Bewegte BilderDownward Spiral» gerade seinen kreativen Zenit erreicht hatte. In einem Interview mit...

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JUL/AUG.11 Bewegte Bilder

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  • JUL/AUG.11

    Bewegte Bilder

  • EINSCHLAUFENBeim Rauchen im Raucherraum hat sich der Kollege erstaunt gezeigt ob meiner Kurzhaar-frisur. Er meinte: «Ha, auf den Sommer hin jetzt also auch etwas bequemer.» Ich hingegen: «Naja, man weiss ja nie, ob man demnächst ge-draftet wird.» Er so: «Oh, echt? Das wusst ich nicht. Kann ich ja auch nicht wissen, schliess-lich bin ich ein Österreicher, der in der Schweiz lebt.» «Neinein, gar kein Problem. Ich bin doch längst ausgemustert beziehungsweise (und sol-che Wörter spreche ich immer gerne aus), hab ja nie Dienst geleistet.»Daraufhin erzählt er mir, er habe beim Bundes-heer in Österreich «durchgedient» (also neun Monate am Stück). Allerdings war er bei der Artillerie im Wetterdienst beschäftigt, seiner Aussage zufolge auch in der «gemütlichsten Ka-serne Österreichs» – von dort schafften sie es, durch ein Loch im Drahtzaun, innerhalb von 3 Minuten auf die Bank des nahegelegenen Heu-rigen. Ganz grosser Respekt. ABER: «Als dann die Maul- und Klauenseuche ausgebrochen war, wurde die Kaserne mit einem Entseuchungsbe-reich (Sägespäne und Chemikalien, so eine Art Teppich) umgeben.» Eigentlich nur im Ein- und Ausgangsbereich. ABER eben auch: vor dem Loch im Drahtzaun. Damals verstand man halt noch zu leben. In Würde.Heutzutage hingegen, tja, da geht kaum noch was. Wir unterhalten uns mit ausgemusterten

    Impressum Nº 06.11DER MUSIKZEITUNG LOOP 14. JAHRGANG

    P.S./LOOP VerlagPostfach, 8026 ZürichTel. 044 240 44 25, Fax. …[email protected]

    Verlag, Layout: Thierry Frochaux

    Administration, Inserate: Manfred Müller

    Redaktion: Philippe Amrein (amp), Benedikt Sartorius (bs), Koni Löpfe

    Mitarbeit: Reto Aschwanden (ash), Yves Baer, Reto Baumann, Thomas Bohnet (tb),Pascal Cames (cam), Roman Elsener, Christoph Fellmann, Christian Gasser, Michael Gasser (mig), Nino Kühnis (nin), Hanspeter Künzler (hpk), Tony Lauber (tl), Sam Mumenthaler, Philipp Niederberger, Sarah Stähli

    Druck: Rotaz AG, Schaffhausen

    Das nächste LOOP erscheint am 25. August 11Redaktions-/Anzeigenschluss: 18. August 11

    Titelbild: Martin Scorsese

    Ich will ein Abo: (Adresse)10 mal jährlich direkt im Briefkasten für 30 Franken (in der Schweiz).LOOP Musikzeitung, Langstrasse 64, Postfach, 8026 Zürich, Tel. 044 240 44 25, [email protected]

    Betrifft: Kettenrauchen fördert die Völkerverständigung

    Luftwaffenoffi zieren, bezahlen die Zeche – und stehen dann doch wieder ziemlich dumm da, leise singend und einen massiven Stapel Dollar-noten und die internationale Ausgabe der «Süd-deutschen Zeitung» vor uns ausbreitend, ohne auch nur einen einzigen Blick darauf zu werfen. Hier unten im Süden ist das freilich kein Prob-lem. Die Menschen, die Gäste und die Barkeeper sind tolerant, befi nden sich in einem lockeren Zustand und lassen uns gewähren. Sie halten uns natürlich für scheppse Kanadier, aber das ist ziemlich okay. Würden sie uns für Argentinier halten, wäre der Aufenthalt bedeutend schwieriger, denn dann müssten wir tanzen. So hingegen können wir uns mit Trinken und Träumen aus der Schuss-linie nehmen.Die feige Selbstentfernung aus der Schusslinie ist allerdings nicht in unserem Sinn, denn wir blei-ben immer dort, wo man uns (nicht) erwartet, hören uns alte Alben von Steely Dan, Grateful Dead, Harry Nilsson und Billy Joel an und tan-zen heimlich in Strassen, die wir längst an Goog-le verloren haben. Unsere Herzen brechen, unse-re Nieren versagen, doch wir richten uns mutig wieder auf, um dann mit schmerzverzerrtem Gesich doch noch einen Coupe Romanoff in uns hineinzuschaufeln. So sind wir halt.

    Ol’ Man Guido

  • DER CLIP ALS TRIPDer Kurzfi lm «Scenes from the Suburbs» von Spike Jonze – basierend auf dem Album «The Suburbs» von Arcade Fire – weitet den klassischen Videoclip aus. Klar wird bei diesen Erinnerungen an die Jugendzeit im Vorort dennoch nichts. Ausser, das etwas nicht stimmt.Skateboard- und Velofahren, Rumhängen, Kriegspielen, Sommerjobs im Fast-Food-Restaurant und erste Liebschaf-ten: Der Regisseur Spike Jonze fängt in «Scenes from the Suburbs» Szenen einer ganz normalen Jugend in einem gesichtslosen amerikanischen Vorort ein. Bis die Armee mit schwerbewaffneter Präsenz einen Krieg ohne ersichtli-chen Grund in der Vorstadt anzettelt und die Furcht in die scheinbar unbeschwerten Teenager-Seelen einbrennt. Die thematische Vorlage und den Soundtrack für den halbstündigen Kurzfi lm, der an der diesjährigen Berlinale Premiere feierte, liefert das Album «The Suburbs» von Ar-cade Fire. Die Band um Win Butler und dessen Ehefrau Régine Chassagne porträtiert im grossen Liederzyklus das Aufwachsen in den amerikanischen Vororten in den ausge-henden Achtzigern- und frühen Neunzigerjahren, als man noch Briefe geschrieben hat, sich erfreute über die ersten eigenen Musikaufnahmen und über die Rückkehr an die Orte, die spätestens seit dem Boom und dem Crash der Im-mobilien kaum wiederzuerkennen sind.

    FLUCHT AUS DEN SUBURBS

    Nach Abschluss der Plattenaufnahmen drehte im April 2010 der «Jackass»-Miterfi nder und Videoclip-Erneuerer

    Spike Jonze – spätestens seit seiner Verfi lmung von «Where the Wild Things Are» ein Spezialist für angstvolle Adoles-zenz-Geschichten – mit der Band und jugendlichen Laien-darstellern in Austin, Texas, den halbstündigen Kurzfi lm. Die mittlerweile in Kanada ansässigen Gebrüder Win und Will Butler, die für das Drehbuch verantwortlich zeichne-ten, kehrten derart auch physisch an den Ort ihrer Kindheit zurück.

    Den Butlers und ihren Gefährten ist – anders als den Pro-tagonisten des Films – die Flucht aus dem Vorort gelun-gen, und sie sind nach triumphalen Konzertfahrten und dem sensationellen Grammy-Gewinn für das Album des Jahres eine der grössten Bands der Gegenwart. Ihr Status ermöglicht der Grossformation das Ausloten von neuen visuellen Möglichkeiten, die weitere Puzzlesteine zum Ge-samtkunstwerk Arcade Fire beisteuern: Ihr interaktives Vi-deo zu «We Used to Wait» – betitelt mit «The Wilderness Downtown» – funktionierte nur auf dem damals neu lan-cierten Webbrowser Chrome von Google und führte den Zuschauer dank den Street-View- und Karten-Diensten des Internetgiganten zurück an den Ort der Jugend, der nach und nach mit Bäumen zugewuchert wird, während ein Getriebener versucht, aus der Sperrzone auszubrechen.

    SPOTS IN DIE VERGANGENHEIT

    «Scenes from the Suburbs» kommt mit vielen Leerstellen aus. Zu Beginn blickt der fünfzehnjährige Kyle – gekleidet in ein weisses T-Shirt mit dem Schriftzug «I don’t know» – durch einen unüberwindbaren Stacheldrahtzaun. Die Stim-me aus seiner Off-Zukunft versucht, die Erinnerungen an je-nen Sommer zu bündeln, als die Armee eingefahren ist: «Ich wünschte, ich könnte mich an jeden kleinen Moment zu-rückerinnern. Aber ich kann nicht. Warum erinnere ich mir nur an bestimmte Momente? Ich frage mich, was aus den anderen Momenten geworden ist.» Die anderen Momente, die sind weg, die Schlüsselszenen aber bleiben: Das Abdrif-ten in die Depression seines besten Freundes, das nächtliche

    Velofahren mit angstvollen Blicken, die Strassensper-ren, die Erschiessungskom-mandos und das Verlassen-werden von der Freundin. Was die Streifl ichter in die Vergangenheit zusammen-hält, sind die eingespiel-ten Songs, allen voran das magistrale Titellied des Albums: Entspannt rollt der Shuffl e, das Jahrmarkt-klavier klimpert und die furchtsame Klage-Stimme von Win Butler hebt an: «In the suburbs I, I learned to drive, and you told me we’d never survive. Grab your mother’s keys we’re leaving.» Der Krieg und die Gewalt, angedeutet mit Plastikgewehren und ausgelassenen Buben-In-Fights, ist bei diesen Zeilen noch privat, der «Suburban War», der später die Stadt in einen Ort der Angst ver-wandeln sollte, noch nicht da. Am Schluss des Films bleibt nur die Entfremdung zu diesem Ort zurück, der einst Heimat bedeutete.

    Benedikt Sartorius

    «Scenes from the Suburbs» ist der

    eben erschienen Deluxe-Ausgabe

    von «The Suburbs» (City Slang/

    Universal) beigelegt.

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  • AMBIENT AUS DER HÖLLE

    In Filmen von David Lynch sind unheil-volle Klanggebilde Teil der Inszenierung. Manchmal aber setzt der Horrormeister auch bekannten Popsongs ein Denkmal – allerdings im Zwielicht.Wer die Filme von David Lynch in chronologischer Reihen-folge schaut, hat nach dem Debüt das Schlimmste hinter sich. «Eraserhead» von 1977 ist ein einziger Albtraum in Schwarzweiss. Die Tonspur setzt noch einen drauf: Perma-nent pocht, rauscht und zischt eine Art Industrial-Ambient aus der Hölle, den Lynch selber komponierte. Das Schau-derhafteste am ganzen Film ist «In Heaven», auch bekannt als «Lady in the Radiator Song». Das wäre an sich ein lieb-liches Lied, doch weil es von einer grotesk mutierten Sän-gerin intoniert wird, löst es bei empfi ndlichen Zuschauern augenblicklich Angstzustände aus. Trotzdem wurde der

    Song zu einer Art Klassiker, den Devo, Tuxedomoon, Miranda Sex Garden oder auch die Pixies coverten. Der «Eraserhead»-Sound-track ist insofern sympto-matisch für Lynch-Filme, als auch später spezielle Geräuschkulissen auf ei-genständige Songs trafen, die zuweilen ins Zentrum der Handlung rücken. Die Protagonisten sind mitun-ter Musiker: Isabella Ros-sellini als Dorothy in «Blue Velvet» oder Bill Pullman als Saxophonist in «Lost Highway». Andere Figuren sind ausgesprochene Fans, so wie Dennis Hopper in «Blue Velvet». Als Böse-wicht Frank ist er besessen

    von Roy Orbisons «In Dreams», das er «Candy Coloured Clown» nennt. Orbisons Klassiker zählt zu den ganz gros-sen Liebesliedern, doch wenn Frank es vor seinem Entfüh-rungsopfer rezitiert, wird die Edelschnulze zur Psychofolter.

    CAGE MACHT DEN ELVIS

    Schönheit kippt jäh in Gewalt um, das ist typisch für Lynch, genauso wie die Umkehrung: In «Wild At Heart» spielt Nicolas Cage den Elvis-Verehrer Sailor, einen Klein-kriminellen mit Schlangenlederjacke. Beim Konzert der Thrash-Band Powermad tanzt er mit seiner Freundin Lula, bis ein Typ aufdringlich wird. Sailor stoppt die Band mit einer Handbewegung und schlägt den Kerl zu Boden. Dann schnappt er sich das Mikro und schmachtet für Lula «Love Me» von Elvis. Am Ende des Films folgt «Love Me Ten-der», das Lied, das Sailor erklärtermassen nur für seine Ehefrau singt. Ob Nicolas Cage die Nummer auch Lisa Marie Presley vorgetragen hat, die er 2002 – womöglich als Spätfolge von übertriebenem Method Acting – heiratete, ist nicht überliefert. Die eigentliche Filmmusik liefert seit «Blue Velvet» stets Angelo Badalamenti. Die Scores des Italo-Amerikaners be-wegen sich zwischen Jazz, Orchestermusik und so etwas wie Dark-Ambient und prägten «Mulholland Drive» und insbesondere die Serie «Twin Peaks» entscheidend. Das «Twin Peaks Theme» und das Piano-Motiv aus «Laura Palmers Theme» gehören zu den grössten Filmmusik-Mo-menten, und auch die von Julee Cruise gesungenen (und von Lynch getexteten) Songs bleiben unvergesslich. Bemerkenswertes leistete Badalamenti auch jenseits des Ki-nos. Zu Unrecht vergessen ist Marianne Faithfulls Album «A Secret Life», dessen orchestrale Arrangements Badala-menti 1995 komponiert und produziert hat.

    PORNO MIT RAMMSTEIN

    Eine Sonderstellung nimmt in Lynchs Werk der Soundtrack von «Lost Highway» ein. Badalamenti komponierte ledig-lich einige Instrumentals, dafür durfte Barry Adamson ein paar seiner seit je kinematographischen Kompositionen tatsächlich einmal als Filmmusik einsetzen. Als Produzent verpfl ichtete Lynch Trent Reznor, der damals mit «The Downward Spiral» gerade seinen kreativen Zenit erreicht hatte. In einem Interview mit dem «Rolling Stone» erin-nerte sich Mister Nine Inch Nails an Anweisungen wie: «Schlangen, die sich zischend aus einem Karton winden – diesen Sound will ich.» Reznor lieferte das Gewünsch-te, bestückte die Tonspur ansonsten aber vornehmlich mit Songs von David Bowie, Marilyn Manson und den Smashing Pumpkins. Den bizarren Höhepunkt setzten Rammstein. Die Band hatte Lynch eine CD geschickt, weil sie ihn für ein Video buchen wollte. Daraus wurde nichts. Lynch aber erkannte auch ohne Deutschkenntnisse die maximal plakative Art der Band und setzte «Heirate mich» auf die Tonspur, wäh-rend – als Film im Film – ein Porno über die Leinwand ruckelt.Neben dem Regisseur Lynch gibt es auch den Musiker Lynch. Wenig denkwürdig war das Projekt «BlueBob» von 2001. Interessanter geriet dafür das Dangermouse-Sparklehorse-Projekt «Dark Night of the Soul». Der ble-chern scheppernde Gesang im Titelstück – das ist David Lynch. Es gibt in der zeitgenössischen Kunst kaum etwas vergleichbar verstörendes und grauenerregendes als einen Film von David Lynch. Mit Ausnahme seiner Singstimme.

    Reto Aschwanden

  • NAHE BEI GOTT«Rattle & Hum» ist ein zu gross geratener Film und ein zu kleines Album. U2 hatten auf ihrer Reise durch das amerikanische Heartland noch nicht gefunden, wonach sie suchten – sich selber. 1984 hatten U2 ihr viertes Album «The Unforgettable Fire» veröffentlicht. Zu der Zeit realisierte Bono, wie we-nig er von seinen musikalischen Wurzeln wusste. Die Band liess sich von Bob Dylan und Van Morrison in die irische und amerikanische Folkmusik einführen. Keith Richards brachte U2 Blues und Gospel näher. Am Tag nach dem ers-ten Treffen mit Richards nahm Bono zusammen mit Ron Wood und Keith Richards den Song «Silver and Gold» auf, der auf dem Sampler «Artists United Against Apartheid» erschien. Den Song schrieb Bono aus der Sicht eines zu Un-recht inhaftierten Schwarzen.

    DAS ANDERE AMERIKA

    Damit waren U2 mitten im anderen Amerika gelandet, auf der Rückseite der Hollywood-Fassade. Die Reisen durch den kargen Westen und die Elendsviertel der Grossstädte inspirierten U2 zu den Songs, die 1987 auf «The Joshua Tree» erschienen. Die Musik geerdet, die Themen paname-rikanisch: «In God’s Country» beschreibt das Leben in den Wü stenstaaten der USA, «Mothers of the Disappeared» und «Bullet the Blue Sky» thematisieren die Folgen der US-Politik in Lateinamerika. Die Musik gewinnt die Kraft aus dem bluesbasierten Gitarrenspiel von The Edge – und Bono heult und jault wie die alten Blueser aus dem Mississippi-Delta. «The Joshua Tree» war eine Momentaufnahme, die weitere Suche wurde fortan dokumentiert. Der 25-jährige Regisseur Phil Joanou, ein Schüler Steven Spielbergs, sollte die «Joshua Tree Tour» fi lmen. Den Hauptteil des Films «Rattle & Hum» bilden eine schwarzweiss-gefi lmte In-

    door-Show aus Denver und das Konzert aus dem Sun Devil Stadion in Arizona – diesmal in Farbe gefi lmt. Dazwischen begleitet der Zuschauer die Band auf der Reise zu ihren amerikanischen Träumen. Als Nebenstrang sieht man U2 neue Songs einspielen: «Desire» in einer leerstehenden Fab-rikhalle in Dublin, «Angel of Harlem» – die Hommage an Billie Holiday – im legendären Sun Studio in Memphis, wo schon Elvis und Johnny Cash aufgenommen hatten. «Rattle & Hum» bleibt eine Tourdokumentation. Ur-sprünglich hätte der Film nur in einigen ausgewählten Ki-nos gezeigt werden sollen, doch die Verleihfi rma Miramax wollte mit der grossen Kelle anrichten. Nach dem ersten Wochenende nahmen die Besucherzahlen rapide ab.

    UNTER GROSSEN GEISTERN

    Was der Film verpasst hatte, wird einem auf dem Album klar, das mehr als ein blosser Soundtrack ist. Musikalisch tauchen U2 weiter in die Welt des Blues ab. «Desire» geht mit einem an Bo Diddley erinnernden Beat direkt in die Beine. «When Love Comes to Town» hatte Bono für B. B. King geschrieben. Dieser sang den Song und spielte die Leadgitarre. Im Film ist die Probe dokumentiert, bei der B. B. King erklärt, dass er keine Akkorde spielen könne. Wo der Blues ist, ist auch Gott nicht weit. Und näher als auf «Rattle & Hum» waren ihm U2 nie mehr. «When Love Comes to Town» spielt auf die Kreuzigung Jesu an, das mit Bob Dylan geschriebene und eingespielte «Love Res-cue Me» zitiert Psalm 23. Nicht aufs Album geschafft hatte es die Coverversion von Woody Guthries «Jesus Christ». Gerne hätte man im Film von der Band etwas mehr über Spiritualität in der Rockmusik erfahren. So bleibt die Neu-aufnahme von «Still Haven’t Found What I’m Looking For», aufgenommen in einer Kirche in Harlem mit dem Gospelchor «The New Voices of Freedom», der spirituelle Höhepunkt.

    PRODUKTIVE KATHARSIS

    U2s Reise ins andere Amerika war eine Katharsis. Die Band schrieb so viele Songs wie nie zuvor. The Edge hatte alleine

    während der «Joshua Tree Tour» 15 Country-Songs geschrieben, die alle noch unveröffentlicht sind. Was übrig bleibt, ist die Musik der «Rattle & Hum»-Ära: Das Album «The Joshua Tree» als direkte Ausein-andersetzung mit Amerika, die Songs «Hawkmoon 269» und «Heartland» als Verarbeitung der Reiseein-drücke durch die USA. Das gemeinsame Songwriting mit Bob Dylan und B.B. King sowie Van Dyke Parks’ Hühnerhaut-Streichersolo auf «All I Want Is You» halfen U2, ihre Identität zu fi nden. Bis zur noch ausste-henden Veröffentlichung als Remaster sind viele Songs, etwa die Kollaboration mit Billy Preston, nur auf Sin-gle-B-Seiten und Samplern verstreut. Die «Lovetown»- Tour 1989 fi el für die Band unbefriedigend aus. Bei ih-rem Neujahrskonzert 1990 in Dublin kündigte Bono an, dass ein Abschnitt für U2 zu Ende gehe und sich die Band zurückziehen und neu träumen werde. Nachdem sie zu sich gefunden hatten, kehrten U2 mit «Achtung Baby», dem kalten Kont-rastpunkt zur Wärme von «Rattle & Hum» zurück.

    Yves Baer

  • SYMPATHIE FÜR DIE STONESEs gibt originellere Filmsujets als die Rolling Stones. Dass Martin Scorseses «Shine a Light» dennoch überzeugt, liegt an seinem klaren Konzept – und am Witz der Hauptdarsteller.Die vielen aufgeregten Medienleute an der Berlinale 2008, die einen Blick auf drei in ewiger Jugendlichkeit erstarrte Rocksalzsäulen und einen an den zeitlos souveränen Gra-fen Yoster erinnernden Schlagzeuger werfen wollten, mach-ten klar: Die Rolling Stones ziehen immer noch. Und der Rock’n’Roll, wie ihn der in Berlin uraufgeführte Film «Shi-ne a Light» und die Stones zelebrieren, riecht zwar unter einer dichten Schicht teuren Parfüms schon ziemlich streng. Aber tot ist er noch nicht. Dies ist nicht zuletzt Martin Scor-sese zu verdanken, dem 68-jährigen Regisseur, unter dessen Ägide grosse Filme wie «Taxi Driver», «Raging Bull» und «GoodFellas» entstanden sind. Mit Dokfi lmen über den Blues und den frühen Bob Dylan («No Direction Home») hat Scorsese seine Leidenschaft für die amerikanische Musik unter Beweis gestellt und deren soziopolitische Hintergrün-de und Auswirkungen ausgeleuchtet. Nun wird er zum ei-gentlichen Träger der Rock’n’Roll-Flamme. Bereits befi ndet sich ein Film über George Harrison vor der Fertigstellung.

    AUFREIBENDE DREHARBEITEN

    Dabei ist Scorsese ein gebranntes Kind. Die Zusammenar-beit mit den Stones und ihrer Entourage brachte den Per-fektionisten, dem jede Kameraeinstellung ein persönliches Anliegen ist, an den Rand des Nervenzusammenbruchs. Bis zuletzt hatte der inoffi zielle Bandleader Mick Jagger den grossen «Marty» im Ungewissen darüber gelassen, welche Songs für die Konzertaufnahme geplant waren, geschweige denn, in welcher Reihenfolge. Offenbar liess sich die Band einzig wegen der Prominenz des Regisseurs und seines un-bestrittenen Flairs für die Rockmusik nochmals zu einem Kinofi lm überreden. Die Stones dürften die meistgefi lmte Rockband überhaupt sein: An ihnen haben sich schon Grös-sen wie Jean-Luc Godard («One to One») oder der Schwei-zer Robert Frank («Cocksucker Blues») versucht. «Ich liebe Kino», lautet dazu der Kommentar von Charlie Watts, dem stoischen Stones-Drummer mit dem elegant hinkenden Beat – «als Zuschauer».Gerade die Tatsache, dass niemand auf einen weiteren Rolling-Stones-Film gewartet hat, zwang Scorsese zu ei-nem klaren Konzept. Er beschränkte sich auf die Bühnen-performance, die seit 30 Jahren die Haupteinnahmequelle der Stones ist. Ihre CD-Verkäufe sind heute kaum mehr der Rede wert, und die Zeiten, in denen die Stones als Rock-band mehr waren als die bestbezahlten Entertainer der Welt, sind ebenfalls passé. So näherte sich Martin Scorsese der Band aus der Fanperspektive. Statt bei den gigantischen Stadionkonzerten, wo das Publikum oft nur aus mehreren hundert Metern Distanz einen Blick auf die Objekte seiner Begierde werfen kann, wollte er die Schwerarbeiter aus der Nähe beobachten – wie bei einem der raren und sündhaft teuren Klubkonzerte der Band.

    DAUERLAUF ÜBER DIE BÜHNE

    Bei «Shine a Light» stehen denn auch die Interaktion, die In-timität und das Interesse des Regisseurs an den überraschen-

  • den, emotionalen Momen-ten eines Rockkonzerts im Zentrum. Das Kinopubli-kum befi ndet sich zumeist mitten auf der – verhält-nismässig – kleinen Bühne des opulenten New Yorker Beacon Theatre. Es rennt mit Mick Jagger im Dau-erlauf durchs Geschehen, geht mit Keith Richards in die Knie, beobachtet mit Ronnie Woods’ Pokerface das wilde Treiben und hält mit Grandseigneur Watts den Beat.Die Schnitte sind schnell, manchmal nervös, was zu Ermüdungserscheinungen führt. Dazu kommt ein ei-genwilliger Tonmix: Sieht man Keith Richards beim Befi ngern seiner Gitarre, wird diese auch akustisch weit in den Vordergrund gemischt. Statt auf ein ab-gerundetes Ganzes setzt Scorsese auf einzelne, mit-unter recht windschiefe musikalische Teilchen. Dann sieht man die Stones wieder aus der Perspektive der ersten Publikumsreihe: Wackelbilder mit Handka-mera, hochgestreckte Arme des Nachbarn, die die eige-ne Sicht stören: So vermit-telt «Shine a Light» dem Zuschauer die Illusion, selber live dabei zu sein. «Shine a Light» ist ein aufwendig gemachter Konzertfi lm, nicht mehr und nicht weniger. Einen Blick hin-ter die Kulissen kann der Zuschauer nur vor dem eigentli-chen Event werfen: auf die Filmequipe bei der Konzeptar-beit, einen nervösen Scorsese im Auge des Hurrikans, den aalglatten Bill Clinton samt Gattin beim Pfötchenschütteln mit den Rockfossilien. Was der Film nicht zeigt, sind Back-stage-Szenen und die üblichen leeren Quotes von ein paar berühmten Berufskollegen. Wer Scorseses Film sieht, glaubt zu wissen, dass sich das wahre Leben der Stones ohnehin auf der Bühne abspielt, und spürt immer auch die Momen-te der Einsamkeit, die im kollektiven Rummel unerwartet aufblitzen. «Auf der Bühne denke ich nicht», sagt Keith Richards, «ich fühle.»Einige Gäste – von Jack White bis Christina Aguilera – er-weisen den Stones auf der Bühne die Reverenz, doch richtig in Fahrt kommen Letztere nur im Duell mit dem Bluesgitar-risten Buddy Guy, einem ihrer Helden, der mindestens so unverschämt zeitlos in die Saiten greift wie seine bleichen Schüler.

    MEISTER DER SELBSTIRONIE

    Für Stones-Afi cionados sei auf die überraschende Songaus-wahl hingewiesen. Neben heruntergenudelten Klassikern wie dem Opener «Jumpin’ Jack Flash» und «Satisfaction» gibt es frisches und selten gehörtes Material aus den Siebzi-gerjahren, als die Stones vom Drogenchic zur High Society wechselten.Höhepunkt ist Jaggers ätzende Countrymusic-Parodie «Far Away Eyes». Überhaupt ist es eines der Hauptverdienste von «Shine a Light», die Selbstironie und das komische Talent der Rolling Stones zu beleuchten. In sparsam und gezielt eingespielten Interviewsequenzen aus der Vorgeschichte der Band zeigen sich die Protagonisten ausgesprochen schlagfer-tig, und Charlie Watts bewist sich als Meister des wortlosen

    britischen Humors. Auch wenn die Stones heute näher bei der Realsatire liegen als auch schon: Wer «Shine a Light» ge-sehen hat, kommt mit dem tröstlichen Gefühl nach Hause, dass auch Erwachsene den Rock’n’Roll noch mögen dürfen.

    Samuel Mumenthaler

    COCKSUCKER BLUESDer Film galt über Jahrzehnte hinweg als eines der ganz grossen verschollenen Dokumente. Naja, nicht wirklich verschollen, sondern vielmehr weggesperrt, denn eine ge-richtliche Einigung sorgte dafür, dass «Cocksucker Blues» nicht offi ziell in den Kinos gezeigt werden durfte. Es gab freilich ein künstlerisches Schlupfl och, das es ermöglichte, den Dokumentarfi lm zu zeigen – allerdings nur in Anwe-senheit des Filmemachers, also des ausgewanderten Zür-cher Fotografen Robert Frank, der die Stones im Jahr 1972 bei ihrer Rückkehr nach Amerika mit seinen Kameras – die mitunter auch von den Protagonisten betätigt wurden – dokumentieren durfte.Aber eben: Die Band war nach Sichtung des Bildmaterials nicht wirklich «amused» und liess ihre Anwälte vor Ge-richt antraben. Die leisteten ganze Arbeit und sorgten für einen Veröffentlichungsstopp – und damit auch dafür, dass «Cocksucker Blues» über Jahrzehnte hinweg als halbheis-se Ware gehandelt wurde. Das änderte sich natürlich mit dem Erstarken des Internets, das den Film mittlerweile in diversen Formen – sogar auf YouTube – dem geneigten Zu-schauer verfügbar macht.Und wer sich dann tatsächlich durch dieses obskur-verrüt-telte Cinéma-vérité-Dokument spult, sieht immer wieder einen wegdösenden Keith Richards, der in seinen wachen Momenten denkwürdige Statements von sich gibt («Dollar bill’s the best!» – bei der Beschreibung seines Lieblingsu-

    tensils zur Aufnahme von Kokain). Man sieht Stevie Wonder als genialen Duett-partner bei «Satisfaction», Andy Warhol zwischen den Türen und Ahmet Ertegun hinter der Bühne. Daneben zockelt auch die leicht ange-säuerte Bianca Jagger über den Bildschirm, derweil andere Frauen wesentlich expliziter angefasst werden – ob nun im Tour-Jet oder in irgendwelchen dubiosen Backstage-Kavernen.Das waren natürlich an-dere, bessere, zweifellos auch deutlich wildere Zei-ten, die es Keith Richards beispielsweise erlaubten, einen Fernseher vom Ho-telbalkon zu werfen. Doch der Dreck am Stecken stört. Auch knapp vierzig Jahre später.

    Philippe Amrein

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  • RAUCHGEFÜHLIn Auggie Wrens Brooklyn Cigar Company geben sich Harvey Keitel, Jim Jarmusch, Madonna, Roseanne, Michael J. Fox und Brillenerfi nder Lou Reed die Klinke in die Hand. Eine New Yorker Liebeserklärung ans Rauchen – und ans Kino. Im November 1990 klingelte beim New Yorker Schriftsteller Paul Auster das Telefon. Es war Mike Levitas vom Feuille-ton der «New York Times», der eine Weihnachtsgeschichte bestellte. Nach ein paar Tagen Bedenkzeit verfasste Auster «Auggie Wrens Weihnachtsgeschichte». Beim Öffnen einer Dose Schimmelpennicks – die holländischen Zigarillos sind seine Lieblingsmarke – dachte Auster an seinen Zigarren-händler in Brooklyn, der ihn zur Geschichte inspirierte. Regisseur Wayne Wang musste sich seine Weihnachtsausga-be der «New York Times» am Kiosk kaufen, da ihm sein Exemplar aus dem Briefkasten gestohlen wurde. Ausser «Auggie Wrens Weihnachtsgeschichte» las er nicht sehr viel, diese gefi el ihm aber so gut, dass er im Januar 1991 mit Paul Auster Kontakt aufnahm.Im Mai 1991 besuchte Wang Auster in Brooklyn. Gemein-sam gingen sie Schimmelpennicks kaufen, und Auster zeigte Wang die Originalschauplätze aus der Weihnachtgeschichte. Während dieses Spaziergangs entwickelte sich bereits der Plot des nachmaligen Films «Smoke». Bis dieser dann al-lerdings gedreht werden konnte, zogen drei Jahre ins Land. Wayne Wang behielt Auster als Drehbuchautor. Es war das erste Skript, das Auster schrieb.In «Smoke» verweben sich fünf Handlungsstränge, die sich gegenseitig beeinfl ussen. Der Schriftsteller Paul Benjamin (William Hurt) wird von einem Jungen namens Rashid vor dem Überfahren gerettet. Jener befi ndet sich, nachdem er Räubern ihr Diebesgut gestohlen hat, auf der Suche nach ei-nem Versteck und wohnt ein paar Tage bei Paul Benjamin, der ihm eine Anstellung in der Brooklyn Cigar Company bei Auggie Wren (Harvey Keitel) verschafft. Auggie hat ein Ge-schäft mit kubanischen Zigarren laufen. Dann tritt Auggies ehemalige Geliebte Ruby auf den Plan. Und immer wieder kauft Paul Benjamin zwei Pack Schimmelpennicks.

    «Auggie Wrens Weihnachtsgeschichte» beendet «Smoke». Paul Benjamin ist auf der Suche nach einer Weihnachtsge-schichte, und Auggie erzählt ihm eine. Die Szene beginnt in einer Imbissbude in der Totalen, wo Auggie und Paul an ei-nem Tisch sitzen. Während Auggie die Geschichte erzählt, zoomt die Kamera während Minuten unmerklich auf Har-vey Keitel und endet am Schluss in einer Grossaufnahme seines Mundes. Mehr Action muss nicht sein.

    LOUS BRILLE

    Während der Dreharbeiten verselbständigte sich «Smoke», und man kreierte die Fortsetzung «Blue in the Face». Ge-dacht war eine Rückkehr in Auggies Zigarrenladen. Auster skizzierte die meisten Szenen bloss, die Schauspieler sollten improvisieren. Gedreht wurde während fünf Tagen. Es gab kein Drehbuch und keine Handlung. Mit Schnitten und Kapiteln wurde diese erzeugt: Die Brooklyn Cigar Compa-ny soll verkauft und in ein Rohkostgeschäft umgewandelt werden. Aus «Smoke» wurden fast keine Figuren über-nommen, neue kamen hinzu, etwa Madonna als singendes Telegramm, Michael J. Fox als Aussendienstmitarbeiter ei-nes Umfrageinstituts oder Roseanne, die nichts anderes als nach Las Vegas möchte, um endlich Spass zu haben. Lou Reeds Auftritt als hauseigener Philosoph gehört zu den Höhepunkten. Hinter dem Tresen schwadroniert er darü-ber, dass er nie anderswo als in Brooklyn leben könne – in Schweden beispielsweise würde er Angst kriegen. Später im Film erklärt er seine Erfi ndung: Eine Brille, deren Gläser man hochklappen kann. Damit hätte er die Wissenschaft-ler in Cape Canaveral verblüfft. Die Brille stellt heute ein italienischer Hersteller her, sie kann über Lous Webseite bezogen werden. Unsterblich ist «Blue in the Face» wegen Jim Jarmusch, der als Fotograf Bob seine letzte Zigarette mit Auggie rauchen möchte. In der Länge einer Zigarette wird über die Welt des Rauchens philosophiert, und dann sagt Bob: «Sex und Zi-garetten, das werde ich vermissen.» Worauf Auggie fragt: «Sex willst du auch aufgeben?». Schöner wurde das Rau-chen selten zelebriert. Wayne Wang ist stolz auf die Filme. Er erklärt sie zu Weihnachtsgeschenken von ihm und Aus-ter an alle, die gerne ins Kino gehen. Das Geschenk wurde angenommen, «Smoke» gewann 1995 den Silbernen Bären an der Berlinale. Für den Soundtrack von «Smoke» zeich-nete Tom Waits verantwortlich, für «Blue in the Face» Da-vid Byrne. Yves Baer

  • WAS LÄUFT?Filme mit starkem Musikbezug können das kritische Fachpublikum entzücken – oder grandios scheitern. Erkundungen zwischen Konzerthalle und Kino.«This is Spinal Tap»

    Zum Heulen grandiosIn all den Jahren, seit ich jedem Hausgast, der Lust auf einen fi lmischen Mitternachtsschmaus bekundet, «This is Spinal Tap» serviere, hat nur ein einziger solchermas-

    sen beglückter Mensch beim grandiosen Klimax in Japan keine Tränen des Vergnügens vergossen. Es war ein sauer-töpfi scher Schweizer mit schiefsitzender Pilotenbrille, der einmal als Roadie mit einer recht bekannten helvetischen Post-Punkband unterwegs gewesen war und nun meinte: «Es ist doch nicht lustig, wenn es genau so ist wie in der Realität.» Ha! Dabei ist auch Monty Python und «Fawlty Towers» ganz genau so wie in der Realität, und da käme kein Mensch – auch der sauertöpfi sche Ex-Roadie nicht – auf die Idee, es sei nicht lustig. Also, in meinen Augen gibt es keinen anderen Film doku-mentarischer oder fi ktiver Art, der subtiler und gleichzeitig vergnüglicher die Absurdität des Lebens in einer Band auf die Schippe nimmt – und dabei auch noch den bewun-dernswerten Geist des sich Nichtniederkriegenlassens und der Freundschaft, ohne die ein solches Unternehmen bald im Sande versiegen würde, zu erfassen vermag. Harry Shearer und Michael McKean hatten der Radio-Co-medy-Truppe The Credibility Gap angehört, Christopher Guest driftete im National-Lampoon-Comedy-Team her-um. Spinal Tap war im Grunde eine einzige, endlose Co-medy-Improvisationsrunde dieser drei Männer. Die besten Momente daraus wurden unter der Regie von Rob Reiner mit einem winzigen Budget in eine Abfolge von archety-pischen Rock’n’Roll-Momenten verwandelt, welche eine auf dem absteigenden Ast befi ndliche, englische Heavy-Metal-Band bei ihrer wohl letzten USA-Tournee erlebte: Die Verstärker-Skala, die bis elf hinauf geht («One louder than ten, isn’t it?»), die neue Klavierkomposition im Stil von «Mach», also eine Kreuzung von Bach und Mozart,

    heisst «Lick My Love Pump», die Herpesblase, die nach ein paar Tagen in New York die Oberlippe des Gitarristen ziert, das neue Girlfriend, das für alle Bandmitglieder ein Horoskop anfertigt, die Signierstunde, zu der kein einzi-ger Fan auftaucht, die Schlagzeuger, die einer nach dem anderen unter mysteriösen Umständen das Zeitliche seg-nen – es gibt zumindest in Grossbritannien keinen einzigen Musikanten, der nicht nächtefüllend Spinal-Tap-Szenen nachspielen könnte. Auch so manches Interview von mir, das sich in irgendeiner Sandwüste verlaufen hatte, wurde durch ein einziges Spinal-Tap-Zitat sogleich in ein veritab-les Laugh-In verwandelt. Übrigens hat das gleiche Team von Schauspielern seither noch ein paar andere, nach der gleichen Methode gestrick-te Pseudo-Dokumentarstreifen gedreht, zum Beispiel «Best in Show» über Hunde-Shows und «A Mighty Wind» über die amerikanische Folk-Szene kurz vor Dylan und was da-raus geworden ist. Allesamt sind sie zum Heulen grandios.

    Hanspeter Künzler

    «Tommy»/«Quadrophenia»

    Grössenwahn im Kino1980 gab es Leute, die trotz des Tods von Keith Moon glaubten, dass die grosse Zeit von The Who noch längst nicht vorbei sei. Der Grund war klar: Die Siebzigerjahre waren einfach nur gross gewesen, denn die Band doppelte die Band nach der Rockoper «Tommy» mit «Quadrophe-nia» nach und spielte weitere brillante Alben ein. Ausser-dem hatten Townshend und Co. das Kino entdeckt. 1979 liefen der Spielfi lm «Quadrophenia» und die Doku «The Kids Are Allright» in den Kinos. Doch der schöne Schein trügte, The Who waren zu diesem Zeitpunkt eigentlich mausetot, amtlich schliesslich 1983. Woran lags? Viel-leicht, weil Über-Songwriter Pete Townshend eine ausge-machte Profi lneurose pfl egte und «Sgt. Pepper» überfl ügeln wollte. Aus dem Typen, der früher mal «Maximum R&B» predigte, wurde der «Konzeptkünstler Townshend» (Willi Winkler), der nicht nur Rockopern komponieren musste, nein, sie mussten auch verfi lmt werden. Zunächst war «Tommy» an der Reihe. «Die Story hatte keine dramatische Handlung, und es gab einfach nicht genug erstklassige Musik, um die Zeit auszufüllen», ätz-te Dave Marsh im «Rolling Stone». «Tommy» setzte die Band aufs Grössenwahngleis, Regisseur Ken Russel rek-rutierte Elton John, Tina Turner, Eric Clapton sowie die Hollywood-Stars Ann-Margret, Jack Nicholson und Oli-ver Reed. Sänger Roger Daltrey, der «geradezu meister-haft» (Townshend) den Tommy gab, begann daraufhin sei-ne Zweitkarriere als Mime und Solist. Auch Keith Moon spielte seinen «Uncle Ernie» tadellos und wurde später von Frank Zappa als Charakterdarsteller verpfl ichtet. Trotz mieser Kritiken wurde der «erbärmliche Film» (Marsh) ein Megaseller, immerhin waren Film-Story und Songs besser als 1969.«Quadrophenia» hatte dagegen mehr Substanz. Die 1973 veröffentlichte Rockoper verhandelte Jungsein und Er-wachsenwerden, spielte im Mods-Milieu der Sechzigerjah-re – und die Songs waren eine Klasse für sich. Hier war alles härter und aggressiver: Schlagzeug, Gitarre, Bass, Gesang, Bläser... Im Vergleich zu «Quadrophenia» war «Tommy» nur der Songzwerg. Der dritte Film von The Who war dann wieder was ganz anderes, eine Doku des Amerikaners Jeff Stein mit Inter-views und Ausschnitten von Konzerten und TV-Shows.

    «This Is Spinal Tap»

  • «The Kids Are Alright» fi el überaus lebendig aus, garniert mit sehr schönen Songs. Drummer Keith Moon soll bei der ersten Visionierung schockiert gewesen sein über seine kör-perliche Veränderung während der vergangenen zehn Jah-re. Kurz drauf verstarb er. Damit war das Kapitel The Who und Film vorbei, im Grunde auch The Who, aber nicht das Thema Rockoper. Der Mann mit der grossen Nase konnte es einfach nicht lassen.

    Pascal Cames

    «Some Kind of Monster»

    Prügelknaben mit PsychiaterDie Bilder nähern sich der Geschwindigkeit der Musik an: Schnelle Schnitte, ein Konvoi Lastwagen mit Instrumenten und Zubehör, ein ehemaliger Militärstützpunkt, der gene-ralstabsmässig zu einem professionellen Aufnahmestudio umgerüstet wird. Bei Metallica wird nicht lange gefackelt, wenn es um den Fortbestand der Legende geht, und so demonstriert zumindest der Beginn des Dokumentarfi lms «Some Kind of Monster» die beeindruckende Effi zienz der grössten Rockband der Gegenwart. Eben erst haben sich Lars Ulrich, James Hetfi eld und Kirk Hammet von ihrem langjährigen Bassisten Jason Newsted getrennt, und schon eilen sie unbeirrt zum nächsten Höhepunkt, zur neuen Platte, die schliesslich unter dem Titel «St. Anger» erschei-nen wird.Die Entstehung dieses Werkes ist freilich alles andere als idyllisch. Die drei verbliebenen Musiker stehen unter einem enormen Erfolgsdruck. Um unter dieser Belastung nicht zu zerbrechen, haben Metallica den Psychotherapeuten Phil Towle engagiert, der die Band zu einem monatlichen Honorar von 40 000 $ betreut. Ob beim Gespräch in der Studioküche, dem Wiedersehen mit ehemaligen Mitstrei-tern oder bei der Bewältigung persönlicher Probleme: stets gibt Dr. Phil seine «fundierte» Meinung zur gegenwärtigen Lage des Kollektivs ab.Die Brüche im Inneren des Bandgefüges sind es denn auch, die den Film äusserst sehenswert machen. Frontmann Het-fi eld klinkt sich aus und verschwindet monatelang zum Alkoholentzug, Gitarrist Hammett erholt sich auf seiner Ranch, derweil Schlagzeuger Ulrich bei einer Kunstauk-tion seine Gemälde versteigert und dabei mehrere Milli-onen einfährt. Lediglich Dr. Phil nervt und wird schliess-lich von Lars Ulrich mit der Bemerkung «This is a fuckin’ Rock’n’Roll band!» seines Amtes enthoben. Ansonsten bietet das Werk der beiden Filmer Joe Berlinger und Bruce Sinofsky bestes Info-, Doku- und Entertainment, das nahe-zu reibungslos zwischen Klassikern wie «Spinal Tap» und «Don’t Look Back» oszilliert.

    Philippe Amrein

    «The Devil and Daniel Johnston»

    Ansingen gegen die DämonenDaniel Johnstons Ausstoss ist unmässig, seine Sammelwut manisch. Tausende von Tagebuchkassetten, Super-8-Fil-men, Zeichnungen, Bilder und Lieder umfasst das Schaffen des kreativen Wunderkinds seit der Teenagerzeit. Den Zoff daheim im christlich-fundamentalistischen Haus hat John-ston ebenso auf Tonband festgehalten wie seine Verhaftung bei der Freiheitsstatue, deren Aufgang er mit religiösen Graffi ti überzogen hat.Ein Slapstickfi lm zeigt ihn als Zehnjährigen beim symbo-lischen Muttermord (heute lebt er wieder bei den Eltern), Zeichnungen zeigen Boxer mit aufgeschnittenen Köp-fen oder eine Entenarmee, die gegen den Teufel kämpft. Auch in seinen herzzerreissenden Liedern singt er öfter vom Satan. Nur seiner ewigen Liebe Laurie hat Johnston mehr Songs gewidmet. Die aber hat ihm einen Begräbnis-

    unternehmer vorgezogen. Independent-Music-Amerika kennt den fanatischen Beatles-Fan Johnston seit Mitte der Achtzigerjahre. Sonic Youth zählten zu seinen Förderern, Kurt Cobain hielt wochenlang ein Johnston-Shirt in die Kameras, Tom Waits und Beck coverten ihn. Der grosse Durchbruch blieb ihm aber verwehrt. Immer wieder lande-te Johnston wegen Schizophrenie und manischer Depressi-on in der Nervenheilanstalt. Im Wahn wollte er einer alten Dame schon mal die Dämonen austreiben, oder er brachte ein Sportfl ugzeug zum Absturz, weil er glaubte, fl iegen zu können wie Casper, das freundliche Gespenst. Der Film «The Devil and Daniel Johnston» von Jeff Feuer-zeig, der das reiche Archivmaterial um Interviews mit Fa-milie und Wegbegleitern sowie Konzertausschnitte ergänzt, scheut schmerzhafte Momente nicht und gerät doch nie zur Freakshow. Allerdings blickt er bisweilen gar fasziniert auf Johnstons Paralleluniversum; er scheut sich auch nicht zu behaupten, Johnston sei «grösser als Bob Dylan» und «bedeutender als Brian Wilson». So übertrieben das ist – seinen eigenen Film hat Daniel Johnston allemal verdient.

    Reto Baumann

    bitte umblättern

    «Some Kind of Monster»

    «The Devil and Daniel Johnston»

  • «Nashville»

    Life is not a Rose GardenPauline Kael (1919 – 2001) war die sicher bissigste und viel-leicht beste US-Filmkritikerin, ihr Urteil über «Nashville» ist dennoch mit Vorsicht zu geniessen. Die New Yorkerin schrieb, es handle sich bei Robert Altmans Werk aus dem Jahr 1975 um «die lustigste epische Vision Amerikas, die jemals auf der Leinwand zu sehen war». «Nashville» ist vieles, doch längst nicht immer lustig.

    Wie bei seinem späteren Meisterwerk «Short Cuts» (1993) verzichtete Altman schon bei «Nashville» auf einen roten Geschichtsfaden. Stattdessen zog es der 2006 verstorbe-ne Regisseur vor, dem Tun und Lassen von insgesamt 24 Protagonisten zu folgen, hautnah und emotionsfrei. Der Streifen dreht sich grosso modo um drei Themen: Frauen, Musik und (Miss-)Erfolg. Wer sich ein wenig mit Count-rymusik auskennt, hat einen Startvorteil und ahnt rasch, dass die hochtoupierte Blondine namens Connie White (Karen Black) wohl der Sängerin Lynn Anderson («I Never Promised You a Rose Garden») nachempfunden sein dürf-te und dass das streit- und liebessüchtige Folk-Trio Billy, Mary & Tom mehr als nur ein bisschen an Peter, Paul & Mary erinnern soll. Der Zuschauer begegnet einem Post-Watergate-Nashville, das für die gesamten USA einsteht und das sich bemüht, an den vermeintlich guten alten Werten festzuhalten: Lang-haarige bekommen den Tipp, zum Friseur zu gehen, Songs dürfen noch nach Stall und den Appalachen klingen – und das Business liegt nach wie vor in den Händen grobschläch-tiger Rednecks, deren Gedankengänge keine zwei Häuser-zeilen weit reichen. Zwar wirkt die Welt von damals weni-ger artifi ziell als die heutige, doch nicht weniger verlogen. Der alternde Countrystar Haven Hamilton (Henry Gibson) inszeniert sich als Patriot, für einen weiteren Charterfolg allerdings würde er wohl selbst seine Mätresse und seinen Sohn verkaufen. Anders, aber nicht besser: Tom Frank (Keith Carradine). Kaum erhebt sich einer der One-Night-Stands aus seiner Bettstatt, greift der frauenverachtende Womanizer unverzüglich zum Telefon und baggert sein nächstes Zielobjekt an. Altman dreht an seinem Kaleidoskop, und sofort steckt man in der nächsten Szene – und bald darauf wird erneut am Geschichtenrad gedreht. Der Regisseur lässt seine Figu-ren immer und immer wieder aufeinandertreffen, weshalb dem Film etwas Kleinstädtisches anhaftet. Musik spielt dabei das verbindende Element, sie ist omnipräsent, häu-fi g zuvorderst, manchmal aber auch pure Staffage. In ei-nem Interview erklärte Altman, er habe den Frisuren mehr

    Aufmerksamkeit gewidmet als den Liedern. Entsprechend ungekünstelt wirkt der Sound. Trotzdem dringt etwa das Real-Life-Talent einer Ronee Blakley (im Film die emoti-onal fragile Barbara Jean) durch. Zur grossen Gesangs-karriere hat es ihr trotz gelungener Alben wie «Welcome» jedoch nicht gereicht. Was aber will uns «Nashville», ein Film wie ein bedäch-tiger, aber unaufhaltsamer und schmutziger Strom, über-haupt sagen? Dass das Leben viele Wege nehmen kann, dass man sich mehrmals begegnet und dass es dabei gerne chaotisch und dreckig zu- und hergeht. Und last, but not least: Dass Musik die Existenz wenigstens ein bisschen er-träglicher macht.

    Michael Gasser

    «Hairspray»

    Tanzschritte und HaarschnitteTracy Turnblad will nur eines: singen und tanzen. Jeden Tag schaut sie sich gemeinsam mit ihrer besten Freundin Penny die Fernsehshow von Corny Collins an, in der Jugendliche zu den neusten Hits tanzen. Ihr ganz grosser Traum ist es, eines Tages ebenfalls in dieses vergötterte Teenager-Ensem-ble aufgenommen zu werden, und als sich schliesslich eine Gelegenheit zum Vortanzen im Studio ergibt, schmeisst sie sich ins Getümmel.Nun ist Tracy zwar eine Wuchtbrumme mit einem Herz so gross wie ein Cadillac-Motor, kann ganz passabel tan-zen und hat sich eine fesche Frisur auf den Kopf gezaubert, doch aufgrund ihrer ziemlich korpulenten Figur scheint sie nicht gerade prädestiniert für Auftritte vor der Fernsehka-mera. Mit ihrem naiven Charme schafft sie aber alles: Sie erkämpft sich einen Platz im Ensemble, sorgt für Turbulen-zen bei der wichtigen Wahl zur«Miss Teenage Hairspray» und hebt, sozusagen im Vorbeitanzen, auch gleich noch die Rassentrennung auf.Adam Shankmans Neuverfi lmung von «Hairspray» basiert auf John Waters’ gleichnamigem Film aus dem Jahre 1988 sowie auf dem erfolgreichen Bühnen-Musical von 2002. Diese Kombination hat ein lockeres Sing- und Tanz-Spek-takel hervorgebracht, das in der US-Hafenmetropole Balti-more der frühen Sechzigerjahre angesiedelt ist. Der Plot ist simpel, aber eigentlich auch sekundär, denn der Film lebt einerseits von grandios arrangierten Themen-Songs wie «Good Morning Baltimore» oder «Welcome to the Six-ties», andererseits aber auch von den einzelnen Akteuren. Christopher Walken brilliert als herzensguter Papa Turn-blad, der einen Scherzartikelladen führt und seine mollige Frau Edna (John Travolta!) über alles liebt. Michelle Pfeif-fer gibt als eiskalte, intrigante Superblondine die Manage-rin des Fernsehsenders, während Queen Latifah als blon-dierte Moderatorin die Black Community anführt. Der absolute Höhepunkt gehört allerdings den Herren Travolta und Walken, die als Edna und Wilbur Turnblad eine fl otte Paartanz-Sohle aufs Parkett legen.

    Philippe Amrein

    Wes Anderson

    Der beste DJBart abrasieren in suizidalem Zustand: Elliot Smith – «Needle in the Hay». Spirituelles Zugfahren mit unglei-chen Brüdern durch Indien: The Kinks – «This Time Tomo-row». Zartbitteres Zusammentreffen mit der Ex-Freundin im Pariser Luxushotel: Peter Sarstedt – «Where Do You Go to (My Lovely)?». Jagen nach dem mysteriösen Jaguarhai im Unterseeboot: Sigur Ros – «Starálfur». Für jeden bedeutenden Moment im Leben gibt es das pas-sende Musikstück. Niemand weiss das besser als der ameri-kanische Regisseur Wes Anderson. Die Soundtracks seiner

    WAS LÄUFT?

    «Hairspray»

  • Filme sind DJ-Sets der himmlischen Sorte – ohne Scheu vor gewagten Übergängen. Da folgt die Flamencogitarre von Paco de Lucía auf «Search and Destroy» von den Stooges, Joan Baez stimmt ihren bedeutungsschwangeren Gesang kurz nach den Nonsense-Helden Devo an, und ein zupf-freudiges Streichquartett von Maurice Ravel folgt direkt auf Nicos kalte Verzweifl ung. Und manchmal passt gar nichts und doch alles: in der indischen Pampa begleitet An-dersons gefallene Helden ausgerechnet «Champs-Élysées» von Joe Dassin. Die beiden musikalischen Genies im Team Wes Anderson heissen Randall Poster und Mark Mothersbaugh. Während Poster, der musikalische Berater – der unter vielen ande-ren auch die Soundtracks von «I’m Not There», «Velvet Goldmine» oder «Kids» zusammengestellt hat –, für die Musikauswahl zuständig ist, komponiert Devo-Mitglied Mark Mothersbaugh die unverkennbare und wundersame Anderson-Filmmusik. Wie der Regisseurs immer wieder dieselben Schauspieler um sich schart, gibt es auch bei seiner Musikauswahl die üblichen Verdächtigen: Cat Stevens heilt gebrochene Her-zen, die Rolling Stones werden auf Reisen eingepackt und die Kinks passen eigentlich immer.Fehlt das passende Lied doch, erfi ndet sich Wes Anderson die Musiker gleich selber: In seinem ersten Stop-Motion-Animationsfi lm «The Fantastic Mr. Fox» knetete sich der Regisseur zu diesem Zweck Petey, einen japsenden Folksän-ger mit Nerdbrille. Jarvis Cocker lieh ihm die Stimme. Und den brasilianischen Sänger Seu Jorge liess er für «The Life Aquatic with Steve Zissou» David Bowies grösste Hits auf Portugiesisch einsingen: «Rebel Rebel», vorgetragen auf dem Deck der «Belafonte», dem Traumschiff des Ozeano-grafen Steve Zissou, klang nie entspannter.

    Sarah Stähli

    Musikfi lme

    Am Ende die Blues BrothersIst irgendein Streifen besser als die Musik, die ihn inspirier-te? Besser als ein Album? Vielleicht Pink Floyds «The Wall» oder «Help!» von den Beatles? Nein. Verhält es sich nicht vielmehr so, wie wenn man die Verfi lmung eines guten Bu-ches sieht? In anderthalb Stunden Film wird man der eige-nen Vorstellungen beraubt, der Gesichter, der Landschaf-ten und Bauten, die man während der Lektüre entwickelt hat. Wer zum Beispiel als junger, knapp Englisch kundiger Schüler «Another Brick in the Wall Part II» gehört hat und sich den mächtigen Refrain über die Lehrer, die die Kids in Ruhe lassen sollten, als eigene Devise verinnerlichte hatte, wurde dann im Film durch den Pink Floyd’schen Fleisch-wolf gejagt. Nichts gegen Gerald Scarfes eindrückliche Ani-mationen – das Erlebnis des Songs, losgelöst von fremden Bildern, war für immer verpfuscht.Es gibt Filme, die sich mit höchstem Geschick der Musik bedienen. Wo sich Szenen mit dem Herzschlag der Musik vereinen und zu emotionalen Höhepunkten aufschwingen, so dass jeder Kinobesucher dem Protagonisten zurufen möchte: «Ich fühle mit Dir!» – Billy Elliott reisst wutent-brannt aus und tanzt durch die Strassen der britischen Kleinstadt, dazu singt Paul Weller von The Jam «Better stop dreaming of a quiet life, it’s the one you never know!» Anita erklärt Bernardo in der «West Side Story», warum Puerto Rico wieder im Meer ertrinken könne: «I like to be in America, okay by me in America!» «Withnail & I» rasen zu Jimi Hendrix betrunken über die englische Au-tobahn; «I’m making time», sagt Withnail trocken. Da fl iessen die Freudentränen – aber nur in einzelnen Szenen. Fast als durchwegs guter Musikfi lm ist auch «Moulin Rouge» in Erwägung zu ziehen. Baz Luhrman gelingt es, Melodien und Zeilen von Elton John, The Police und Nirvana zu einer stringenten Geschichte zu formen. Doch dann überspannen ein allzu üppiges Dekor und Nicole

    Kidman mit Ewan McGregor den dramatischen Bogen der Operette. Danach führt man sich besser noch einmal Elton Johns Original von «Your Song» zu Ohren und schliesst die Augen.Sollte nicht wenigstens ein tadelloser Dokumentarfi lm über Musik oder eine Band zu machen sein? Anwärter gibt es: «The Filth and the Fury» anlässlich der Wiedervereinigung der Sex Pistols, in dem Julien Temple Johnny Lydon ein paar Krokodilstränen abringen kann und die Live-Version von «Animals» einen letzten Funken wahren Punkrocks versprüht. Doch auch dieses Vehikel war, wie Lydon selbst zugibt, schamlos kommerzieller Natur.Michael Winterbottom wählt in «24 Hour People» eine fast revolutionäre Erzähltechnik, in der Steve Coogan brillant nicht nur den Manchester-Musikmogul und Tony Wilson gibt, sondern in dieser Rolle auch noch als Fern-sehreporter – Wilsons wirklicher Beruf – durch den Film führt. Leider stürzt der Streifen, in dem von Howard Devo-to über Mark E. Smith fast alles von Rang und Namen in Cameos auftritt und die Musik von Joy Divison zu Beginn eine tragende Rolle spielt, nach zwei Dritteln ab. Er verliert den Fokus auf die Musik und verliert sich – wie viele der damaligen Musiker – in Drogengeschichten.Eine letzte Chance: Mockumentaries! The Rutles! Spinal Tap, bitte? Ein einziges Gegenargument: Zwei grandiose Filme, sie funktionieren aber als Komödie, die Musik ist nur Mittel zum Zweck – zwar lustig, aber kopiert. Also die Blues Brothers? Hm. Vielleicht doch, ja.

    Roman Elsener

    «The Life Aquatic with Steve Zissou»

    «Blues Brothers»

  • DIE NEUEN PLATTEN

    Kate SikoraAparto(www.phantomsignals.com)

    Kate Sikora gab in dieser Postille schon einmal An-lass zu überschwenglicher Lobhudelei. Und da man gewinnende Teams be-kanntlich nicht auswech-seln sollte, fahren wir an dieser Stelle gleich weiter im angeschlagenen Ton. Kate Sikora ist super. Im-mer noch. Die Mittdreis-sigerin werkelte weiter an ihrem patentierten Mid-90s-Indiepop-Chic, der ihr Debütalbum «Grace in Ro-tation» auszeichnete. Und das mit Erfolg. Ihre neue EP «Aparto», die sympa-thischerweise ausschliess-lich auf Kassette erscheint, wirkt konzentrierter und konziser. Eine schnurren-de akustische Gitarre, ein trockener Bass, dezente Drums und ein wahres Potpourri an Klimbim schaffen den klanglichen Raum für Sikoras Songs, die irgendwo zwischen Cat Power, Liz Phair und Kris-tin Hersh anzusiedeln sind. Unaufdringliche, unaufge-regte Lieder mit Geschich-ten von kleinen Problemen, die lange Schatten werfen. Darin trauert Sikora Lieb-gewonnenem nach, das erst richtig zu glänzen begann, als es weg war, oder sie fragt sich mit hochgezoge-ner Augenbraue, wieso der Junge von nebenan wohl meint, noch mit 30 eine Rolle spielen zu müssen, um eine Rolle zu spielen. Natürlich ist «Aparto» mit sechs Songs viel zu kurz, aber wie hiess noch gleich: Für einen Hungernden sind Brotkrumen ein Festmahl.

    nin.

    IdahoYou Were a Dick(Talitres/Import)

    Selbst in der Abteilung «Was macht eigentlich?» konnte man Jeff Martin, Kopf, Bauch, Herz von Idaho, in den letzten Jah-ren nicht fi nden. Der gute Mann schien dem Sadcore, den er mitbegründete, seit seiner letzten regulären Platte «The Lone Gunman» vor sechs Jahren den Rü-cken gekehrt zu haben und werkelte lieber an Films-cores rum. Aber dann ist er plötzlich wieder da mit sei-nen zerdehnten, moll-lasti-gen Flächensounds, seiner brüchigen Stimme und sei-nem mit Patina behafteten Pathos. Mitten im Juli, wo alles badet und fl irrt, tischt Martin mit «You Were a Dick» 15 Songs auf, die eher Spaziergang im No-vembernebel fl üstern. Mit Tremolo-Feedbacks, Trian-geln, Pianoakzenten und einer weit in den hallenden Raum gestellten Gitarre pinselt Martin zerbroche-ne Träume in Anthrazit an die Wand. Begrüssenswert, aber nicht unbedingt ge-lungen, ist Martins Ver-such, zur Aufhellung auch ein paar dick(er) arrangierte Indiepop-Songs einzustreu-en oder andere mit Sitark-längen oder Tuba aufzu-lockern. Als meisterhaft erweist sich das neue Al-bum des leicht entrückten Songwriters hingegen in den typischen Idaho-Mo-menten. Dann, wenn seine Musik die Zeit aufzuhalten scheint und kleine Pausen in die Diktatur des fortwäh-renden Gejufels zu reissen vermag.

    SkeletonsPeople(Crammed Discs)

    Die New Yorker Skele-tons sind eine dieser Bands zwischen den Stühlen, die man in die Schubladen «Art-Rock» oder «Expe-rimental-Pop» einsortiert. Seit fast zehn Jahren aktiv, hat das Projekt um Matt Mehlan inzwischen sieben Alben veröffentlicht und nun auch den Weg zu ei-ner der Kult-Plattenfi rmen Europas, dem belgischen Label Crammed Discs ge-funden. Schlicht «People» heisst die neue Platte, die man nicht mal grade so «weghören» kann. Mehlan hat für die acht Tracks kur-ze Geschichten aus Tages-zeitungen gesammelt und diese in Songform gebracht. Da geht es etwa um «Tania Head», die Vorsitzende des «World Trade Center Sur-vivors Network», die sich ihre Überlebensgeschichte nach dem 11. September nur ausgedacht hatte. Es geht um «L’Rich», das jugendliche Opfer eines Bandenkrieges in Mehlans Nachbarschaft, dessen Blut und Zähne die Polizei ta-gelang am Tatort liegen gelassen hat. Oder um den tragischen Fall von Jimmy Damour, einem Walmart-Angestellten, der bei einem Black-Friday-Sale zu Tode getrampelt worden ist. Ver-packt ist das alles in eine Musik, die an die Werke diverser Knitting-Factory-Bands erinnert, aber auch Bezüge zum Krautrock von Can & Co herstellt. Das kann dann gelegentlich auch mal richtig stressen.

    tb.

    Bon IverBon Iver(4AD/MV)

    Die Vorfreude war gross – doch diese Freude hat sich binnen weniger Hör-Minu-ten verfl üchtigt. Waren die Erwartungen an das zweite Album von Bon Iver ein-fach viel zu hoch gesteckt? Offensichtlich. Mit den Einnahmen seines Debüts «For Emma, Fo-rever Ago» hat sich Justin Vernon aka Bon Iver eine ehemalige Veterinärklinik erstanden, sie dient ihm jetzt als Aufnahmestu-dio. Dass sich der Mann mittlerweile mehr leisten kann, freut uns, es scheint seiner Kunst aber nicht zu bekommen. Da wetteifern plötzlich zusätzliche Sänger mit Bläsern, Streichern und Schlabber-Synthesizern um Platz und Aufmerksamkeit – auf Kosten der Intimität, die das Debüt so glorios schimmern liess. Die CD-Ode, die der in Wisconsin tief verwurzelte Musiker seiner Heimat-Uni Eau Claire widmet, erweist sich als unnötig zugekleis-terte Angelegenheit von un-gelenker Statur. Bestenfalls. Mit einem Song wie «Beth/Rest» begibt sich Bon Iver beinahe schon aufs New-Age-Schreckensterritorium einer Loreena McKennitt. Dass der Sound trotz grös-serer Produktion weiter-hin auf Lo-Fi-Standards beharrt, verschlimmert die Sache gar noch. Klingt wie Bauklotzspielen im Schlamm. Wo «For Emma, Forever Ago» vor lauter Schönheit frösteln liess, lässt «Bon Iver» bloss kalt. mig.

    Benjamin BiolayPourquoi tu pleures?(Naive/MV)

    Biolays Nachfolge-Album seines grossartigen Meis-terwerks «La Superbe» (2009) ist ein Soundtrack-Album. Genauer: Die Stücke sind inspiriert von einem Film, in dem Biolay selber die Hauptrolle spielt. «Pourquoi tu pleures?» ist gerade erst in Frankreich angelaufen. In der Komö-die der Regisseurin Katia Lewkowicz spielt Biolay einen Mann kurz vor seiner Heirat, den Zweifel plagen. Eine einfache Geschichte, die, so war überall zu lesen, durchaus intelligent und humorvoll umgesetzt sei und mit eigenwilligem Hu-mor aufwarte.Die 13 Songs auf «Pour-quoi tu pleures?» reichen natürlich nicht an das letzte Grosswerk von BB heran, es ist aber durchaus eine sehr schöne Platte geworden. Eine hübsche Oldschool-Ballade wie «C’est mag-nifi que» steht neben dem famosen Titelsong, einem tollen Duett mit Co-Star Emmanuelle Devos. Das an Gainsbourg erinnernde «Le bonheur mon cul» ist ein ebenso feiner Song wie die Stücke der Schauspie-lerinnen Sarah Adler und Ana Zimmer. Ein süffi ges, bittersüsses Album, das die Wartezeit bis zum nächsten offi ziellen Biolay-Album wunderbar überbrückt.

    tb.

  • DIE NEUEN PLATTEN

    Nik FreitasSaturday Night Underwater (Irascible)

    Nachdem sich Ron Sex-smith auf seinem letzten Album «Long Player Late Bloomer» höchst mau-lau präsentierte, schien die Rolle des treffl ichsten Paull-McCartney-Epigo-nen ziemlich verwaist. Bis Nik Freitas auftauchte. Der Kalifornier, der auch bei Conor Obersts Mystic Valley Band mitwirkt, be-zeichnet «Hey Jude» von den Beatles als den Song für die Ewigkeit. Womit schon mindestens die Hälfte des Wesentlichen über den vom Skater-Fotografen zum Musiker mutierten Freitas gesagt wäre. «Saturday Night Underwater» ist sein insgesamt fünftes Werk, und er hat es im Alleingang eingespielt. Entsprechend intim und in ihrer Zurück-haltung schon beinahe schüchtern wirken Lieder wie «Little Man» oder «Hold That Thought». Die Kompositionen rascheln still und leise vor sich hin, und selbst wenn Freitas die Synthies oder die Drum-Machine mal ein wenig heftiger aufbegehren lässt, bleibt das aus Pop und Soft-Rock gefertigte Ge-samtbild ein ebenso gelas-senes wie gesittetes. Was es ausmacht, dass Nik Freitas zu den Superben zählt, ist das Understatement, mit dem er seine blendend war-men Stücke aus dem Ärmel schüttelt. Kein Lied ein Ausfall, jeder Song ein Ge-winn. Kein sofort erkenn-barer, aber einer, der bleibt.

    mig.

    BaskeryNew Friends(Blue Rose/MV)

    Baskery aus Stockholm bringen frischen Wind ins männerdominierte Blue-Rose-Label. Wo immer die drei Schwestern Sunniva, Greta und Stella Bondess-on aufspielen, packen sie ihr Publikum mit ihrer energiegeladenen Musik. Auf «New Friends», ih-rem neuen, insgesamt drit-ten Album, demonstrieren die Mädels, wie rasant sie sich seit dem Debüt «Fall Among Thieves» (2008) als Songwriterinnen, Sängerin-nen und Multiinstrumen-talisten (Banjo, akustische und elektrische Gitarren, Kontrabass, Cello, Vibra-phon, Schlagzeug) entwi-ckelt haben. Und dass sie es locker schaffen, die Inten-sität ihrer Live-Shows mit solidem Songwriting und ausgefeilten Arrangements unter einen Hut zu brin-gen. Musikalisch kennen sie kaum Scheuklappen. Irgendwo zwischen Alt-Country, Folk, Rockabilly und subtiler Americana ha-ben Baskery ihren eigenen Sound gefunden. Rund die Hälfte der zehn Eigenkom-positionen – allen voran «Shame & Dance» und «Nobody Nice» – besitzen überzeugende Pop-Quali-täten. Als Sahnehäubchen veredeln die Ladies ihr tolles Album mit dreistim-migem, wunderschönem Harmonie-Gesang.

    tl.

    Other LivesTamer Animals(Play It Again Sam)

    Other Lives kommen aus Stillwater, Oklahoma, wo sie sich ein eigenes Studio eingerichtet haben und ent-sprechend endlose Monate ungestört einfach vor sich hin basteln können. Ganz unbekannt ist die Combo offenbar nicht: ihre Lie-der seien in TV-Shows wie «Ugly Betty» und «Grey’s Anatomy» verwendet wor-den, verrät Wikipedia. «Ta-mer Animals» ist ihr zwei-tes Album, und es kommt mit einer Wall-of-Sound-Produktion daher, die von Phil Spector orchestriert sein könnte, wenn dieser ein Fleet Foxes- und Sigur Ros-liebender Post-Folkie wäre. Warum bloss eine Gitarre erklimpern lassen, wenn es im Leben ja auch noch Celli, Fagotte, Gei-gen, Glockenspiele, Pauken und Trompeten gibt? Was ist es, das die Musik davor bewahrt, bombastisch oder gar «prog-rockig» zu wir-ken? Zum einen ist es die Tatsache, dass die Arrange-ments zwar fi ligran ausge-arbeitet sind, doch immer noch ein bisschen wind-schief, sprich: charmant im Regenwetter stehen. Zum anderen sind es die herrli-chen Melodien, welche die diversen Stimmen zwischen sich hin und her reichen. Dabei schafft es Jesse Ta-bish gleichzeitig ganz fröh-lich, aber auch ziemlich herbstlich zu klingen. Fast überfl üssig zu erwähnen, dass die Band aussieht wie eine obskure Sekte aus dem hinteren Glarnerland.

    hpk.

    Holiday SurpriseIm komplexen Gefüge der Beach Boys war Dennis Wilson der Hedonist, der Mädchenschwarm und der einzige der drei Brüder Wilson, der das Meer, die Wellen und Surf-bretter wirklich liebte. Dennis Wilson war aber auch der Freund von Charles Manson, der ein paar Monate lang mit seiner «family» bei ihm unterkam, und er war berüchtigt für seinen selbstzerstörerischen Alkohol- und Drogenkon-sum. 1983 ertrank er, 39-jährig, im Pazifi k. Als Musiker tat sich Dennis Wilson selten hervor, der Schlagzeuger schien eher am Rock’n’Roll-Lifestyle interessiert zu sein denn am Wohlklang und stand deshalb – wie alle anderen Strand-jungs – immer im Schatten seines genialen Bruders Brian. Al-lerdings wird Dennis Wilson sträfl ich unterschätzt: Schaut man sich die Credits auf den Post-«Pet Sounds»-Platten der Beach Boys näher an, stösst man auf nicht wenige Kompo-sitionen von Dennis Wilson – und nicht selten ragen seine Songs, etwa «Cuddle Up» und «Forever», aus dem Mittel-mass der damaligen Beach-Boys-Produktionen heraus. 1977 veröffentlichte Dennis «Pacifi c Ocean Blue», das ers-te Soloalbum eines Beach Boys. Die Kritiken waren positiv, die Verkäufe eher mittelmässig, und 1991 verschwand das Album vom Markt. Wie «Smile» wurde «Pacifi c Ocean Blue» zu einem der grossen «verlorenen» Alben der Pop-Geschichte.Die Wiederveröffentlichung eines mythologischen Albums ist immer heikel – doch «Pacifi c Ocean Blue» trotzt sowohl dem Zahn der Zeit als auch den hohen Erwartungen. Den-nis Wilson greift die Komplexität der Teenager-Sinfonien von Brian Wilson auf, entfernt sich aber von deren sonnen-getränktem, sinfonischem Sound – seine Songs sind melan-cholische Balladen zwischen Introversion und Pathos, und die Vokalharmonien unterstreichen den rauen und düste-ren Charakter von Musik und Text. Man sitzt zwar am Strand und schaut über den weiten Ozean – der Sommer ist aber vorbei, ein herbstlicher Wind weht, die Strandbuden schliessen, die Surfer packen ihre Bretter ein, und man wird durchdrungen von einem tiefen Gefühl der Einsamkeit. In «The River» perlt ein Klavier leicht wie Gischt über eine starke Strömung aus Gospelstimmen, bis Rockgitarren in wuchtigen Wellen darüber hereinbrechen. In den persönli-chen «Time» und «Thoughts of You» inszeniert sich Den-nis Wilson als eine Mischung aus Kind und Lebemann, der sein Leben nicht ohne Reue betrachtet und den Tod vor sich sieht: «All things that live, one day must die». Der Höhepunkt ist «Dreamer», das von einem jazzigen Groove und einem an ein Didgeridoo gemahnenden Bass-Harmo-nika-Loop vorangetrieben wird. Am Eindrücklichsten und Überraschendsten ist jedoch Dennis Wilsons Stimme. Im Gegensatz zu seinen Brüdern Brian und Carl war er nicht mit einer Engelsstimme ge-segnet. Auf «Pacifi c Ocean Blue» klingt seine Stimme, von Alkohol und Drogen gezeichnet, roh, schmerzhaft und ein-sam. Der endlose Sommer ist vorbei, endgültig.Gleich nach «Pacifi c Ocean Blue» begann Wilson mit der Arbeit am nächsten Album «Bambu». Die Aufnahmen blie-ben jedoch liegen, und fünf Jahre später starb er. Diese un-veröffentlichten Aufnahmen lassen sich auf der zweiten CD der Deluxe-Edition von «Pacifi c Ocean Blue» entdecken.

    Christian Gasser

    Der Autor geniesst gegenwärtig seinen wohlverdienten Urlaub. Anstelle ei-

    ner Abwesenheitsnotiz hat er sich den Nachdruck einer Kolumne aus dem

    Jahr 2008 gewünscht.

  • DIE NEUEN PLATTEN

    Ho OrchestraSpoon River – A La-keside Concert(Faze)

    Das Ho Orchestra live – hatten wir das nicht schon? Wir hatten. Doch während «A Normal Sun-day» (2005) das hörbar erste Treffen der beteilig-ten Protagonisten doku-mentierte, führt «Spoon River – A Lakeside Con-cert», aufgezeichnet am letztjährigen Theaterspek-takel, das Projekt auf eine höhere Kreativitätsebene. Denn a) wirken die auf den Toten-Gedichten des Ame-rikaners Edgar Lee Masters basierenden Songs weit homogener als jene auf dem Vorläufer, und b) ist das zwölfköpfi ge Ensemb-le mittlerweile um einiges besser eingespielt. «Up on the Hill», eine Co-Kom-position von Nits-Ober-haupt Henk Hofstede und Band-Meister Simon Ho, setzt gleich zu Beginn das Qualitätsmass für die kom-menden Dinge. Die Num-mer drängt forsch durch folkige Poplande, scheut nicht vor hingeschrammten Keyboard-Passagen und Stimmengewirr zurück und beeindruckt durch den fa-cettenreichen Duett-Gesang von Hofstede und Shirley Grimes. Auf «Zig Zag» beweist Ho mit seinem an-stachelnden Pianospiel, wie sehr er die treibende Hin-tergrundkraft des Orches-ters ist. Fürs i-Tüpfelchen des Stücks sorgen dann die Finninnen von Värttinä mit ihrem harmonischen Wech-selgesang. Dank seines aus-ufernden Klangreichtums lässt sich dem Werk schier endlos lauschen. Prächtig.

    mig.

    George Tho-rogood & The Destroyers 2120 Michigan Avenue(EMI)

    Eigentlich würde George Thorogood aus Wilming-ton, Delaware nur für seinen Namen und den seiner Band einen Orden verdienen. Der Titel ihres 16. Studioalbums ist die Adresse des Aufnah-mestudios von Chess und Checkers Records in Chi-cago, wo allerhand gros-se Blues- und Rhythm & Blues-Aufnahmen einge-spielt wurden. Eine Adresse, der übrigens schon die Rol-ling Stones in ihren Glanz-zeiten mit einem Titel Tribut gezollt haben. Nomen est auch für good ol’ George Omen. Das Album enthält schnörkellose, hochoktani-ge Neuversionen von R&B-Knüllern aus der Feder von Muddy Waters, Bo Didd-ley, Sonny Boy Williamson und etlichen anderen. Die Wahl der Songs ist insofern wohltuend, als Vollblut-Fan Thorogood zwar immergrü-ne Lieder ausgesucht hat, aber nicht solche, die von tausend Bar-Combos schon längst leergelutscht wor-den sind. Dazu kommen ein paar Neukompositio-nen, die sich in nichts vom höchst gehobenen Standard des Restes abheben. Thoro-good fehlt die punkige Ag-gression der britischen Zeit-genossen Dr. Feelgood, aber Herz wie Adrenalindrüsen sitzen eindeutig am rechten Fleck. Und: Jeder Haushalt braucht zum Wegblasen der Techno-, Prog- und Post-Rock-Spinnweben mal ei-nen heftigen R&B-Vulkan. Why not start here?

    hpk.

    Axelle RedUn coeur comme le mien(Naive/MV)

    Bislang war ich kein be-sonders grosser Fan der ausgesprochen hübschen, aber musikalisch doch im-mer nahe am kitschigen Schlager entlangschram-menden Axelle Red. Das neue Album der erfolgs-verwöhnten Belgierin lässt aber aufhorchen. Hängt es damit zusammen, dass die 43-Jährige die Platte in den USA, nahe Woodstock, aufgenommen hat und ger-ne auch mal Americana zwischen den Chanson-, Soul- und Folksongs auf-blitzen lässt? Sehr schön ist zum Beispiel ihr Duett mit dem Bretonen Mios-sec, dessen dunkles Timb-re sich gut beim rockigen «Entre nous» macht. Der zweite Duett-Partner ist kein Geringerer als Stephan Eicher, um den es zuletzt in Frankreich doch etwas ruhiger geworden ist. Ei-cher ist hier beim schönen Titel «L’amour, la mer & la mort» zu hören. Neben Ei-cher und Miossec, aus des-sen Feder die meisten Songs stammen, haben auch noch Gérard Manset, Ben Ma-zué sowie Florent Marchet – einer der besten jungen Songschreiber der französi-schen Szene – mitgeschrie-ben. Ist es oft so, dass die französischen Sängerinnen die Texte schreiben und die Herren die Musik liefern, dreht Axelle Red den Spiess um: Sie schreibt die Musik alleine oder mit einem Co-Autoren, und die Herren dürfen die Texte liefern. Das funktioniert überwie-gend sehr gut.

    tb.

    Gillian WelchIhr Zusammenspiel ist nach all den Jahren von traumwand-lerischer Sicherheit. All die Jahre seit dem letzten Album ist Gillian Welch getourt, mit David Rawlings, ihrem Gitarris-ten und einzigen musikalischen Partner. Eine Schreibblocka-de verhinderte seit «Soul Journey» (2003) die Aufnahme von weiteren Platten, aber was ihr Zusammenspiel betrifft, sind Welch und Rawlings in dieser Zeit nicht eingerostet. In blin-dem Verständnis folgt der leise Tenor von Rawlings’ Stimme dem Gesang von Welch wie ein Schatten. Wo immer Welch auf «The Harrow & The Harvest» ihre süchtigen Melodien hinführt, Rawlings ist schon da; wie die Agonie und die To-dessehnsucht, die in der alten Folkmusik hinter jeder Floskel der Gitarre lauern. So zeugen die zehn neuen Songs von einer meisterhaften Anverwandlung eines Idioms, von dem man glaubte, es gehorche nur noch der Legende. Und wie schon auf früheren Platten kopiert Gillian Welch auch hier wieder nicht bloss ein altes Genre. Sie vertont auch die Legende mit um diese mythenträchtige Musik um Mörder, Trinker, Huren und heillos Verliebte. So in «Scarlet Town», dem Lied, mit dem sie «The Harrow & The Har-vest» eröffnet, ihr prächtiges neues Album. Sie begibt sich nach Scarlet Town, an jenen mythischen Ort, in dem Barbara Allen in der gleichnamigen Folkballade das Totenbett eines jungen Mannes besucht: Sie hat ihn abgewiesen, jetzt erliegt sie selber der tödlichen Trauer. Gillian Welch nun geht durch die Strassen von Scarlet Town wie durch ein grosses, unles-bares Rätsel, aus dem es keinen Ausgang gibt. Sie schläft auf dem Boden, sie schaut in die Quelle, sie hört die Glocke. Und fi ndet das Verderben, ohne verstanden zu haben, warum. «Scarlet Town» gibt dem Hörer das Gefühl, er tappe selber durch das Geisterhaus, das man Folk nennt. Und David Raw-lings an der Gitarre spielt dazu wunderbare Musik – repetitiv und schlicht und gleichzeitig von fein ornamentierter, kunst-voller Virtuosität. Sie ist von unverhohlener Traurigkeit, in der gefassten Sehnsucht, mit der sie auf unüberwindbaren historischen Distanzen surft, aber auch von selbstbewusster Kraft. Erneut kommen Welch und Rawlings mit zwei akus-tischen Gitarren und gelegentlich mit einem Banjo und einer Mundharmonika aus, dabei aber ganz ohne historisierendes Knarren und Girren. Eine schönere, klügere Folkmusik lässt sich derzeit kaum denken.

    Christoph FellmannGillian Welch: «The Harrow & The Harvest» (Acony/Warner)

  • DIE NEUEN PLATTEN

    TonbruketDig It to the End (ACT)

    Der Schweden-Jazz des Esbjörn Svensson Trio schaffte es nie auf meinen Radarschirm, und so er-eilte mich dieses zweite Tonbruket-Album sozusa-gen aus heiterem Himmel. Tonbruket heisst die Com-bo, die E.S.T.-Bassist Dan Berglund nach dem Unfall-tod von Esbjörn Svensson gegründet hat. Es gehören dazu noch der geigende Keyboarder Martin Hede-ros (auch bei Soundtrack of Our Lives dabei), der drummende Schlagzeuger Andreas Werliin (sonst bei Wirldbirds and Peaced-rums) und – dies so eine Art Genie-Streich – der Pedal Steel-streichelnde Gitarrist Johan Lindström. Das auf konventionelleren Jazz ste-hende, angestammte Publi-kum von E.S.T. – eine Band, die gemeinhin beschrieben wird als eine Jazz-Fassung von Radiohead – soll sich über die rockenden Ten-denzen von Tonbruket be-schwert haben. Banausen! Die Band serviert einen ge-sangsfreien Post-Tortoise-Post-Rock, dem ein Trop-fen freie Improvisation, ein Hauch Country, eine Spur «Meddle»-Ära Pink Floyd, eine mechanische Krautrock-Rhythmik und der Innovationsgeist vom alten RecRec-Programm beigemengt ist. Als Einstieg sei Track 3 empfohlen, «Decent Life».

    hpk.

    Handsome FursSound Kapital(Sub Pop/Irascible)

    «Sound Kapital» ist das dritte Album des Ehepaa-res Alexei Perry und Dan Boeckner, das unter dem ziemlich hübschen Band-namen Handsome Furs fungiert. Boeckner dürfte vielen LeserInnen bekannt sein, ist er doch ansonsten einer der Songschreiber von Wolf Parade. Die Songs von Handsome Furs mi-schen verspielt-vertrackten Indie-Pop mit Roots, die in den Achtzigern liegen – und lassen minimalistische elektronische Elemente und verzerrte Gitarren mitei-nander kollidieren. Perry und Boeckner liessen sich für «Sound Kapital» auf ihren Reisen durch Süd-afrika, Osteuropa, Ko-rea und China von den Industrial-Sounds und von Ostblock-Elektronik, die sie dort hörten, beeinfl us-sen. Die lärmigen Strassen-geräusche aus China oder Korea liessen sie ebenfalls in das Album einfl iessen. Bei aller Elektronik und allem Experiment klingen die Sounds dennoch warm, optimistisch und gefühlvoll – zu hören bei Tracks wie «Repatriated» und «What About Us». Da werden dann durchaus auch Erin-nerungen an Suicide, aber auch an Depeche Mode oder OMD wach, ohne dass die Handsome Furs nun einen auf Achtziger-jahre-Retro machen.

    tb.

    The SilosFlorizona(Blue Rose/MV)

    Damals, vor 25 Jahren, ge-hörten die Silos aus New York zu jenen Bands, die vor allem bei Kritikern beliebt waren, das grosse Publikum aber nie erreicht haben. So blieben die Silos eine Kultband, deren frühe Alben – besonders «Cuba» von 1987 – für klugen ame-rikanischen Alt-Country-Rock standen. Nach dem Band-Split veröffentlichte Mastermind Walter Salas-Humara diverse Soloalben und reaktivierte die Silos um 1998. Mit Alben wie «Come on Like the Fast Lane» (2006) spürte die Band wieder Boden unter den Füssen, ehe Bassist Drew Glackin 2008 an einem Herzinfarkt starb. 2011 melden sich die Silos mit ihrem stärksten Album seit langem zurück: per-sonell erneuert und mu-sikalisch zupackend. Das neue Material strotzt vor melodischer Kraft, krea-tivem Rock, zündenden Gitarren und einem satten, vollen Sound. Neben Sän-ger Salas-Humara ist neu Bassist Rod Hohl dabei, am Schlagzeug sitzt Kon-rad Meissner, an den Tas-ten Bruce Martin. Neu an Bord ist auch der versierte Gitarrist Jason Victor. Der Silos-Sound auf «Florizo-na» erinnert in seiner kom-plexen Transparenz an die frühen R.E.M. oder an Wil-co. Salas-Humaras Songs sind sparsam und prägnant – wie Shortstories von Ray-mond Carver.

    tl.

    John Paul KeithThe Man that Time Forgot(Big Legal Mess)

    Klar könnte man sagen, John Paul Keith sei 60 Jahre zu spät geboren wor-den, doch ich glaube, dass er im richtigen Moment auftaucht. Seine Musik verweist auf eine Zeit im Rock’n’Roll, als drei Ak-korde und ein solider Back-beat reichten, um die Party in Gang zu bringen. «An-yone Can Do It» ruft Eddie Cochran in Erinnerung, während «Never Could Say No» wie ein verscholle-ner Buddy-Holly-Klassiker klingt. Vom Shuffl e-Beat von «Songs for Sale» zum Carl-Perkins-Groove von «Dry County» erweckt Keith klassische Versatz-stücke zu neuem Leben – stilsicher und erfrischend. Dennoch ist das, was er hier abliefert, kein Retro-Sound. Rockabilly, Tex-Mex, soulgetränkter R&B, Brit-Beat und Garagerock dienen lediglich als Inspi-ration für diese zehn Songs, die enorm viel Charme ver-sprühen – und ihren Schöp-fer als «man out of time» erscheinen lassen. Was die CD defi nitiv von einer hip-pen Fingerübung in klas-sischem Rock-Klischee-Kopieren abhebt, ist sicher Keiths geschmeidige Stim-me und die Gabe, eingängi-ge Zeilen oder Refrains mit einem unwiderstehlichen Flair für den grossen Pop-song zu servieren – ohne dass sie einstudiert oder prätentiös wirken. Musik von zeitloser Qualität!

    tl.

    The HorrorsSkying(XL/MV)

    Manchmal wiederholt sich die Geschichte. Vor knapp zehn Jahren ging es mit dem Postpunk-Revival los. Und seither hat sich die Sze-ne ganz ähnlich entwickelt wie einst die Altvorderen. Exemplarisch The Hor-rors aus England: Auf dem Debüt spielte das Quintett 2005 Gothic aus der Ga-rage. Das Zweitwerk pro-duzierte Geoff Barrow von Portishead, und auf einmal versanken die Songs in ver-zerrtem Gewaber, wie es Shoegazer à la My Bloody Valentine und die Cocteau Twins Mitte der Achtziger-jahre etabliert hatten. Mit dem dritten Album gehen The Horrors nun gleich zwei Schritte weiter, aller-dings in verschiedene Rich-tungen. Manches klingt wie bei den Charlatans oder den Madchester-Acts. Will heissen: der Gitarren-Wave wird Richtung Tanzfl äche synkopiert. Anderes – und zwar die auffälligeren Songs wie die Single «Still Life» oder das vorzüglich vorwärts preschende «I Can See Through You» – erinnert mit weitläufi gen Keyboard-Schwaden und Gesang zwischen Emphase und Pathos an die Simple Minds. Das ist natürlich eine No-Go-Area für ortho-doxe Indie-Rocker. Nostal-giker ohne Scheuklappen hingegen dürften sich ein freundliches Grinsen nicht verklemmen können.

    ash.

  • DIE NEUEN PLATTEN

    The FleshtonesBrooklyn Sound Solution(Yep Roc)

    «Pardon us for living, but the graveyard is full», heisst der Dokumentarfi lm über die Fleshtones. Obwohl im Titel ein gehöriges Mass an Ironie mitschwingt, trifft die Aussage ins Schwarze. The Fleshtones sind eine New Yorker Institution. Garagerock spielten Peter Zaremba, Keith Streng & Co. bereits, als es dafür noch keinen Namen gab. Und sie sind immer noch ein Knaller: Bis heute kul-tivieren The Fleshtones den Ruf als die am härtesten arbeitende und stilsichers-te Band unseres Planeten. Bei jeder Show – so auch letzthin in Bern – geben sie 150 Prozent. «Brook-lyn Sound Solution» heisst ihr 20. Album. Zusammen mit dem legendären Lenny Kaye (Gitarrist der Patti Smith Band) haben sie in Ivan Julians (remember The Voidoids?) Studio eine potente Kollektion aus Covers und Instrumentals, garniert mit einem eigenen Titel, eingespielt. Die Band ist in Topform, und Len-ny Kayes Gitarre steuert so manches fuzzgeprägtes Garage-Rock-Mantra bei, besonders auf dem Cover von Lennon/McCartneys «Day Tripper». Den ein-gangs erwähnten Film gibts in der Special Edition zur CD. Eine runde Sache!

    tl.

    Josh OttumWatch TV(Tapete/Irascible)

    «This is a dream not built for two, this is a dream not built for you»: Hart, aber realistisch, was da Josh Ot-tum singt. Dieser ist durch seinen lässigen Einstand im Popgeschäft «Like the Season» (2006) bekannt. Für sein neues Album hat er sich vier Jahre Zeit ge-lassen, einen Song nach dem anderen gesponnen, mit Fäden, die bis zu den Zeiten der seligen Beach Boys, aber auch zu den frü-hen Beatles oder ihren Jün-gern 10CC reichen. Wo hat er die Songs eingespielt? Kinderzimmer, Garagen, aber auch normale Studi-os kommen als mögliche Aufnahmeorte in Frage – so klingts zumindest. Ot-tums Markenzeichen sind die leicht bratzig-versaute Gitarre, Piano-Sperenz-chen, sein Gesang, der ir-gendwie naiv, aber auch sehr charmant klingt, und die Manie, immer wieder neue Elemente – Gesänge, Töne, Rhythmen – in die Songs einzuschmuggeln. Ach, da wird das Hören zum Erlebnis und manch-mal auch etwas anstren-gend, wenn der grosse Zauberer Ottum mal wie-der einen anderen Sound aus dem Hut zaubert. Aber besser als Fernsehen.

    cam.

    Die Welt-traumforscherHerzschlag Erde / Verdunkelt die Sinne(A Tree in a Field)

    Hoch oben in Weltraum schwebt in diesem Mo-ment das Space Shuttle «Atlantis» durch die weite Leere. Es ist die allerletzte Mission des Nasa-Pro-gramms, das Ende einer bedeutenden Epoche der bemannten Raumfahrt. Eine sentimental anmu-tende Reise, die mit einem angemessenen Soundtrack unterlegt gehört. Und die-se dringend benötigten Tonspuren liefert das neu aufgelegte Kassetten-Debüt der Welttraumforscher aus dem Jahr 1981. Das fi ktive wissenschaftliche Team um den Zürcher Klangbast-ler Christian Pfl uger prä-sentiert auf diesen längst verschollen geglaubten Aufnahmen enigmatische Tracks, die in der Tiefe des Raums und aus der zeitlichen Distanz heraus noch immer funkeln und den Zuhörer in Staunen versetzen. Denn auf «Herz-schlag Erde» (ergänzt um das bislang unveröf-fentlichte Nachfolgewerk «Verdunkelt die Sinne») ist bereits alles angelegt, was Die Welttraumforscher ausmacht. Eine clever ent-rückte Exkursion zwischen Hörspiel, Synthesizer-Ex-erzitien, Wuselwahn und Ambient-Artefakten. Und diese Reise in den musika-lischen Mikrokosmos wird fortgesetzt – auch dann noch, wenn die Besatzung des letzten Space Shuttles längst wieder zur Erde zu-rückgekehrt ist.

    amp.

    London HotlineDas Rendezvous mit Adele Bethel von Sons & Daughters soll am Donnerstagnachmittag um 17 Uhr stattfi nden, und zwar (Achtung: Touristentipp-Warnung!) im Lexington am Angel-Ende von Islington. Ganz früher war das mal ein Pub der alten Sorte, ein Publikum mit Blumenkohloh-ren, Randennasen und selbstgerollten Zigaretten, die wind-schief aus zahnlosen Mündern hingen. In den Neunziger-jahren erlebte das Lokal eine Renaissance der unschönen Sorte: Plastikpalmen, saure Weissweine und Kylie Minogue in Endlosschleife. Unterdessen gehört es zu den besten Indie-Kneipen der Stadt. Die Live-Musik fi ndet im ersten Stock oben statt, im Parterre wird ansprechender «Pub-Grub» serviert, dazu Bier, Bourbon und Traubensaft. Was es damit auf sich hat, fi nden Kollege Rotifer aus Österreich und ich alsbald eher unfreiwilligerweise heraus. Nämlich sind die Getränkeprei-se – jedenfalls die Preise für die Getränke, die wir mögen – schweinisch infl ationär. Das ist insofern peinlich, als wir bedeutend länger da sitzen müssen, als wir erwartet hätten, und dabei bedeutend weniger Groschen im Portemonnaie haben, als wir eigentlich gedacht hatten. Sons & Daughters sind verspätet. «Wir sitzen im Traffi c fest», tönt es mit zutiefst schottisch getränktem Akzent durchs Handy. Zehn Minuten noch, ganz bestimmt! Aber es sind dann doch eher 45 Minuten. Eine Dreivierteilstun-de, während der Mr. Rotifer und ich rein nur aus fi nanzi-ellen Gründen mit Mineralwasser dasitzen müssen in einer Kneipe, wo die würzigen Spezialitätenbiere den Kunden geradezu anschreien mit «me, me me!» Wahrlich ein hartes Pfl aster, dieses London. Sons & Daughters sind morgens um sieben Uhr losge-braust in Glasgow. Nach acht Stunden Autobahnfahrt sind sie in London angelangt, nur um dann von einem billigen Sat-Nav, das nicht in der Lage ist, bei der Berechnung der schnellsten Route die neusten Verkehrsverhältnisse in Be-tracht zu ziehen, in den zähesten Traffi c Jam in ganz Nord-london gelenkt zu werden. Es ist das Los einer mittelerfolg-reichen Indie-Band in Grossbritannien, die Hotelnächte sparen muss und über keinen Helikopter verfügt. Man stelle sich das gefälligst vor: Vor einem Gig in St. Gal-len von Basel aus zuerst noch kurz nach Genf fahren, um genau rechtzeitig auf den Soundcheck hin vor der Graben-halle vorzufahren. Und dann auf leeren Magen auch noch gleich zwei Interviews geben, eins dem Herrn Rotifer und eins dem Herrn Künzler, beide vollgetankt mit den Vitami-nen, die halt in so einem Sprudelwasser stecken. Dennoch gibt sich Adele nicht nur auf professionelle Wei-se auskunftsfreudig, sondern sogar regelrecht redselig und freundlich. Auch das ist Indie-England – oder vielmehr -Schottland: die Bereitschaft, ohne Klönen in die Hosen zu steigen, wenn es der Beruf, beziehungsweise die Passion für die Musik verlangt.

    Hanspeter Künzler

  • DIE NEUEN PLATTEN

    Tedeschi Trucks BandRevelator(Sony Masterworks)

    Seit sich die Wege von Derek Trucks und Susan Tedeschi 1999 gekreuzt hatten – was zur Gründung einer Familie führte – war-te ich auf ein gemeinsames musikalisches Werk der vielbeschäftigten Musiker (Allman Brothers Band, Derek Trucks Band, Sus-an Tedeschi Band). Jetzt präsentieren sie sich als elfköpfi ge Truppe. Das ruft bei mir Erinnerungen an Delaney & Bonnie & Friends wach. Nun, das Warten auf den gemein-samen Effort hat sich ge-lohnt: «Revelator» vereint die Trümpfe des Paares –Tedeschis Songwriting und ihr beseelter Gesang, Derek Trucks’ fantastische Slide-Gitarrensoli. Ihre aus dem ABB- und Trucks-Umfeld rekrutierte Band – allen voran Kofi und Oteil Bur-bridge – legt einen fetten Groove vor, der ebenso in der Bluestradition wie im Memphis-Soul, im Rock der Sechziger und Funk der Siebziger wurzelt. Die dreiköpfi ge Horn-Section gefällt mit Muscle-Shoals-Einschüben oder einer di-cken, schweren Funk-Sau-ce. Diese Besetzung klingt präzis, kraftvoll und agil – das trifft auf die Back-up-Sänger genauso zu wie auf die zwei Drummer J.J. Johnson und Tyler Green-well. Anspieltipp: «Mid-night in Harlem».

    tl.

    HeadcatWalk the Walk … Talk the Talk(Niji Entertainment/MV)

    Lemmy spielt Rock’n’Roll. Das betont der Unverwüst-liche immer wieder, und der Beweis heisst Headcat – ein Seitensprung mit Stray Cat Slim Jim Phantom und Danny B. Harvey (Loneso-me Spurs und The Rockats). Gefunden hat sich das Trio vor gut zehn Jahren bei Aufnahmen für einen El-vis-Tribute. Ein ruckzuck eingespieltes Album wur-de zwei Mal veröffentlicht und blieb dennoch obskur. Das Zweitwerk nun startet mit «American Beat», einer von zwei Eigenkompositi-onen, die klingt, als wür-den Motörhead Rockabi-lly spielen. Das Gros der Songs stammt von Leuten wie Gene Vincent, Chuck Berry, Jerry Lee Lewis und Eddie Cochran, auch Ro-bert Johnson, Elvis und die Beatles liefern Vorlagen. Das klingt nicht spekta-kulär, aber unterhaltsam und durch die Biographien der Beteiligten beglaubigt. Und wie Lemmy singt… Nur missmutige Menschen können die Zärtlichkeit in seiner Stimme bei Heulern wie «I Ain’t Never» von Honk-Tonk-Pionier Webb Pierce