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1 Bewusstsein Kongress der Akademie Heiligenfeld GMBH 2013 Körperbewusstsein Ichbewusstsein Soziales Bewusstsein Eutonie Gerda Alexander ®: Workshop Karin Schaefer, Straßburg Logo und Leitwort der Eutonie Gerda Alexander Logo und Leitwort entstanden bei unseren internationalen Eutonie Treffen, die jedes Jahr in wechselnden Ländern stattfinden. 1983: Wir bewegten uns frei im Raum. Große Papierbögen hingen an den Wänden. Jede/r von uns ging dorthin und malte mit dicken Stiften aus der Bewegung heraus eigenen Linien. Später reduzierten wir die Formen, wir suchten nach einem gemeinsamen Nenner und der Quintessenz. 1984: Im Abschlussgespräch versuchten wir, das Wesentliche der Eutonie verbal zu formulieren. Für viele aus dem Kreis der Eutonisten wurden diese Sätze zum Leitmotiv: Bewohnt euren Körper, bewohnt euren Raum, seid offen für alles Erstaunliche, fragt ohne Unterlass die Welt, befragt sie mit euren Sinnen. Berührt werden zu sich finden Erst, wenn ich mich gefunden habe, kann ich mich hingeben, ohne mich zu verlieren. Berührung: Bewohnt Euren Körper Der erste Schritt in der Eutonie gilt der Berührung. Sich mit Haut und Haaren, mit den weichen und festen Strukturen zu spüren, bedeutet, sich selbst auf die Spur zu kommen, sich selbst zu begegnen. Die Aufmerksamkeit gilt der Wirkung der Umgebung auf die Haut, auf die inneren Körperstrukturen und auf die psychischen Empfindungen. sinnlich Selbstwahrnehmung führt zu einem differenzierten Körperbewußtsein, Körperbewußtsein führt zu Selbstbewußtsein. Umgang mit Material Der Umgang mit Material wird vorbereitet: Wie wird mein Körper seinen Platz am Boden einnehmen? Wo werden seine Teile auf dem Boden liegen und wo auf dem Material? (WS und Kopf). Durch die Berührung und durch den Druck des Materials werden Körperteile deutlicher. Druck spüren: Sich dagegen wehren? Bereit sein, ihn anzunehmen, sich lösen. Berührung bedeutet in der Eutonie, die Wirkung der Berührung auf den Körper und in den Körper wahrzunehmen. Die Berührung mit dem Boden und mit verschiedenen Objekten stimuliert das sensorische Nervensystem. Anleitungen zur Veränderung der Berührungsflächen zwischen der Haut und dem gefühlten Objekt führen zu Bewegungen. Durch die fokussierte Wahrnehmung der Berührung entstehen ungewohnten Bewegungen, alte Muster werden verlassen. Ein neues Zusammenspiel von Sensorik und Motorik kann sich entwickeln. Berührung Kontakt Begegnung

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Bewusstsein – Kongress der Akademie Heiligenfeld GMBH 2013

Körperbewusstsein – Ichbewusstsein – Soziales Bewusstsein Eutonie Gerda Alexander ®: Workshop Karin Schaefer, Straßburg

Logo und Leitwort der Eutonie Gerda Alexander Logo und Leitwort entstanden bei unseren internationalen Eutonie – Treffen, die jedes Jahr in wechselnden Ländern stattfinden. 1983: Wir bewegten uns frei im Raum. Große Papierbögen hingen an den Wänden.

Jede/r von uns ging dorthin und malte mit dicken Stiften aus der Bewegung heraus eigenen Linien. Später reduzierten wir die Formen, wir suchten nach einem gemeinsamen Nenner und der Quintessenz.

1984: Im Abschlussgespräch versuchten wir, das Wesentliche der Eutonie verbal zu formulieren.

Für viele aus dem Kreis der Eutonisten wurden diese Sätze zum Leitmotiv: Bewohnt euren Körper, bewohnt euren Raum, seid offen für alles Erstaunliche, fragt ohne Unterlass die Welt, befragt sie mit euren Sinnen.

Berührt werden – zu sich finden

Erst, wenn ich mich gefunden habe, kann ich mich hingeben, ohne mich zu verlieren.

Berührung: Bewohnt Euren Körper

Der erste Schritt in der Eutonie gilt der Berührung. Sich mit Haut und Haaren, mit den weichen und festen Strukturen zu spüren, bedeutet, sich selbst auf die Spur zu kommen, sich selbst zu begegnen. Die Aufmerksamkeit gilt der Wirkung der Umgebung auf die Haut, auf die inneren Körperstrukturen und auf die psychischen Empfindungen. sinnlich Selbstwahrnehmung führt zu einem differenzierten Körperbewußtsein, Körperbewußtsein führt zu Selbstbewußtsein.

Umgang mit Material

Der Umgang mit Material wird vorbereitet: Wie wird mein Körper seinen Platz am Boden einnehmen? Wo werden seine Teile auf dem Boden liegen und wo auf dem Material? (WS und Kopf). Durch die Berührung und durch den Druck des Materials werden Körperteile deutlicher. Druck spüren: Sich dagegen wehren? Bereit sein, ihn anzunehmen, sich lösen.

Berührung bedeutet in der Eutonie, die Wirkung der Berührung auf den Körper und in den Körper wahrzunehmen. Die Berührung mit dem Boden und mit verschiedenen Objekten stimuliert das sensorische Nervensystem. Anleitungen zur Veränderung der Berührungsflächen zwischen der Haut und dem gefühlten Objekt führen zu Bewegungen. Durch die fokussierte Wahrnehmung der Berührung entstehen ungewohnten Bewegungen, alte Muster werden verlassen. Ein neues Zusammenspiel von Sensorik und Motorik kann sich entwickeln. Berührung – Kontakt – Begegnung

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1. 2.

Im Unterricht wird als Thema gegeben: „Von der Berührung zum Kontakt“. Mit diesem Thema wird improvisiert. Der Kontakt erweitert sich über das Material hinaus zu einer Partnerin und wird von ihr beantwortet.

Was ich berühre, berührt auch mich. Kontakt: Von der Berührung der Schritt nach außen zum Kontakt

Das aufmerksame Spüren wird über die Körpergrenze hinaus zum Objekt gelenkt, zum Boden, zum Material, zur Kleidung, zu umgebenden Luft. In der Fachsprache heißt diese Bewusstseinslenkung Transsensus. Das Berührte wird mit einbezogen in den eigenen Körper- und Lebensraum. Dieser Kontakt wirkt zurück auf den eigenen Organismus, er verändert etwas in uns. Ein weicher Ball oder ein fester Bambusstab bewirken einen unterschiedlichen Tonus. Die Partnerinnen öffnen sich weiter für den Kontakt mit Anderen, eine Gruppe bildet sich für eine gemeinsame Bewegungsimprovisation. Bild 2: Bleibt der Kreis offen oder schließt er sich? In diesen Begegnungen werden oft unausgesprochene Konflikte spürbar und es können sich recht heftige Gruppenprozesse entwickeln. Durch die Aufforderung, im Geschehen körperlich anwesend zu bleiben, werden sie intensiviert und deutlicher. Das Gefühl für sich selbst und für die Anderen, das Erleben der eigenen Aktionen und Reaktionen, kann zu klärenden Prozessen führen. Je nach Situation ist eine verbale Begleitung hilfreich. Gemeinsam Bewegen

Durch Berührung und Kontakt entwickelt sich das Bewusstsein für „das Andere, das Fremde“ und es entsteht Achtung vor „dem Anderen". Das Bedürfnis nach Nähe und Distanz klärt sich. Mit zunehmender Einfühlsamkeit entwickelt sich die Fähigkeit zur bewussten Tonusadaption und die soziale Beziehungsfähigkeit wächst.

Gemeinsam gestalten - gemeinsam Spuren hinterlassen

Gruppierung um ein Papier, seinen Platz finden Abtasten des eigenen Raumes auf dem Papier Berührung und Kontakt mit dem Stift Durch den Stift Kontakt zum Papier mit seiner Fläche aufnehmen Jede/r legt seine Spuren auf das Papier, nimmt sich seinen Raum Jede/r respektiert den Raum der Anderen Die Augen sollten geschlossen werden, um ohne deren Kontrolle Berührungen und Kontakt zu erleben Aus den individuellen Spuren auf dem Papier hat sich ein gemeinsames „Werkes“ entwickelt. Die Teilnehmer/innen tauschen ihre Erfahrungen aus.

Kontrollpositionen:

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Beweglichkeit der Gelenke von Fuß und Zehen, Knie- und Hüftgelenke, Muskulatur der Beine und Füße

Kontrollpositionen sind von Gerda Alexander entwickelte Körperpositionen und Dehnlagerungen, die eine subjektive Überprüfung der eigenen Bewegungsmöglichkeiten und Grenzen erlaubt. In jeder Position werden bestimmte Gelenke und dazu gehörende Muskelketten eingesetzt. Das eigene Gewicht folgt der Schwerkraft und führt zu passiven Dehnungen. Die Positionen gehen von einer optimalen Beweglichkeit aus, die aber nicht als Ziel angestrebt wird. Gelernt wird, mit Grenzen behutsam umzugehen und sie zu achten als ein Hinweis auf die persönliche Situation. Für mich liegt in dieser funktionalen Arbeit die größte Nähe zwischen der Eutonie und der Feldenkrais-Methode. Gerda Alexander entwickelte Vorübungen für die Positionen, die vor allem der Entspannung der Muskeln, Dehnung der Sehnen und Bänder und Mobilisierung der Gelenke sorgten. Hier bietet die Feldenkrais-Methode mit ihren Lektionen eine unermessliche Fundgrube. Ich habe viel dort gelernt und es in meinen Eutonie-Unterricht einfließen lassen, nicht ohne Hinwies auf Moshe Feldenkrais.

Mein Körper – das bin Ich. Unsere technisierte Welt trennt uns von unserer Körperlichkeit. Der Körper wird verdinglicht, er muss funktionieren, das Ersatzteillager wird technisch immer perfekter. Unsere fühlende Leiblichkeit hat sich der Erkenntnis: „Ich denke, also bin ich." unterworfen. Der Mensch hat gelernt, sein Denken und seine Intelligenz zu gebrauchen. Dabei ist das Gefühl für die eigene Körperlichkeit verloren gegangen oder oft verleugnet worden. Wir legen uns einen Schutzmantel zu, der zu einer Desensibilisierung unserer körperlichen Wahrnehmung und damit zur Selbstentfremdung führt. Damit geht auch die Freude an der Leiblichkeit verloren. Erst wenn der Körper sich durch Schmerzen meldet und nicht mehr funktioniert, wenn er uns Kummer macht, kümmern wir uns um ihn. Wir erleben eine Wende: Die Notwendigkeit dazu zeigt sich nicht nur in der Ausweglosigkeit des Gesundheitswesens, sondern auch in der persönlichen Suche der Menschen nach sich selbst. Körperliche Verwöhnung und Wellness boomen. Neben diesem passiven Ausgleich für den Alltag wächst aber auch der Wunsch, sich selbst als Einheit von Körper-Geist und Seele zu erleben. Damit wächst die Bereitschaft, etwas dafür zu tun, um diese Einheit wieder zu finden und aus ihr heraus leben zu können, auch im Alltag. Unser Fühlen, Denken und Handeln ist an unseren Körper gebunden, wir haben nicht diesen Körper, sondern wir sind dieser Körper. In der Fachsprache heißt diese Wende „Embodiment“, Verkörperlichung. Dafür gab und gibt es das alte Wort „Inkarnation“: Geist und Seele sind in den Körper hineingeboren, der Körper wird damit zum Leib. „Ich denke, also bin ich“ wird ergänzt durch „Ich fühle, also bin ich.“ Das alles wurde für uns in unseren Berufen zur Selbstverständlichkeit und manchmal sogar zu Schlagworten. Füllen wir selbst diese Worte immer? … Und wie fühlt Ihr Euch jetzt, hier an Eurem Platz, hier im Raum? Schließt für eine Weile Eure Augen und bleibt in dieser sinnlichen Wahrnehmung. Könnt Ihr beschreiben, was Ihr spürt, wie Ihr Euch fühlt? Findet Eure Sprache einen Ausdruck, ein Wort dafür? … Um sich selbst zu spüren, sich kennen zu lernen und sich selbst zu erkennen, brauchen wir unsere Umgebung, ihre Berührung und ihren Widerstand. Schon deshalb kann Körperbewusstsein nicht der letzte Sinn unserer Arbeit sein, sondern ist Voraussetzung für unsere Beziehungsfähigkeit und für ein soziales Miteinander. „Unser Ziel ist es, den Menschen in die Lage zu versetzen, sich auf die Wirklichkeit des Augenblicks einzustellen.“ So formulierte Gerda Alexander das Ziel der Eutonie. Die Tonusadaption wurde zum zentralen Thema ihrer Methode. Damit nahm sie empirisch voraus, was durch die Entdeckung der Spiegelneurone bestätigt wird: Die im Menschen angelegte Fähigkeit zur Anpassung und Empathie, die Basis für unser soziales Gefüge. Wenn die Resonanzfähigkeit als Lebensqualität bewusst wird, kann sie die sinnvolle Anpassung an die Umgebung und Situation im Alltag fördern. Das Wissen um die Resonanzfähigkeit hilft auch davor, manipuliert zu werden. Gerda Alexanders Anliegen der bewussten Tonuseinstellung auf die reale Situation wird verständlich im Zusammenhang mit der kulturellen und politischen Situation der Zeit, in der sie gelebt hat.

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Befreiung

Zum Anfang des vorigen Jahrhunderts begannen viele junge Frauen aus dem gebildeten Bürgertum, sich von einem konservativen Familienideal zu befreien. Sie befreiten sich von ihrem einengenden Korsett, buchstäblich und im übertragenden Sinn. Sie lösten damit einen Paradigmenwechsel aus, der von einer Tabuisierung des Körpers zur Lust am Körper führte.

Sichtbar wurde dieser Wandel im Tanz, in der Rhythmik und in verschiedenen Gymnastik- und Atemmethoden. Vorgeschriebene, idealisierende Formen wurden gesprengt, die Natürlichkeit des Körpers suchte ihren Ausdruck. In diesem Zeitgeist wuchs Gerda Alexander auf. Am 25. Februar 1908 wurde sie in Wuppertal geboren. Beide Eltern liebten die Musik, sie hatten sich durch die Rhythmik Jaques-Dalcroze kennen gelernt.

Jaques-Dalcroze wirkte von 1910 – 1914 an der von ihm gegründeten Bildungsanstalt in Hellerau bei Dresden und leitete die dortigen Festspiele Er unterzeichnete 1914 eine Protestaktion gegen den 1. Weltkrieg, die ausgelöst wurde durch die Zerstörung der Kathedrale von Reims durch die deutschen Truppen. Dies löste in der deutschen Presse eine Hetzkampagne gegen Hellerau aus. Jaques-Dalcroze musste Deutschland verlassen. Gerda Alexander wuchs auf mit Musik und Bewegung. Wenn sie als Baby weinte, nahm ihr Vater sie aus dem Bett und trug sie zum Klavier. Dort hielt er sie so, dass ihre Fußsohlen die Tasten berührten. Sie machte die Erfahrung, dass durch den Druck ihrer Füße auf die Tasten Töne erklangen. Die Vermutung liegt nahe, dass hier schon ihr Weg zur Musik, Rhythmik und Bewegung gebahnt wurde. Mit 7 Jahren kam Gerda Alexander zu Otto Blensdorf in den Rhythmikunterricht für Kinder. Otto Blensdorf war Schüler von Emile Jaques-Dalcroze (1865-1950). Seine Lehre ging davon aus, dass die sinnliche Erfahrung mit ihrem Dialog zwischen den äußeren Objekten und dem eigenem Körper (was ich berühre, das berührt auch mich) wesentlich ist für die Entwicklung des Menschen.

Gerda Alexander auf der Bühne als Gassenjunge Ihre Mutter hätte die Tochter lieber im Haushaltsunterricht als Vorbereitung auf eine Ehe gesehen.

Musik, Tanz und die Darstellung auf der Bühne wurden Gerda Alexanders Leidenschaft. 1924 begann sie mit der Rhythmik-Ausbildung bei Otto Blensdorf in Wuppertal, 1929 legte sie das staatliche Rhythmik-Examen an der Hochschule für Musik in Berlin ab.

Die körperliche Befreiung in dieser Zeit entsprach auch einer Befreiung in der Erziehung, die sich als Reformpädagogik entwickelte. Gerda Alexander machte ein Praktikum am erziehungswissenschaftlichen Instituts der Universität Jena, das unter der Leitung des Reformpädagogen Peter Petersen stand. Beide Pädagogen, Otto Blensdorf und Peter Petersen, forderten von den Kindern nicht eine äußere Disziplin fordern, sondern wollten sie zu einer inneren Disziplin motivieren und befähigen, selbst Verantwortung in ihrem Lebensbereich zu übernehmen. So prägten zwei wesentliche Einflüsse das Leben und die Arbeit von Gerda Alexander: Die Rhythmik und Musiklehre von Emile Jacque-Dalcroze und die Reformpädagogik von Peter Petersen. Ich zitiere beide: Emile Jaques-Dalcroze: „Ich weiß, weil ich fühle und erfahre.“

„Erfahrung darf nicht durch Worte ersetzt werden.“ Peter Petersen: „Das ist die ungeheure Tragik der Kindheit, dass sie dieser Welt der Erwachsenen ausgeliefert wird.“ Eine Erwachsenenwelt, „… die Kindheit in ihre Welt ein – und unterordnet, sie zum Opfer ihrer Welt macht und aus solchen Opfern die Herren der Welt bilden will.“

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Beide Zitate wirken wie eine Mahnung vor dem, was 1933 in Deutschland geschah. Nach ihrer Ausbildung in der Jacque-Dalcroze-Rhythmik legte Gerda Alexander 1929 in Berlin an der Hochschule für Musik das Rhythmikexamen ab. Rhythmik – Unterricht im Froebel-Kindergarten Kopenhagen (Folie)

Gerda Alexander begann auf Einladung der New-Education-Fellowship, der Vereinigung für Neue Internationale Erziehung, mit ihrer Arbeit in Skandinavien. Ihre pädagogische Fähigkeit fand Anerkennung an der Fröbel-Hochschule, an der sie einen Lehrauftrag bekam. Operninszenierung (Folie)

Ihr künstlerisches Talent zeigte sie an den Opernhäusern von Malmö, Lund und Kopenhagen mit den Choreographien für Orpheus und Euridike von Gluck, Ja-Sager von Kurt Weill, Dido und Aeneas von Purcell. Gerda Alexanders großer Traum von einer kontinuierlichen Arbeit mit Schauspielern und Tänzern schien in Erfüllung zu gehen, als sie von Leopold Jessner, dem damaligen Direktor des Berliner Staatstheaters, ein Engagement erhielt mit der Aufgabe, ab März 1933 dort als Bewegungslehrerin und Regieassistentin zu arbeiten. Zwei Monate vorher kam Hitler an die Macht. Leopold Jessner war Jude, er musste die Bühne verlassen und emigrierte in die USA. Eine Welt brach zusammen und Gerda Alexander erkannte, dass ihre Arbeit in Zukunft vermehrt einer neuen internationalen Erziehung gelten müsse, die für sie Friedensarbeit bedeutete. Sie blieb in Skandinavien. Für sie war dieser Schritt keine äußere oder innere Emigration, sondern ihre Antwort auf eine Herausforderung. Sie begründete ihren Schritt: „Eine Pädagogik, die an die Verantwortung des Individuums appelliert, hat keinen Platz in einem Land, in dem ein Führer alle Verantwortung allein übernimmt.“

Die politische Situation führte sie von außen in eine Krise; im Absprung schaffte sie den Wandel von der Künstlerin zur Pädagogin. Einen Wandel von innen forderte ihr eigener Körper. Er war der strengste Lehrmeister bei der Entwicklung ihrer Methode. Eine schwache Konstitution und eine rheumatische Herzerkrankung verlangten von ihr einen äußerst sparsamen Einsatz der eigenen Kräfte. Auch diese Herausforderung nahm sie an, aus der Künstlerin wurde die Pädagogin.

Neben ihrer Anstellung in der Fröbel-Hochschule in Kopenhagen unterrichtete sie u. a. am schwedischen Gymnastikinstitut in Lund und an der Musikhochschule in Frederiksberg. Prägend war für sie auch die Arbeit mit der Stanislawski-Gruppe der dänischen Schauspieler.

Eine besondere Freundschaft verband sie mit dem Dirigenten Rafael Kubelik. Als Kubelik 1981 in München Werke von Carl Orff mit dem Bayrischen Rundfunk Symphonie Orchester aufführte, kam es zu dieser Begegnung zwischen Gerda Alexander und Carl Orff.

1940 gründete Gerda Alexander in Kopenhagen ihre Schule für Entspannung und natürliche Bewegung. Während der Kriegszeit erlebte sie die deutsche Besetzung und wurde von der Besatzungsmacht und von den Dänen gleichermaßen argwöhnisch überwacht. Trotzdem engagierte sie sich in einem Solidaritätsnetz, das vielen Menschen zur Flucht vor den Nazis verhalf. Nach dem Krieg wurde ihr die dänische Staatsbürgerschaft zuerkannt. Ihre pädagogische und künstlerische Begabung, ihre Neugier und Offenheit, ihr unermüdliches Forschen mit gesunden und kranken Menschen, mit Kindern, Künstlern und Pädagogen führten sie zu den Grundlagen ihrer Methode, die sie ab 1956 „Eutonie“ nannte. Ab 1950 wurde Gerda

Alexander in Fachkreisen bekannt und folgte zahlreichen Einladungen zu Kongressen, Vorträgen und Kursen in Europa, USA, Israel, und Argentinien. Mehrfach begegneten sich Moshe Feldenkrais und Gerda Alexander bei Kongressen und Symposien in USA und Israel. Beide waren 1963 als Referenten zum AFA-Kongress eingeladen. Gerda Alexanders langjährige Arbeit mit den Musikern des dänischen Staatsrundfunks zeigte Erfolg durch einen erheblichen Rückgang der Krankmeldungen und eine hör- und sichtbar verbesserte Spieltechnik. Diese Arbeit wurde wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Auf dieser Grundlage erhielt sie für ihre Schule die staatliche Anerkennung als Fachhochschule. 1. Internationaler Kongress für Entspannung und natürliche Bewegung (Folie)

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1959 organisierte sie in Kopenhagen mit Unterstützung des dänischen Unterrichtsministeriums den ersten internationalen Kongress für Entspannung und natürliche Bewegung: „Kongres for Afspænding og naturlig Bewægelse“. Viele Gründer und Vertreter der Methoden, die dem Körperbewusstsein galten, kamen zusammen und präsentierten ihre Arbeit in Vorträgen und Praxis, u. A. Moshe Feldenkrais, der über seine Methode „Bewusstheit durch Bewegung“ sprach, Volkmar Glaser legte das chinesischen Meridian-System dar als Grundlage einer modernen Bewegungslehre, die Tänzerin und Choreographin Rosalia Chladek demonstrierte ihre Bewegungslehre durch einen Film und Frank Pierce Jones von der Tufs University in Medford USA vertrat die F. M. Alexander-Technik Gerda Alexander stellte ihre Methode offiziell unter dem Namen „Eutonie“ vor.

Sie sagte damals in einem Interview: „Wenn wir alle, die wir vom selben Feuer ergriffen sind, dieselben Grundgedanken haben und dieselben Beobachtungen machen, muss hieraus mehr entstehen können zum Wohle der Menschheit.“ Aber noch mussten die Gründer dieser Methoden ihre eigenen Strukturen klären und sich deshalb voneinander abgrenzen. Erst uns Nachfolgern ist der Blick über den Zaun möglich, erst jetzt können wir uns in Dialoge einlassen ohne Angst vor Verlust und mit der Chance, voneinander zu lernen.

1985 1924

Gerda Alexander leitete bis 1987 ihre internationale Schule für Eutonie in Kopenhagen, unterrichtete dort und hielt Vorträge und Kurse in Europa und Amerika. Mit 82 Jahren kam sie zurück nach Wuppertal und lebte dort in der Familie ihres Bruders bis zu ihrem Tod am 21. Februar 1994.

Gerda Alexanders Arbeit wurde häufig kritisiert, weil sie ihre empirisch entwickelten Thesen nicht wissenschaftlich beweisen konnte. Sie hatte sich diese Erklärungen für die Phänomene des Körpers immer gewünscht. Sie schrieb dazu: „Allerdings wäre die Eutonie nicht entstanden, wenn wir erst die wissenschaftlichen Erklärungen ihrer Phänomene abgewartet hätten, ehe wir an uns selbst die umstürzenden Wirkungen eines neuen Zugangs zur vieldimensionalen Wirklichkeit feststellen.“ Zur Entdeckung der Spiegelneurone als Erklärung des Resonanz-Phänomens, hätte sie wohl gesagt: „Ich hab’s doch immer gewusst!“. Die Bezeichnung der Eutonie (Folie)

Jeder Mensch hat seine Grundspannung – seinen Grundtonus, eine Mittellage, von der aus der Tonus schwingen kann. Die aktuelle Spannung zeigt sich im gesamten körperlichen Organismus, in der seelischen Spannung oder Stimmung und in der geistigen Wachheit – der Anwesenheit. Dabei wirken Körpertonus und Psychotonus zusammen und zeigen die ganze Spannweite unsere Lebendigkeit: - hoher Tonus: Freude, Leichtigkeit, bis zum Überschwang, - himmelhoch jauchzend, - tiefer Tonus: Ernst, Trauer, Schwere bis zur Depression, - zu Tode betrübt. Unser Körpertonus wird bestimmt weitgehend durch unsere Stimmung, den Psychotonus: - Sind wir müde oder traurig macht ein entsprechend tiefer Tonus uns das Treppensteigen

schwer, sind wir freudig erregt, springen wir mit einem hohen Tonus leicht die Stufen empor. - Wenn wir ein schlafendes Kind aus dem Bett heben, lässt es sich viel schwerer heben als

wenn es sich uns wach entgegenstreckt. - Ein Sportler kann nicht in tiefer Entspannung in den Wettkampf gehen, sondern braucht eine

bestimmte Spannung, um sich leicht bewegen zu können. - Ein Musiker stimmt nicht nur sein Instrument, indem er der Saite seines Instrumentes die

richtige Spannung für den richtigen, den guten Ton gibt, sondern er stimmt auch sich selbst ein auf die Musik, auf die Stimmung der Musik, die er interpretieren will.

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Ein flexibler, schwingungsfähiger Tonus stellt sich auf die jeweilige Lebenssituation ein, die auch bedingt ist durch unser biosoziales Umfeld. Er schwingt frei in der Spannweite von hoch und tief und findet dann normalerweise zu seiner Mittellage zurück. Voraussetzung ist die innere Bereitschaft, sich einzustellen, sich einzulassen auf die Situation. Die Intention auf etwas hin wirkt antizipatorisch auf die Muskulatur und den gesamten Tonus. Die Grundannahmen beruhen auf dem humanistischen Menschenbild: (Folie)

Individualität, Würde und Freiheit jedes einzelnen Menschen, seine Fähigkeiten zu sozialer Verantwortung, seine Kreativität und Entwicklungsmöglichkeit zur Weiterentwicklung der menschlichen Gesellschaft. Die Grundprinzipien beschreiben das methodische Vorgehen, die Didaktik der Eutonie.

Die Prinzipien führen zu einer aufmerksamen körperlichen Wahrnehmung, zu eigenem Erproben und Erfahren. Der Umgang mit den Prinzipien Berührung – Kontakt – Transport fördert Fähigkeit des Menschen zu sozialer Beziehung, ohne Verlust der eigenen Individualität. Transport: Aus Berührung – Ich und Kontakt – Du, entwickelt sich das dritte Prinzip: die Aufrichtung. Für Gerda Alexander waren die Grundlagen für unsere Aufrichtung wichtige Arbeitsprinzipien: Das Erleben der Schwerkraft und des Widerstandes (Druck erzeugt Gegendruck). Die Kraftübertragung vom Boden durch die Knochen des Skeletts bezeichnete sie als Transport.

Eine junge Musikerin findet ihren Transport: Widerstand vom festen Boden unter den Füßen und

Kontakt durch den beweglichen Ball zur Wand sorgen auch in Bewegung für Stabilität. a. Die Füße geben einen Impuls gegen den Widerstand des Bodens b. Druck erzeugt Gegendruck, die Kraftlinien (Transport) wirken durch den Körper zum Ball c. Kontakt durch den Ball zur Wand, Widerstand der Wand Aufrichtung und Ausrichtung a. Lässig auf dem Hocker (tiefer Tonus) b. Sitzbeinhöcker richten die Wirbelsäule auf, die Schultern sind noch angespannt. c. Durch die bewusste Berührung mit den Tasten und den Kontakt zum Instrument lösen sich

Schultern und Arme, der Tonus stellt sich auf die Musik ein.

Widerstand nutzen

Der Transport wird im Liegen von den Fußsohlen gegen die Wand ausgelöst. Der Widerstand der

Wand „transportiert“ sich mechanisch durch die statische Struktur der Knochen und Gelenke. Die Wand lässt sich nicht wegdrücken – ihr Widerstand bewirkt, dass der Körper sich bewegt, weg vom Widerstand in die Gegenrichtung. Ein gutes Rezept auch gegen andere Widerstände im Alltag, gegen die wir vergebens ankämpfen. Der Druck auf die Mechanorezeptoren in den Gelenken innerviert die reflektorische Muskulatur, die an der Aufrichtung beteiligt ist. Mit der Erfahrung, körperlich getragen und aufgerichtet zu werden, wachsen auch Mut und Kraft, zur eigenen Persönlichkeit zu stehen.

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Zitat einer Teilnehmerin: „Weil Du mir widerstehst, stehe ich wieder – auch eine Liebeserklärung.“ Die drei Aspekte der Eutonie

Die Didaktik der Eutonie – schöner ist das Wort „die Unterrichtskunst“ – besteht aus drei Aspekten: 1. Die Pädagogik: Verbale Vermittlung der Prinzipien, Erfahrungsaustausch 2. Die Therapie: Individuelle, manuelle Vermittlung der Prinzipien, verbale Begleitung 3. Die Bewegungsgestaltung: Von der Bewegungsimprovisation zur Studie,

Förderung des individuellen Ausdrucks

Die Aspekte Gruppenunterricht und Einzelunterricht werden in anderen Methoden ähnlich unterschieden und angewandt, zum Beispiel in der Feldenkrais-Methode. In der Praxis der Eutonie gibt es keine Trennung von Pädagogik und Therapie. Lernen kann zu einem Heilungsprozess führen, Heilung zu einem Lernprozess. Ein guter Pädagoge ist gleichzeitig Therapeut, ein guter Therapeut ist gleichzeitig Pädagoge. Ob ich Pädagoge oder Therapeut bin, bestimmt mein Gegenüber mit seinen Bedürfnissen. Diese können sich von Stunde zu Stunde oder sogar innerhalb einer Stunde ändern.

Behandlung in Bauchlage Vorbereitung zur Arbeit an der Torsion HWS-BWS: Unterstützung der Schulter

durch ein Material Entlastung der HWS/BWS.

Behandlung in Seitenlage Die Berührung der Hände

gibt das Gefühl für die Haut, die Form, die Körpergrenze.

Kontakt der Hände zu den inneren Strukturen.

Becken fixieren – Schulter bewegen

Beziehung Brustkorb – Becken

Schulter fixieren – Becken bewegen

Bewegungsgestaltung

Dieser dritte Aspekt der Eutonie entstand auf der Basis der Rhythmik, Gerda Alexanders ursprünglichem Beruf: Bewegungsgestaltung als kreativ-künstlerischer Aspekt. Ausgehend von den Anleitungen zum individuellen Üben auf der Matte entwickeln sich freie Bewegungen: in den Raum, zu den Anderen, mit den Anderen. Zuerst wird improvisiert, um den eigenen Rhythmus und Bewegungsausdruck zu finden. Aus den intuitiven Improvisationen werden dann Bewegungsformen gestaltet, allein, zu zweit, in der Gruppe. Sie haben, wie eine musikalische Komposition, eine Form, die wiederholbar ist, aber immer wieder neu erfühlt und neu interpretiert wird. Die Themen ergeben sich aus den Eutonie-Prinzipien, die sich ausdrücken in einem Raum und in einer Zeit. Diese Schritte sind mit Emotionen verbunden, bis zur befreiten Bewegung ist oft ein schmerzlicher Weg zu durchgehen.

Raum nehmen und Raum geben:

Meinen eigenen Weg finden, Anderen ihren Weg lassen, auch bei unterschiedlichem Tempo. Widerstand annehmen

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Lebendige Anatomie

und Widerstand geben:

Für ausgewogenen Druck und Gegendruck und eine gegenseitige Stabilisierung ist Kontakt nötig. Kontakt führt zur Tonusadaption.

Raum – Widerstand – Bewegungsfreude Nicht mit dem Kopf durch die Wand, sondern mit den Füßen gegen die Wand.

So stellen wir das Lernen vom Kopf auf die Füße - und nutzen dazu den Brockhaus

Die Spannungsbögen im Skelett entsprechen der Statik in der Architektur.

Das Sprungbein im Fuß liegt ohne muskuläre Verbindung mit anderen Knochen frei im Gewölbe wie der Schlussstein im romanischen Gewölbe.

Das Erspüren der Strukturen und der Funktionen wird ergänzt durch Theorie.

Bis zum totalen Durchblick!

Modellagen – das sogenannte Körperbildtest von Gerda Alexander.

Das Modellieren wird vielseitig eingesetzt: Knochen mit Gelenken werden geformt, einzelne Körperteile, eine menschliche Gestalt. Auch hier sollte mit geschlossenen Augen gearbeitet werden, damit sich ohne die kritische Augenkontrolle der eigene individuell gefühlte Körper ausdrücken kann.

Der weitere Umgang mit den Modellagen entspricht der Gruppe: Kommentarloses Anschauen Der Modellagen, eigene Erfahrungen/Gefühle Beim Modellieren und Betrachten werden mitgeteilt. Modellagen werden umgestellt Zu neuen Begegnungen. Nur die eigene Figur darf

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berührt werden.

Gerda Alexander wurde 1990 von uns zum ersten Abschlussexamen der deutschen G.-A.-Schule eingeladen. Sie war 82 Jahre alt und hellwach. Auf die Bitte hin, unsere Arbeit zu beurteilen, antwortete sie: „Es gibt sehr viel neue Entwicklung, aber um sie zu beurteilen, bin ich jetzt zu alt.“

So gab sie uns frei und damit auch die Entwicklung der Eutonie.

Entwicklung und Wandel gehören zu den Methoden Feldenkrais und Eutonie. Sie fördern unser Bewusstsein und damit die Qualität unseres Mensch-Seins. Diese Lebensqualität möchten wir durch unsere Methoden weitergeben. Gleichzeitig wirkt das wachsende Bewusstsein zurück auf die Methoden und verändert deren Qualität. Das ist ein natürlicher Prozess. Vertreter der Methoden Feldenkrais, Eutonie und Alexander-Technik trafen sich 1994 in Freiburg und 2004 in Basel zu Wochenenden. Wir unterrichteten uns gegenseitig und tauschten uns aus, wir entdeckten die Anderen und uns selbst. Wir staunten über die Fülle. Am Ende der Begegnung in Basel stand das Thema „Spiritualität“ im Raum. Offenbar führte die gemeinsame Arbeit uns zu der Frage, ob und wo Meditation und Spiritualität in den Methoden ihren Platz haben und dieses Thema bewegte uns. Gerda Alexanders Unterricht wurde in ihrem Alter immer subtiler. Auf meine Frage, warum sie ihre Arbeit nicht Meditation nennt, entgegnete sie: „Ach, da oben arbeiten schon so viele. Wir brauchen den Boden.“ Eutonie und Meditation sind zwei Wege, die den Menschen zu sich selbst führen. Auf beiden Wegen erfährt er die körperlich-seelische und geistige Einheit seiner Persönlichkeit. Die Meditation führt den Menschen über diese leibliche Existenz hinaus und antwortet damit auf die im Menschen angelegte Sehnsucht nach Spiritualität. Ihre geistlichen Inhalte und die Art der Vermittlung und liegen in den religiösen und in den kulturellen Wurzeln der verschiedenen Meditationswege. Die Anleitungen der Eutonie sind frei von religiösen Inhalten. Die Grundlage für den Übungsweg der Eutonie nannte Gerda Alexander Präsenz, Feldenkrais nannte es Bewusstheit/Awareness, in der Meditation wird von der kontemplativen Achtsamkeit gesprochen – Begriffe für das Phänomen des Innewerdens der eigenen, subjektiven Realität. Jeder Suchende ist ein Wanderer, der sich dort auf den Weg macht, wo er gerade steht. Die Wege kommen aus sehr unterschiedlichen Richtungen. Je mehr sich die Wege ihrem Ziel nähern, umso näher kommen sich die Wanderer und umso ähnlicher werden ihre Erfahrungen. Überlieferte Worte wichtiger Wegbegleiter machen diese Nähe deutlich. Meister Eckhard sprach von der Gelâzenheit und der Abegescheidenheit und meinte damit das

Loslassen der Ichbezogenheit. Er sagte: Sich lassen und Gott selbst lassen, um ihn zu finden. Nicht das Bild von Gott ist Gott, sondern wir begegnen ihm in der Erfahrung. Im Buddhismus finden wir den radikalen Hinweis: „Triffst Du den Buddha unterwegs, töte ihn.“ Meister aus dem Zen beantworteten die Frage: „Meister, wie erreiche ich die Erleuchtung?“ mit der Aufforderung: „Geh’ und wasche deine Reisschüssel aus.“ oder „Tu, was du tust.“ All diese Hinweise fordern auf zur Wahrnehmung des Gegenwärtigen, zur Achtsamkeit. Gerda Alexander sagte: „Fühle den Boden unter deinen Füßen.“ „Bleib‘ stehen – einfach stehen.“ Gerda Alexander misstraute postulierten Wahrheiten und Dogmen. Sie vertraute der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins und seinen Möglichkeiten zur Evolution und ging davon aus, dass alle Qualitäten im Menschen schon angelegt sind und nur geweckt werden müssen, damit das noch Unbewusste bewusst werden kann: „Die tiefgehenden Veränderungen, die durch die Durchdringung des Körpers mit Bewusstseinskräften in der ganzen Persönlichkeit vor sich gehen, lassen erahnen, welche Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen in Zukunft noch ihrer Erschließung harren.“4

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Die Mittel der Eutonie sind einfach. Einfach zu sein ist in unserer Welt mit ihren spektakulären Verführungen sehr schwer. Aber Gerda Alexander sagte überzeugt: „Es kommt eine neue Ära. Man könnte sie vielleicht als die Zeit des Untergangs der isolierten Vernunft bezeichnen. Denn es gibt inzwischen immer mehr Menschen, die Zusammenhänge deutlicher erleben, miterleben oder auch mitgestalten. Zu dieser Bewusstseinserweiterung möchte ich beitragen. Und sei es auch nur mit einem Tropfen.“2

Wahrnehmung und Achtsamkeit führt in eine innere Stille, in der das Fragen und Suchen aufhört. Fragloses, offenes Lauschen öffnet den Menschen für seinen individuellen spirituellen Weg. Karin Schaefer Straßburg. Mai 2010