch explizit in ihrer Einleitung: „Eine Absicht des vorliegenden Bandes ist daher, zu einem nuancierten und vertieften Verständnis der Gattung der altfranzösischen Chanson de geste selbst beizutragen“ (S. 2 f.).

Als Fundament ihrer Herangehensweise wählen sie das Konzept des Transfers und begreifen die Gattung der Chanson de geste vor allem als Ergebnis und Motor vielfältiger Transferprozesse. Dabei eröffnen Friede und Kullmann ausgehend von den altfranzösischen Chansons de geste vier zentrale Interessengebiete. Sie fragen erstens nach Transferphänomenen und Reihenbildun-gen innerhalb des altfranzösischen Ausgangskanons selbst. Zweitens streben sie mithilfe einer breiten komparatistischen Herangehensweise an, Transfers nicht nur als bilaterale, sondern als multilaterale Veränderungsprozesse zu untersuchen. Neben altfranzösischen und mittelhoch-deutschen Werken stehen mittellateinische, italienische, niederländische und altnordische Texte im Fokus der einzelnen Aufsätze. Drittens wird die Frage nach der Art und Weise gestellt, wie Transferprozesse verlaufen. Hier soll vor allem die Rolle von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in den Blick genommen werden. Viertens machen Friede und Kullmann darauf aufmerksam, dass auch die jeweils sich verändernden (religiösen, politischen und sozialen) Funktionalisierungen der einzelnen Bearbeitungen bei der Analyse von Transferprozessen zu berücksichtigen sind.

Nicht nach diesen Interessengebieten, die eher als wiederkehrende Fragestellungen punk-tuell die einzelnen Aufsätze verbinden, sondern einer anderen Systematik folgend ist der Band in vier unterschiedlich große Teile gegliedert. Das erste Kapitel, Entwicklungslinien von altfranzösischer Chanson de geste und mittelhochdeutscher Epik, versammelt drei Aufsätze mit verschiedenen Herangehensweisen. François Suard beschäftigt sich in seinem Beitrag „La chanson de geste: raisons d’un succès“ mit den Ursachen für den Erfolg der Chansons de geste in Europa, die er vor allem in der Grundkonstitution der Gattung sieht. Ulrich Mölk schlägt hingegen in seinen „Remarques philologiques sur les gestes autoréférentiels du narrateur dans les premières chansons de geste“ vor, autoreferentielle Bemerkungen von Autoren in den frühesten altfranzösischen Chansons de geste zu klassifi zieren. Einen ersten markanten Unterschied zu ähnlichen Stellen in der Ilias, dem Beowulf und dem Hildebrandslied sieht er darin, dass sich die altfranzösischen Autoren auf schriftliche und nicht auf mündliche Quellen berufen. Bernd Bastert kommt in seinem Beitrag „Von der Hagiographisierung zur Literarisierung des Epi-schen – Adaptionsformen der französischen Heldenepik in Deutschland“ zu dem Schluss, dass deutsche Bearbeiter altfranzösischer Chansons de geste diese nicht als Heldenepik verarbeiten, sondern hagiographisch aufbereiten oder als Erzählstoff verwenden.

Im Abschnitt Stoffe und Motive: Genese und Transfer sind Beiträge vereint, die das Verhältnis einzelner mittelhochdeutscher Texte zur altfranzösischen Tradition eruieren (Alois Wolf: „Zur Frage nach dem mittelalterlich-volkssprachlichen Epos: Chansons de geste und Nibelungenlied“) und solche, die sich um die Transformation einzelner Figuren bemühen (Mathias Herweg: „‚Sô wurdet ir nie Karels sun.‘ Metamorphosen eines Herrscherbildes“; Volker Caumanns: „Die Historia Turpini – Wie Karl und Roland die Skriptorien eroberten“) sowie ein Beitrag, der die

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Veränderung eines bestimmten Motivs untersucht (Nils Borgmann: „Der Kriegsheld im Kloster. Das Motiv des Moniage und die romanisch-germanischen Literaturbeziehungen auf dem Gebiet der Heldenepik“).

Das Kapitel Transfer und Funktion ist wesentlich größer als die beiden vorhergehenden und erlaubt in seiner Anlage eine breitere Themenvielfalt. Untersucht werden hier die Bedeutung von Schriftlichkeit im Transferprozess vom Altfranzösischen zum Mittelhochdeutschen (Jürgen Wolf: „Die Wahrheit der Schrift in Rolandslied und Willehalm. Schrift-zentrierte Überlegungen zur deutschen Chanson de geste-Rezeption“), die Darstellung einer fremden Religion (Ricarda Bauschke: „Der Umgang mit dem Islam als Verfahren christlicher Sinnstiftung in Chanson de Roland/Rolandslied und Aliscans/Willehalm“), nationale Stereotypen (Georg Jostkleigrewe: „Dekadente Schwächlinge und karolingische Helden? Zu den Problemen einer politischen Interpretation mittelalterlicher Literatur: Das ‚Französische‘ im deutschen Wilhelmszyklus“) sowie Formen der Erinnerung (Andreas Hammer: „Erinnerung und memoria in der Chanson de Roland und im Karl der Große von dem Stricker“). Den Abschluss des Kapitels bildet ein Beitrag, der sich mit der Bedeutung von Bildern bei der Übertragung eines altfranzösischen Textes in eine spezifi sche politische Situation beschäftigt (Maria Theisen: „Zwischen den Zei-len: Illumination. Überlegungen zum Bildprogramm des Willehalm-Kodex für König Wenzel IV. [Wien, ÖNB, S.n. 2643]“).

Der letzte und mit sieben Aufsätzen weitaus umfangreichste Abschnitt trägt den Titel Ach-sen des Transfers und löst die in der Einleitung angekündigte multilaterale Perspektive auf Transferprozesse ein. So widmet sich Hans van Dijk in seinem Beitrag „Die Chanson de geste im Niederländischen zwischen dem Französischen und dem Deutschen“ dem Niederländischen als Transferraum. Silke Winst („Mittelalterliche Logiken des Erzählens in der altfranzösischen Chanson de geste Élie de Saint-Gilles und in der nordischen Adaptation Elis saga ok Rósamun-du“) und Hendrikje Hartung („‚Ámundi er jarl nefndr. […] Annarr son hans hét Rögnvaldr.‘ Les refl ets du Renaut de Montauban dans la rédaction A de la Mágus saga jarls“) untersuchen das Verhältnis von altfranzösischen Chansons de geste und altnordischen Bearbeitungen, und Ruth von Bernuth („Zwischen Kreuzrittern und Sarazenen. Der jüdische Held in Elia Levitas Bovo d’Antona“) interpretiert einen jiddischen Text mit toskanischer Vorlage. Katharina Philipowski legt ihrem Beitrag „Zauberei, Magie, Teufelsbeschwörung und ihre legendarische Überformung im Malagis und Reinolt von Montalban“ altfranzösische, niederländische und deutsche Text-fassungen zugrunde. Regine Reck („Zwischen Iles y eneideu ‚Erbauung der Seelen‘ und peth gorwac ‚eitler Sache‘: Die matière de France in Wales“) erforscht die Rezeption der Chansons de geste in Wales. Tobias Leuker („Le Roi de Sezile. Adam la Halle und die Tradition der Chan-son de geste“) eröffnet eine Perspektive darauf, wie die Gattung in Unteritalien weitergeführt wird, um dort die Herrschaft des Hauses von Anjou zu stärken.

Ein Index der Autoren und Werke sowie ein Sachindex runden den Sammelband ab und erleichtern die Orientierung in der vielfältigen und heterogenen Aufsatzsammlung. In dieser Vielfältigkeit und Heterogenität liegen zugleich die Stärke und die Schwäche des Buches. So ist es zu begrüßen, dass viele Forscherinnen und Forscher sich hier zu einem Diskussionsforum zusammengefunden haben. Ebenso positiv ist die Vielfalt der Themen und aufgeworfenen Fragen zu bewerten. Doch führt gerade diese Offenheit auch dazu, dass dem Sammelband zuweilen der innere Zusammenhang zu fehlen scheint, was auch daran liegen könnte, dass das anfangs postulierte Ziel, die Gattung zu durchdringen, doch zu hoch gesteckt ist. So relativieren Friede und Kullmann selbst den zunächst erhobenen Anspruch, indem sie feststellen:

Dieser Versuch, zumindest im Ansatz die großen Linien einer europäischen Geschichte der altfranzösischen Chanson de geste zu skizzieren, wird, so hoffen wir, das erstaunliche Potenzial deutlich machen, das diese Gattung im Hinblick auf Ausdifferenzierung, Kom-

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plexisierung und Neuinterpretation auszeichnet und das in den extensiven Transfer- und Vermittlungsprozessen, deren Gegenstand und Auslöser sie ist, zum Ausdruck kommt. (S. 16)

Wären in der Einleitung die Leitbegriffe theoretisch präzisiert worden, hätte dies dem Eindruck der Beliebigkeit vielleicht entgegenwirken können. Dabei wären folgende Fragen zu klären ge-wesen: Warum wird der Begriff des Transfers gewählt? Was zeichnet ihn gegenüber ähnlichen Konzepten wie Transformation (vgl. z. B. die Überlegungen am SFB Transformationen der Antike ), Adaption oder Rezeption aus? Worin liegt das theoretische und analytische Potenzial des Begriffs?

Die einzelnen Beiträge antworten diesem theoretischen Defi zit auf unterschiedliche Weise. Während etwa Suard davon ausgeht, dass Transfer in der Gattung selbst angelegt ist – deren fl exible Form, das reiche inhaltliche Entwicklungspotenzial sowie das epische Wertesystem stellten gerade die vielfältigen Identifi kations- und Adaptionsmöglichkeiten bereit –, geht Bastert von Transferprozessen als Verlustgeschichten aus: Das eigentlich Heldenepische der Chansons de geste gehe bei den deutschen Bearbeitern verloren (vgl. S. 71).

Am fruchtbarsten erscheinen solche Beiträge, die Transferprozesse als Funktionalisierun-gen von Texten in bestimmten Situationen in den Blick nehmen, denn sie fragen nicht, was die Gattung ‚im Kern‘ ausmacht, sondern verdeutlichen anhand konkreter Analysen, von welchen Bedingungen und Interessen Transfers geleitet sein können. Insgesamt stellt der Band einen wichtigen Beitrag zu einer sich als komparatistisch verstehenden Mediävistik dar.

Berlin Evamaria FREIENHOFER

Henri GODARD/Jean-Louis JEANNELLE (Hgg.), Modernité du Miroir des limbes. Un autre Malraux (Études de littérature des XXe et XXIe siècles, 18), Paris: Classiques Garnier, 2011, 395 S.

Es gibt nicht viele Themenfelder, die in der Forschung so stark beackert werden wie der Komplex Autobiographie, Autofi ktion, Selbst- und Identitätskonstruktion in und durch Literatur. Ein Autor, der bislang kaum von diesem Boom profi tiert hat, ist André Malraux. Malraux, noch zu Lebzeiten in die Bibliothèque de la Pléiade aufgenommen und 1996 durch die Überführung seiner sterblichen Überreste ins Pantheon auch politisch endgültig kanonisiert, scheint generell kein übermäßig populärer Forschungsgegenstand zu sein; gerade in der deutschen Romanistik ist in den vergangenen zehn Jahren nur sehr wenig zu Malraux veröffentlicht worden.1 – Gäbe es mithin so etwas wie einen ‚Fluch der Pléiade zu Lebzeiten‘? Als ein anderes prominentes Opfer wäre hier zum Beispiel Henry de Montherlant zu nennen, dessen frühe Romane die Zeit-

1 Als Ausnahmen wären beispielhaft, bezeichnenderweise ohne Fokus auf den autobiographischen Schriften, zu nennen: Albrecht Buschmann, „Der Bürger, der Krieg und der Held. André Malraux’ L’Espoir oder die Sehnsucht des Fliegers“, in: Literaturen des Bürgerkriegs, hg. v. A. Bandau, A. Buschmann u. I. von Treskow, Berlin: Trafo, 2008, S. 203–218; Wolfram Nitsch, „Der Bürger-krieg als Medienereignis. Kommunikationstechniken in Malraux’ Roman L’Espoir“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 118 (2008), S. 125–140 oder Volker Kapp, „Individuelles und historisches Bewußtsein in Malraux’ La Condition humaine“, in: Proteus im Spiegel. Kritische Theorie des Subjekts im 20. Jahrhundert, hg. v. P. Geyer u. M. Schmitz-Emans, Würzburg: Königs-hausen & Neumann, 2003, S. 411–422.

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genossen oft in Parallele zu Malraux’ L’Espoir oder La Condition humaine gesetzt haben: Vor ein paar Jahren waren seine Werke in der Pléiade gar nicht mehr verfügbar; mangels Lesern wurden sie nicht mehr nachgedruckt.

Dieses Schicksal zumindest hat Malraux nicht ereilt. Inzwischen sind die vom Autor selbst gestalteten Bände indessen durch kritische, kommentierte Ausgaben ersetzt worden; die Œu-vres complètes fanden mit dem sechsten Band 2010 ihren Abschluss. Ein Werkkomplex jedoch, so beklagen Henri Godard und Jean-Louis Jeannelle, sei von Forschung und Kritik bislang besonders sträfl ich vernachlässigt worden – eben jener, der dem Feld der Autobiographie zuzurechnen ist: Malraux’ mitunter kollageartig anmutende ‚Anti-Memoiren‘ Le Miroir des limbes, jene gattungspoetisch seltsam heterogenen und changierenden Texte aus der letzten Schaffensphase des Autors – Antimémoires, Les Chênes qu’on abat..., Oraisons funèbres, La Tête d’obsidienne, Lazare und Hôtes de passage –, die zwischen 1967 und 1975 einzeln publi-ziert und dann zusammen unter jenem ‚spiegelnden‘ Titel veröffentlich worden sind – im Jahre 1976, dem Todesjahr Malraux’. Ja, Malraux scheint in seine Memoiren geradezu ‚hineinzuster-ben‘, insofern er in ihrem letzten Teil, Lazare, anlässlich eines Krankenhausaufenthalts in der Salpêtrière die Erfahrung des schwindenden Lebens refl ektiert. Le Miroir des limbes, heißt es in dem anzuzeigenden Band, sei, wenn überhaupt, bisher gleichgültig bis feindselig rezipiert worden: Einerseits erschien Malraux darin als der irrlichternde Mythomane, andererseits als das gaullistische Monument; einerseits verstießen die Texte eklatant gegen das autobiographi-sche Wahrheitsgebot, andererseits waren sie ohne jeden politischen Chic. Für die zweite Serie von Vorwürfen könnten beispielhaft die Einlassungen Simone de Beauvoirs stehen, für erstere die Biographie Olivier Todds, André Malraux. Une vie (Paris: Gallimard, 2001). Mit ihrem gewichtigen Sammelband Modernité du ‚Miroir des limbes‘ wollen Godard und Jeannelle dieses auf zweifache Weise reduktive Bild revidieren und, wie ihr Untertitel klarstellt, un autre Malraux zeigen: einen komplexen, experimentellen, ‚modernen‘ Schriftsteller. In der Tat tun sie gut daran, dieses vielschichtige, widerborstige, in gewisser Weise einzigartige Werk wieder ins Bewusstsein zu rücken.

Der Sammelband, der auf eine Pariser Konferenz von 2008 zurückgeht, ist indessen nur der erste Schritt auf dem Wege, Malraux einen neuen Platz im Kanon der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts zuzuweisen. Im Gefolge der Konferenz hat sich an der Universität Paris IV eine Forschergruppe zu Malraux konstituiert, die gemeinsam mit dem an Paris III angesiedelten Centre d’études André Malraux et les littératures engagées u. a. die Webseite www.malraux.org betreibt, die sehr umfangreiches, gerade auch bibliographisches Material zu ihrem Autor bereit-hält. Auf ihr begegnet man auch immer wieder Beiträgern des Bandes, fast alles ausgewiesene Spezialisten, angefangen freilich bei den Herausgebern: Henri Godard hat für den Pléiade-Band zu Malraux’ kunsttheoretischen und -geschichtlichen Texten verantwortlich gezeichnet, und Jean-Louis Jeannelle ist Autor der grundlegenden Untersuchung Malraux, mémoire et métamor-phose (Paris: Gallimard, 2006). In fünf Abteilungen untersuchen die achtzehn Beiträgerinnen und Beiträger, warum Malraux’ Anti-Memoiren-Werk eine desaströse Erstrezeption und in der Folge ‚blockierte‘ Aufnahme gefunden hat, um sodann die gattungspoetische und stilistische Komplexität sowie – emphatische – Modernität des Textes herauszuarbeiten und Neulektüren zu liefern.

Der erste Teil entfaltet in fünf Beiträgen die kulturhistorisch-kontextuellen Rahmenbedin-gungen, in denen sich die Rezeption des Miroir des limbes vollzogen oder vielmehr ‚nicht‘ vollzogen hat. Sie machen ein doppeltes Spannungsfeld von Literatur und Politik auf.

Michel Murat sieht „Une certaine idée de la littérature“, so der Titel seines Beitrags, für die Missachtung des Miroir verantwortlich, und dies gleich auf zweierlei Weise. Zum einen sei der Literaturbetrieb klar politisch links geprägt gewesen, von den Temps modernes bis zu Tel

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quel. Die linke Kritik habe Malraux den ‚Seitenwechsel‘ nach seinen revolutionären dreißiger Jahren 1944 zu de Gaulle nicht verziehen; zudem sei er als Kulturminister ein Mann der Insti-tutionen gewesen. Murat schließt pointiert, Malraux habe seiner literarischen Reputation durch sein gaullistisches Engagement mehr geschadet als Céline sich durch seinen Antisemitismus. Zum anderen habe Malraux’ Miroir quer zu den akademischen Strömungen der Zeit und deren Literaturbegriff gestanden; sein Text habe weder offensichtliche Anschlussmöglichkeiten an den Strukturalismus geboten, noch ließ er sich mit der überaus einfl ussreichen Theorie der Auto-biographie Philippe Lejeunes zureichend fassen, so dass auch hier eine Rezeption unterblieben sei. Aktuell scheint Murat die Situation für den Miroir hingegen günstig; insbesondere eine ‚mediologische‘ Perspektive schiene ihm fruchtbar, die den Text auf intermediale, bildhafte Strukturen befragen würde.

Janine Mossuz-Lavau zeichnet in ihrem Aufsatz „Le contexte idéologique des années 1940 à 1960: les sources d’un ‚décentrement‘“ noch einmal historiographisch detaillierter Malraux’ intellektuellen und politischen Werdegang vor dem Hintergrund der Zeitläufte nach. Es ist ein Weg, der ihn aus dem ‚Zentrum‘ der Literatur und ihres Betriebs, um Mossuz-Lavaus Titelbegriff aufzunehmen, ‚hinausführt‘. Sie zeichnet nach, wie Malraux vor allem während der IV. Repu-blik kaum noch als Literat, sondern nur mehr als Politiker, ja, als ‚Propagandabeauftragter‘ des gaullistischen RPF wahrgenommen wird. Auch Malraux’ Sympathien für die nichtmarxistische Linke eines Pierre Mendès France können die intellektuellen Milieus, in denen sich Malraux vor dem Krieg bewegt hatte, nicht wieder mit ihm versöhnen. Als Kulturminister de Gaulles während der V. Republik schließlich überwirft er sich endgültig mit den tonangebenden Intellektuellen, einerseits über die Algerienfrage, andererseits über seine Kulturpolitik, die ihnen abgehoben und elitistisch erscheint; dementsprechend frostig sei die Aufnahme der verschiedenen Teile des Miroir gewesen, die wie bereits erwähnt in den ‚heißen‘ Jahren ab 1967 erscheinen.

Auf gewisse Weise schreibt Jeanyves Guérin den Beitrag Janine Mossuz-Lavaus fort, indem er einen Aspekt vertieft und das Portrait Malraux’ im Spiegel Sartres entwirft: „Un gaulliste dans les années Sartre“. In den dreißiger Jahren sei Malraux als paradigmatischer „écrivain combattant“ (S. 39), als écrivain engagé avant la lettre erschienen. Nach dem Krieg habe er sich aber gewissermaßen selbst aus dem Spiel gebracht. Indem er keine Romane mehr geschrieben und auch nicht in den entsprechenden Zeitschriften publiziert habe, sei er außerhalb der gaul-listischen Bewegung kaum ‚hörbar‘ gewesen. So, argumentiert Guérin, habe Malraux Sartre bei der Neudefi nition des literarischen Feldes freie Hand gelassen. Und während die beiden sich in einer Art kaltem Krieg gegenseitig ignorierten, habe Simone de Beauvoir stellvertretende Attacken geritten. Er schließt, Malraux habe sein gaullistisches Engagement teurer als andere, konservativere Schriftsteller bezahlt – denn rechts der Mitte habe Malraux nicht die Leser ge-funden, die er auf der Linken verloren habe.

Fokussiert Guérin einen Antagonisten Malraux’, untersucht Marie Gil in ihrem Aufsatz „Chemins de traverse ou voie royale? Sur les traces de Bernanos“ einen Autor, der, so ihre These, eine seiner Identifi kationsfi guren gewesen sei: Bernanos sei insbesondere für die auto-biographischen Texte Malraux’ ein entscheidender Bezugspunkt. Grundsätzlich kann sich Gil auch auf Selbstaussagen stützen. Malraux etwa verortet sich 1945 zusammen mit Bernanos in der ‚heroischen Traditionslinie‘ der französischen Literatur, derjenigen Corneilles. Insbesondere aber, so Gil, sei ihnen die Figur des „décentrement“ (S. 53) gemeinsam, die Figur der politischen und literarischen Ortlosigkeit und Unangepasstheit. In dieser Figur sieht sie die Gemeinsam-keiten Malraux’ und Bernanos’ gebündelt, die sie im Folgenden näher in der antirhetorischen Rhetorik der beiden Autoren, in der Aufl ösung der Gattungsgrenzen zwischen Roman und Essay, und, am gewichtigsten, in der Romanpoetik ausmacht, die Gil auch für den Miroir in Anschlag bringt: Diese sei jeweils fundiert in einer ‚Ethik der Lüge‘, die den Zugang zu einer

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höheren Wahrheit öffne – und gleichzeitig mit einer Ich-Zurücknahme hinter eine Polyphonie der Stimmen einhergehe.

Den ersten Teil beschließt ein Blick ‚von außen‘ auf das Phänomen des Miroir des limbes: Robert Harvey zeichnet in „Les limbes au purgatoire: la réception du Miroir des limbes aux États-Unis“ nach, wie nicht nur in Frankreich, sondern auch jenseits davon das Anti-Memoiren-Werk auf Unverständnis stieß, u. a. zum ökonomischen Schaden der Verlage, die Unsummen allein für die Übersetzungsrechte der Antimémoires gezahlt hatten und sich später gezwungen sahen, einen Großteil der Aufl age wieder einzustampfen. Malraux sei damals in den USA bekannter als Sartre, wenn auch etwas weniger berühmt als Edith Piaf gewesen, bemerkt Harvey launig. Doch habe Malraux Ende der sechziger Jahre, vor dem Hintergrund von Vietnamkrieg und Pra-ger Frühling, mit seinen Texten eigentümlich aus der Zeit gefallen gewirkt. Gleichzeitig habe die ‚kinematographische‘ Montageästhetik des Miroir desorientierend gewirkt, so dass Teile sogar unübersetzt blieben. Harvey beschließt seinen thematisch immer weiter ausgreifenden Aufsatz mit der Einschätzung, dass der Miroir vor dem Hintergrund einer Wiederentdeckung von Malraux’ kunstgeschichtlichen Schriften eine Neu-, eine eigentliche Erstrezeption in der englischsprachigen Welt erfahren könnte.

Der zweite Teil des Bandes versucht Malraux’ Text in den Spielarten der „écritures de soi“ (S. 85) zu verorten. Gewissermaßen standesgemäß gehört hier Jacques Lecarme das erste Wort, der denn auch die Frage „Antimémoires ou autofi ction?“ an den Miroir anlegt. Er rechnet den Text – gemeinsam mit Lotis Roman d’un enfant und Célines ‚deutscher Trilogie‘ D’un château l’autre, Nord und Rigodon – klarerweise zu den Autofi ktionen avant la lettre. Lecarme refl ektiert das paradoxe Verhältnis von Aufrichtigkeitsbeteuerungen und Fiktionalitätsausweisen. Erstere riefen beim Leser stets einen latenten Verdacht hervor. Fiktional präsentierte Texte hingegen würden bisweilen fraglos faktual gelesen, insbesondere habe dies für die Romane Malraux’ in den dreißiger Jahren (wie auch für Texte seiner Zeitgenossen Morand oder Montherlant oder auch Drieu) gegolten. Umgekehrt sei das Fiktionalitätssignal der Antimémoires ebenso fraglos überlesen worden. Lecarme ruft in Erinnerung, wie desorientierend der Text auf die Erstleser – Leser der Autobiographien Greens, Mauriacs, Gides oder Sartres – gewirkt haben muss, die das Angebot eines ‚autobiographischen Pakts‘ erwartet hatten, trotz des Titels. In der Folge ent-wickelt Lecarme den Begriff eines ‚anti-autobiographischen Pakts‘, den Texte anböten, die die Möglichkeit autobiographischer Wahrheit negieren oder gar Fiktionalität reklamieren, dann aber dennoch offensichtlich autobiographische Wahrheit vertexten. In einem Annex liefert Lecarme Beispiele hierfür von Alain über Genet und Duras bis Barthes. Der Titel der Antimémoires habe ihn zunächst zu einer solchen Lektüre verführt, gesteht Lecarme. Doch die genauere Analyse zeige, dass Malraux weder den einen noch den anderen Pakt anbiete, sondern Wahrheit und Fiktion autofi ktional gegeneinander montiere. Ja, er halte Malraux sogar für einen gewiefteren Autor von Autofi ktionen als Doubrovsky oder Robbe-Grillet, beschließt Lecarme seine Aus-führungen, denn ersterer ziele gewissermaßen nur auf den ersten Teil des Worts, „auto-“, die ‚narzisstische‘ Selbstbefragung, letzter nur auf den zweiten, die „-fi ction“, die im stets neuen Erfi nden von biographischen Möglichkeiten leerlaufe.

„Pour une muséologie du Miroir des limbes“ ist der Beitrag von Jean-Claude Larrat über-schrieben. Larrat versucht, Parallelen herauszuarbeiten zwischen den Mechanismen individuellen Erinnerns im Miroir und den Praktiken der Konstruktion kollektiven Erinnerns, wie sie sich in der Institution des Museums materialisieren, einer Institution, mit der sich Malraux eingehend auseinandergesetzt hat. Letztlich ist seine These, dass der Miroir wie ein Museum funktioniert, in dem verschiedene, als erinnerungswürdig ausgewählte Objekte nebeneinandergestellt werden, die miteinander in einen Dialog treten. Dazu entwickelt er im Anschluss an Marius-François Guyard, den Herausgeber des Miroir in der Pléiade, eine Ästhetik des Fragments, die Malraux’

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Text präge. Er setzt sie in Verbindung mit Malraux’ Faszination für das „farfelu“, für die „curi-osités“, das leicht Verrückte und Abseitige, so dass Malraux’ Museum einer ‚Wunderkammer‘ gleiche. Als eine solche Wunderkammer beschreibt Malraux selbst in den Antimémoires das Ägyptische Museum von Kairo, eine Passage, die Larrat als „mise en abyme“ des ganzen Mi-roir liest. Das Nebeneinanderstellen quasi photographischer Fragmente, als die sich laut Larrat Malraux’ Unterhaltungen mit historischen Größen wie Nehru, de Gaulle oder Picasso im Miroir präsentieren, verhinderte durch ihre Dekontextualisierung – wie in einer Wunderkammer – das Entstehen einer fortlaufenden Narration und, so Larrat, mithin auch von Fiktion, so dass er vorschlägt, diesen Text nicht mithilfe der Dichotomie Fiktionalität/Faktualität, sondern jener von Dokument/Monument zu analysieren, hinter der aber die Baudelaire’sche Unterscheidung von „nature“ und „artifi ce“ aufscheine.

Marielle Macé beugt sich in ihrem überaus detailreichen Artikel „Sartre et Malraux: ‚Tout ça aurait pu s’accrocher‘“ noch einmal über die – fehlenden – Beziehungen zwischen den beiden Autoren; sie tut das im Hinblick auf die verschiedenen, ja, ihr zufolge inkompatiblen Schreibweisen Sartres und Malraux’ sowohl in den Romanen als auch in den autobiographi-schen Texten. Macé bedient sich dabei der Leitmetapher des „accrochage“, die sie in Sartres Carnets de la drôle de guerre fi ndet: Gemeint ist damit eine Kristallisation, eine Konfi guration von Ereignissen und Individuen, die das Potential haben, Epoche zu machen, sich dann aber doch nicht zu einem Ensemble fi xieren – außer vielleicht in der Erinnerung eines (autobiogra-phischen) Schreibers. Als eine solche auf unwahrscheinliche Weise ausbleibende Konfi guration präsentiert sie auch den geradezu nichtexistenten Dialog zwischen ihren beiden Autoren, den sie auch mit Paul Ricœurs Begriff der „identité narrative“ (S. 119) zu erklären versucht. Und sie unterstreicht, dass beide ein konträres Konzept vom menschlichen Leben haben: Während für Sartre das Leben gleichbedeutend mit einer Einschränkung von Möglichkeiten durch fort-laufende Entscheidungen sei, betrachte Malraux das Leben als stets expansive „puissance de développement de l’aventure humaine“ (ebd.). (Existentielles) Abenteuer und (existentieller) Abenteurer sind denn auch die zweiten Leitbegriffe des Aufsatzes, die Macé zunächst an den Romanen erprobt. Malraux schreibe über letztlich scheiternde Abenteurer, d. h. über Personen, die Identitätsfestschreibungen entfl iehen. Sartre hingegen verneine die Möglichkeit, ein Leben als Abenteuer zu beschreiben, ohne es literarisch zu verfälschen. Später zeichnet er den „aventu-rier“ als melancholisches Gegenbild des „militant“. Ebensolche gegensätzlichen Konzeptionen macht Macé auch in den jeweiligen Selbsterzählungen aus. Wenngleich beide um das Ringen kreisten, ein freies Subjekt zu sein, sieht Macé sie durch zahlreiche Gegensätze konfi guriert, die sie im letzten Teil ihres Artikels entfaltet: Möglichkeit und Potenz, Situation und Kondition, Individuum und Mensch und, könnte man anführen, Kontingenz und Exemplarität.

Joël Loehr legt mit seinem Aufsatz „Mai 68: La pharmacie de Malraux“ eine ebenso kleintei-lige wie labyrinthische Analyse des Manuskripts von La Corde et les souris vor, genauer gesagt von dessen drittem Kapitel. In den Spuren von Derridas La Pharmacie de Platon zeichnet Loehr nach, wie Malraux die Studentenunruhen von 1968 mit metaphorischen Termini beschreibt, die er systematisch dem medizinisch-pharmazeutischen, ja toxikologischen Bereich entnimmt: Die Revolte, schreibt Malraux, erscheint ihm als eine „épidémie mentale“ (S. 133), als besonders virulente Manifestation der allgemeinen Zivilisationskrise, die er in unserer bezeichnenderweise als „temps des limbes“ (S. 143) benannten Epoche ausmacht. Loehr untersucht die komplexen Manöver, mit denen Malraux – über diverse Fiktionalisierungen – die Ereignisse in sein Anti-Memoiren-Werk integriert, unter anderem über eine willentliche Suspension des Schreibens, eine Abdankung vom Status des Großschriftstellers. Doch, wie Loehr unterstreicht, ist das Schreiben auch ein Pharmakon, eine starke Droge, und so setzt Malraux seinen Text fort. Am Ende, in Lazare, Malraux’ eigener Erfahrung des ‚Limbus‘, so Loehr, würden einige der hier analysierten Elemente wiederkehren.

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Der dritte Teil des Bandes nimmt Malraux’ Anti-Memoiren-Werk im Spannungsfeld ver-schiedener Gattungen und Subgattungen und ihrer Mischungen in den Blick. Claude Pillet untersucht die „interactions créatrices dans Le Miroir des limbes“ der „Régimes fi ctionnel et factuel“, so der Untertitel und der Titel seines Beitrags. Er entfaltet sie in drei ‚Parcours‘. Am spannendsten ist dabei der erste. Pillet ruft aus einer anderen Arbeit in Erinnerung, wie sich die Struktur von Malraux’ Roman Les Noyers de l’Altenburg als ein Flügelaltar, ein Triptychon beschreiben lässt, wobei Prolog und Epilog den geschlossenen Flügeln, die einzelnen Kapitel den Bildern auf den Innenseiten korrespondieren. Für die Struktur des Miroir bringt Pillet eine andere, doch gleichfalls räumlich-bildhafte Analogie in Anschlag, nämlich die eines Museums in zahlreichen Sälen, und er zeichnet nach, wie Szenen aus Malraux’ Romanen nahtlos in den autobiographischen Text integriert werden, dort gleichsam aufgehängt sind. Er unterscheidet darüber hinaus neun (heterogene) Prinzipien, nach denen die in sich sehr verschiedenen – fi k-tionalen und faktualen – Szenen im Miroir einander gegenübergestellt und auf diese Weise sinngeberisch produktiv werden. Damit formuliert er eine eigenwillige, elaborierte These zur Organisation des zerklüfteten Textes. Zusätzlich, so Pillet, gäben dem Text zwei intertextuelle Dispositive Struktur: zum einen eine Parade historischer, mythischer und auch banal-alltäglicher Gestalten und Bilder, zum anderen ein ausgeklügeltes Netz von Zitaten, die meistenteils ihren Zitatcharakter durchsichtig machten, als Verweis auf ein seinerseits „réel référé“, kurz auf ‚Kultur‘ (S. 163). So spiegelten sich, wie vom Titel des Buchs angedeutet, Fakt und Fiktion gegenseitig, bis sie schließlich – im Dienste einer emergenten Sinngebung – ununterscheidbar würden, was Pillet für eine der gelungensten literarischen Leistungen Malraux’ im Miroir hält.

Catherine Coquio erprobt in ihrem Artikel „Le Miroir des limbes: écriture du témoignage et littérature des camps“ die Anwendbarkeit des Konzepts von Zeugenschaft, wie es insbesondere im Kontext der Shoah-Literatur entwickelt worden ist, auf den Miroir. Sie versucht, die Genres Memoiren- und Zeugnisliteratur gegeneinander zu relationieren und fragt danach, inwiefern die Figur des Zeugen im Miroir das Genre der Memoiren dekonstruiert und damit das ihr zufolge den Text durchziehende Prinzip der ‚Metamorphose‘ erst befeuert. Sie tut das in einer Analyse zahlrei-cher Einzelszenen und -themen; ihr Artikel ist einer der längsten des Buchs. Einige Schwerpunkte seien kurz angedeutet. Coquio stellt heraus, dass der Zeuge bei Malraux meistenteils ein Zeuge von Krieg und Résistance ist. In der Gestalt Jean Moulins, dessen Schicksal im Miroir einigen Raum einnimmt, ist die Figur jedoch wieder mit der Deportation und dem Konzentrationslager verknüpft. In einer regelrechten „réécriture des récits de déportation“ (S. 204) begreife sich Mal-raux als stellvertretender Zeuge, in dessen eigene Erinnerungen sich die Erinnerungen von anderen hineinmischten, wie er selber schreibt, bis auf eine unmittelbare, klangliche und rhythmische Ebene hinab, und so das ‚Gedächtnistheater‘ Malraux’ für einen Augenblick aufsprengten. An anderen Stellen wieder lege Malraux unterschiedliche Bilder übereinander – individuelles Leid und „Mal historique“ (S. 211), Krankenhaus und Konzentrationslager, das Kampfgas des Ersten Weltkriegs und die Gaskammern des Zweiten, indische Verbrennungsriten und Krematorien –, was zuletzt die Idee unterstreiche, Zeugnis werde im Angesicht des Todes abgelegt und Geschichte, individuell wie überindividuell, im Horizont des Todes verstanden.

Mit Michel Briand hat im folgenden Beitrag kein malrucien das Wort, sondern ein an den Themen von Gattungsmischung und Selbstkonstruktion arbeitender Altphilologe, ein Gräzist. Briand untersucht in einem interdisziplinären Dialog die Formen des Dialogs im Miroir des limbes, wobei er den Dialogbegriff auch im Weiteren in mehreren konkurrierenden Schattierun-gen verwendet. Einesteils gilt seine Aufmerksamkeit Malraux’ Schilderungen eines gelungenen Zusammentreffens mit Gesprächspartnern, wie etwa Nehru, oder auch eines verfehlten, wie im Falle Maos. Andernteils geht es ihm aber auch um eine Analyse des von Malraux inszenierten Dialogs zwischen Europa und Asien, zwischen dem Individuum und den Instanzen der Sinn-

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gebung, des Dialogs mit sich selbst. Briand stellt vor allem die rhetorische Flexibilität und Virtuosität heraus, die den Dialogen mit den ‚Großen‘ einen unmittelbaren, mündlichen Cha-rakter bewahrt haben und Malraux im Dialog mit seinem Leser beständig Register und Genres wechseln lassen. Durch diese doppelte Polyphonie sieht Briand die Antimémoires dezidiert nicht in einer Traditionslinie mit den Confessions, sondern in der longue durée eher mit Texten der Zweiten Sophistik eines Aelius Aristides und Lukian, die Fiktion und Erkenntnis miteinander engführten. Dies lässt ihn in einem letzten Abschnitt noch einen Bogen von Malraux zu Thuky-dides’ ‚exemplarischer Geschichtsschreibung‘ schlagen. Dabei sei der Dialog das privilegierte Vehikel, über das Malraux die Geschichte mit den Geschichten, philosophische Refl exion und fi ktionale Exemplarität miteinander verschmelze.

Den Gattungsfragen gewidmeten Teil des Bandes beschließt Henri Godard, der den the-matischen Fokus des von ihm edierten Pléiade-Bandes der Werkausgabe in seinem Aufsatz aufnimmt: „La réfl exion sur l’art dans le Miroir des limbes“. Die Erfahrung von Kunst sei für Malraux die existentielle Erfahrung par excellence gewesen, so dass ‚Kunst‘ nahezu durch-gängig im Miroir thematisiert werde, angefangen beim Schock, der Malraux angesichts der Sphinx und der Pyramiden von Gizeh erfasst habe und der laut Godard zur Initialzündung der Antimémoires geworden sei. Godard weist auf, wie sich Malraux’ Anti-Memoiren-Texte, vor allem des zweiten Teils des Miroir, und seine letzten kunsttheoretischen und -geschichtlichen Essays durchdringen, nicht nur durch einen Austausch und eine Wiederaufnahme von Textpas-sagen, sondern durch eine gedankliche und thematische ‚Konsubstantialität‘. Paradebeispiel für diese Zwitterstellung sei der um Picasso organisierte Text La Tête d’obsidienne, den Godard im Folgenden eindrucksvoll analysiert. Picasso werde hier geradezu zu einer Romanfi gur, basierend auf den beiden Gesprächen, die Malraux mit dem Künstler geführt hat, und basierend auf der Erfahrung von Picassos Kunst. Dies lässt auch Godard über die Spannung zwischen historischer Faktentreue und Exemplarität refl ektieren, die den Miroir so eigentümlich kennzeichnet. Wie Godard in seiner Untersuchung unterstreicht, ist Picasso einerseits privilegierter Referenzpunkt für Malraux’ eigene Kunstkonzeption, erst in Les Voix du silence, dann im Musée imaginaire de la sculpture mondiale. Nach Picassos Tod, beim Besuch seiner Witwe in Mougins, muss Malraux andererseits in der Betrachtung des sich im Atelier stapelnden Spätwerks feststellen, dass diese Werke seine Konzeption stören, ja, in Frage stellen – und ihm gar ein mögliches Ende der Kunst, zumindest so, wie Malraux sie gekannt und gefeiert hat, suggerieren. Godard zeichnet nach, wie diese Spannung La Tête d’obsidienne dramatisiert. In der Schlusspartie des Textes wird sie gleichwohl wieder aufgelöst: Bei einem weiteren Besuch, auch von Picassos Grab, sieht sich Malraux in seinem Kernsatz bestätigt, Kunst sei eine Geste des Protests gegen die Begrenzungen der condition humaine, gegen den Tod. Emblematisch steht dafür die mexikanische Skulptur eines Schädels, eben jener ‚Kopf aus Obsidian‘ des Titels, den Malraux mit einer Schädel-skulptur Picassos in Parallele setzt. Bezeichnenderweise nennt Malraux diesen Obsidiankopf stets abwechselnd „tête“ und „crâne“, wie Godard unterstreicht, und macht schon dadurch die todesüberwindende Kraft der Kunst deutlich. Diese Konzeption, so Godards überzeugende These, erklärt auch den Platz der Tête d’obsidienne in der hochkalkulierten Komposition des Miroir, die eben keinesfalls eine bloße Bündelung von Gelegenheitstexten sei: La Tête d’obsidienne geht dem letzten Teil, Lazare, Malraux’ Meditation über den eigenen Tod, unmittelbar voraus.

Malraux hat in seinem Essay „Néocritique“ die Forderung erhoben, die Form des Kolloqui-ums über den Kontext der Universität hinaus zu öffnen. Die Herausgeber nehmen diese Forde-rung gern auf und geben im vierten Teil des Bandes vier sehr unterschiedlichen Stimmen, einer Schriftstellerin und drei Schriftstellern, Gelegenheit, sich auf persönliche Weise dem Miroir des limbes anzunähern: Jorge Semprun, Hédi Kaddour, Alix de Saint-André und Régis Debray, für den Malraux sich 1969 eingesetzt hatte, als dieser nach dem Scheitern des revolutionären Guerillakampfs an der Seite Ché Guevaras in Bolivien im Gefängnis saß.

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Der letzte Teil des Bandes ist dem letzten Teil des Miroir gewidmet, der Gestaltung der Todeserfahrung von Lazare. Jean-Louis Jeannelle zeichnet in einer textgenetischen Analyse mit minutiöser Genauigkeit am Manuskript von Lazare nach, wie Malraux in einem hochkalkulier-ten, mühevollen, von vielen Streichungen und Neuformulierungen geprägten Prozess, am Ende seines Anti-Memoiren-Werks einen Text entwickelt, der Selbstaufl ösung des Ich und Verdichtung des Textes gegenüberstellt – der zugleich von der unmittelbaren, intimen Erfahrung der Selbst-aufl ösung in ein „je-sans-moi“ erzählt und durch vielfältige Verweise auf frühere Szenen eine Synthese des Miroir herstellt, so dass Biographie und ‚Intratextualität‘, wie Jeannelle schreibt, eine spannungsvolle, aber unaufl ösliche Verbindung eingehen: „face à la mort, il [Malraux] ne prétend à aucune révélation mais fournit à son lecteur un passé qui n’est autre, paradoxalement, que celui de leur propre lecture commune“ (S. 337).

Modernité du Miroir des limbes. Un autre Malraux versammelt zahlreiche der führenden Malraux-Spezialisten. Auch wenn eines der erklärten Ziele des Bandes ist, eine Neurezeption des Miroir des limbes zu initiieren, hat er keinen einführenden Charakter. Zu tief stecken die Autoren dafür in ihrer Materie – einerseits. Andererseits gelingt es ihnen so, vielfach frappie-rend erhellende Einsichten zu einem unübersichtlichen Textgefüge zu präsentieren. Dass einige wenige Aufsätze selbst literarische, bisweilen gar assoziative Züge annehmen – und dies nicht jene der ausgewiesenen Schriftsteller –, leider zulasten der Thesenklarheit, mag dabei zu ver-schmerzen sein, ebenso dass gemeinsame theoretische Bezugspunkte eher locker gefügt bleiben. Insgesamt hat der Band Malraux’ Anti-Memoiren-Werk auf breiter Basis und beeindruckende Weise wieder in den wissenschaftlichen Diskurs zurückgeführt.

Freiburg Henning HUFNAGEL

André GUYAUX/Frank LESTRINGANT (Hgg.), Fortunes de Musset (Rencontres, 5), Paris: Classiques Garnier, 2011, 413 S.

Darstellungen der literarischen Archäologie, Ausweis des ambigen Echos von zeitgenös-sischem Ruhm, eskamotieren die banale Vorfrage, ob Werke für den Nachruhm geschrieben werden, sie verfolgen vielmehr Rhizome einer irregulären Wirkungsästhetik jenseits einer Erwartungsnorm, die ein Autor im Text versenkt haben soll. Sonst wäre die Polemik, deren Objekt Musset entsprechend konkurrierender Deutungshoheiten nicht erst postum geworden ist, kein Anlass zu weiterführenden Recherchen. Außer Acht bleiben kann die Selbstpositionierung eines Romantikers, den die Literaturgeschichte und das Schulbuch mit Lamartine, Hugo und Vigny in eine Reihe stellen, indessen nicht, wo zwischen den Einzeltexten Mussets und einem idealtypischen Geist der Epoche ein Hiatus registriert wird. Somit manifestiert sich ein syste-misches Dilemma pluraler und womöglich konträrer Autoritäten, des Produzenten oder seiner Rezipienten. Die Beiträge des Bandes analysieren Ergebnisse der Philologie sowie multimediale Konzepte, die die Bandbreite der Rezeption von Erstausgaben, illustrierten Editionen, Schauspiel und Verfi lmung ausweisen.

Beispielhaft offenbart die Fixierung auf das Jahr 1910, die Erinnerung an Mussets hundertsten Geburtstag, disparate ideologische Vorurteile, um u. a. mit Musset als zeitlosem génie français die klassizistische Tribunalisierung der Romantik voranzutreiben. Deswegen identifi zieren Beiträge dieses Bandes ausführlich Status und Habitus von Benutzern, die Musset keinesfalls als seine idealen Leser und Theatergänger projiziert hätte; die Alternanz ihrer Disposition

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legitimiert wertvolle literarhistorische Rückschlüsse jenseits jeder offi ziellen Kanonisierung oder Verketzerung. Sie problematisieren indirekt die hypothetische Transitivität von Texten des 19. Jahrhunderts, als die Wirklichkeit angeblich noch sprachlich einholbar erschien, wobei ausgerechnet der Dramatiker Musset, der als Bühnenautor besonders präsent geblieben ist, wie Bernhard Huß ausweist, das romantische Prinzip Melancholie planmäßig in die Uneindeu-tigkeit führt.1 Diese Intention unterscheidet ihn von Hugos kunstphilosophischer Tendenz zu perspektivischer ‚Überschaubarkeit und Verständlichkeit‘ im Drama (und entsprechend in der Narrative). Je nach registrierte m refl exivem oder arefl exivem Publikumsgeschmack, kritischem oder unterhaltsamem Lektüreverhalten werden die historischen Musset-Bilder mehr als nur ambig, wenn sich anachronistische, identifi katorische oder polemische Praxis mischt, dabei je nach Interesse am achtzehnjährigen Lyriker im Cénacle, dem Märtyrer der Liebe oder dem ‚Verräter‘, der 1852 in die Akademie gewählt und bei Hofe empfangen werden will, Apriorien fi xiert werden.

Die vier Teile des Bandes thematisieren Musset dans le siècle (S. 27–144), Musset et les arts plastiques (S. 147–256), Musset dans l’histoire littéraire (S. 259–310) und Musset en musique, au théâtre et au cinéma (S. 313–394). Den Abschluss bilden nützliche Namen- und Titelregister.

Der einleitende Aufsatz von Frank Lestringant, „Musset, du Second Empire à la Troisième République“ (S. 7–23), ruft mit dem ideologisch gespaltenen Musset-Bild der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Fragestellung des ganzen Bandes auf – „deux images diamétralement opposées de Musset, d’une part le conformiste rallié au Prince-Président, le dandy décati deve-nu potiche de salon et pilier des lupanars huppés, de l’autre l’éternel asocial, l’incarnation de la jeunesse rebelle et indestructible, l’inventeur avec Murger de la bohème artiste et littéraire, le chantre de Bernerette et de Mimi Pinson“ (S. 8). Der Schwiegersohn von Karl Marx, Paul Lafargue, skizziert aus diesem Anlass seine eigene Galerie der poètes maudits, in der ein ausge-grenzter Musset seinen Rang einnimmt (S. 9). Jules Vallès, Zola, dessen Freund, der Komponist Gustave Charpentier, und der Maler Henri Gervex vertiefen den weltanschaulichen Konfl ikt zwischen der reaktionären Rettung des angenommenen Klassikers und der linken Provokation, die gleichfalls zum Anachronismus neigt. Das Gemälde von Gervex, das Rolla nach der letzten Liebesnacht darstellt, wirkt skandalös, weil der Künstler in der intimen Szene mit unverwech-selbaren Details der Ausstattung des Zimmers die Gegenwart der 1870er Jahre abbildet. „Le Paris bohème de 1830 a fait place au Paris haussmannisé de la Troisième République“ (S. 215).

Das Urteil von Flaubert ist wie immer singulär. In der Korrespondenz mit Louise Colet inkriminiert er Mussets „péché d’autolâtrie“ (S. 74) als Exhibitionismus eines Dichters, dem impersonnalité fremd sei. Wenn der Parnasse entsprechend abfällig urteilt – „Entre les Parnas-siens, amoureux des dictionnaires, et Musset, dilettante désinvolte, le malentendu était inévi-table“ (S. 88) –, um epigonale Ausdrucksästhetik zu treffen, schmälert ein solches Verdikt den nachgewiesenen Zuwachs an poetischer Verehrung nicht. In diesem Kontext ist die lediglich kursorische Berücksichtigung der Musset-Bilder von Nerval, Baudelaire, Rimbaud, Lautréa-mont und Mallarmé zu bedauern, während eine Referenz in Aragons Narrative expliziert wird.

Der zweite Abschnitt, Musset et les arts plastiques, gehört zum Standard des Erkenntnisin-teresses, wenngleich der erste Beitrag, „Infortunes du Salon de 1836“ (S. 147–157), von Sté-phane Guégan trotz der Verneinung des Bandtitels nicht verbergen kann, dass die Darstellung der Kunstkritik, die Musset 1836 in der Revue des deux mondes veröffentlicht, sich außerhalb des Rahmens des Projekts bewegt. Hélène Védrine („Musset dans le livre illustré au XIXe siè-cle“, S. 159–197) konfrontiert Mussets Abneigung gegen illustrierte Ausgaben seiner Erst- und

1 Bernhard Huß, „Die Romantik schlägt der Renaissance den Boden aus: Meta-Episteme in Alfred de Mussets Lorenzaccio“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 61.1 (2011), S. 25–48.

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Neuausgaben mit postumen Editionen, die seit 1865 von Gervais Charpentier publiziert werden, versehen mit Stahlstichen, die der damals berühmte Graveur Louis-Pierre Henriquel-Dupont nach Zeichnungen von Alexandre Bida anfertigt. Die Ästhetik dieser und späterer Vignetten ist ambivalent, denn sie rekonstruieren Lokalkolorit (Lorenzaccio) oder sie modernisieren, wie auch der Maler Gervex (siehe oben Lestringant, S. 201–229), Milieu und Habitus der Figu-ren aus Rolla oder Mimi Pinson. Der Stil einer derartigen Bildersprache entfernt sich von der Textsemantik und appelliert an eine schon anachronistische Lesart (S. 191 ff.). Darüber hinaus bedienen die Verleger mit bebilderten Luxusausgaben die Zielgruppe der neuen Bibliophilen, die, nach Holzschnitt und Stahlstich, die neue Technik der Farblithographie verlangen (S. 196). Dem Buch eröffnet sich ein eigenes Kapitel der Kunstgeschichte. „Le livre entre [...] dans le plein domaine de l’art décoratif, avec toutes ses noblesses, parallèlement aux arts de la scène et de la mode“ (S. 197).

Zwischen 1884 und 1910 werden in Paris drei Musset-Statuen errichtet, die erste an der Fassade des Rathausneubaus, und eine vierte in Neuilly-sur-Seine. Laure Pineau („Les statues à la mémoire de Musset“, S. 231–256) erläutert kulturpolitische Konfl ikte der „Troisième Répu-blique statuomaniaque“ (S. 233), die Zola 1880 zur Diatribe veranlassen, da ausgerechnet das republikanische Paris die nationalen Dichter nicht angemessen ehre. Die öffentliche Meinung bleibt ideologisch gespalten, seit die Enthüllung der Büste Mussets in der Comédie-Française 1868 Ferragus (d. i. Louis Ulbach) veranlasst, die ‚Serenaden‘ des ‚nutzlosen Poeten‘ den militanten Jamben von Auguste Barbier und Victor Hugo entgegenzustellen (S. 240). Laure Pineau analysiert weniger kunsthistorische Daten als den Widerstreit von Eulogie und Polemik im Subtext der Ikonographie. Invektiven treffen das Bild von Musset, der Dandy und nicht Republikaner sein wollte, und den postum aus diffuser chauvinistischer Motivation die Dritte Republik ehrt; gleichzeitig warnen salvatorische Klauseln in Festreden die Jugend, der eben erst Jules Ferry die allgemeine Schulpfl icht beschert hat, vor der Kontamination durch Weltschmerz und morbide Endzeitstimmung.

Die kulturgeschichtlichen Beiträge des vierten Teils, der Vertonung, Choreographie (nament-lich von Serge Lifar) und Verfi lmung aufruft, überschreiten die Literaturzentrierung. Sylvain Ledda deutet die unterschiedliche Akzeptanz der Bühnenfassungen von Fantasio seit 1866 („Fortunes de Fantasio“, S. 327–339) entsprechend dem Wandel der Disposition des Publikums.

Die anregende Fülle der Darstellungen in diesem Band lässt gleichwohl Wünsche offen. Die sich von Hugo wie Dumas absetzende Dramatik wird nicht hinreichend gewürdigt und, auch wenn der zitierte Aufsatz von Bernhard Huß herangezogen wird, orientieren sich Inter-pretationen nicht durchweg an aktuellen Forschungsstandards. Natürlich legt die kollektive Fragestellung Interpretationsverfahren nach dem Prinzip l’homme et l’œuvre nahe, wenngleich mit diesem Parameter Mussets Ablehnung des Platonismus und Petrarkismus vor Baudelaire kaum zu erklären ist. Abgesehen vom Desiderat eines intertextuellen Projekts, das Marivaux, Carmontelle, Mozart (Così fan tutte), Musset, Giraudoux und Anouilh auf Schnittmengen ei-ner genuinen psychologischen Dramatik, die Liebesnöte als Ausdruckskonfl ikte aktualisiert, hin untersucht, ist jedenfalls zu monieren, dass Mussets Zeitgenosse Théodore Leclercq, Er-folgsautor der Proverbes dramatiques, schlicht übergangen wird. Ferner bliebe, auf das Opus Mussets konzentriert, textnah zu erforschen, ob nicht Mussets Alternanz rokokohafter oder kruder Geschlechterkonfl ikte je nach generischer Diskurstradition uneinheitliche Bilder der Liebe konditioniert, wodurch der Ausdrucksästhetik, die der romantischen Literaturgeschichte idealtypisch und kritiklos anhängt, die Deutungshoheit entzogen würde.

Berlin Winfried ENGLER

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Nigel HARKNESS/Marion SCHMID (eds.), Au seuil de la modernité: Proust, Literature and the Arts. Essays in Memory of Richard Bales (Le Romantisme et après en France, 15), Bern et al.: Lang, 2011, XIII + 324 pp.

This volume of essays is fi rst and foremost a tribute, dedicated to the late Richard Bales (1946–2007), professor of French Literature at Queen’s University (Belfast). This distinguished Proustian scholar also had a wide range of cultural interests (in particular in nineteenth-century French and Belgian literature), which are refl ected in the contributions: seventeen chapters ran-ging from studies on Proust to Michaux and Magritte with incursions into Belgian Symbolism. It is thus both an intellectually stimulating volume, and a testimony to academic friendship and dialogue.

The excellent introduction from the editors describes how the collapse of chronology and spatial reference in Proust’s novel undermines the traditional narrative, and how, as Theodor W. Adorno called it, À la recherche du temps perdu embodies “das Ende des neunzehnten Jahrhun-derts, das letzte Panorama” [the end of the nineteenth century, its last panoramic vision].1 As Harkness and Schmid show, and as Antoine Compagnon too has shown, Proust is “in-between”, “both the alpha and omega of French modernity, the fi nest materialization of the nascent mo-dern project and a springboard towards more radical forms of modernity and post-modernity in the generations after him” (p. 4). And it is under the auspices of this ‘in-betweenness’ that the volume is placed, a refl ection on both Proust’s own position and Richard Bales’ research interests, on the threshold of modernity, between nineteenth- and twentieth-century forms of writing and thinking, between text and image.

The nineteenth century indeed appears in this volume as the undisputed starting point for nascent forms of modernity in Western art and literature; and numerous chapters dedicated to Proust look back to the nineteenth century. Out of the seventeen essays which form this volu-me, Nigel Harkness’ chapter, concerned with literary and sculptural intersections in Balzac and Proust, is one that engages very directly with inter-artistic dialogue between the nineteenth and the twentieth century. Concentrating on sculpture, he shows that, although “Proust’s articulations of the sculptural in the Recherche are rooted in a nineteenth-century cultural context” (p. 223), and as such, valorise the painter’s work (associated more clearly with the nineteenth-century defi nition of the artist as opposed to the craftsman), he also signifi cantly moves away from his nineteenth-century predecessors in that the boundaries between artist and artisan are blurred. It is Proust’s systematic reworkings of the concepts of time and memory which allow him to develop a truly modern approach to the materialization of the passing of time into what Luc Fraisse has called an “œuvre cathédrale”.2

Other chapters looking back to the nineteenth century are either tracing back his extra-ordinary skills for “pastiches inavoués” (Bouillaguet, p. 39) or more discreet infl uences (for example, that of Baudelaire, in Watt’s chapter) in his novel. One such chapter is the excellent piece by Catherine O’Beirne, who, following Bales’ examination of the presence of Dantean imagery in À la recherche, demonstrates with impeccable scholarship how Dante’s infl uence on Proust was in fact mediated via Thomas Carlyle’s Les Héros, le culte des héros et l’héroïque dans l’histoire which the writer read in 1895 in Beg-Meil. Carefully tracing textual evidence of this infl uence, she very convincingly shows how behind some of Ruskin’s references to St. John’s, which fascinated Proust so much, Carlyle can be detected. Exploring his infl uence, alongside that of Dante and Ruskin, certainly sheds new light on Proust’s reworks of spiritual

1 Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur 2, Frankfurt on the Main: Suhrkamp, 1970, p. 100.2 Luc Fraisse, L’Œuvre cathédrale. Proust et l’architecture médiévale, Paris: J. Corti, 1990.

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and aesthetic elevation. Other chapters dedicated to Proust concentrate on his work as a literary critic; and Unwin for example shows persuasively in his contribution how “À propos du style de Flaubert” was a critical turning point in the history of French criticism, with Proust boldly identifying in Flaubert’s style “une nouvelle façon d’appréhender la réalité”, even, “une mé-taphysique” (p. 53) – demolishing Thibaudet’s more traditional approach (p. 52) – even if he tended to concentrate on “un corpus de quelques pages privilégiées”3 to form his judgement, and largely ignoring Flaubert’s early works. If Proust was an extremely astute critic, he could also be biased, as Schmid shows in her chapter, when, through a number of articles dedicated to Montesquiou, but largely written with the aim of distancing himself from the Decadent mo-vement, he painstakingly tries to present the – widely-considered Decadent – poet as a classic. In fact, as Schmid shows, Proust seeked most of all to defi ne his own conception of a “langage poétique, dépassant la simple dénotation” and which “doit s’engager dans la voie de la conno-tation, faisant résonner en nous ‘[l]es affi nités anciennes et mystérieuses entre notre langage maternel et notre sensibilité’”4 (p. 71). This ‘charme natal’ is truly evocative for him and never amounts, surprisingly, given the nationalist climate in which he was writing, to a panegyric of nationalism. Indeed, one of the most interesting aspects of current Proustian criticism is that, as Alison Finch suggests in her chapter, it is clear that among the “successive waves in Proust criticism” we can now add one that is concentrating on “the historical and political” (p. 83). And in her chapter as in Hughes’, it is striking how much Proust’s novel offers itself, in Finch’s words, as “a conduit to self-knowledge for a culture” (p. 96) which is as complex, multi-layered as the key moment in French history it evokes.

Though France was extremely divided by the Dreyfus Affair (anti-Semitism was rife, in-cluding in artistic circles since not all artists were as clearly minded as Zola or Proust; Degas, Cézanne, Renoir for example were all anti-dreyfusards), Proust managed to offer a plea to “comprendre et […] écouter”5 (p. 148). Eventually it is both his intellectual depth and honesty and his profound belief that literature has higher goals to fulfi l than to serve partisanship (of any kind) – “tant de conversations humanitaires, patriotiques, internationalistes, et métaphysiques. Plus de style, avais-je entendu dire alors, plus de littérature, de la vie”6 (p. 133) – which makes his novel so different. The reason for this is, as Hughes shows, that through his narrator, Proust exposes “the vexatious burden and pervasiveness of subjectivist opinion” (p. 148) in all aspects of life. The general caricatural depiction of foreign culture which is pervading Barrès’ prose, as Hughes shows in his excellent chapter, is in fact widespread in France at the time and we can see as an aside to Gamble’s interesting chapter on Japonisme that nationalism (when it does not amount to downright xenophobia) infi ltrated all discourses when it came to evaluate foreign art or ‘infl uence’: “Tout cela sent l’Anglais vicieux, la Juive morphinomane ou le Belge roublard, ou une agréable salade de ces trois poisons”7 (p. 118), writes the art critic Arsène Alexandre about Art Nouveau in Le Figaro.

Patrick McGuinness too explores aspects of cultural politics in the context of Symbolism and Decadence. Looking closely fi rst at Anatole Baju’s Le Décadent magazine (fi rst published in 1886) and fi nishing with his Anarchie littéraire, he traces the beginnings of the reactionary école romane with its vision of a society on the brink of collapse “choking on luxury, and sin-

3 Gérard Genette, Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris: Seuil, 1982, p. 128.4 Essais et articles, in: Contre Sainte-Beuve, ed. by P. Clarac and Y. Sandre, Paris: Gallimard, Biblio-

thèque de la Pléiade, 1971, p. 393.5 À la recherche du temps perdu. Vol. 4, ed. by J.-Y. Tadié, Paris: Gallimard, Bibliothèque de la Pléiade,

1987–1989, p. 492.6 Ibid., p. 461.7 Arsène Alexandre, “L’Art Nouveau”, in: Le Figaro (28 décembre 1895), p. 1.

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king into corruption” (p. 263). Using Bourdieu’s description of the split between Decadents and Symbolists – as delineated in Les Règles de l’art – as a starting point, but refi ning the op-position the French sociologist established in order to show that there was much more fl uidity within the two groups (and McGuinness’ extensive knowledge of the Belgian fi eld serves him well here), he demonstrates how the real difference between the two groups is to be located in the injection of politics into literary theory on the Decadent side – or, on the Decadent side as Baju conceived it – whereas the Symbolist’s objective remained fi rmly anchored in the autono-mous artistic fi eld. The underlying chauvinistic and nationalistic discourse (as exemplifi ed in Baju’s attacks on Russian and German literature – which fi ts with the general condemnation of Nordicity supposedly ‘polluting’ the French ‘génie’) reminds us that the period was intensely polarised (and the Dreyfus Affair only aggravated this) around these ideas which permeated literature (and poetry in particular) in the early 1890s.

As McGuinness reminds us too, Richard Bales did have a strong interest in Belgium, and it is thus befi tting to conclude with two essays dedicated specifi cally to Belgian artists. For her part, Claire Moran explores the place of theatre and mise en scène in the works of Belgian painters Fernand Khnopff and James Ensor. In the case of Khnopff, whose aesthetic is based on artifi ce, she argues that his “visibly constructed and staged paintings draw attention to our processes of interpretation” (p. 244) and that by “staging” reality, his aim is to question percep-tion and representation. In order to achieve this, he overtly manipulates the spectator’s quest for meaning, which, in Moran’s view, seems to indicate that his “Symbolism is therefore in many ways a decoy” or a “playful mise en scène” (ibid.) in his works. Some of Khnopff’s paintings (Memories for example), according to her (referring to Michel Draguet), echo Maeterlinck’s concept of a theatre of shadows in which the drama is essentially concealed rather than staged, and interiorized. She also notes Khnopff’s use of photography and his work on frames, which were an integral part of his aesthetics: usually highly elaborate, she suggests that “frames […] existed as curtains behind which a theatre of the ideal was staged” (p. 250). The mise en scène is also present in James Ensor, whose stylistic trajectory evolved from Realism to Expressionism. There is no doubt that Ensor was indeed immersed in the theatrical and thus in his paintings, the spectator often fi nds compositions dominated by artifi ciality. His self-portraits, and subsequently his works on masks fi rmly locate his works in a deliberate search for theatricality. At the same time, Ensor uses these devices in a quest for truth, the grosteque form of the mask allowing him to depict “the unfortunate truth which lies beneath a seemingly respectable exterior” (p. 253). She concludes by underlining the contrast between the two artists in their use of theatrical techniques and mise en scène: if one tried to highlight the artifi ce of painting and to question the spectator’s processes of interpretation (Khnopff), the other essentially concentrated on staging the dramas of the everyday (Ensor); however, as she clearly demonstrated, they both used the theatre as an intermediary, a device to “renew the relationship between image and reality” (p. 257).

With Peter Broome’s chapter, we enter the universe “where things do not tally” (p. 284), the worlds of Henri Michaux and René Magritte. The author, in his perceptive analysis, shows how the “sense of lack” (p. 285), which can arguably be said to be at the centre of both artists’ works, conveys at its core an awareness of the insubstantiality of reality. He rightly evokes the sense of “enigma” that remains undecipherable in their work, and the ensuing insistence, on Michaux’s part, on the notion of “incomplétude” (ibid.) and, on Magritte’s part, on the mystery as unknowable. More importantly, in their works “one is drawn into the disconnective dynamics of a hybrid of real and illusory” (ibid.): this is clearly due to the fact that Magritte was a Surrealist painter and that Michaux, although not a Surrealist himself, was familiar with Surrealism and indeed, like so many of his generation (he was only three years younger than Breton and one year younger than Magritte), had been in contact with some of them (Michaux

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was very close to Claude Cahun for example). Both being Belgians, they did not adhere to ‘automatic writing’ in any case (since the Belgian Surrealists refused to follow Breton on that path) and Broome rightly calls them “logiciens de l’imagination” (p. 286). Both, in any case, were interested in what Paul Nougé – one of the most prominent Belgian Surrealists from the ‘Groupe de Bruxelles’ – called the “subversion des images” (title which refers to the collection of nineteen photographs taken between December 1929 and February 1930 which he published as a volume in 1968). As Broome excellently points out, both were, as to be expected in the context of the “spirit of Surrealism” (ibid), interested in dreams, which Michaux called “cet anti-éloquent par excellence”8 (p. 288). And indeed, if Michaux, a painter himself, was practicing this non-verbal art in order to “[se] déconditionner”9 (p. 292) from the alienation of words, one must not forget that Magritte, of all the Surrealist painters, was one who also had questioned words, hoping for the poetry of the image to dispense with any symbolic signifi cance. It is thus be-fi tting that this excellent essay, closing this very stimulating volume, should close on the notion of “entre-deux” (p. 299) in which, as Broome concludes, “text and painting, verbal and non-verbal, achieve their fruitful, if provisional, communication and their unfi nished play of mirrors” (ibid.), on the edge of silence.

Oxford Nathalie AUBERT

8 Henri Michaux, Œuvres complètes. Vol. 3, Paris: Gallimard, Bibliothèque de la Pléiade, 2004, p. 488.9 Ibid., p. 543.

Peter KOCH/Wulf OESTERREICHER, Gesprochene Sprache in der Romania. Französisch, Italienisch, Spanisch. 2. aktualisierte und erweiterte Aufl age (Romanistische Arbeitshefte, 31), Berlin/New York: de Gruyter, 2011, XVIII + 329 S.

21 Jahre nach der ersten Aufl age legen die Vf. eine überarbeitete, auch typografi sch verän-derte Version ihres Werks vor, die vier Jahre nach der ebenfalls überarbeiteten und für ein spa-nischsprachiges Publikum eingerichteten Übersetzung erschienen ist.1 Insofern sei „die zweite deutsche de facto bereits eine dritte Aufl age des Buches“ (V). Die erste Aufl age wurde in dieser Zeitschrift von Klaus Hunnius in der außergewöhnlich kritischen, ja galligen Art besprochen, für die dieser Rezensent bekannt ist.2 Selten dürfte in der deutschen Romanistik die Bedeutung eines Buchs deutlicher verkannt worden sein als bei Hunnius. Die Erforschung der gesprochenen Sprache – so Hunnius – werde von Koch und Oesterreicher „erneut aufgerollt“, bewege sich dabei „grundsätzlich in Söllschen Bahnen“, auch wenn „auf den obsolet gewordenen Kodebe-griff verzichtet und die damalige Vorliebe für dichotomische Gegenüberstellungen gemildert“ worden sei. Insofern erwarteten den Leser „keine originellen Überraschungen, sieht man von

1 Peter Koch/Wulf Oesterreicher, Lengua hablada en la Romania: Español, francés, italiano. Versión española de Araceli López Serena, Madrid: Gredos, 2007.

2 In: ZFSL 101 (1991), S. 303–306. Am anekdotischen Rande sei erwähnt, dass auch der Autor dieser Zeilen einmal von Hunnius vernichtend rezensiert wurde (in: RJb 41 [1990], S. 168–170). Trost spendete dem Autor seinerzeit … Peter Koch. Die im Dezember 2012 abgeschlossene Rezension kann neuere Beiträge von Hunnius (in: ZFSL 123 [2013], RJb 63 [2012]) nicht berücksichtigen.

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terminologischen Kreationen ab“.3 Dabei war es gerade die Schaffung der Begriffe Nähe- und Distanzsprache, welche dank der konträren Antonymie der als Determinans von Sprache fun-gierenden Substantive Nähe und Distanz die Skalarität möglicher Versprachlichungsformen in Abhängigkeit von jeweils zu beschreibenden Kommunikationsbedingungen in schlagender Weise erhellte. Das war keine – wie Hunnius schrieb – „Milderung“ der strengen Söll’schen Dichotomie ‚gesprochen‘ vs. ‚geschrieben‘, sondern eröffnete, auf der Grundlage stringent he-rausgearbeiteter Parameter, ganz erhebliche neue Möglichkeiten der Analyse mündlicher Rede oder ‚Diskurse‘. Die wesentliche Leistung des Koch/Oesterreicher’schen Ansatzes, die von Hunnius kaum gewürdigt wurde, besteht wenigstens in viererlei: 1. in dem gerade erwähnten Ersatz einer Dichotomie durch ein Kontinuum, 2. in der Kombination des Phänomens der Nähe-/Distanzsprache mit Coserius Dreiebenenmodell der Sprache, 3. in der Ausweitung der von Söll für das Französische eröffneten Fragestellung auf das Italienische und Spanische und 4. in der äußerst fruchtbaren Erweiterung der synchronischen Perspektive auf die Sprachgeschichte.

Die zweite Aufl age, so formulieren die Vf., habe zu „beträchtlichen Erweiterungen und Neu-justierungen“ geführt (VI). Tatsächlich ist die Struktur des Buchs fast vollständig beibehalten worden. Einzig Kapitel 3, dessen Titel 1990 „Gesprochene Sprache: Hinweise zur Forschungs-geschichte und Charakterisierung der Corpora“ lautete, trägt jetzt die Überschrift „Gesprochene Sprache: Hinweise zur Forschungsgeschichte und Überlegungen zur Corpuslinguistik“ (XIII, 21). Die Vf. verzichten mit Ausnahme von C-ORAL-ROM nunmehr auf eine Einzelcharakte-risierung von Korpora, die sie durch vorwiegend kritische Bemerkungen zur Korpuslinguistik ersetzen. Diese bringe „eine ganze Reihe von schwerwiegenden Problemen“ mit sich (38), weil es an technologischen Lösungsmöglichkeiten für zahlreiche wünschenswerte Fragestellungen, z. B. im semantischen Bereich, fehle.

Ein wesentliches Anliegen der Vf. war und ist es, den Problemen bei der Beschreibung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit „mit Hilfe eines einheitlichen, sprachtheoretisch fundier-ten Modells“ (1) zu begegnen. Das Coseriu’sche Dreiebenenmodell wird in der von den Vf. veränderten Version dargestellt, welche durchaus Kritik erfahren hat, weil sie den Status der individuellen Ebene als derjenigen des ‚Meinens‘ im Unterschied zu der des ‚Sagens‘ offenbar nicht erkennen kann oder will.4 Dem berühmt gewordenen „Nähe/Distanz-Kontinuum“, in das jetzt beispielhaft einzelne Kommunikationsformen bzw. Diskurstraditionen eingezeichnet sind (13), werden „konzeptionelle Reliefs“ beigegeben, bei denen für die einzelnen Parameter der Kommunikationsbedingungen die jeweiligen Nähe- bzw. Distanzwerte eingetragen werden (8 f.). Allerdings wird dabei nicht so recht klar, wie sich aus dem jeweiligen Relief – etwa für das Vorstellungsgespräch (9) – die entsprechende mittlere Position im Nähe/Distanz-Kontinuum (dort etwas links von der Mitte zwischen den Polen, 13) spezifi sch errechnen ließe. Das Va-rietätenmodell, das seit seiner Vorstellung die schärfste Kritik hervorgerufen hatte, wird un-verändert beibehalten (17). In Bezug auf seine Konkretisierung hinsichtlich der französischen Nähesprache „im engeren Sinne“ heißt es unverändert, die Markierung von Phänomenen als „gesprochen“ werde „zu Unrecht immer wieder in Zweifel gezogen“ (164). Es folgt der Verweis auf eine andere Anmerkung (153), welche die Arbeiten von (zahlreichen, wenn auch nicht allen) Gegnern und (wenigen) Befürwortern immerhin aufl istet, allerdings ohne einer Darstellung der

3 Ebd., S. 303 f.4 S. z. B. die Beiträge in Angela Schrott/Harald Völker (Hgg.), Historische Pragmatik und historische

Varietätenlinguistik, Göttingen: Universitätsverlag, 2005, durch die eine noch nicht zum Abschluss gekommene Diskussion über das veränderte Dreiebenenmodell endlich in Gang gekommen ist. Zu Wort kommen bei Koch/Oesterreicher nur die Vf. selbst sowie Raymund Wilhelm, der übrigens in Mainz an der Manuskriptherstellung der ersten Aufl age von Gesprochene Sprache in der Romania mitgewirkt hat.

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contra-Argumente Raum zu geben. Verzeihlich ist dies nur deswegen, weil ja auch der Leser dieses Arbeitshefts Aufgaben erledigen soll: So fordert die zu dem Abschnitt gehörende neue Arbeitsaufgabe Nr. 4 dazu auf, die entsprechenden Argumente zusammenzustellen und abzu-wägen (183).5

Umfangreichere Ergänzungen betreffen weniger die heutigen Sprachen – so fi ndet sich zwar eine Ergänzung zum Problem der Negation im Französischen (172 f.), nicht jedoch zu vielen anderen besprochenen Phänomenen –, sondern vor allem die diachronische Dimension der Fragestellung. Dies gilt etwa für die historische Diskursanalyse, die zumindest bibliografi sch aufgearbeitet wird (29). Auch die Entstehung der romanischen Sprachen aus dem lateinischen Varietätenraum wird ausführlicher dargestellt als in der ersten Aufl age. Anders als bei der Pro-blematik der Varietätendimension ‚gesprochen/geschrieben‘ gehen die Vf. hier auf kontroverse Positionen differenziert ein (138). Eng mit der Ausleuchtung der Sprachgeschichte hängt das Problem der Plurizentrik zusammen, das zwar vorwiegend im Zusammenhang mit dem Spani-schen neu behandelt wird (231 f., mit etwas zu selektiver Bibliografi e), gleichwohl auch bei der Behandlung des Französischen angeschnitten wird (155). Für das Französische würde es sich lohnen, einen Blick auf das Konzept des français de référence zu werfen, das schon seit längerem belgische und kanadische Linguisten ins Spiel bringen.6 Dabei wird der französische Standard nur als eine metasprachliche Referenz angesehen, auf welche zum Zweck der Vergleichbarkeit die Standards der einzelnen frankofonen Länder bezogen werden, ohne dass diese sich ihm rea-liter unterordnen müssen. Die Berücksichtigung des Problems der Plurizentrik führt schließlich auch zur Veränderung des Modells, mit dem die „Auslastung der Varietätendimensionen“ der romanischen Sprachen illustriert wird (269).

Tiefergehende Revisionen, welche theoretische Grundannahmen der Vf. verändern würden, durften in der Neuaufl age kaum erwartet werden. Doch geben Koch und Oesterreicher dem aufmerksamen Leser die bibliografi schen Instrumente an die Hand, die ermöglichen, sich ein eigenes, u. U. divergierendes Urteil zu bilden. Insofern tragen die Vf. nicht nur abschließend die pathetisch anmutende Überlegung vor, dass „das mündige, seiner selbst bewusste Individuum […] nur als ein Subjekt gedacht werden [kann], das in seinem Kommunikationsverhalten die Fülle der sprachlichen Möglichkeiten zu nutzen vermag, die das Kontinuum zwischen Nähe und Distanz eröffnet“ (277), sondern sie leisten auch einen Beitrag dazu, dass Studierende zu mündigen und selbstbewussten Subjekten der wissenschaftlichen Auseinandersetzung heran-reifen können – selbst wenn dabei gelegentlich ein apodiktischer Ton gepfl egt wird, der auf rhetorische Mittel vertraut, um kein anderes Urteil zur Geltung kommen zu lassen.7 Das kann

5 Ergänzende contra-Argumente fi nden sich bereits in der Rezension der ersten Aufl age von Heidi Aschenberg, in: RF 103 (1991), S. 268–270. Weitere Argumente liefert Franz Lebsanft, „Plurizentri-sche Sprachkultur in der spanischsprachigen Welt“, in: Romanische Sprachwissenschaft. Zeugnisse für Vielfalt und Profi l eines Faches. Festschrift für Christian Schmitt zum 60. Geburtstag, hg. v. A. Gil, D. Osthus u. C. Polzin-Haumann, Frankfurt a. M.: Lang, 2004, S. 205–220.

6 Franz Lebsanft, „Régionalismes et ‚culture de la langue‘ dans le monde francophone“, in: La lexico-graphie différentielle du français et le Dictionnaire des régionalismes de France, hg. v. M.-D. Gleßgen u. A. Thibault, Straßburg: Presses Universitaires de Strasbourg, 2005, S. 289–297, hier S. 291.

7 Ein charakteristisch präzeptiver, keine Widerrede duldender Ton ohne jegliche Altersmilde zeichnet auch neu aufgenommene Passagen aus. Wenn etwa kritisch die Frage aufgeworfen wird, ob sich die neuen Medien adäquat mit dem Nähe/Distanz-Kontinuum erfassen ließen, so „ist jedoch entschieden zu widersprechen“, denn es „muss nämlich klar getrennt werden“ zwischen physikalisch und technisch bestimmten Medien. Daher ist das vorgeschlagene Modell „selbstverständlich“ ausreichend, um die neuesten „Kommunikationsformen und Diskurstraditionen“ zu erfassen. Die grafi schen Innovationen in diesem Bereich sind, wie abschließend geurteilt wird, „variationslinguistisch völlig irrelevant“ (S. 14, meine Kursivierungen).

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das intellektuelle Vergnügen an der erneuten Lektüre dieses auch nach mehr als 20 Jahren beein-druckenden Werks nicht verderben: Man darf den Autoren dankbar sein, eines der anregendsten und erfolgreichsten Werke der neueren romanistischen Linguistik in einer aktualisierten Fassung wieder zugänglich gemacht zu haben.

Bonn Franz LEBSANFT

Isabel KRANZ, Raumgewordene Vergangenheit. Walter Benjamins Poetologie der Geschichte, München: Fink, 2012, 285 S.

Nur schwerlich lässt sich Walter Benjamins Werk über einen Kamm scheren, denn es fi ndet sich darin eine ganze Vielfalt an Schreibweisen, Themen und politischen Haltungen vereint: Benjamin war Kritiker und Denker, Schriftsteller und Philosoph, Mystiker und Marxist. So sieht man sich denn auch bei jeder Lektüre seines Werks vor das Problem gestellt, wie die Texte Benjamins zu behandeln, welche disziplinären oder diskursiven Schlüssel zu verwenden sind, um sie richtig verstehen und verständlich vermitteln zu können. Dies gilt insbesondere für ein so vielgestaltiges Textmaterial wie Benjamins Passagenarbeit, zu der in den letzten Jahren nur wenige große Arbeiten entstanden sind. Zu nennen sind vor allem zwei Sammelbände von Bernd Witte und von Beatrice Hanssen,1 die sich aber gerade durch die große Bandbreite der Themen wie auch der methodischen Zugänge ihrer Beiträge auszeichnen. Weitere solcher punktuellen Einlassungen auf Benjamins nahezu unübersehbare Materialsammlung sind zukünftig dagegen wohl erst wieder zu erwarten, sobald die große vierbändige Neuausgabe im Suhrkamp Verlag erscheint, die Christoph Gödde und Henri Lonitz derzeit vorbereiten. Bis dahin, so könnte man meinen, wäre die Mühe zu groß und die Textgrundlage zu unsicher, um das vorliegende Material angemessen zu erfassen.

Nicht so Isabel Kranz. Auf die erweiterte Wiederaufl age wollte sie nicht warten und hat mit ihrer Dissertation Raumgewordene Vergangenheit. Walter Benjamins Poetologie der Geschich-te den Versuch eines neuen, umfassenden Zugangs zu Benjamins Passagenarbeit vorgelegt. Grundlage ist dabei nach wie vor die große Ausgabe von Rolf Tiedemann, auch wenn Kranz die editorische Anordnung und Betitelung der vorliegenden Fragmente zu Recht mit einer gewissen Skepsis kommentiert. Kranz bemüht sich dabei um eine Perspektive auf Benjamins Passagen, mithilfe derer das poetische Verfahren des Schriftstellers und das geschichtsphilosophische Er-kenntnisinteresse des Denkers Walter Benjamin zusammengedacht werden können: Sie fragt nach Benjamins „Poetologie der Geschichte“ und regt damit einen auch disziplinären Brückenschlag an, der sogleich einzuleuchten vermag. Im Detail bedeutet dies für Isabel Kranz, die sprachliche Genese einer Rede über Geschichte auf ihre begriffl iche und metaphorische Dimension hin zu befragen. Welche Begriffe verwendet Benjamin und woher nimmt er sie? Was konnotieren diese Begriffe in ihrem ursprünglichen, was in ihrem neuen Zusammenhang und welche Folgen lassen sich hieraus für das Benjamin’sche Geschichtskonzept erkennen? Welcher „Poetologie“ folgt dieses Geschichtsdenken? Dies sind die Fragen, die Isabel Kranz mit ihrer Studie aufwirft und anhand ausgewählter Themenkomplexe der Passagenarbeit zu beantworten sucht.

1 Bernd Witte (Hg.), Topographien der Erinnerung. Zu Walter Benjamins Passagen, Würzburg: Kö-nigshausen & Neumann, 2008; Beatrice Hanssen (Hg.), Walter Benjamin and The Arcades Project, London u. a.: Continuum, 2006.

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Methodisch geht sie dabei vor allem mittels Verfahren der Intertextualität vor – wenn auch kaum in der ganzen Bandbreite dieses Begriffs: Kranz befragt die von Benjamin zitier-ten Materialien vor allem produktionsästhetisch nach ihren ursprünglichen Horizonten und Bedeutungsspektren. Eine auch rezeptionsästhetische Arbeit mit dem Textmaterial dagegen wird zwar durchaus suggeriert und in Teilen angedacht, die eigene, im Bedeutungshorizont des 21. Jahrhunderts verankerte Lesart bleibt dennoch vage und unausgeführt.

Besonders gut lässt sich die trotzdem gewinnbringende intertextuelle Spurensuche Kranzens etwa an dem zentralen Begriff des „Abfalls“ („détritus“) verfolgen: Kranz rekonstruiert den Begriff aus einem von Benjamin in den Passagenmaterialien zitierten Satz von Rémy de Gour-mont, verfolgt seinen Gebrauch im ursprünglichen Kontext bei de Gourmont, wo er sich auf eine Arbeit der Brüder de Goncourt bezieht, befragt sein Bedeutungsspektrum etymologisch und führt die hieraus erwachsenen Erkenntnisse schließlich eng mit einem poetologischen Kommentar Benjamins aus dem Konvolut N der Passagenarbeit. Dieses Vorgehen zeichnet sich nicht nur durch die Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit aus, mit der Kranz dabei allen Bedeutungsfährten bis zu deren Ende folgt, sondern auch durch die Berücksichtigung gerade solcher Prätexte, die in der Forschung bislang selten besprochen wurden. Ganz in dem Sinne, in dem Kranz Benja-mins Vorgehen als „Abfallverwertung“ (S. 16) rekonstruiert, schlägt sie programmatisch vor, sich nicht am Kanon der Hochliteratur zu orientieren, sondern im Verlauf ihrer intertextuellen Spurensuche und Interpretationsarbeit den heute weniger bekannten Quellen, den Boulevardstü-cken und Gebrauchstexten des 19. Jahrhunderts, die Benjamin zuhauf rezipierte, eine größere Aufmerksamkeit zu schenken. Was so anhand von Motti, Überschriften und Einzelbegriffen (wie Sammler, Abfall, Hohlraum, Ruine usw.) an interpretatorischer Arbeit geleistet wird, ver-dient Beachtung. Es wird zukünftigen Studien gerade in methodischer Hinsicht wegweisende Anstöße geben.

Die thematische Klammer dieses Versuchs, Benjamins Verständnis von Geschichte in seinen poetologischen Koordinaten auf die Spur zu kommen, ist dagegen etwas anders einzuschätzen. In dieser Hinsicht geht Kranz weniger vom Peripheren, bislang nur marginal Beachteten aus, sondern rückt das für Benjamin in der Konzeption der Passagenarbeit wesentliche Verhältnis von Raum und Geschichte in den Fokus. Dieses Paradigma des Räumlichen eröffnet Kranz ein weites metaphorisches Feld, führt aber auch dazu, dass sich ihre Arbeit vielerorts eher im Rahmen des Offensichtlichen bewegt. Denn dass ein metaphorisches wie tatsächliches Denken von Räumlichkeit bei einer Betrachtung der Pariser Passagen von oberster Bedeutung ist, dürfte unstrittig sein. So ist es denn auch nicht die eher allgemeine These von der räumlichen Meta-phorik im Geschichtsmodell Benjamins, sondern jener genaue Blick fürs Detail, von dem die Leserinnen und Leser dieser Studie am meisten profi tieren werden. Kranzens raumästhetische und -philosophische Überlegungen dagegen bleiben oft vage.

Hierbei fällt zugleich auf, dass die Auseinandersetzung mit Benjamins ‚Räumen‘ eigentlich vor allem auf eine bestimmte räumliche Konstellation hinausläuft, nämlich auf die des Interieurs, dem Kranz große Teile ihrer Arbeit widmet. Mit einer solchen Ausführlichkeit wird das Interieur behandelt, dass eigentlich kaum noch von einer Analyse der geschichtsphilosophischen Poetolo-gie Benjamins die Rede sein kann. Tatsächlich geht Isabel Kranz mit einem hoch spezialisierten Erkenntnisinteresse vor. Das ist auch gar nicht verwunderlich, hätte aber durchaus expliziter ausgezeichnet werden können (etwa auch im Titel der Arbeit). Denn mit der Konzentration auf die kleinen und großen Raumkonstellationen des Interieurs, in der Auseinandersetzung mit den Hohlräumen, den Wohnräumen, den Räumen des Sammelns (z. B. des Museums) und des Gesammelten (z. B. der Muscheln, Aquarien usw.) gerät sowohl der eigentlich geschichtliche wie auch – und das wiegt m. E. schwerer – der politische Aspekt aus dem Blick. Mit ihm aber wird jede Tendenz einer Aktualisierung von Geschichtlichem, jedes revolutionäre Potential, das

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ohne Zweifel im Kern des Benjamin’schen Denkens seinen Platz besitzt, entschärft oder doch zumindest in den Hintergrund gerückt.

Dies hängt denn auch mit einem methodischen Problem zusammen, dessen Kranz sich al-lerdings sehr wohl bewusst ist. Wiederholt platziert sie daher in ihrer Studie Bruchstücke einer kritischen methodischen Hinterfragung ihres eigenen Vorgehens, ohne das damit einhergehende Problem doch je einmal auf den Punkt zu bringen oder gar aufzulösen. Zielen nämlich ihre Ana-lysen in erster Linie auf eine eher produktionsästhetisch ausgerichtete Rekonstruktionsarbeit, die sich darum bemüht, Benjamins Zitatmaterialien und Quellen wieder in ihre ursprünglichen Kontexte einzubetten, so hat doch Benjamin selbst gerade eine Textstrategie profi liert, die das Auf- und Ausbrechen aus solchen Kontexten propagiert. Die Benjamin’sche „Konstellation“2 lebt ja gerade von der produktiven Platzierung der aus ihren ursprünglichen Kontexten geris-senen ,Wortabfälle‘ in einen neuen Zusammenhang. Schließlich ist es gerade diese Denkbe-wegung, die einen Gegenwartsbezug ermöglicht. Für Benjamin formt die Reorganisation des Zitierten, wie Kranz an einer Stelle ganz recht anmerkt, „eine disjunktive Zusammenstellung, die auf Brüche ausgelegt ist“ (S. 224). Genau dies ist mit dem Prinzip literarischer Montage impliziert und gerade für Benjamins Poetologie von eminenter Wichtigkeit. Hierzu aber steht Kranzens Vorgehen, bei dem stets zuerst die Frage gestellt wird, wie ein Zitat im ursprüngli-chen Zusammenhang gelesen werden konnte oder musste, in einem unübersehbaren Konfl ikt. Viel erfährt man über diese Texte wie auch über die begriffl ichen und gedanklichen Wege, die Benjamin gegangen sein mag. Doch der Versuch, Benjamins Poetologie nachzuvollziehen, tritt so in geradezu performativer Weise in einen Widerspruch zur eigentlichen Poetik des Projekts.

Durchaus hätte Isabel Kranz ihren ganz eigenen Weg durch das Material beschreiten kön-nen, der dann das Zeug gehabt hätte, Benjamin erklärtermaßen „gegen den Strich zu bürsten“3 und somit auch das aktualisierende Potential seiner Arbeit zu verwirklichen. Stattdessen aber konzentriert die Verfasserin sich eher auf das, was sie Benjamins „Verstricktsein ins Material“ (S. 265) nennt – und verfängt sich zugleich mit ihrer eigenen Studie darin. Wie ein extensiver, oft schulmeisterlicher Kommentar lesen sich viele Passagen ihres Buches, wenn Kranz manchen Begriffen und Kontexten in einer Ausführlichkeit nachgeht, die den argumentativen Rahmen der Studie deutlich überschreitet. So fi nden sich etwa manches Mal Forschungsexkurse nicht nur zu Benjamins Arbeit und ihren Quellen, sondern auch zu dem historischen Kontext, den sie beschreiben (z. B. zum Rokoko-Interieur, S. 161 f. oder S. 209 f.), als ginge es darum, die historische Situation selbst noch einmal zu erschließen. Auch werden zahlreiche historische Quellen zitiert, die – obgleich denkbar wäre, dass sie Benjamin selbst rezipiert haben könnte – de facto gar nicht in seiner Materialsammlung vorkommen (vgl. z. B. S. 158, 168, 236–238). Zuletzt fallen auch einige theoretische Exkurse ins Auge, die begriffl ich und stilistisch eher von Benjamin fortführen als zu ihm hin – etwa der Verweis auf Didi-Hubermans Engführung der Begriffe „Matrize“ und „Gebärmutter“ (S. 169 f.).

So ergibt sich schließlich der Eindruck, dass hier schlicht alles maximal zu Ende gedacht wird – selbst das in der Forschung bereits Bekannte und Etablierte: Geradezu kursorisch nimmt Kranz den gewissenhaften, dann aber doch oft ausfallenden Umweg zu ihrem eigentlichen Ma-terial – nämlich den bis dato eher marginal behandelten Zitationen und Verweisen – über die Auseinandersetzung mit den ausformulierten Exposés und Vorfassungen des Passagenprojekts (Kapitel 1.2). Auch den Genres und der Ordnung der Konvolute widmet sie einen relativ großen Anteil ihres Buches, ohne hier doch sonderlich viel Neues entdecken zu können. Gar nicht so

2 Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hg. v. R. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1991, S. 691–704, S. 703.

3 Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, ebd., S. 697.

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neu und ungewöhnlich sind daher auch die ‚Eingänge‘, die Isabel Kranz in Benjamins Material verfolgt – etwa weil auch sie, obgleich die Verfasserin eigentlich eine andere Vorgehensweise postuliert (vgl. S. 89), zumeist vom vielzitierten Konvolut N ausgehen (vgl. S. 19, 102, 107).

Es ist folglich gerade nicht der argumentative Weg, der Isabel Kranzens Studie zu einer lohnenswerten Lektüre macht, sondern eher ihre Gewissenhaftigkeit und Aufmerksamkeit fürs Detail. Ihr „Interesse [...] an den Archiven und Werkstätten der Geschichte“ und die damit einhergehende „intensivierte Konzentration auf das Material“ (S. 265) führen dabei zu einer zuletzt doch nicht so interdisziplinär profi lierten Studie, die ein viel größeres Interesse an philologischen und motivischen Konstellationen erkennen lässt als an historisch-politischen. Während Benjamins ausufernde Passagenarbeit manchen Forscher zu einer eher rhapsodischen Lektüre bewegen mag, hat Isabel Kranz einen gewissenhaft-nüchternen Weg gewählt. Keine politische, nur vielleicht eine philologische ‚Sprengkraft‘ geht von ihrer Studie aus, insofern sie einen gigantischen Materialblock aufzubrechen begonnen hat, der uns mit der zukünftigen Neuausgabe der Benjamin’schen Passagenarbeit noch manche Verstehensanstrengung abzu-verlangen verspricht.

Frankfurt (Oder) Andree MICHAELIS

Rafael MARÍN/Florence VILLOING (Hgg.), Nominalisations: nouveaux aspects (Lexique, 20), Villeneuve d’Ascq: Presses Universitaires du Septentrion, 2012, 242 S.

Das hier besprochene Heft der Zeitschrift Lexique versammelt acht thematisch eng ver-bundene Beiträge zu französischen Nominalisierungen. Im Vordergrund stehen die deverbalen Nominalisierungen. Ihre semantische Seite, und hier besonders die Schnittstelle zwischen Morphologie und Semantik, bildet den zentralen Gegenstand des Heftes. Die einzelnen Beiträge werden im Folgenden in der Reihenfolge besprochen, in welcher sie im Band erscheinen.

Die Einleitung von Rafael Marín und Florence Villoing (S. 7–19) bietet eine hervorragen-de Einführung in die für die Forschung zu diesem Thema derzeit zentralen Fragen: Hier sind zunächst die aspektuellen Eigenschaften von Nominalisierungen zu nennen und besonders der Zusammenhang von Aspekt und nominalen Zählbarkeitseigenschaften. Zweitens geht es um die verschiedenen Lesarten von Nominalisierungen und um die Frage, welche Faktoren die Verfügbarkeit einer Lesart für eine gegebene Nominalisierung bestimmen. Drittens wird die altbekannte Unterscheidung zwischen ereignisbezeichnenden und objektbezeichnenden Nomi-nalisierungen genauer beleuchtet und es wird gezeigt, dass beide Typen jeweils in verschiedenen semantischen Schattierungen vorkommen.

Lucie Barque, Antonio Fábregas und Rafael Marín beschäftigen sich in ihrer Studie „Les noms d’état psychologique et leurs ‚objets‘: étude d’une alternance sémantique“ (S. 21–41) mit einer semantischen Alternation, die sich bei vielen – aber nicht allen – Nominalisierungen von Gefühlsverben fi ndet: mit der Alternation zwischen einer Lesart, in welcher die Nominalisie-rung einen Gefühlszustand bezeichnet (Zustandslesart, vgl. Il nous parle de son obsession pour la vidéo), und einer weiteren Lesart, in welcher dieselbe Nominalisierung sich auf das Objekt bezieht (Objektlesart), auf welches dieser Gefühlszustand gerichtet ist (vgl. La propreté, c’est son obsession). Erstere Lesart unterscheidet sie von der zweiten auf der Basis von Eigenschaften wie Zählbarkeit und Argumentstruktur. These der Studie ist, dass Gefühlsverben, welche den Experiencer als Subjekt realisieren (z. B. craindre), die Objektlesart dann aufweisen, wenn ihr direktes Objekt vom Typ ‚Ereignis‘ ist, nicht aber, wenn es vom Typ ‚Objekt‘ ist (vgl. Pierre a

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une crainte: la venue de Marie vs. *Pierre a une crainte: son père et sa mère). Gefühlsverben, welche den Experiencer als Subjekt realisieren (z. B. obséder), erlauben dann eine Objektlesart, wenn die Bedeutung des Verbs einen Zustand impliziert, der von einer gewissen Dauer ist (vgl. Monet a une seule obsession: la couleur vs. *Les touristes du Nord ont un seul étonnement: la taille des fruits du Sud).

Nominalisierungen von sogenannten homogenen Prädikaten, d. h. von durativen Verben (Aktivitätsverben) und von stativen Adjektiven, sind das Thema der Untersuchung „Distribu-tion et interprétation des noms de qualité et d’activité: une comparaison“ von Delphine Beau-seroy und Marie Laurence Knittel (S. 43–71). Ziel der Untersuchung ist die Herausstellung der Gemeinsamkeiten beider Nominalisierungstypen. Beide Typen haben nur ein Argument und sie weisen eine ähnliche syntaktische Distribution auf; insbesondere kommen sie oft in Funktionsverbgefügen vor. In semantischer Hinsicht teilen sie die Eigenschaft, dass sie neben der Aktivitätslesart (bei deverbalen Nominalisierungen) bzw. der Zustandslesart (bei deadjek-tivischen Nominalisierungen) auch eine Ereignislesart aufweisen (z. B. course in J’ai fi lmé plusieurs courses, und imprudence in Il a commis une imprudence). Während diese Nomina in der Zustands- bzw. Aktivitätslesart nicht zählbar, also Massennomen sind, verhalten sie sich in der Ereignislesart wie Individuennomen, sind also zählbar.

Die Frage, welcher Unterschied zwischen deverbalen Nominalisierungen mit dem Affi x -age (z. B. arrivage) und dem Affi x -ée (z. B. arrivée) besteht, bildet den Gegenstand der recht umfangreichen Studie von Karen Ferret und Florence Villoing zum Thema „L’aspect gram-matical dans les nominalisations en français: les déverbaux en -age et -ée“ (S. 73–127). Die Autorinnen argumentieren, dass sich eine Reihe von Unterschieden zwischen den Affi xen -age und -ée durch die Annahme erklären lassen, dass -age imperfektiven Aspekt ausdrückt und -ée perfektiven Aspekt, analog zu den verbalen Flexionsendungen. Zu diesen Unterschieden gehört z. B. die Beobachtung, dass -ée sich vor allem mit unakkusativischen Verbbasen verbindet, -age hingegen vor allem mit unergativischen Verbbasen, dass -age nicht an Verbbasen angefügt wird, die Zustände oder Achievements bezeichnen, während -ée in dieser Hinsicht weniger Restrik-tionen unterliegt, und schließlich auch, dass Nominalisierungen mit dem Affi x -age besonders häufi g eine Interpretation haben, in welcher die Verursachung eines Zustands oder Ereignisses als hervorgehoben erscheint. Als Datenbasis dienen Korpusbelege, die Nominalisierungen auf -age und auf -ée enthalten, welche von knapp 50 Verben abgeleitet sind, deren Besonderheit darin besteht, dass sie sowohl eine Nominalisierung auf -ée als auch eine auf -age bilden.

Eine in der Literatur wenig beachtete Lesart, die „lecture moyen“, wie sie beim Nomen couverture im Beispiel Une couverture d’ardoise en mauvais état couvre la grange auftritt, steht im Vordergrund des Beitrags von Bernard Fradin („Les nominalisations et la lecture mo-yen“, S. 129–156). Wie der Autor zeigt, ist diese Lesart nicht identisch mit der Agens- oder der Instrumentbedeutung, die sich bei Nominalisierungen oft fi nden, und ihr Auftreten ist an bestimmte Eigenschaften des Basisverbs geknüpft, welches, so Fradin, u. a. statisch sein muss. Die „lecture moyen“ lässt sich nicht von einer Resultatslesart ableiten, sondern tritt auch bei Verben auf, die keine solche Lesart erlauben. Zur Erfassung dieser Beobachtungen entwickelt der Autor eine formalsemantische Analyse im Rahmen der Konstruktionsgrammatik bzw. der Konstruktionsmorphologie. Grundannahme dieser Analyse ist, dass die „lecture moyen“ sich nur bei Verben fi ndet, deren Bedeutung sich durch ein Verbschema darstellen lässt, welches kein Agens umfasst und durch welches eine kausale (oder räumliche) Beziehung zwischen einem Objekt und einem Ereignis hergestellt wird.

Auch der Aufsatz von Françoise Kerleroux „Il y a nominalisation et nominalisation“ (S. 157–172) beschäftigt sich mit den Lesarten von deverbalen Nominalisierungen. Den Aus-gangspunkt bildet die Beobachtung, dass deverbale Ereignisnominalisierungen (wie chauffage)

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eine beachtliche Polysemie aufweisen, insofern sie z. B. den abstrakten Prozess ebenso wie das konkrete Ergebnis bezeichnen können, während z. B. deverbale Agens- oder Ortsnominalisie-rungen (wie coureur oder lavoir) keine derartige Polysemie kennen. Als Erklärungsrahmen dient der Autorin der Ansatz von Croft (1991), der annimmt, dass Wortarten eine prototypische pragmatisch-diskursive Funktion haben. Die Funktion von Nomen besteht darin, zu referieren, Verben hingegen prädizieren und Adjektive schließlich modifi zieren. Kerleroux vertritt die These, dass ein Wort, welches als nicht-prototypisches Exemplar einer Wortart erscheint, wie z. B. ein ereignisbezeichnendes Nomen, das der Autorin zufolge eher eine prädikative denn eine referenti-elle Funktion hat, Prozessen der semantischen Extension unterliegt, die seine Bedeutung hin zur prototypischen, d. h. konkret-gegenstandsbezeichnenden, referierenden Funktion verschieben.

Ein innovatives methodisches Vorgehen bildet die Basis von Fiammetta Namers Beitrag „Nominalisation et composition en français: d’où viennent les verbes composés?“ (S. 173–205). Sie untersucht gelehrte Bildungen vom Typ neurostimulation, die von Wörterbüchern und Gram-matiken bisher nicht in einem ihrer Vorkommenshäufi gkeit angemessenen Maße thematisiert wurden. Wie die empirische Untersuchung der Autorin zeigt, fi nden sich derartige Bildungen in einem webbasierten Korpus weitaus häufi ger als z. B. im Referenzkorpus des Trésor de la langue française informatisé. Diese Bildungen, die aus einem gelehrten Element und einer deverbalen Nominalisierung bestehen, sind in morphologischer Hinsicht auch deshalb von In-teresse, weil ihnen zwei verschiedene Strukturanalysen zugewiesen werden können: Sie können als Ableitungen von Verben (die ihrerseits Komposita mit gelehrtem Erstglied sind) analysiert werden, sie können aber auch als Komposita aus einem Nomen und einem gelehrten Erstglied betrachtet werden. Auf der Basis einer detaillierten Analyse der Korpusdaten argumentiert die Autorin für die zweite Analyse.

Isabelle Roy und Elena Soare betrachten in ihrem Aufsatz „L’enquêteur, le surveillant et le détenu: les noms déverbaux de participants aux événements, lectures événementielles et structure argumentale“ (S. 205–231) die drei im Titel illustrierten Typen von Partizipantennominalisie-rungen, also solchen, die auf Teilnehmer eines vom Basisverb bezeichneten Ereignisses referie-ren. Sie zeigen, dass Partizipantennominalisierungen, wie z . B. vendeur, mehrere Lesarten haben können, unter anderem z. B. eine episodische, ein Ereignis notwendig implizierende Lesart, wie in Le vendeur du caisson l’avait acheté 180 euros il y a un an, und eine dispositionelle, kein Ereignis implizierende Lesart, wie in Le vendeur de journaux à la criée se tient au coin de la rue. Die drei Typen unterscheiden sich auf systematische Weise in der Verfügbarkeit der möglichen Lesarten. Diese Beobachtung führen sie auf die unterschiedliche Bildung – durch Anfügung eines Derivationsaffi xes einerseits und durch Konversion aus einem Partizip andererseits – zurück.

Insgesamt bietet dieses formal sehr sorgfältig gestaltete Heft eine Vielzahl von interessanten Beobachtungen zur Syntax und Semantik von französischen Nominalisierungen. Die behandelten Fragen sind hochaktuell und nicht nur für Galloromanisten von Interesse; die in der Mehrzahl semantisch basierten Analysen zeichnen sich durch eine klare und angenehm theorieneutrale Begriffl ichkeit aus.

Berlin Judith MEINSCHAEFER

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Eva MAYERTHALER/Claudia E. PICHLER/Christian WINKLER (Hgg.), Was grammatische Kategori-en miteinander machen. Form und Funktion in romanischen Sprachen von Morphosyntax bis Pragmatik. Festschrift für Ulrich Wandruszka (Tübinger Beiträge zur Linguistik, 527), Tübingen: Narr, 2011, 286 S.

Der Band ist ein hommage an Ulrich Wandruszka und nimmt in seinem Titel auf das For-schungsprogramm Bezug, das im Zentrum von dessen Lebenswerk steht: die Kategorialgram-matik. Die Formulierung „miteinander machen“ ist wohl im Deutschen gewöhnungsbedürftig (zumal das Deutsche weit weniger Lokutionen auf machen stützt als etwa das Italienische auf fare), sie ist nicht ohne erotische Anklänge, aber eben aufgrund ihrer Spezifi k ein Hinweis auf eben dieses Forschungsprogramm. Die Kategorialgrammatik ist weithin aufgrund ihres relativ hohen Formalisierungsgrades oder ihrer relativ guten Verständlichkeit (oder eben aufgrund der Kombination von beidem) anerkannt, sie konkurriert aber doch mit anderen Modellen. In der Tat argumentiert nur einer der dreizehn Beiträge, der von Claudia Pichler, konsequent kategorial-grammatisch, und das in Hinsicht auf ein morphologisches (und nicht ein syntaktisches) Problem. Ein zweiter Beitrag, der von Thomas Krefeld, setzt die Kategorialgrammatik immerhin in die Beweisführung ein. Daniel Jacob greift in seinem Titel das Motiv des ‚Miteinander-Machens‘ auf, überträgt es nur auf die Wortarten. Hans Geisler stellt die Frage nach der Sinnlichkeit grammatischer Kategorien, allerdings in einem streng aristotelischen Sinn. Das so entstehende Bild ist bunt, wie es einer Festschrift ansteht. Die hohe Qualität der meisten Beiträge gibt einen Einblick in die zeitgenössische Forschung zur romanischen Syntax und Morphologie, der die Lektüre lohnt.

Zwei Beiträge sollen hier nicht näher besprochen werden, der von Michael Metzeltin („Re-ferentielle Semantik als Verstehensinstrument“, S. 109–127) und der von Georg Kremnitz („Zur Frage des Zeitpunkts der Erarbeitung von Referenzgrammatiken: Katalanisch, Baskisch und Galicisch im Vergleich“, S. 269–284). Metzeltin verhandelt, im Ausgang von einer etwas rudi-mentären Epistemologie, Grundfragen der Linguistik, ohne erkennbar an vorliegende Literatur anzuschließen. Inwiefern überhaupt Instrument? Verstehen ist ein ungesteuerter Prozess und die referentielle Semantik ist eine Dimension der verwendeten sprachlichen Zeichen. Sie stellt also eine Verstehensaufgabe dar. Georg Kremnitz diskutiert am Fall der drei Minderheitensprachen Spaniens ein Problem historischer Kontingenz in der Implementierung sprachlicher Standards, ob nämlich zum geeigneten Zeitpunkt die geeigneten Instrumente zur Festlegung des Standards bereits zur Verfügung stehen. Der Autor selbst macht deutlich, dass diese Thematik sich am Rande des Bandes bewegt, da sie Grammatik in ihrer politischen Dimension begreift.

Claudia Pichler („Gebundene Morpheme und morphologische Reanalyse: eine kategorial-grammatische Betrachtung“, S. 31–55) diskutiert im kategorialgrammatischen Modell die me-thodische Schwelle zwischen Morphologie und Syntax. Dabei ist die Annahme, dass Stämme Komplemente von Suffi xen, Suffi xe also Köpfe sind, auch für die Flexion durchaus plausibel. Plausibel ist ferner die Annahme, dass der Stamm die Leerstelle enthält, in die das direkte Objekt eingefüllt wird, und diese Leerstelle in die fl ektierte Form ,einbringt‘. Insofern werden Stamm und Suffi x für die Syntax relevant. Demonstriert werden diese Annahmen an infi niten Verbalsuffi xen des Italienischen (-ante, -ando), welche Kategorien vom Typ des Attributs und des Adverbials erstellen. Das Prinzip der Funktionskomposition, das die Zusammenfügung von Stamm und Suffi x steuert, erklärt ferner die funktionale Verschmelzung von zwei Derivations-suffi xen zu einem einzigen.

Christoph Schwarze („Wie syntaktisch ist die Morphologie? Der vierte Verbstamm des Ita-lienischen in einem Schichtenmodell“, S. 57–77) bezieht gerade gegen die Analyse von Syntax und Morphologie mittels derselben Begriffe Stellung. Diese Kritik reicht aber nicht weit. Dass

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Komplemente in der Syntax anders als in der Morphologie abgeschlossene Ausdrücke sind, wird ja nicht bestritten. Und kategorial neutral sind Stämme keineswegs, wenn sie auch nicht kategorial abgeschlossen sind: Sie enthalten Leerstellen bestimmter Anzahl oder eben nicht. An italienischer Stammvariation wird ein Modell erläutert, das kategorienbezogene, funktionale, phonologische und semantische Prozesse annimmt, die an morphologischer Verkettung beteiligt sein können, ohne dass ihr Eintreten vorhersagbar wäre. Es erscheint nur in gewissem Maß als sprachtypisch.

Sabine Laaha, Dominique Bassano, Isabelle Maillochon und Wolfgang U. Dressler („Con-structions synthétiques et analytiques dans l’acquisition de la fl exion verbale en français et al-lemand autrichien“, S. 79–91) untersuchen den Erstspracherwerb verbaler Flexion und verbaler Auxiliare bei insgesamt vier Kindern im Alter zwischen etwa 1;3 und 2;9 Jahren, und zwar im Kontrast zwischen Französisch und Deutsch. In einem methodischen und wissenschaftshistori-schen Sinn irritierend ist die fortwährend positive Wertung der französischen Daten („précoce“, „riche“, „iconique“, „transparent“, S. 88) und die fortwährend negative der deutschen („grand nombre d’erreurs“, S. 88). Die minimale Datenbasis lässt Schlussfolgerungen auf die beiden sprachlichen Systeme ohnehin nicht zu. Formen mit Auxiliar (Partizipien) verwendet eines der Kinder sechs Monate später als die übrigen. Ähnlich innerhalb derselben Sprache gestreut sind die Abfolgen von Infi nitiv, Imperativ und Präsens Indikativ P3. Den Jubilar vom Erkenntniswert der Natürlichen Morphologie zu überzeugen (S. 79), ist vielleicht nicht gelungen.

Hans Geisler („Wie sinnlich sind grammatische Kategorien?“, S. 93–108) diskutiert vor dem Hintergrund neuronaler Hirnforschung die Frage einer kognitiven, nämlich sensomotorischen Verankerung des Konzepts der Transitivität. Die Hypothese setzt voraus, dass man metaphori-sche Prozesse annimmt, welche Kategorien der Wahrnehmung in Richtung auf Abstraktionen ausdehnen. Für die Transitivität kommt hinzu, dass sie selbst aus einer Vielzahl von Parametern aufgebaut ist. Zwar wird plausibel gemacht, dass im Kontrast von [+ direkt transitiver] Kodierung bestimmter Verbgruppen semantische Kriterien unverändert wirksam, metaphorische Prozesse womöglich im Gang befi ndlich sind. Die Ausgangsfrage nach der kognitiven und neuronalen Implementierung eines so komplexen Konzepts kann jedoch nicht beantwortet werden.

Daniel Jacob („Was Wortarten miteinander machen. Syntaktische Kategorien zwischen se-mantischer Funktion und struktureller Einbettung“, S. 129–144) sucht eine Position zwischen traditioneller Grammatik nach Kategorien und Regeln und dem Ansatz der emergent grammar in der Annahme, dass einige syntaktische Strukturen sich derart verfestigt haben könnten, dass sie aus dem Meer der Emergenz hervorragen und eine Beschreibung in traditionellen Termini unterstützen. Er überprüft diese Annahme anhand von vier französischen Sätzen, die zwei kausal verknüpfte Sachverhalte auf unterschiedliche Weise kodieren. Angenommen wird, dass die vier Sätze in unterschiedlichem Maß ‚natürlich‘ seien, gemessen daran, ob die Wortarten die ihnen eigenen semantischen Funktionen übernähmen oder nicht und wie groß der sich für den Hörer daraus ergebende Aufwand an Inferenz sei. Diese Perspektive berücksichtigt unterschiedliche kommunikative Interessen und deren souveräne Handhabung durch die Sprecher zu wenig.

Werner Abraham („Aspektopposition, V1, Defi nitheit sowie Partikelsetzung zur Gliederung von erzählerischem Vorder- und Hintergrund“, S. 145–170) untersucht Verfahren zur Indizierung der Vordergrund-/Hintergrund-Gliederung von Texten im Vergleich zwischen romanischen und germanischen Sprachen. Die Universalität dieser Gliederung wird offenbar unterstellt, wobei einige ältere Verfahren des Germanischen der kommunikativen Mündlichkeit zugerechnet werden. Der Aussagewert des Vergleichs ist durch die Unterschiedlichkeit der Verfahren stark eingeschränkt. Für das Französische wird nachgewiesen, dass das passé composé aufgrund seiner semantischen Beschaffenheit das passé simple in der Indizierung des narrativen Vordergrunds nicht entsprechend ersetzen kann.

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Thomas Krefeld („,Mi sbattisi a testa mura mura‘: Sizilianische Reduplikationsadverbiale“, S. 171–182) befasst sich mit reduplizierten Nomina (auch Verben) in adverbialer Funktion, also bei Wechsel der syntaktischen Kategorie, einer spezifi sch sizilianischen Struktur. Dieser Wech-sel der Kategorie wird auch kategorialgrammatisch notiert. Die Notation vermag den Wechsel der reduplizierten NP zu (NP\S)/(NP\S), also zu einem VP-Adjunkt, wohl nach Ausgangs- und Zielkategorie zu registrieren, bringt ihn jedoch einer syntaktischen Erklärung nicht näher.

Elisabeth Stark („L’expression de la réciprocité dans trois langues romanes“, S. 183–199) untersucht mittelalterliche und frühneuzeitliche Korpora zum Französischen, Italienischen und Spanischen auf Strukturen zum Ausdruck der Reziprozität im Ausgang von der Feststellung mehrerer Differenzen zwischen den modernen Sprachen. Im Italienischen sind reziproke Mor-pheme deutlich beschränkt. Die historischen Korpora ergeben eine Reihe unerwarteter Befunde, so die Dopplung durch se im Spanischen gerade bei inhärent reziproken Verben am Beginn des Zeitraums und eine niedrig frequente Dopplung im Französischen, die im Verlauf des Zeitraums nicht zunimmt, bei Präferenz für singularische Verbformen. Zur Erklärung werden die genera-lisierte Tendenz des Spanischen zur klitischen Dopplung angeboten (die jedoch die Dopplung an inhärent reziproken Verben nicht erklärt) sowie die Zweikasusfl exion des Altfranzösischen, die die Entwicklung von l(i) un(s) l’altre zu einer nicht-kasusmarkierten Reziprok-Anapher aufgehalten habe. Die erwartungskonträren Befunde werden unvoreingenommen diskutiert.

Barbara Wehr („Para-Diathesen im Italienischen“, S. 201–224) befasst sich mit Strukturen auf der Basis von volere und avere wie vose cuntate tante cose ,wollte vieles erzählt bekommen‘ und nun aju avutu regalatu mancu nu sordu ‚habe nicht mal einen Cent geschenkt bekommen‘, die im Kalabrischen und Sizilianischen belegt sind und die die Autorin als Adressatenpassiv wer-tet. Die Strukturen setzen lexikalisch dreiwertige Verben (oder einen impliziten Interessedativ) voraus. Der volere-Typ sei niedrig grammatikalisiert, da dem Subjekt vom fi niten und infi niten Verb je eine Thetarolle zugewiesen würde, beide Verben demnach semantisch konturiert blieben. Beim avere-Typ passen im Beispiel avutu regalatu [POSSESSOR an avere] und [ZIEL an regalare] perfekt ineinander. Die Konstruktion überschreitet jedoch diese Restriktion in verschiedener Hinsicht. [POSSESSOR an avere] erscheint als gelöscht.

Stefan Schneider („Die Entstehung einer neuen Kategorie. Reduzierte parenthetische Teilsät-ze im Alt-, Mittel- und Neufranzösischen“, S. 225–244) trägt diachrone Daten zum Französischen zusammen, um die Herkunft von Fragmenten wie je crois zu klären. Die Fragmente sind stets syntaktisch reduziert, da kein manifestes COD vorliegt, und sie werden auf der Basis von Verben wie croire gebildet (Verben des Annehmens, doxastische Verben). Die formulierten Alternativen sind Herkunft aus einem über-, neben- oder untergeordneten Satz. Diese Alternativen werden aus der Literatur des vergangenen Jahrhunderts bezogen, die im Übrigen als überholt eingeschätzt wird (S. 228 f.). Für alle drei Hypothesen fi nden sich Argumente. ‚Auslassung‘ eines Komple-mentierers (que) wäre der Mechanismus im Fall der ersten, Auslassung einer Anapher (wie ço in ço quid) der Mechanismus im Fall der zweiten, wieder Auslassung eines (hier adverbialen) Komplementierers (wie com in si com je croi) der Mechanismus im Fall der dritten. Keine der Hypothesen kann erhärtet werden. Als zu disparat erweist sich die Funktionalität der aufgefun-denen Belege. Die englischen Beispiele tragen zur Klärung der französischen Diachronie nicht bei. Die Daten entziehen sich dem Zugriff.

Giampaolo Salvi („,Forse cui‘: Il contributo della linguistica all’interpretazione dei testi antichi“, S. 245–268) analysiert Verse aus dem Inferno von Dantes Divina Commedia, in wört-licher Rede („Da me stesso non vegno./Colui, ch’attende là, per qui mi mena,/Forse cui Guido vostro ebbe a disdegno“, X, 61–63), in der Absicht, syntaktische, lexikalische und pragmatische Beschränkungen zu ermitteln, die die Interpretation begrenzten. Zentral sind dabei die Ermittlung des Antezedens von cui sowie die Erklärung der Position des Fokussierers forse. Das Beibringen zahlreicher Vergleichsdaten führt wohl zu einer historisch adäquaten Einschätzung der von Dante

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gewählten Formulierung, kann aber das Problem der Interpretation nicht lösen. Dabei legt die Ebene der Textkohärenz nahe, bei der Tradition zu bleiben (Antezendens von cui ist colui, also Vergil, forse modifi ziert extrem höfl ich die auf Guido gerichtete Unterstellung von Verachtung).

Die dreizehn Beiträge (darunter ein auf Französisch, zwei auf Italienisch verfasste) werden ergänzt um ein Vorwort, eine Biographie des Geehrten sowie ein Schriftenverzeichnis. Die Re-daktion ist mäßig sorgsam, es fi nden sich Schreibfehler („ei[n]geladen“ (S. 11), „Lee[r]stelle“ (S. 33), „gekennzeichn[t]et“ (S. 39), „(alt-[)]italienischer“ (S. 54), „ein[e] Sache“ (S. 103), „Transitiv[i]tät“ (S. 103), „A[r]gumente“ (S. 173), „récipr[r]ocité“ (S. 195), „Chom[syk]“ (S. 199), „Zu[r]“ (S. 202), „in [einen]“ (S. 225), „di[s]piacere“ (S. 245), „p[r]eliminare“ (S. 245), „rapp[r]esentano“ (S. 256), „presupp[p]orebbe“ (S, 258)), falsche Getrenntschreibungen („so zu sagen“, S. 181), inkorrekte Worttrennungen („Teils-ätze“ (S. 16), „Sy-stemebene“ (S. 138), „no-nostante“ (S. 258)), Genusfehler („sie [es]“, S. 168). Es fehlen Kursivierungen (S. 14), Beispielnummerierungen (S. 179), Jahresangaben (S. 222). Bibliographische Formate und Zi-tierweisen sowie Titelnennungen (S. 285–286) wurden offenbar aus den Manuskripten übernom-men, sie sind uneinheitlich (gerade im Schriftenverzeichnis des Geehrten fehlen verschiedene Reihenangaben) und nicht immer konsistent. Einige Einträge fehlen ganz (Piaget und Rubinstein, S. 110, aber nicht S. 127, Bossong (1990), S. 131, aber nicht S. 143, ferner „…“, S. 129, FN 1).

Die Publikation schließt an die Bände 430 und 503 derselben Reihe an, die Ulrich Wan-druszka verfasst hat. Die TBL sind, obwohl überaus erfolgreich, unprätentiös und im besten republikanischen Verständnis zugänglich. Die Beiträge sind diskussionsfreudig und der Band ist daher gelungen. Der Rezensent möchte sich dem hommage verspätet anschließen.

Eichstätt Roland SCHMIDT-RIESE

Érik NEVEU, Les mots de la communication politique (Les mots de), Toulouse: Presses Univer-sitaires du Mirail, 2012, 128 S.

Wir wissen nicht, woran sich Studierende der französischen Philologie nach Abschluss ihres Studiums noch erinnern, aber das wirkungsmächtige Kommunikationsmodell von Roman Ja-kobson könnte dazugehören. Ist dieses Modell doch nach wie vor Bestandteil der Kerncurricula von Einführungen in die Sprachwissenschaft wie auch in die Literaturwissenschaft. Am Beispiel des Wahlslogans für den späteren Präsidenten Dwight D. Eisenhower („I like Ike“) wird den Studierenden der Sinn für die poetische und andere Funktionen der Sprache geschärft, um sie auf die wissenschaftliche Analyse französischsprachiger Wortkunst vorzubereiten. Ein politischer Wahlslogan ist somit zum klassisch gewordenen Einstieg in das Studium der Philologie avanciert.

Und tatsächlich sehen viele Studierende ihre berufl iche Zukunft in einem Bereich, der oft vage mit „Medien und Kommunikation“ betitelt wird. Wenn die Studierenden dann im weiteren Verlauf ihres Studiums aber kaum noch etwas von „Kommunikation“ hören, so hat dies auch wissenschaftsgeschichtliche Gründe: Jürgen Trabant hat mehrfach gezeigt, welchen Wandlungen die Repräsentationen der Bezüge von Sprache zu Kommunikation einerseits und zu Kognition andererseits im europäischen Sprachdenken unterworfen waren, um schließlich für die moderne Sprachwissenschaft einen „im Namen der Kognition vollzogene[n] Auszug der Kommunikation aus der Sprachwissenschaft“ zu bilanzieren.1 Ganz ähnlich sieht Konrad Ehlich die Geschichte

1 Jürgen Trabant, „Zeichen – Kommunikation – Sprache“, in: Kommunikation – ein Schlüsselbegriff der Humanwissenschaften?, hg. v. H. Richter u. H. W. Schmitz, Münster: Nodus, 2003, S. 317–333.

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der Linguistik, wenn er die „Konzeptkarriere“ von Kommunikation aufarbeitet: Nämlich als eine „Prozedur des Ausschließens, eine Exklusion großer Teile des Objektsbereiches“.2 Als Kompensationen dieser Reduktion des linguistischen Objektbereichs sieht er Thematisierungen sprachlicher und sprachbezogener Phänomene in benachbarten Disziplinen: So das Konzept der phatischen Kommunikation bei Malinowski, die Konzeption des Sprachspiels bei Wittgenstein, die Ethnographie des Sprechens von Dell Hymes, die Sprechakttheorie im Anschluss an Austin und die sich unter dem Begriff des ‚Kontextes‘ als linguistisch entfaltende Analyse der gesell-schaftlichen Verwendung von Sprache im Anschluss an J. R. Firth. Aber welche Rolle spielt in dieser Geschichtsschreibung das Kommunikationsmodell von Jakobson? Nach Ehlich trägt die durch Jakobson vorgenommene nachrichtentechnische Adaption des Bühler’schen Organon-modells zur strukturalistischen Reduktion bei: Das Objekt, dem sich mit dem Instrumentarium der Stilistik immerhin noch Sprach- und Literaturwissenschaftler gemeinsam widmen können, ist die „Nachricht in sich und ihren inneren Strukturen“, von „allem anderen konnte weiterhin abstrahiert werden“ (Ehlich 1996, S. 274).

In solch einem Denkrahmen würden Slogans wie „I like Ike“, „La force tranquille“, „Yes, we can“ also auf ihre Versprachlichungsstrategien hin untersucht und hierbei Paronomasien, Oxymora und vieles mehr ans Licht gebracht.

Aber – und nun endlich kommt diese Rezension zu ihrem eigentlichen Gegenstand – gerade um die Sprache oder Wörter der Politik geht es in dem kleinen Wörterbuch mit dem Titel Les mots de la communication politique von Érik Neveu nur ganz am Rande.

Érik Neveu gehört ja auch – wie die von Ehlich als komplementär und kompensatorisch bezeichneten Bewegungen – nicht der Disziplin der Sprachwissenschaft an. Er ist Politikwissen-schaftler mit soziologischen Schwerpunkten am Institut d’études politiques de Rennes (Sciences Po Rennes) und eines seiner anderen Bücher, nämlich Une société de la communication?,3 das mittlerweile in der fünften Aufl age erschienen ist, zeigt den Rahmen auf, in dem das nun erschienene Wörterbuch gesehen werden muss: Neveu sieht in der allgegenwärtigen Rede von der Kommunikations-(oder auch Informations-)gesellschaft einen mächtigen Mythos im Sinne Roland Barthes’, der den Blick für Handlungsspielräume, Interessenkonfl ikte und soziale Ge-gebenheiten vernebele. Seine Wirkungsmächtigkeit erhalte dieser Mythos insbesondere durch die Vagheit des Begriffs der ‚Kommunikation‘, in dem sich medientechnische, ökonomische, politische, journalistische und weitere Aspekte diffus vermengten. Insofern hätten die Debatten rund um ‚Kommunikation‘ nicht nur eine philologische Dimension, als zentraler Bestandteil einer neuen Repräsentation der Gesellschaft müsse sich seiner auch die soziologische Forschung annehmen.

Diese sprachkritische Perspektive in soziologischer Absicht zeigt sich dann auch gleich in der kurzen Einleitung des Wörterbuchs: „N’est-il pas bizarre – en disant par exemple ‚la com-munication est la clé des élections‘ – de faire de ‚communication‘ le sujet d’un verbe?“ (S. 5).

Was sind also die 124 „mots de la communication politique“, die Neveu auf 128 Seiten erklärt und deren Entstehenskontexte er erläutert? Es sind Ausdrücke, mit denen Akteure, Phänomene oder Aspekte der politischen Kommunikation bezeichnet werden. In sprachwissenschaftli-cher Perspektive zunächst ausgesprochen irritierend, in der oben angedeuteten soziologisch-sprachkritischen Perspektive aber zu akzeptieren, entstammen die Lemmata indes nicht dem Sprachgebrauch nur einer sozialen Gruppe, sondern gehören drei recht verschiedenen sozialen Welten an. Diese werden in der Einleitung benannt, im jeweiligen Eintrag jedoch leider nicht ausgewiesen: Erstens entstammt eine Reihe von Begriffen der Welt der professionellen Akteure

2 Konrad Ehlich, „‚Kommunikation‘ – Aspekte einer Konzeptkarriere“, in: Kommunikation in politi-schen und kultischen Gemeinschaften, hg. v. G. Binder u. K. Ehlich, Trier: WVT, 1996, S. 257–284.

3 Érik Neveu, Une société de communication?, Paris: Montchrestien, 52011 [1994].

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der politischen Kommunikation: So erarbeiten politische Berater einen plan média oder testen einen Slogan an einer focus group. Die zweite Welt ist die der normalen Bürger, die im politischen Sprachgebrauch häufi g Phrasendrescherei – langue de bois – sehen, die auf der Titelseite auch bildlich dargestellt wird. Drittens gibt es die Welt der „spécialistes de sciences sociales“, die unter anderem nach der agenda fragen, also danach, was die Medien, die öffentliche Meinung und politische Entscheidungsträger zu einem bestimmten Zeitpunkt beschäftigt.

Mit der alphabetischen Listung hat Neveu die von ihm zusammengetragenen Begriffe aus ganz unterschiedlichen Domänen also in die Form eines Wörterbuchs gebracht. Und prinzipiell zeichnet sich diese Publikationsform ja dadurch aus, dass sie nicht auf eine gesamte Lektüre zielt. Aber – soviel sei an dieser Stelle schon gesagt – die Einträge laden dazu ein, den jeweils angehängten Querverweisen zu folgen und in diesem Wörterbuch wirklich kreuz und quer zu lesen. Obgleich fast alle Beispiele der französischen Politik entnommen sind (und es zu ihrem Verständnis einer gewissen Vertrautheit mit der französischen Gesellschaft bedarf), kommen bei einer Lektüre im deutschen Kontext natürlich automatisch aktuelle Ereignisse aus Deutschland in den Sinn und die Begriffserläuterungen laden förmlich dazu ein, diese noch einmal ganz anders zu überdenken.

So der Eintrag Gaffe, der Schnitzer, der von Neveu als „acte de communication involontaire par excellence“ (S. 52) beschrieben wird und bei dem es sich um eine unglückliche Formulierung handeln kann, z. B. um eine Äußerung, „qui rend visible le bluff, le mépris d’une catégorie de personnes“. Als ein Beispiel wird eine Äußerung des Pressesprechers von Ségolène Royal aus dem Jahre 2007 angeführt: Frau Royal habe nur „un seul défaut, c’est son compagnon“. Un-weigerlich wird bei diesem Eintrag die Erinnerung an die Rede von dem „wissenschaftlichen Mitarbeiter“ wach, den die deutsche Kanzlerin im Rahmen der Plagiatsaffäre um den Verteidi-gungsminister eben nicht berufen hat. Was hier zum gaffe mit Auswirkungen wurde, war sicher von einem conseil en communication (engl. spin doctor) vorbereitet, um den scandal um das Plagiat einzudämmen. Ob das Verhalten eines politischen Repräsentanten einen scandal auslöst, hängt von den Emotionen ab, die in der gesamten oder einem Teil der Bevölkerung ausgelöst werden. Und dies hängt wiederum von geltenden Werten ab, mit denen das Verhalten beurteilt wird. Wenn im Falle des „wissenschaftlichen Mitarbeiters“ der gaffe selber zum scandal wer-den konnte, verweist dies auf die Problematik der angemessenen Doxa, also der Auswahl der Prinzipien des Bewertens, die im Eintrag Allodoxia mit Rückgriff auf Bourdieu thematisiert wird: Allodoxia als das Anlegen ungeeigneter Kriterien liegt etwa vor, wenn Sarkozy ganz ausschließlich aufgrund seines Lebensstils und seines Geschmacks als président bling-bling wahrgenommen werde, ohne dass weitere Kriterien zur Bewertung seines politischen Han-delns herangezogen würden. So gesehen hätten also die Berater im Falle der Plagiatsaffäre mit ihrer verunglückten Formulierung versucht, die Plagiatsaffäre als Allodoxia zu repräsentieren (Kriterien der wissenschaftlichen Redlichkeit sind die falschen zur Bewertung von politischer Arbeit), um nach dem Missglücken dieser Strategie das problème de communication aus dem Hut zu ziehen. In diesem Eintrag geht Neveu zunächst ganz systematisch auf der Grundlage des Kommunikationsmodells von Jakobson verschiedenen Möglichkeiten nach, die zu tatsächlichen Kommunikationsproblemen führen können, um dann aber vor dem Missbrauch zu warnen: „Mais l’abus de langage commence quand la notion de ‚problème‘ ou défi cit de communication devient l’explication omnibus de toutes les situations d’échec, de confl it ou de crise politique ou sociale“ (S. 90). Die Reduzierung auf ein Kommunikationsproblem impliziere nämlich entweder, dass es in der Gesellschaft gar keine gegensätzlichen Interessen gäbe oder dass die Politiker schon wüssten, was für die Bevölkerung gut sei, es nur schlecht erklärten oder aber dass die normalen Bürger neue Imperative der modernen Gesellschaft noch nicht verstanden hätten.

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Aber das kleine Wörterbuch regt nicht nur zu einem kritischen Blick auf die Repräsentati-onen von Kommunikation an, es vermittelt auch Einblicke in die kommunikativen Umstände, die typische Versprachlichungsstrategien bedingen. So wäre der personifi zierende Satz „Berlin ist arm, aber sexy“ eine typische petite phrase, die sich durch Kürze und Dichte auszeichnet, erdacht mit dem Ziel einer großen Verbreitung in den Medien. Der Eintrag zum analogen englischen Begriff soundbite deutet dann auch die historischen Veränderungen im Kampf um Präsenz im öffentlichen Raum an, um die es immer wieder geht: Die Länge der Sprachbeiträge von politischen Entscheidungsträgern in Fernsehnachrichten hat sich radikal verkürzt, neuere Technologien wie der tweet mit seiner maximalen Länge von 140 Zeichen fordern die sprachliche Verdichtung. Darum sei die Elocutio nach Neveu eine essenzielle Kunst, die insbesondere in den kurzen Kommunikationsformaten gefordert sei, wohingegen die Dispositio zur „parent pauvre de la rhétorique politique moderne“ (S. 35) werde. So der Slogan „La force tranquille“ aus dem Wahlkampf für Mitterrand, der von Neveu im Eintrag Éloquence als Oxymoron klassifi ziert wird und die Position untermauern soll, dass die Politik „pour une part importante un art de la parole“ sei (S. 40). Am Beispiel dieses Slogans zeigt der eigene Eintrag Force tranquille dann die Schwierigkeit, die tatsächliche Wirkung von Plakaten und Slogans zu messen: Hätte Mitterrand auch nur 1,7 Prozentpunkte weniger errungen, wäre das auf ländliche Traditionen abhebende Plakat mit eben diesem Slogan als schwer wiegender kommunikativer Fehler gewertet worden. Dieser Eintrag verweist sehr deutlich auf die grundlegende Position, die auch in der kurzen Einleitung formuliert wird: „La communication est consubstantielle aux activités politiques“ (S. 4), und zwar von Beginn an, wie etwa der Eintrag Agora zeigt, in dem sich Erläuterungen zum Versammlungsort der Bürger in den demokratischen Städten Griechenlands fi nden. Die Vision vom âge d’or als einer „Belle Époque de la politique“ (S. 8), die noch frei von den Auswirkungen der modernen Kommunikation gewesen sei, gehe fast immer mit unzulässigen historischen Vergleichen einher. Die moderne Politik somit als „soudainement subvertie par la communication“ anzusehen (S. 4), sei eine „naiveté ou un aveuglement intéressé“ (S. 4), die eng mit der Karriere des unscharfen Begriffs ‚communication‘ verbunden sei.

Von den zahllosen Antworten auf die Frage, was denn ‚Kommunikation‘ eigentlich sei, ist sicher die von Vilém Flusser eine der prägnantesten: „Kurz, der Mensch kommuniziert mit anderen, ist ein ‚politisches Tier‘, nicht weil er ein geselliges Tier ist, sondern weil er ein ein-sames Tier ist, welches unfähig ist, in Einsamkeit zu leben“.4 Folgt man dieser Perspektive, ist Kommunikation Ausgangspunkt und Grundlage jeglicher Form von Gesellschaft und ein Be-griff wie société de communication könnte bei alleiniger Betrachtung der ‚inneren Strukturen‘ philologisch als Pleonasmus beschrieben werden.

Die mots de la communication politique von Érik Neveu aber führen vor Augen, welche Rolle die Repräsentationen von Kommunikation (und damit auch von Sprache) in der Gesell-schaft spielen. Wer mag, kann den angedeuteten soziologischen Pisten folgen, wie etwa Neveus Auseinandersetzung mit dem Habermas’schen Verständnis von Öffentlichkeit (im Eintrag Es-pace public). Aber auch ohne ein weitergehendes soziologisches Interesse bietet dieses kleine Wörterbuch eine lohnende (und unterhaltsame) Lektüre für Philologen, die sich für aktuelle komplementäre Bewegungen in anderen Disziplinen interessieren.

Berlin Brigitte JOSTES

4 Vilém Flusser, Kommunikologie, Frankfurt am Main: Fischer, 1998, S. 10.

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Sabrina PARENT, Poétiques de l’événement. Claude Simon, Jean Rouaud, Eugène Savitzkaya, Jean Follain, Jacques Réda (Études de littérature des XXe et XXIe siècles, 20), Paris : Classiques Garnier, 2011, 493 p.

En 1974, l’historien Pierre Nora déclare que « [n]ous sommes entrés dans le règne de l’infl a-tion événémentielle ».1 Loin d’apporter un démenti à un tel constat, les dernières décennies du XXe siècle et les premières décennies du troisième millénaire ne font que le corroborer. Une telle omniprésence de l’événement dans notre actualité médiatique semble occulter l’évolu-tion de la notion ou la rend tout du moins diffi cile à cerner. Exclu de l’histoire des Annales, méconnu par les sciences économiques et sociales, l’événement est aujourd’hui en voie de réhabilitation dans les différentes disciplines des sciences humaines, particulièrement en phi-losophie et en littérature. C’est au croisement de ces deux champs que se situe l’étude menée par Sabrina Parent. Face à l’ampleur de son sujet, l’auteure semble d’abord faire le choix de la quasi-exhaustivité, comme en témoignent le large panorama consacré aux « Approches de l’événement » en première partie et la vaste bibliographie à la fi n du volume. En passant en revue la notion dans l’ensemble des champs disciplinaires, l’auteure témoigne du sérieux de sa démarche. Pour autant, on peut s’interroger sur la pertinence d’une approche aussi systéma-tique. Dans sa longue première partie, S. Parent envisage la notion de l’événement à partir des travaux de l’historiographie, des sciences économiques et sociales, de la linguistique, etc. De ces différents axes, elle retient cependant essentiellement les pistes ouvertes par la philosophie antique (Aristote), l’herméneutique et la phénoménologie de Paul Ricœur et Claude Romano. La seconde partie, consacrée à l’événement dans le récit, recourt plus expressément aux critères aristotéliciens pour évaluer la construction de l’intrigue chez Claude Simon. Si le troisième volet consacré à la poésie emprunte à certains égards les outils de la linguistique anglo-saxonne dans la lecture des poèmes de Follain ou Réda, il semble que soient là encore privilégiées les approches cognitives de l’événement telles qu’elles sont développées chez Ricœur et Romano. Ces partis pris théoriques semblent amplement suffi re à l’objectif que s’est assigné l’auteure, à savoir : mettre en lumière les enjeux phénoménologiques, éthiques et littéraires de l’écriture de l’événement chez Claude Simon, Jean Rouaud, Eugène Savitzkaya, Jean Follain et Jacques Réda. On peut donc déplorer l’excès de zèle qui conduit l’auteure à explorer scrupuleusement la notion d’événement dans des champs de savoir multiples sans en tirer véritablement des ressources épistémologiques fondatrices pour la suite de son propos.

On peut toutefois considérer également ce premier volet de l’étude sous un autre angle : le projet de l’auteure n’est pas seulement à penser comme une contribution à l’histoire littéraire de l’événement, mais bien à considérer comme une contribution à l’histoire épistémologique de l’événement. Dans ces conditions, les auteurs convoqués pour cette étude ne viendraient qu’illustrer à titre d’exemples magistraux une thèse à vocation pluridisciplinaire sur les poé-tiques de l’événement. Le corpus littéraire retenu pour aborder cette question, à la fois vaste et restreint, témoigne de cette ambiguïté. Les écrivains abordés sont-ils à l’origine de poétiques singulières de l’événement ou viennent-ils confi rmer une pensée de l’événement développée dans la première partie théorique de l’ouvrage ?

En étudiant à la fois prose et poésie, S. Parent élargit considérablement le champ des études traditionnellement consacrées à la notion d’événement dans le domaine littéraire. Mais lorsqu’elle fait le choix de L’Acacia dans toute l’œuvre de C. Simon ou lorsqu’elle sélectionne exclusivement J. Rouaud et E. Savitzkaya comme héritiers par excellence de la prose de Simon, l’auteure manifeste les limites de son corpus. Certes, une thèse ne saurait embrasser un nombre

1 « Le retour de l’événement », dans : Faire de l’Histoire, éd. par J. Le Goff et P. Nora, Paris : Gallimard, 1974, p. 210–227.

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indéfi ni d’auteurs sans courir le risque de la superfi cialité de l’analyse ; pour autant, il importe de justifi er ses objets d’étude si on convient de les limiter à un nombre restreint. Or, cette jus-tifi cation située en introduction du volume paraît bien expéditive eu égard à l’importance des auteurs retenus. Pourquoi choisir Claude Simon comme point de départ ? Le rapprochement avec Jean Rouaud est certes acceptable mais cela ne résout en rien la question de la pertinence du choix de Simon à l’origine de cette question de l’écriture de l’événement. Le regroupement de ces écrivains aux éditions de Minuit pourrait être envisagé comme un élément décisif à la constitution du corpus, mais S. Parent n’en fait pas mention. Dès lors, on comprend mal pourquoi l’auteure évoque plutôt Savitzkaya qu’un autre auteur Minuit. L’écrivain belge est-il le seul à résister au récit ? Si la bipartition narration/poésie fait l’objet d’une justifi cation théorique, on ne voit pas en quoi Follain et Réda sont des poètes plus intéressants que d’autres sur cette question de l’événement. Jacques Réda est-il le seul poète du XXe siècle à attacher une importance à l’infi me au côté de Jean Follain ? Sont-ils les seuls poètes témoins ‹ de biais › des guerres mon-diales ? Le caractère quelque peu arbitraire du corpus retenu affaiblit la portée de la thèse dont l’objet semble sans cesse hésiter au fi l des parties abordées. De quel(s) événement(s) l’œuvre littéraire rend-elle compte ? Les deux guerres mondiales du XXe siècle, le banal et l’ordinaire mais aussi le fait de dire sont tour à tour considérés comme événements, envisagés dans leurs implications génériques, éthiques et ontologiques. Ces changements d’échelle présentent un intérêt considérable en termes épistémologiques, mais on regrette parfois que leur alternance au fi l des parties manque de justifi cation. De la même manière, on peut se demander dans quelle mesure il convient de placer ces différents types d’événements sur le même plan. C’est peut-être dans l’articulation de ces diverses formes de l’événement chez ces auteurs que se trouve la réponse à cette question. Chez Simon, comme chez Rouaud, Savitzkaya, Follain et Réda, les événements insignifi ants, historiques, naturels et ontologiques s’entrecroisent voire permutent, défi nissant un nouveau rapport de l’écrivain à l’Histoire qui s’accompagne d’une promotion de l’éthique contre le positionnement politique ou idéologique.

Entre faillite et reconfi guration : la narration face à l’événement

En ouvrant sa seconde partie « Récit et événement » sur Claude Simon, S. Parent entre plus immédiatement dans des problématiques d’ordre littéraire. Pour autant, les présupposés à l’ori-gine de ses questionnements – comment écrire la guerre ? en quoi dire la guerre transforme la saisie des événements ? – ne semblent pas aller de soi. Interroger la structuration de l’intrigue chez Claude Simon à partir de La Poétique d’Aristote paraît peu approprié. Est-il nécessaire de mettre aussi longuement en regard les critères aristotéliciens de la totalité, la longueur et la complétude avec l’écriture de Simon, dont de nombreuses études, parmi lesquelles celle de Dominique Viart citée par l’auteure, ont montré qu’elle défait les paramètres de l’intrigue traditionnelle ? En suivant ce type de démarche systématique, S. Parent semble vouloir valider sa propre grille interprétative des textes sans pour autant prendre en considération la démarche singulière d’un auteur qui ne s’embarrasse pas nécessairement des catégories d’Aristote pour composer L’Acacia.

Si l’approche méthodologique est critiquable dans ses présupposés, reste néanmoins que les rapprochements entre les trois auteurs de cette partie – Simon, Rouaud, Savitzkaya – présentent des intérêts excédant la seule question de l’événement puisqu’ils replacent les ouvrages dans une histoire du littéraire dans la seconde moitié du XXe siècle. En montrant comment Simon défait les logiques narratives au profi t de la description, S. Parent est amenée à congédier l’ana-logie établie par la critique entre Rouaud et Simon. Prenant appui sur les travaux de Ricœur,

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l’analyse expose fi nement les points de divergence qui opposent ces écrivains. Quand Simon récuse la mise en intrigue explicative, Rouaud tend au contraire à réhabiliter la narration et par là même à donner du sens aux événements à l’origine du récit de la mémoire familiale. Partant des mêmes substrats historiques, les proses de Simon et Rouaud se séparent non seulement sur le plan des procédés d’écriture de la guerre mais aussi sur le plan éthique. Alors que Simon se tient à distance des événements pour invalider la surenchère des discours idéologiques qui tendent à les construire ou à les instrumentaliser, Rouaud use de l’humour et de l’ironie pour dénoncer le caractère construit du récit. La thèse de S. Parent prend tout son intérêt lorsqu’elle met en évidence la construction d’un récit en ‹ petit ›, récit précaire qui est repris mais tenu à distance. Ce récit, battu en brèche chez Simon, fait ‹ retour › chez Rouaud ou chez Savitzkaya, mais toujours sur le mode de l’humilité.

Ce terme d’humilité s’avère particulièrement précieux lorsqu’il s’agit d’aborder la poétique de l’événement dans Marin mon cœur et En vie, deux romans d’E. Savitzkaya. Empruntant à Simon une certaine forme de déconstruction du récit, l’œuvre de Savitzkaya est une exploration poétique de l’événement – celui de la naissance dans Marin mon cœur ou celui du quotidien dans En vie. Comme l’affi rme S. Parent, « la teneur de l’événement réside moins dans sa nature elle-même que dans le regard de celui qui sait faire émerger le poétique au cœur de l’insignifi ant » (p. 233). Telle est la démarche de ‹ défamiliarisation › du monde entreprise par Savitzkaya. Moins sombre que le roman de Simon, moins ludique que la prose de Rouaud, l’œuvre de l’écrivain belge s’intéresse à l’ordinaire pour en faire ressortir la puissance d’émerveillement. À l’inverse de Simon qui déconstruit l’événement en détails insignifi ants, Savitzkaya part de l’infi me pour lui donner force d’événement. Comme chez Rouaud, le récit relève d’une esthétique et d’une éthique du local. C’est à une autre facette de l’événement qu’ouvrent de tels textes : loin du registre épique de la guerre ou de son contournement ironique ou parodique, les récits de Savitzkaya déclinent les motifs ordinaires du quotidien pour leur donner un caractère à la fois humble et sublime. S’esquisse ainsi dans l’œuvre de cet écrivain un nouveau rapport au lecteur. La mise en partage d’une expérience commune est orientée par la quête toute artisanale d’une forme de bonheur, horizon qui semblait compromis dans l’œuvre de Simon fondamentalement meurtrie par la guerre.

Rendre le monde habitable en regard de l’événement

Après avoir analysé les croisements entre narration et poésie dans une deuxième partie, S. Parent consacre le dernier volet de son étude au champ poétique et plus spécifi quement aux poètes Jean Follain et Jacques Réda. Comme pour la deuxième partie, un auteur occupe le rôle d’ascendant en regard du ou des autres. Comme Simon vis-à-vis de Rouaud et Savitzkaya, Follain ouvre dans une certaine mesure des voies d’écriture à Réda qui lui succède dans le fi l des générations. Si Follain n’a pas eu une expérience aussi directe de la guerre que Simon, il l’a toutefois connue de plus près que Réda. Cette expérience de la guerre est centrale dans ce dernier chapitre qui, à la différence du précédent, recourt davantage à la micro-lecture. S. Parent analyse méticuleu-sement des poèmes illustrant la question du rapport à l’événement. Si elle accorde une certaine importance aux poèmes de l’ordinaire chez Follain, l’auteure privilégie davantage les poèmes évoquant la guerre.

La poésie de Follain décontextualise cet événement historique, en fait une fatalité contre laquelle l’action humaine ne peut rien. Le poète assimile ainsi l’Histoire au cycle immuable de la nature. Cette représentation de la guerre met au jour une éthique du doute en regard des discours idéologiques qui tentent d’élucider les événements, rapprochant ainsi la démarche du poète de

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celle de Simon. Ce rapport à l’Histoire conduit ainsi S. Parent à s’interroger sur l’engagement de l’écrivain au cours de ces périodes de confl its mondiaux. Si la poésie de Follain n’est pas engagée au sens où elle ne prend pas position en faveur d’une idéologie contre une autre, elle s’inscrit en revanche pleinement dans une pensée du monde. Poésie de la « compassion », écrit S. Parent, les vers de Follain luttent contre l’oubli des victimes et des laissés-pour-compte. Si l’auteure dégage l’ambiguïté de l’ethos de l’écrivain en temps de guerre, partagé entre hyper-sensibilité et indifférence, c’est pour montrer in fi ne que ces deux facettes sont complémentaires. Le poète délaisse le champ de l’action politique au profi t d’une forme d’‹ action › poétique.

Mise en parallèle avec l’œuvre de Follain, l’œuvre de Réda est d’abord questionnée sous l’angle de la narrativité. Là encore, S. Parent interroge la poésie de Réda à partir des critères aristotéliciens. De ces analyses ressort l’idée selon laquelle les poèmes de Réda relèveraient d’une forme de « narrativité faible ». Poésie du mouvement et de la succession temporelle des événements, l’écriture de Réda altère les notions de début et de fi n ou encore de but ou de causalité. Elle dit le désir herméneutique d’interpréter les événements tout en contrariant sans cesse le sens qu’elle entend leur apporter. L’incertitude dans laquelle se tient la parole poétique de Réda montre que le poète ne cherche pas à donner un sens unique à l’événement mais tente au contraire de faire sourdre chez le lecteur une certaine émotion. La poésie de Réda « ne vise pas la connaissance de l’événement […] mais bien plutôt vise à nous le faire re-vivre perceptuellement, telle une plaie de la nature maintenue ouverte » (p. 368). S’appuyant sur les travaux de Jean-Claude Pinson, S. Parent montre que l’œuvre de Réda vise à recréer ainsi des liens communautaires, aussi minimes soient-ils. Cette lecture de la poésie de Réda se referme ainsi sur les rapports entre mise en recueil et transcription de l’événement ‹ naturel ›. Si l’on peut saluer l’originalité de cette partie en regard de la production critique portant sur l’œuvre de Réda, on peut également déplorer la rupture qu’introduit ce dernier chapitre sur la mise en recueil. Cet ultime prolongement ouvre certes une nouvelle piste d’interprétation de la question de l’événement, mais il sort de la problématique poésie/écriture de l’Histoire qui avait formé le fi l conducteur du chapitre. L’excès d’ambition de cette étude sur l’événement constitue peut-être sa limite dans la mesure où à force de vouloir épuiser les différentes acceptions sémantiques du terme ‹ événement ›, l’auteure fi nit par casser les dynamiques élaborées tout au long de ses parties. Le fi l conducteur de l’événement historique n’aurait-il pas suffi à démontrer l’articu-lation entre éthique et poétique ?

La conclusion de l’étude parvient néanmoins à relier les différentes pistes explorées au cours de l’ouvrage pour en faire valoir la cohérence. Elle rattache ainsi les auteurs du corpus au paradigme du ‹ petit récit ›, conçu selon ses différents enjeux comme récit minimal (Simon), récit tenu humoristiquement à distance (Rouaud), récit du quotidien (Savitzkaya, Réda). Si cette catégorie du petit récit introduit un premier décloisonnement générique puisque le poète Réda illustre cette forme narrative, les notions poétiques d’analogie, de description et d’évocation participent d’une plus grande dé-hiérarchisation des genres. Placé sous l’angle de l’analogie chez Simon ou Follain, l’événement historique apparaît comme un phénomène naturel dépouillé d’explications. Cependant, S. Parent montre aussi que la poésie, contrairement à une idée lar-gement admise, peut prendre en charge la dimension herméneutique que le modèle narratif, tel qu’il se trouve déconstruit chez certains auteurs du XXe siècle, a délaissée. Entre description et évocation, les écrivains tels que Simon ou Follain ne cherchent pas tant à dire le pourquoi de l’événement que le comment, c’est-à-dire son retentissement sur celui qui écrit. S. Parent en vient ainsi à distinguer deux types de visées induites par l’écriture de l’événement : soit l’écrivain est tenté d’expliquer l’événement, soit il est tenté de le faire ressentir. Loin d’être incompatibles, ces deux rapports à l’événement témoignent d’interférences dans la mesure où susciter l’émotion du lecteur peut déjà constituer un sens minimal. Quoi qu’il en soit, l’écriture de l’événement

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n’aboutit jamais à la destruction du sens. Bien au contraire, le sens ultime de l’événement se situe peut-être dans le fait de le dire et dans les implications éthiques que cet avènement à l’écriture suscite. Contre une éthique de la conviction, l’œuvre de Simon serait porteuse d’une éthique matérialiste s’opposant aux dogmes idéologiques et aux pensées systématiques. La justesse visée par la prose de Simon serait ainsi indissociable d’une certaine humilité que l’on retrouve à l’œuvre chez les autres auteurs convoqués dans cette étude. La mise en lumière des différentes formes d’éthiques associées à l’écriture de l’événement constitue certainement la part la plus intéressante du livre de S. Parent. Si l’étude des procédés d’écriture est un préalable nécessaire à l’analyse des enjeux éthiques, on regrettera néanmoins qu’elle n’ait pas fait l’objet d’une certaine condensation par endroits. Cela aurait vraisemblablement permis au propos de gagner en effi cacité. Le livre de Sabrina Parent s’impose néanmoins comme un ouvrage de référence sur la question de l’événement. Il apporte également des éléments de réfl exion fondamentaux quant à l’exigence éthique qu’implique une telle notion dans les œuvres littéraires.

Paris Aurélie ADLER

Anja PLATZ-SCHLIEBS/Katrin SCHMITZ/Natascha MÜLLER/Emilia MERINO CLAROS, Einführung in die Romanische Sprachwissenschaft. Französisch, Italienisch, Spanisch (Narr Studienbücher), Tübingen: Narr, 2011, 334 S.

Das in Wuppertal entstandene Lehrbuch führt den Leser anhand der drei romanischen Spra-chen Französisch, Spanisch und Italienisch in aktuelle Fragen der modernen Sprachwissenschaft ein. Die Autorinnen widmen sich in neun Kapiteln den folgenden Themen: „Die Wissenschaft vom sprachlichen Wissen“, „Phonetik und Phonologie“, „Morphologie“, „Die Romania: ihre Sprachen und Varietäten“, „Semantik“, „Syntax“, „Pragmatik“, „Sprachwissenschaft und Lite-raturwissenschaft: Berührungspunkte“ sowie „Arbeitstechniken für Linguisten“. Alle Kapitel enden mit Übungsaufgaben, zu denen online Lösungen zur Verfügung stehen, sowie Litera-turverzeichnissen. Ein ausführlicher Sachindex komplettiert das Lehrwerk. Die vorliegende Rezension folgt dem Aufbau des Buches und fasst den Inhalt kapitelweise zusammen.

Kapitel 1 (13–51) befasst sich zunächst mit der Entstehung menschlicher Sprache (13–15) sowie (schwerpunktmäßig) dem kindlichen Spracherwerb (15–32). Die Autorinnen beschrän-ken ihre Darstellung dabei nicht auf den Spracherwerb monolingualer Kinder, sondern stellen mehrfach auch empirische Studien zu bilingual aufwachsenden Kindern vor. Diesem Einstieg in das Lehrwerk ist die für eine Einführung in die romanische Sprachwissenschaft ungewöhnlich frühe Vorstellung von psycho- und neurolinguistischen Fragestellungen geschuldet (32–42), der sich mit der Soziolinguistik eine weitere stark empirisch orientierte Teildisziplin anschließt (43–48). Auch pragmatische und varietätenlinguistische Fragestellungen werden in diesem Rahmen bereits angerissen.

Kapitel 2 (52–86) beginnt mit einer kurzen Einführung in den Strukturalismus (52–56), der sich ein Unterkapitel zur Phonetik sowie eines zur Phonologie anschließen. Abschnitt 2.1 zur Phonetik (56–70) behandelt schwerpunktmäßig die artikulatorische Phonetik, deren Darstellung jedoch teils unvollständig bzw. widersprüchlich ist. Die tabellarische Übersicht (59) zu den Kon-sonanten wirft beispielsweise einige Fragen auf. Mangels entsprechender Kennzeichnung ist für den Leser nicht klar ersichtlich, welche der aufgeführten Laute in den drei romanischen Sprachen Phonem- bzw. Allophonstatus haben. Des Weiteren sind die Angaben zum standardfranzösischen <r>-Laut [ʁ] widersprüchlich, da er in der Tabelle als velar bezeichnet wird, obwohl im Text

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bezüglich des Artikulationsortes von Engebildung „hinten am Zäpfchen“ (67) die Rede ist. In Bezug auf die Artikulationsart wird der Laut sowohl in der Tabelle (59) als auch im Abschnitt zu den velaren Lauten (64) als Vibrant klassifi ziert, während die Autorinnen an anderer Stelle darauf hinweisen, dass es „im System des Neufranzösischen […] keine Vibranten“, sondern nur einen „uvulare[n] Engelaut (Frikativ)“ (63) gibt. Bezüglich der italienischen Nasalkonsonanten lassen sich ähnlich widersprüchliche oder unvollständige Angaben feststellen. Im Anschluss an die Darstellung der Konsonanten werden die Vokale eingeführt. Der Beschreibung der Vo-kalsysteme der drei romanischen Sprachen folgen ein kurzer Abschnitt zur Vokalqualität sowie einer zur Vokalquantität, bevor abschließend auf Vokalverbindungen eingegangen wird. Die Darstellung der in diesem Abschnitt eingeführten Halbvokale ist allerdings unvollständig, da der labiopalatale Approximant [ɥ] des Französischen ungenannt bleibt. Hervorzuheben ist dagegen die gelungene praxisnahe Vermittlung der artikulatorischen Eigenschaften der einzelnen Vokale, die auf dem Prinzip des learning by doing basiert. Den Studierenden wird durch die explizite Aufforderung zum Beobachten des eigenen Sprechapparates eine Alternative zum bloßen Aus-wendiglernen der Merkmalbündel geboten. In Abschnitt 2.2 zur Phonologie (70–84) widmen sich die Autorinnen der Unterscheidung von Phonem und Allophon, die bereits im Kapitel zur artikulatorischen Phonetik eingeführt wurde, und machen den Leser mit distinktiven Merkmalen vertraut, bevor sie sich der suprasegmentalen Phonologie sowie phonologischen Regeln und Prozessen zuwenden. Die Silbenstruktur wird auf relativ knappem Raum abgehandelt.1 Dennoch gelingt es den Autorinnen, dem Leser die Relevanz des Silbenbegriffs zu vermitteln, indem der Präsentation des verlan im Französischen vergleichsweise viel Platz eingeräumt wird. Nachdem anschließend in zwei kurzen Abschnitten zum Akzentsystem der drei romanischen Sprachen der freie Wortakzent im Italienischen und Spanischen dem gebundenen Phrasenakzent des Französischen gegenübergestellt wird, endet die Darstellung der Suprasegmentalia mit einem Unterkapitel zum Stellenwert prosodischer Informationen im Spracherwerb. Die abschließende Präsentation phonologischer Regeln und Prozesse stellt neben Assimilation, Dissimilation und Neutralisierung auch die im Französischen operierenden Prozesse enchaînement und liaison sowie das h aspiré vor. Insgesamt gelingt es den Autorinnen in diesem Kapitel trotz einiger Mängel,2 das im Vorwort (10 f.) angekündigte Vorhaben, Sprachwissenschaft „erfahrbar“ zu machen, umzusetzen.

Kapitel 3 (87–133) beginnt mit einer Aufl istung möglicher Verfahren zur Wortschatzerweite-rung. Mit der Nennung der Wortbildung als produktivstes Verfahren wird das schwerpunktmäßige Thema dieses Kapitels eingeführt. Die Flexion wird auf knapp drei Seiten (89–91) abgehandelt, bevor in den Abschnitten 3.1 „Wortbausteine: Morphe, Morpheme und Allomorphe“ (91–94) sowie 3.2 „Wortbildungs- und Flexionsaffi xe“ (95–100) die nötigen Grundlagen für das Ver-ständnis der Wortbildungsverfahren besprochen werden. Allerdings wirft auch dieses Kapitel teilweise Fragen auf, etwa weshalb eine Einführung in die romanische Sprachwissenschaft zwar das Circumfi x (als in den drei romanischen Sprachen nicht relevanten Affi xtyp) vorstellt, auf die

1 Die auf S. 75 aufgeführten Syllabierungsregeln reichen nicht aus, um z. B. die wortinterne Konsonan-tenverbindung des auf derselben Seite genannten mehrsilbigen Verbs calmer richtig zu behandeln. Die vorgestellte Regel, der zuf olge ein oder mehrere Konsonanten zum Onset gehören, sofern sie vor dem Silbenkern stehen, würde im Falle der wortinternen Konsonanten eine falsche Voraussage machen und zu [ka.lme] führen.

2 Zusätzlich zu den im Text genannten soll exemplarisch auf folgende Schwächen hingewiesen wer-den: Die Stimmhaftigkeit der alveolaren ital. Affrikate [dz] unterscheidet sie nicht von [d�], sondern von [ts] (vgl. S. 62). Auf S. 66 ist von „Zungenöffnung“ die Rede, statt von Zungenlage. In franz. bien [bjε '] auf S. 70 bzw. pain [pε '] auf S. 72 fehlt die Tilde auf dem Nasalvokal. Auf S. 81 muss es Vokalqualität statt „Vokalquantität“ heißen.

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Präsentation von z. B. Portmanteau-Morph(em)en jedoch verzichtet. Bei der Unterscheidung von freien und gebundenen Morphen wird für ital. giornalista (vgl. S. 94) zudem nicht ersichtlich, dass dessen Konstituente giornal(e) noch weiter segmentierbar ist. Abschnitt 3.3 (100–108) zu Wortstruktur und Wortbildungsregeln macht den Leser zunächst mit verschiedenen Methoden der Notation von Konstituentenstrukturen (indizierte Klammerung vs. Strukturbaum) vertraut, bevor die Darstellung von Wortbildungsregeln in der Linguistik erläutert werden. Um den Begriff des Kopfes in komplexen Wörtern einzuführen, greifen die Autorinnen dem Kapitel zur Komposition vor, indem sie die unterschiedliche Kopfposition in germanischen und roma-nischen Sprachen anhand gut nachvollziehbarer Komposita veranschaulichen. Der Abschnitt zur Wortstruktur endet mit einem Unterkapitel zur Hierarchie innerhalb komplexer Wörter, in dem vergleichsweise früh auch Parasynthese und Nullmorph thematisiert werden. Abschnitt 3.4 zur Komposition (108–118) diskutiert zunächst die Frage nach der Abgrenzung gegenüber syntaktisch gebildeten Wortgruppen. Mit der Beschreibung von unterschiedlich transparenten Komposita leiten die Autorinnen anschließend auf die Unterscheidung von endozentrischen und exozentrischen Komposita über. Erstere werden in einem eigenen Unterabschnitt nochmals in Determinativ- und Kopulativkomposita unterteilt, für deren Darstellung neben volkstümlichen auch gelehrte Bildungen herangezogen werden.3 Ein Abschnitt zum Erwerb von Komposita durch mono- wie bilingual aufwachsende Kinder rundet Kapitel 3.4 ab. 3.5 ist der Derivation gewidmet (118–127). Hier werden ausgewählte Präfi xe der drei romanischen Sprachen inklusive ihrer semantischen Funktion sowie die Suffi gierung vorgestellt. Vergleichsweise viel Platz wird dabei den verschiedenen Bedeutungsaspekten eingeräumt, die ein und dasselbe Suffi x tragen kann. Die Abschnitte 3.6 und 3.7 behandeln überblicksartig die Konversion (127 f.) bzw. Wort-kürzungen (128–131).

Kapitel 4 (134–182) widmet sich der Romania. In Abschnitt 4.1 (135–152) werden zunächst die elf romanischen Varietäten vorgestellt, die überwiegend als Sprachen anerkannt sind. Der Leser erhält Informationen zu Dialekt und Kreolsprachen, die im weiteren Verlauf des Abschnitts bzw. in Abschnitt 4.4 näher ausgeführt werden. Ferner beinhaltet Abschnitt 4.1 die sprachtypo-logische Einteilung in West- und Ostromania, die nicht-romanischen Sprachen in der Romania sowie die indoeuropäische Sprachfamilie. Die Einführung in die Diasystematik nach Coseriu und ihre Weiterentwicklung durch Koch/Oesterreicher schließt mit der Abgrenzung von Spra-che vs. Dialekt. Ein eigener Teilabschnitt ist der Jugendsprache gewidmet. Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt werden anhand von Bilingualismus, Diglossie, H- und L-Varietät sowie heritage languages erklärt. Abschnitt 4.2 (152–162) eröffnet den diachronen Teil des Kapitels und skizziert die Entwicklung „[v]om Vulgärlatein zu den heutigen romanischen Sprachen“ (152). Hierfür werden zunächst der Romanisierungsprozess sowie die vorrömischen Sprachen und Völker vor dem Hintergrund der Substrathypothese vorgestellt. Es folgen Ausführungen zum Varietätengefüge des Lateinischen sowie eine Übersicht über die Quellen des Vulgärla-teins. Der Zerfall des Römischen Reiches, Superstrat- und Adstrateinfl üsse sowie die Frage nach dem Beginn der Volkssprachen komplettieren den Abschnitt. 4.3 (162–171) skizziert die Ausdifferenzierung des Französischen, Italienischen und Spanischen in drei Teilabschnitten, womit den unterschiedlichen Entwicklungen und ihren Ursachen Rechnung getragen wird. Das Kapitel schließt mit Abschnitt 4.4 (172–176), in dem Sprachwandel unter Berücksichtigung von Grammatikalisierungstheorie und generativer Annahmen thematisiert wird. Anhand von Kreolsprachen und den wichtigsten Annahmen zu ihrer Entstehung wird Sprachwandel, der durch Sprachkontakt bedingt ist, erläutert.

Das fünfte Kapitel (183–218) wiederholt das sprachliche Zeichen nach de Saussure, um dann zunächst auf die Semiotik im Allgemeinen einzugehen. Bei der ausführlichen Unterscheidung

3 Das auf S. 115 genannte medianoche ist jedoch kein rechtsköpfi ges Kompositum des Italienischen.

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zwischen Index, Ikon und Symbol wird das sprachliche Zeichen nur am Rande mit einbezogen (183–188). Bedeutung und Referenz werden durch das semiotische Dreieck, Intension, Extension (und Konnotation) erklärt, die Beziehung zwischen Sprache und Welt anhand der Farbadjektive erläutert (188–192). In Abschnitt 5.2 (192–200) sprechen die Autorinnen die problematische Wortdefi nition an, beschränken sich jedoch darauf, mit Lexem einen neuen Begriff einzuführen und diesen als „lexikalische Grundeinheit“ (192) zu defi nieren.4 Anschließend widmen sie sich Wortfeldern sowie den semantischen Relationen. Unter 5.3 (200–206) werden die zwei für ein Einführungswerk gängigsten Theorien, die strukturalistische Merkmalsanalyse sowie die Prototypentheorie, vorgestellt. In Abschnitt 5.4 (206–215) wird die Semantik mit drei anderen Teildisziplinen verknüpft. Die Verfasserinnen stellen die Verbindung zwischen Semantik und Pragmatik her, indem sie neben Ausdrucks- und Äußerungsbedeutung auch die Inferenzen von Äußerungen ansprechen. Die Syntax-Semantik-Schnittstelle wird in der Terminologie Tesnières, d. h. mit der Wertigkeit von Verben, Aktanten und Zirkumstanten erläutert. Neben der hilfreichen Unterscheidung zwischen Wertigkeit und Transitivität wird auch die Frage nach der Relevanz des Subjekts für die Bestimmung von Verbklassen thematisiert. Des Weiteren präsentieren die Autorinnen ein gängiges Inventar an semantischen Rollen sowie die Notwendigkeit, dieses sprachlich zu motivieren. Abschließend widmen sie sich dem „Aufbau des Wortschatzes im Erstspracherwerb“ (212) mono- und bilingualer Kinder.

Kapitel 6 (219–261) widmet sich primär der generativen Syntax. In Abschnitt 6.1 (219–224) werden Universalien, die verschiedenen Adäquatheitsebenen von Grammatiktheorie sowie der Unterschied zwischen Grammatikalität und Akzeptabilität erklärt. Abschnitt 6.2 (224–239) stellt die verschiedenen syntaktischen Kategorien vor; die VP, AP und PP kurz, die NP bzw. DP vergleichsweise ausführlich. Die Autorinnen erörtern hier die variable Stellung des Adjektivs und die Frage nach seiner zugrunde liegenden Position innerhalb der NP. Dabei stellen sie eine weitere Verbindung zur Spracherwerbsforschung her, indem sie Untersuchungen zur Adjek-tivstellung bei bilingualen Kindern präsentieren. Anhand der Determinanten wird schließlich der Unterschied zwischen lexikalischen und funktionalen Kategorien eingeführt. Im letzten Teilabschnitt von 6.2 zeigt eine Studie zu Selbstreparaturen bei Sprechfehlern das Bewusstsein, das kindliche Sprecher über Phrasengrenzen haben. Außerdem wird erklärt, wie sich Phrasen-strukturregeln in Form von Baumdiagrammen und indizierter Klammerung darstellen lassen. Der Abschnitt schließt mit der Relation der Dominanz, einer formalen Defi nition von Konstituenz sowie Konstituenztests. Abschnitt 6.3 (239–242) führt in drei Unterpunkten überblicksartig die funktionalen Kategorien D, T und C ein. Abschnitt 6.4 (242–246) unterscheidet Komplemente von Adjunkten und erklärt Argumentstruktur sowie Subkategorisierungseigenschaften anhand von Verben, Adjektiven und deverbalen Nominalisierungen. 6.5 (247–258), die „Struktur von Sätzen“ (247), bildet den komplexesten Abschnitt zur Syntax. Den Einstieg bildet die Einführung der vP anhand von Ditransitiv-, Kausativ- und Passivkonstruktionen. Die entsprechenden Bäume sind an dieser Stelle nicht ohne Weiteres zu verstehen, da die Grundzüge des X-Bar-Schemas (Spezifi katorposition, Zwischenebenen) noch nicht hinreichend geklärt sind. Die Verfasserinnen zeigen den strukturellen Unterschied zwischen direkten und indirekten Objekten und erläutern die Position des Subjekts in der vP. Es folgen Ausführungen zur Struktur der TP sowie den Zwischenebenen, die nun mit einigen Substitutionstests geklärt werden. Die Begründung für die Position des Subjekts in der vP wird anschließend wieder aufgegriffen und durch fl oating

4 Bislang haben wir intuitiv mit dem ‚Wort‘ gearbeitet. Wir wissen jedoch – auch aus der Morpholo-gie (vgl. Kapitel 3) – dass das Wort sprachwissenschaftlich eine problematische Einheit ist. In der Semantik und der Lexikologie hat man daher den Terminus ‚Wort‘ durch Lexem bzw. Lexie ersetzt“ (192).

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quantifi ers und ditransitive Verben präzisiert, bevor es zum Abschluss des Kapitels um die Struktur der CP geht.

Kapitel 7 zur Pragmatik (262–283) führt anhand von Beispielen aus den drei romanischen Sprachen in die situativen Deixisarten Personal-, Temporal- und Lokaldeixis sowie die anapho-rische Referenz ein (264–268). In Abschnitt 7.2 (268–270) wird der Leser mit der konversatio-nellen Implikatur vertraut gemacht, bevor in 7.3 (270–273) Präsuppositionen angesprochen werden. Abschnitt 7.4 (273 f.) führt überblicksartig in die Sprechakttheorie nach Austin und Searle ein. Vergleichsweise viel Raum wird in Abschnitt 7.5 (274–281) der Schnittstelle von Syntax und Pragmatik eingeräumt. Anhand der Dislokation in den drei romanischen Sprachen sowie der Null-Subjekt-Eigenschaft des Italienischen und Spanischen zeigen die Autorinnen auf, wie syntaktische Strukturen von pragmatischen Faktoren gesteuert werden können.

Kapitel 8 (284–299) illustriert Verknüpfungsmöglichkeiten von Sprach- und Literaturwis-senschaft. Abschnitt 8.1 (284–287) informiert u. a. über Poetik und Rhetorik einschließlich der Grundformen rhetorischer Figuren. Abschnitt 8.2 (288–296) erklärt Konzepte und Grundbe-griffe an der Schnittstelle von Sprach- und Literaturwissenschaft, wie Hermeneutik, Stil oder die Funktionen von Sprache nach Jakobson. Des Weiteren werden z. B. mit Textlinguistik und Translatologie Disziplinen vorgestellt, die Sprach- und Literaturwissenschaft gleichermaßen tangieren. Die Autorinnen veranschaulichen anhand konkreter Beispiele, wie linguistische Kenntnisse für die literaturwissenschaftliche Analyse nutzbar gemacht werden können. So wird etwa anhand eines spanischen Romans aufgezeigt, inwiefern Varietätenlinguistik, Wortbildung oder Pragmatik relevant sind, um die Sprache einer Figur und damit auch die Figur selbst zu analysieren.

Als Besonderheit dieses Buches kann Kapitel 9 (300–324) angesehen werden, das dem Studienanfänger durch zahlreiche screenshots anschauliche Hilfestellung für das Beschaffen relevanter Fachliteratur bietet. Die exemplarische Darstellung einer Zitier- und Bibliografi er-weise rundet das Kapitel zu den Arbeitstechniken in der Linguistik ab.

Insgesamt bietet das Lehrwerk eine ausführliche und moderne Einführung in die romanische Sprachwissenschaft. Als besonderes Merkmal, das es von anderen Einführungen unterscheidet, kann der häufi ge Bezug auf Studien aus der (Wuppertaler) Spracherwerbs- und Mehrsprachig-keitsforschung hervorgehoben werden. Das Buch ist unterhaltsam und abwechslungsreich ge-schrieben, was jedoch stellenweise zulasten der Übersichtlichkeit geht. Generell könnte durch ein Verzeichnis für Abkürzungen und bestimmte Notationen Verständnisproblemen vorgebeugt werden.

Berlin Barbara HENTSCHEL / Felicia LEMBECK

Aonghas ST-HILAIRE, Kwéyòl in Postcolonial Saint Lucia. Globalization, language planning, and national development (Creole Language Library, 40), Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins, 2011, XV + 316 pp.

This book, which is divided into twelve chapters, aims to provide a sociolinguistic evalu-ation of the potential of the French based Creole (Kwéyòl) spoken on Saint Lucia to become a long-term “tool for the economic, social, and cultural development of the island” (p. 2) and a symbol of national identity. The author intends to show the interaction between globalization, postcolonial national development and concrete language planning measures for a historically devaluated Creole language and their effects on its status and use in local and national contexts.

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014

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To this end, he provides a comprehensive description of the language planning activities un-dertaken for Kwéyòl, especially since 1979 when the island achieved full independence from Great Britain. Furthermore, the author conducted fi eld research on the status of and the attitudes towards Kwéyòl (cf. p. XIV) and draws comparisons to other postcolonial territories worldwide. As in many postcolonial Creole-speaking areas, Saint Lucia’s Creole faces the effects of globa-lization – one of which being that the former colonizers’ language(s) is/are favoured over the local language(s). For this reason, the study takes into account the legacy of French and English colonialism and the importance of wider cultural, linguistic, economic and political contexts across the Caribbean, such as in the Francophonie and the Commonwealth.

In chapter 1 (“Introduction”), the author gives general information on Saint Lucia and other Caribbean territories and presents concepts relevant for his work. In section 1.4 on theoretical concepts of language planning, he offers a brief overview of corpus, status and acquisition planning, language planning from above and from below, and on language planning as a part of nation-building and as a means of preserving linguistic diversity. The author writes about barriers and limits of language planning especially in relation to postcolonial situations in sec-tion 1.5. In section 1.6 entitled “The unique status of Creole languages”, he presents interesting remarks on the diffi culties of promoting Creoleness and Creole languages in a community where cultural and national identity is not always clearly defi ned. This topic could have been further pursued, for instance by mentioning the discrepancies between the claims for (e. g. orthographic) standardization and national recognition and the actual speakers’ will and (often lacking) per-ceived need to write their language in everyday life.1 Moreover, it would have been interesting had the author provided a systematic sociolinguistic categorization of different postcolonial Creolophone contexts; these are described very generally as “skewed societal bilingualism” or “linguistic dualism” (p. 30). It could have been fruitful to discuss critically classical linguistic concepts such as diglossia adopted e. g. in Devonish (2008) or Reutner (2005) to (post)colonial, confl ictive linguistic situations. The author could also have stressed the distinction between situations in which a lexical relationship exists between Creole and the coexisting European language (e. g. between Creole and French in the French Antilles) and the less frequent situation in which this lexical relationship is lacking (e. g. between Kwéyòl and English on Saint Lucia). This distinction is of relevance given that, depending on the type of linguistic situation at hand, different language planning measures are necessary, especially in relation to educational issues.2

Taken as a whole, unless the author chooses a sociolinguistic and postcolonial approach to his study, the theoretical part of the introductory chapter remains rather short and unsystematic, providing (particularly in section 1.5 “National development”) list-like examples for langua-ge planning activities from all over the world instead of a concise theoretical sociolinguistic framework and a presentation of linguistic analytical tools.3

In chapter 2 (“Colonial background”), the author commences with a historical overview of the beginnings of European colonialism in the Caribbean in the 16th century, continues with the

1 Cf. e. g. Ursula Reutner, Sprache und Identität einer postkolonialen Gesellschaft im Zeitalter der Globalisierung, Hamburg: Buske, 2005, p. 318, and Hubert Devonish, “Language Planning in Pidgins and Creoles”, in: The Handbook of Pidgin and Creole Studies, ed. by S. Kouwenberg and J. V. Singler, Malden/Oxford: Blackwell, 2008, p. 619 and also p. 627 and p. 634 for the desired recognition of a Creole as national language and the frequent denial to use it as an offi cial language.

2 Cf. Dennis Craig, “Pidgins/Creoles and Education”, in: The Handbook of Pidgin and Creole Studies, ed. by S. Kouwenberg and J. V. Singler, Malden/Oxford: Blackwell, 2008, p. 593.

3 As given, for example, in Susanne Mühleisen, Creole discourse. Exploring prestige formation and change across Caribbean English-lexicon Creoles, Amsterdam: Benjamins, 2002, on language status, function, attitudes and prestige.

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subsequent French and British colonialism on Saint Lucia and ends with the pre-independence era in the 1970s when English begins to spread on the previously Creole-dominated island. From a linguistic and Creolistic point of view, this chapter contains various problematic sections – for example, in sections 2.1.1 and 2.1.3 on the African linguistic infl uence the author rarely differentiates between the various French colonial territories in America in relation to the role played by African slavery in the formation of Creole; furthermore, he does not talk about the specifi c socio-historical conditions necessary for this process.

Chapter 3 focuses on “Kwéyòl cultural nationalism”. After providing some remarks on glo-bal trends of (linguistic) decolonization in Asia, Africa and the Caribbean in order to overcome inherited postcolonial dependencies, the author identifi es the pre-independence years 1969–71 as the turning point in the cultural history of Saint Lucia when pro-Kwéyòl activities marked the beginning of the burgeoning cultural nationalist movement. He then relates in detail the initiatives instigated by the Folk Research Center established in 1973, e. g. the festivities and cultural events that started with the introduction of an annual Jounen Kwéyòl in 1983, which then became a national holiday and, in 2004, the Creole Heritage Month.

Chapter 4 adopts a more global perspective on the role of English for Saint Lucia as an in-creasingly Anglophone country integrated via offi cial and cultural ties into an English-speaking world. This concerns especially Saint Lucia’s capital Castries as the economic and political center of the island where the English-speaking upper class traditionally lives. The very detailed chapter contains some repetitive passages, such as information on the British/English infl uence on Saint Lucia which was already mentioned in preceding chapters.

Chapter 5 (“The Francophonie and Créolophonie”) provides a description of the Franco-phonie and the French based Créolophonie and their cooperation with Saint Lucia, an aspect that could be particularly interesting for French linguists and Creolists. The chapter contains good refl ections on the symbolic role of language for Creole cultural nationalism in the French départements d’outre-mer (DOMs) in the 1980s, a point that, according to the author, was less important in independent nations more concerned with their socioeconomic development (p. 113). Unfortunately, French Guiana is ignored (see p. 105, the same occurs in other chapters, cf. for example p. 271) or subsumed under Antillean “island life” (p. 107); the most recent publications the author cites for this DOM are Chalifoux (1989) and Mam Lam Fouck (1989), although the particular (socio)linguistic situation (very distinct for Martinique and Guadeloupe) has changed since then.4 As regards France’s language planning, the author is certainly generally right in claiming an “[i]nternally […] maintained […] offi cial position of non-acknowledgement of the French Creoles” (p. 117) but he does not consider the recognition of the French based Creoles as langues de France by the DGLFLF in 2001 and the subsequent creation of a CAPES créole and other more recent educational programs.5 Some topics such as the unifying role of French Creole music (section 5.4.4) or Jounen Kwéyòl festivities (section 5.5.3) could also have been placed in other chapters as they appear repeatedly in the book.

As with chapter 3, chapter 6 “Government and democracy” starts with an overview of post-colonial trends in Asia, Africa and the Caribbean and then focuses on the impact of the Saint Lucian governments (of differing political orientation) on linguistic and cultural pro-Kwéyòl activities since national independence. In the present society, the author states that there is

4 Cf., for example, Isabelle Léglise and Bettina Migge, Pratiques et représentations linguistiques en Guyane: regards croisés, Paris: IRD Éditions, 2007a.

5 Cf. DGLFLF, “Les langues de France: un patrimoine méconnu, une réalité vivante”, in: Délégation générale à la langue française et aux langues de France, <http://www.dglf.culture.gouv.fr/>, date of access: 08/01/2012; Robert Chaudenson (ed.), CAPES créole(s): le débat (Études créoles. Culture, langue, société, XXIV/1), Paris: L’Harmattan, 2001, and Devonish 2008, pp. 631 f.

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growing public approval and latent popular support for future government sponsorship of Kwéyòl-friendly language planning. Nevertheless, some of the information has already been mentioned (cf. section 1.5.2) or could have been integrated into chapters 7 and 8 (e. g. section 6.3.3). In sections 6.5 to 6.7, the author investigates the Saint Lucians’ attitudes towards the possibility of governmental use of Kwéyòl, full societal bilingualism and the perceived link between language planning and development, nation-building and democracy. These sections are based on narrative statements collected during the author’s fi eld work.

Chapter 7 is dedicated to “Literacy, the schools, and higher education”. The author fi rstly provides an overview of this aspect of language planning in Asia, Africa and the Caribbean. Whereas the relevance of the evoked worldwide language planning activities for the comparison with Saint Lucia is not always clear, the role of Creole in public education in the French DOMs (see section 7.1.3) could have been more thoroughly investigated to provide a comparison with the independent state of Saint Lucia. In this chapter, once again, the lack of sociolinguistic the-ory is evident when the author presents the role of French Creole in the Saint Lucian education system (compare for example Craig 2008, pp. 602 f., for the educational goals in Creolophone communities and pp. 600 ff. for a critical analysis of different options in educational language policy for Creole languages and of sociolinguistic factors determining their success). The author mentions several times the diffi culty of creating a standard variety encountered typically with vernaculars (pp. 143, 153 f., 177) but does not develop this observation further, e. g. by evaluating the varying relevance of different written materials in Kwéyòl for the standardization process.

Chapter 8 deals with an aspect of less or non-guided language planning, namely “The mass media”. The structure is the same as in chapter 6 and 7: an overview of postcolonial trends worldwide is followed by the discussion of the role of Saint Lucian French Creole in the printed media, in television and especially on the radio where the expansion of Kwéyòl programs could reinforce the status of Creole as a medium of wider communication. The chapter concludes with two pages (section 8.7) which present the attitudes of interviewed Saint Lucians toward the use of Kwéyòl on the radio.

In chapter 9 entitled “The changing status of Kwéyòl”, the author fi nally discusses in more detail the results of his attitudinal fi eld research taking into account some social factors con-cerning the general population and pro-Kwéyòl cultural activists. According to the author, the interviews refl ect the social elevation of Kwéyòl since independence as well as a certain suc-cess of the promotion efforts for Kwéyòl. The somewhat short section 9.2 deals with the actual language knowledge, intergenerational transmission and (oral) language use in families in their daily lives on Saint Lucia, an aspect that could have been broadened as it is not irrelevant for language persistence and (above all, educational) language planning activities (cf. especially pp. 197, 205 and p. 217 of chapter 10).

Chapter 10, “The enduring attraction and assimilative power of English”, returns to some of the topics already dealt with in chapter 4, but focuses more on speakers’ attitudes towards Creole, English and sociolinguistic change (sections 10.1, 10.4 and 10.5). In section 10.3, the author sketches briefl y the competing situation between Creole, VESL (Vernacular English of Saint Lucia) and Standard English on Saint Lucia.

Chapter 11, bearing the title “The role of French in the nation”, is linked to chapter 5 as it adds the Saint Lucians’ perspective on the role of French on the island. In sections 11.3 to 11.5, the author discusses attitudes towards cultural and pan-Creole cooperative projects, the French language and the perceived cultural similarities with Martinique, Barbados, Haiti, Jamaica, France and England.

In chapter 12, the author presents “Conclusions and language planning implications” for Kwéyòl on Saint Lucia. He states above all that currently, in spite of

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tacit support for the goals of the pro-Kwéyòl cultural nationalist movement in terms of instilling public respect for Kwéyòl as a national language, ardent proponents of Kwéyòl – those willing to actively advocate for concrete changes in language policy and practice in the nation’s institutions – are small in number and enjoy only limited infl uence in the national political decision-making process. (p. 252)

Moreover, the author identifi es two major aims of pro-Kwéyòl language planning. Firstly, it is taken as a symbol for the search for national identity and democratization (a point stressed by the intellectual pro-Kwéyòl activists) and secondly, more pragmatically, as a means to ensure the communication with and the participation in public life of older and rural residents who have limited profi ciency in the English language. These aims also refl ect the duality between the English-dominant capital Castries and the still Creole-dominant rural districts (cf. pp. 252 f. and also p. 189 of chapter 8). At the same time, the author states that active Creole promoters come, above all, from English-dominant environments in Castries, where positive attitudes to-wards Kwéyòl have mainly gained ground since national independence (p. 253). Nevertheless, the increasing cultural integration into the English-speaking world and persisting unfavourable attitudes towards the Creole language would have a negative impact on its use and transmission. The author is certainly right to conclude that “Kwéyòl […] and Creole culture have become increasingly folklorized in postcolonial Saint Lucia, instead of dynamic, modern, and central elements of contemporary island cultural life” (p. 255).

In section 12.4, the author intends to give concrete implications for future Saint Lucian language planning favouring pan-Creole activities. For instance, he proposes that

Creole promoting institutions on the French West Indian islands, in particular, are well placed to draw on the French language to create French Creole neologisms that Saint Lucians language planners could borrow, as needed, to give renewed vigor to the in-creasingly Anglicized Kwéyòl. (p. 271, our underlining)

Thereby, the author seems to disregard the close lexical relationship between French based Cre-ole and coexisting French in the DOMs that led French Antillean language planners, together with other factors such as the strong identity discourse, at least originally to create a standard variety as much distant from the acrolect French as possible and to avoid a reshaping of the Creole language by uncontrolled borrowing from French.6 An “active offi cial support of the acquisition and generalized use of French” (p. 282) is proposed quite uncritically (cf. pp. 281 f.) – this measure could easily be judged by pro-Creole activists as the creation of a new rival for Kwéyòl in addition to English.

Furthermore, the introduction of Kwéyòl in Saint Lucian schools is judged “a potential boon for the future development of the language” (p. 274), which is very optimistic considering that results from the DO Ms do not categorically prove this (cf. Reutner 2005). As is the case with festivals, music and tourism, highlighted as positive signs for Creole persistence by the author (cf. p. 277), teaching of Creole languages without intergenerational transmission and regular use in everyday communication can equally contribute to the fossilization and folklorization of the language (cf. for instance Reutner 2005 and Craig 2008).

Overall, the book provides a detailed data compilation on directed and less planned stan-dardization efforts for Kwéyòl on Saint Lucia from the pre-independence period up to today and some information on the perceptions of sociolinguistic change and actual language use based on fi eld research. This kind of work is particularly welcome in view of the relative scarcity of

6 Cf. Raphaël Confi ant, “Construire le créole écrit…”, in: Dictionnaire des néologismes créoles, vol. 1, ed. by ibid., Petit-Bourg, Guadeloupe: Ibis Rouge, 2001, pp. 9–29.

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sociolinguistic studies on the attitude of Creole speakers towards their language and in the more applied linguistic fi eld of language education and language planning for Creole languages.7

Nevertheless, one of the problems with this book is its overall layout and structure. The information is presented in twelve sometimes lengthy and repetitive chapters containing nume-rous extremely short and only loosely connected subsections. These could have been compiled in more coherent units permitting a smoother reading of the book. The study is based on vast reading and provides a large bibliography on the subject. However, the sources are not always up to date and the author does not always indicate his sources in the text consistently (cf. p. 31 or p. 253).

Lamentably, the results coming from the author’s own fi eld work material fi ll only a small part of the book and are interspersed over several chapters (chapters 3, 6–11). In order to provide a more in-depth analysis, the author could have e. g. evaluated more systematically the corre-lations between the answers and the sociolinguistic parameters concerning his interviewees. He fails to mention the general limitations of this kind of qualitative small scale investigation (cf. pp. 164 f., 204–207 and chapter 9; compare e. g. Fleischmann 2008, pp. 87 f. and p. 104 or Reutner 2005, chapter 4).

The main problem with the data on Saint Lucia provided in this book is the lack of theoretical foundation and application of established sociolinguistic analytical methods which would have greatly contributed not only to the analysis of the fi eld material but also to the systematization of the facts presented. For instance, chapters 3 and 5–8 start with mostly cursory information on postcolonial tendencies in language planning in territories all over the world, including the situation of Gaelic and Welsh in Scotland and Wales – this case constitutes internal colonialism and is very different to postcolonial Creolophone contexts. Other comparisons, such as VESL to Jopará in Paraguay (pp. 273 f.) or Kwéyòl to French in Québec (pp. 275 f.), are not convincing as the languages differ in “socioeconomic environment, language status, and home support” (Craig 2008, p. 605). The comparative perspective is certainly indispensable for fi nding out more about general interaction between globalization, language planning and national development. More enlightening than the examples for language planning for a dominated language from extremely different contexts could have been a systematized comparison of Saint Lucia in particular with other Caribbean territories, all the more considering that the book claims to be interested in the ‘unique’ situation of Creole languages in language planning processes (cf. for example Devonish 2008, pp. 621 ff., who distinguishes the ‘anglophone approach’ in the English-lexicon-Creole speaking Caribbean and the ‘francophone approach’ in the French overseas territories).

In this vein, a lot of fi ndings for Saint Lucia could have been classifi ed and explained in a more general perspective in postcolonial Creole contexts. For instance, the specifi c motivations for language planning for Creole languages such as the search for an own cultural identity and the wish for nation-forming and democratization (pp. 208, 227 f., 251) or the contrasts between cultural nationalism as an intellectual movement and the more pro-English attitudes of the rural population can be found in other Creolophone territories and are obviously due to diglossic conditions and “the consequent identity-marking roles and cultural values” (Devonish 2008, p. 619, see also ibid. p. 621). Furthermore, the perceived ‘sinking’ quality of the Creole language (p. 203) that accompanies its extension into new functional domains is certainly due to the (re-)

7 Cf. Isabelle Léglise and Bettina Migge, “Language and colonialism. Applied linguistics in the context of creole communities”, in: Handbook of Language and Communication: Diversity and Change, ed. by M. Hellinger and A. Pauwels, Berlin/New York: Mouton de Gruyter, 2007b, p. 324, and Christina T. Fleischmann, Pour mwan mon lalang maternel i al avek mwan partou: a sociolinguistic study on attitudes towards Seychellois Creole, Bern: Lang, 2008, pp. 50–54.

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appropriation of Kwéyòl by dominant English-speaking Saint Lucians such as radio presenters and journalists using a less basilectal, Anglicized Creole (see Confi ant 2001, pp. 17 f., for the same phenomenon between Creole and French in the media on the French Antilles). At the same time, a certain amount of abstraction is always necessary in order to create a new standard vari-ety and it is not uncommon that the speech community perceives this variety as ‘unauthentic’. In a general way, the book could have been more critical with regard to the possible effects of planned language standardization, above all coming from a non-Creole speaking (or bilingual) middle class. In the end, the success of such activities and the acceptance of a new standard depend more on “language attitudes and real linguistic needs […] than […] [on] human and fi nancial resources” (Léglise/Migge 2007b, p. 324). To sum up, although the book provides detailed information on language planning on Saint Lucia, the fi ndings are not surprising in postcolonial Creolophone contexts. Given the lack of theoretical analysis and systematization, the study hardly provides really new insights on the subject. It does not fulfi ll its potential for postcolonial studies and sociolinguistic standardization and language planning theories to develop a more concise approach to the problems encountered by language planning in an independent postcolonial Creole-speaking state in the wider context of national development and globalization.

Regensburg/Aix-en-Provence Evelyn WIESINGER

Tania WOLOSHYN/Nicholas HEWITT (Hgg.), ‚L’Invention du Midi‘ : The Rise of the South of France in the National and International Imagination (Nottingham French Studies, 50/1), Nottingham: University of Nottingham, 2011, 119 S.

Prozesse der kulturellen Selbst- und Fremdwahrnehmung erfahren in den Kulturwissenschaf-ten seit mehreren Jahrzehnten ein anhaltendes Interesse. Während im Fokus der romanistischen oder anglistisch-amerikanistischen Auseinandersetzungen derzeit besonders Alteritätskonstruk-tionen in postkolonialer Perspektive stehen, bilden imagologische Fragestellungen, die Stereotype in vorrangig nationaler bzw. internationaler Dimension untersuchen, eher einen klassischen Forschungsgegenstand der Komparatistik.

Der von den Kunst- und Kulturwissenschaftlern Tania Woloshyn und Nicholas Hewitt he-rausgegebene Band zur ‚Erfi ndung des Südens‘ bewegt sich genau an der Schnittstelle dieser beiden Bereiche. Er setzt, was den behandelten nationalen und geographischen Raum angeht, einen sehr engen Fokus: Sein Ziel ist es, in interdisziplinärer Perspektive zu rekonstruieren, welche Rolle der Midi innerhalb des Selbstverständnisses der französischen Nation spielt, welche Elemente diesen Kulturraum kennzeichnen und wie seine Grenzen bestimmt werden. Um dies zu leisten, wird eine dezidiert kulturwissenschaftliche Perspektive eingenommen.

Eine internationale Dimension, wie sie im Titel angekündigt wird, erlangt dieser Sammel-band allerdings nur durch einen Beitrag über das Côte d’Azur-Bild im Hollywoodfi lm (Cristina Johnston). Zwar weisen auch die Aufsätze zur (Selbst-)Darstellung des französischen Südens in touristischen Zusammenhängen oder die Geschichte der weitreichenden Vernetzung der Cahiers du Sud (Nicholas Hewitt) mitunter eine internationale Perspektive auf; jedoch nur in sehr mittelbarer Weise. In erster Linie stehen rein französische Untersuchungsgegenstände im Zentrum: etwa touristische Marketingstrategien (Anne Dymond), die Félibrige-Vereinigung und ihr Engagement für das Théâtre Antique d’Orange (Jessica Warhaugh) und weitere regionale

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Aktivitäten zum Erhalt des kulturellen Erbes in der Provence (Laurent Sébastien Fournier), das Midi-Bild des Malers Edmond Cross (Tania Woloshyn), der Provencialismus des Schriftstellers Charles Maurras (Brian Sudlow), das historische und kulturelle Selbstverständnis der ‚Aus-nahmestadt‘ Marseille (Sophie Biass und Jean-Luc Fabiani) oder der Blick der französischen Basken auf den Midi und seine Grenzen (John K. Walton).

Mit den genannten Beiträgern widmen sich zehn für die Problemstellung des Bandes ausge-sprochen ausgewiesene, in Großbritannien, Kanada oder Frankreich tätige ‚Midi-Spezialisten‘ aus den Bereichen Anthropologie, Soziologie, Literatur- und Filmwissenschaft, Geschichte, Politik und Kulturwissenschaft der Frage, wie der Süden Frankreichs repräsentiert wird. Wodurch erlangt dieser Kulturraum eine imaginäre Entität und welche ästhetischen, geographischen oder politischen Konzepte liegen solchen Konstruktionen zugrunde?

Dieser Blickwinkel, der sich auf den historischen Zeitraum vom späten 19. Jahrhundert bis heute konzentriert, hat den Vorteil, dass auf diese Weise die unscharfen Grenzen und vielfältigen Überlappungen des untersuchten Raumes selbst herausgearbeitet und problematisiert werden können. Denn im Gegensatz zur Region der Provence oder der Côte d’Azur – Räume, die sich im Inneren der Nation geographisch relativ genau bestimmen lassen –, sind die räumlichen Grenzen des Midi Gegenstand vorrangig imaginärer und symbolischer Repräsentationen. Sei-ne offensichtlichen Überschneidungen mit dem Mittelmeerraum insgesamt, der Norden und Süden, Orient und Okzident miteinander verbindet, lassen seine Konturen verschwimmen und fordern immer wieder zu neuen Defi nitionen heraus: „Côte d’Azur, the Riviera, the South, the Mediterranean, Provence – the Midi is all and none of these“ (S. 5).

Ein grundsätzliches Problem, das der Band bearbeiten will, ist also die mangelnde Präzision des Begriffs Midi. Handelt es sich um ein nationales Konzept? Wie wird hierdurch ein fran-zösisches Nationalbewusstsein gestärkt oder womöglich überhaupt erst konstituiert? Anhand welcher Oppositionen werden die Grenzen defi niert? Steht der Midi im Gegensatz zu anderen südlichen Regionen? Oder entsteht er erst in Abgrenzung zum Norden? Mit welchen Wertungen und Vorstellungswelten gehen solche Defi nitionsbemühungen einher?

Solche Bestimmungsversuche ergeben kein einheitliches Bild, sondern sind in ganz unter-schiedlichem Maße abhängig von den kulturellen, ökonomischen und historisch-politischen Kontexten, in denen die einzelnen Untersuchungsobjekte zu verorten sind. Denn die vielfäl-tigen und oftmals widersprüchlichen Imaginationen des französischen Südens setzen sich aus zahlreichen sprachlichen, visuellen, fi lmischen oder musikalischen Facetten zusammen, die freilich in touristischen Werbezusammenhängen eine andere Bedeutungsdimension entfalten als beispielsweise im Marseiller Rap, in den politischen Schriften eines Charles Maurras oder in den komplexen Kulturrefl exionen der Dichter, die ihre Texte in Les Cahiers du Sud publizieren. Hier zeigen sich die Potenziale und Grenzen eines Ansatzes, der programmatisch den cultural studies verpfl ichtet ist. Der Band nimmt zahlreiche Gegenstände in den Blick, die bislang nur selten Objekt wissenschaftlicher Untersuchungen wurden, jedoch für die Vorstellungen des Midi und seine kulturellen Repräsentationen im historischen Wandel von entscheidender Bedeutung sind. Es wird allerdings kein kategorischer Unterschied gemacht, ob es sich um künstlerisch-ästhetische Auseinandersetzungen oder aber um eine touristische Werbekampagne handelt. Tourismus-Poster der Dritten Republik, Dokumente der südfranzösischen Eisenbahnkompagnie CCFSF, essayistische Texte von Schriftstellern, Hollywood-Filme: Sämtliche visuellen und textuellen Ausdrucksformen werden auf derselben Ebene behandelt.

Die zentralen Argumentationslinien, die sich so durch diesen Sammelband der Nottingham French Studies ziehen, konstruieren den Midi erstens als einen in Relation zum Norden Frank-reichs relativ einheitlichen Gegenraum, der sich kontinuierlich der zentralistischen Macht zu entziehen versucht. Zweitens erscheint er als Kulturraum, der antikes Erbe und ein modernes

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französisches Nationalverständnis synthetisiert. Drittens haben wir es mit einem Kreuzungspunkt unterschiedlicher Kulturen zu tun; mit einer kulturellen Transitregion, die durch bestimmte geo-graphische, botanische und klimatische Besonderheiten zusammengehalten wird. Und schließlich wird der Midi imaginiert als touristischer Sehnsuchtsort, der durch regionale Traditionen und eine spezifi sch mediterrane Lebensweise charakterisiert ist.

Derartige Rekonstruktionsversuche sind allerdings keine, die der vorliegende Band selbst liefert. Der Leser muss sich das Bild des Midi anhand einer vergleichenden Refl exion der Ein-zelergebnisse sämtlicher Beiträge zusammensetzen. Der Sammelband bleibt vorrangig auf die Untersuchungsgegenstände selbst konzentriert, die sich nicht immer ganz leicht zueinander in Beziehung setzen lassen. Um größere Systematisierungen vornehmen zu können, hätte es vielleicht eines gemeinsamen theoretischen Rahmens oder einer expliziteren methodologischen Refl exion bedurft. Freilich tut es dafür nicht Not, dass sich die Beiträger auf einen bestimmten kulturtheoretischen Ansatz einigen. Allein überhaupt die Auseinandersetzung mit unterschied-lichen theoretischen Entwürfen zum Mittelmeerraum, die in eben dem behandelten Zeitrahmen entstehen und umfassend rezipiert werden, böte schon eine Abstraktionsebene, auf der sich wichtige Ergebnisse synthetisierend zu Tage fördern ließen: Man denke etwa an so wichtige ‚Denker des Südens‘ wie Braudel, Camus, Cassano, Matjevevic, Audisio oder Brauquier, von denen in diesem Themenheft nur die beiden letzten ganz kurz genannt werden. Einen Ansatz-punkt für eine solche kulturtheoretische Perspektivierung des Problems liefert der Beitrag zur Rekonstruktion der Entstehungs- und Publikationsgeschichte der Cahiers du Sud. Denn anhand der Position ihres Gründers Jean Ballard zeigt sich: Zur ‚Midi-Identität‘ gehört die Gleichzeitig-keit von historischer Tiefe und politischer Aktualität, und hier insbesondere die Tatsache, dass die unterschiedlichsten Kulturen – die islamische, die jüdische, die berberische, die antike, die christliche – in einem „concept of humanism“ zusammenlaufen, welches sich gegen Mussolinis mare nostrum wendet und explizit auf die deutschsprachige und englische Kultur hin orientiert ist (vgl. S. 102 f.).

Einige solcher theoretischen oder faktenübergreifenden Dimensionen eröffnet die vielver-sprechende Einleitung selbst: Hier wird beispielsweise vorgeschlagen, den Midi im Rahmen eines an Saids Orientalism angelehnten ‚Mediterraneism‘ zu verstehen (vgl. S. 3) – auch wenn ein derartiger Theoriekontext in den Beiträgen selbst nicht wieder aufscheint. Angesichts einer solchen Denkbewegung, die kulturelle Identität vorrangig als Prozess der Alteritätskonstruk-tion versteht, mag es erstaunen, dass der postkoloniale frankophone Raum, insbesondere der Maghreb, in dem vorliegenden Band – von der Situation der beurs in Marseille einmal abge-sehen – eine gänzlich marginale Rolle spielt. Gerade im Kontrast zu den vielfach hochgradig stereotypen Bildern des Midi im Hollywood-Kino, die sich vorrangig auf „Playboys, Thieves and Racing Cars“ konzentrieren (S. 72), hätten die zahlreichen maghrebinischen Filme, die den Süden Frankreichs aus einer ganz anderen Perspektive in den Blick nehmen, der Thematik des Bandes eine wichtige Dimension hinzufügen können. Auch eine mythologische Perspektive wird eingangs, z. B. mit dem Verweis auf Arkadien, eröffnet (vgl. S. 5) und bietet vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten für kulturelle Erfi ndungen des „Rise of the South“. Sie wird jedoch lediglich im letzten Beitrag über das Verhältnis des Baskenlands zum Midi, hier allerdings, wenn auch nicht explizit, so doch in ausgesprochen fruchtbarer Weise, wieder aufgenommen.

Der Band liefert insgesamt also zahlreiche einzelne Antworten auf die Frage, wie der Midi seit dem 19. Jahrhundert anhand von politischen, künstlerischen und touristischen Repräsenta-tionen Teil der imaginary map der französischen Nation werden konnte: Es handelt sich um „a complex intermingling of factors deriving from the commercial concerns of tourism, transport, resorts and health, and the artistic representation of the South by artists, writers, and fi lm-makers“ (S. 6). In den hier versammelten Beiträgen überwiegen die Imaginationen des Südens in popu-

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lären Medien und eine folkloristische Perspektive, die nicht zuletzt in den vielfältigen Formen der Vermarktung und touristischen Erschließung ihren Niederschlag fi nden. Die „changing boundaries – both real and imagined“ (S. 1) werden erklärtermaßen zum zentralen Gegenstand der Untersuchung erhoben. Dass es sich bei den Grenzen des Midi immer auch um imaginierte, d. h. symbolische Grenzen handelt, muss allerdings angesichts der ökonomisch-geographischen Perspektive, die einen großen Teil der versammelten Beiträge durchzieht, etwas in den Hinter-grund geraten. Aufgrund der hier erfolgten Material-Auswahl, anhand derer die Erfi ndung des Südens rekonstruiert wird, haben wir es in dem vorliegenden Band notgedrungenermaßen immer auch mit einer gewissen Verfl achung des Midi als diskursives und kulturelles Konzept zu tun.

Saarbrücken Christiane SOLTE-GRESSER

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