BGH-Rechtsprechung Strafrecht 2012/13

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A. StGB – Allgemeiner Teil I. Grundsätzliches 1. Überblick Auch in der neuesten Rechtsprechung des BGH zum Allgemeinen Teil des StGB machten Urteile und Beschlüsse zu Fragen der anfänglichen, vorbehaltenen oder nachträglichen Sicherungsverwahrung zusammen mit anderen Rechtsfragen zu sons- tigen Maßregeln der Besserung und Sicherung nahezu die Hälfte aller Entscheidun- gen aus, welche Themen des Allgemeinen Teils des StGB betreffen. Mit veranlasst war diese Entwicklung durch weitere Entscheidungen des EGMR zum Institut der nachträglichen Sicherungsverwahrung sowie das maßgebliche Urteil des Bundesver- fassungsgerichts vom 4.5.2011. 3 Ob die Zahl dieser Verfahren demnächst abnimmt, hängt wesentlich davon ab, ob das Reformgesetz vom 6.12.2012 (BGBl. I S. 2425) durch den Bundesgesetzgeber sowie die anstehenden landesgesetzlichen Regelungen zur Umsetzung der Reform auf entsprechende Akzeptanz durch das BVerfG und die Betroffenen selbst stoßen. Zahlreich waren erneut Entscheidungen, welche sich mit Fragen der Strafzumes- sung befassen, 4 wobei zu bemerken ist, dass hierauf sich beziehende Revisionen weitaus erfolgversprechender sein können, als dies allgemein behauptet oder erwar- tet wird. Insoweit geht es allerdings nur teilweise um gedankliche Fehler der Sub- sumption, oftmals dagegen um reine Flüchtigkeitsfehler in den Formulierungen der Tatrichter. Zahlreiche Entscheidungen sind – wie auch bereits in den Berichtsjahren 2010 und 2011 – zur Frage ergangen, ob im jeweiligen Einzelfall noch ein unbeendeter oder bereits ein beendeter Versuch vorlag. 5 Diese Problematik ist nicht nur theore- tischer Natur, sondern hat dann erhebliche praktische Auswirkungen, wenn es um die Frage geht, ob ein Täter bspw. durch bloßes Verlassen des Tatorts wirksam zurückgetreten ist oder nicht. Insbesondere bei versuchten Tötungshandlungen kann dies entweder eine mehrjährige Freiheitsstrafe bedeuten oder aber nur eine regelmäßig erheblich geringere Strafe wegen eines nach dem Rücktritt dann verblei- benden Körperverletzungsdelikts. Eine größere Zahl von Entscheidungen betraf Einzelfragen zu Verfalls- und Ein- ziehungsanordnungen. 6 Auch wenn als Hauptbelastung eines Urteils regelmäßig immer die Höhe einer ausgesprochenen Freiheitsstrafe gesehen wird, sollte zumin- dest der Verteidiger nicht übersehen, dass die sich aus einer Verfallsanordnung erge- 1 2 3 4 3 BVerfG, Urteil v. 4.5.2011 – 2 BvR 2365/09, 740/10, 2333/08, 1152/10, 571/10, NJW 2011, 1931. 4 Vgl. auch Rn. 45 ff. m.w.N. 5 Vgl. hierzu Rn. 19 ff. 6 Vgl. hierzu Rn. 128 ff.

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Das Werk bietet einen einzigartigen Überblick über die prägenden Entscheidungen des BGH und des Bundesverfassungsgerichts in Strafsachen aus dem Jahr 2012. Der Band bringt die Leitentscheidungen anhand ausgewählter Passagen und mit komprimierten Erläuterungen auf den Punkt. Die zahlreichen Praxishinweise und Tipps erleichtern die unmittelbare Nutzanwendung im Alltag des Strafrechtspraktikers.

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A. StGB – Allgemeiner Teil

I. Grundsätzliches

1. Überblick

Auch in der neuesten Rechtsprechung des BGH zum Allgemeinen Teil des StGBmachten Urteile und Beschlüsse zu Fragen der anfänglichen, vorbehaltenen odernachträglichen Sicherungsverwahrung zusammen mit anderen Rechtsfragen zu sons-tigen Maßregeln der Besserung und Sicherung nahezu die Hälfte aller Entscheidun-gen aus, welche Themen des Allgemeinen Teils des StGB betreffen. Mit veranlasstwar diese Entwicklung durch weitere Entscheidungen des EGMR zum Institut dernachträglichen Sicherungsverwahrung sowie das maßgebliche Urteil des Bundesver-fassungsgerichts vom 4.5.2011.3 Ob die Zahl dieser Verfahren demnächst abnimmt,hängt wesentlich davon ab, ob das Reformgesetz vom 6.12.2012 (BGBl. I S. 2425)durch den Bundesgesetzgeber sowie die anstehenden landesgesetzlichen Regelungenzur Umsetzung der Reform auf entsprechende Akzeptanz durch das BVerfG und dieBetroffenen selbst stoßen.

Zahlreich waren erneut Entscheidungen, welche sich mit Fragen der Strafzumes-sung befassen,4 wobei zu bemerken ist, dass hierauf sich beziehende Revisionenweitaus erfolgversprechender sein können, als dies allgemein behauptet oder erwar-tet wird. Insoweit geht es allerdings nur teilweise um gedankliche Fehler der Sub-sumption, oftmals dagegen um reine Flüchtigkeitsfehler in den Formulierungen derTatrichter.

Zahlreiche Entscheidungen sind – wie auch bereits in den Berichtsjahren 2010und 2011 – zur Frage ergangen, ob im jeweiligen Einzelfall noch ein unbeendeteroder bereits ein beendeter Versuch vorlag.5 Diese Problematik ist nicht nur theore-tischer Natur, sondern hat dann erhebliche praktische Auswirkungen, wenn es umdie Frage geht, ob ein Täter bspw. durch bloßes Verlassen des Tatorts wirksamzurückgetreten ist oder nicht. Insbesondere bei versuchten Tötungshandlungenkann dies entweder eine mehrjährige Freiheitsstrafe bedeuten oder aber nur eineregelmäßig erheblich geringere Strafe wegen eines nach dem Rücktritt dann verblei-benden Körperverletzungsdelikts.

Eine größere Zahl von Entscheidungen betraf Einzelfragen zu Verfalls- und Ein-ziehungsanordnungen.6 Auch wenn als Hauptbelastung eines Urteils regelmäßigimmer die Höhe einer ausgesprochenen Freiheitsstrafe gesehen wird, sollte zumin-dest der Verteidiger nicht übersehen, dass die sich aus einer Verfallsanordnung erge-

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3 BVerfG, Urteil v. 4.5.2011 – 2 BvR 2365/09, 740/10, 2333/08, 1152/10, 571/10, NJW 2011,1931.

4 Vgl. auch Rn. 45 ff. m.w.N.5 Vgl. hierzu Rn. 19 ff.6 Vgl. hierzu Rn. 128 ff.

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benden finanziellen Konsequenzen für einen Täter möglicherweise zeitlich erheblichlänger andauern und damit belastender für sein weiteres Leben sein können als diemit einer Verbüßung erledigte Freiheitsstrafe!

Daneben überwiegen die Entscheidungen zu den „klassischen“ Rechtsfehlernoder Flüchtigkeitsfehlern, die Tatgerichten unterlaufen sind, also etwa • zum Vorliegen von Notwehrlagen,7

• zu den Voraussetzungen einer Tatbeteiligung als Gehilfe bzw. Zurechnungsfra-gen hinsichtlich persönlichen Merkmalen oder überhaupt zur Abgrenzung vonMittäterschaft und Beihilfe,

• zu Fragen der Strafzumessung, insbesondere dem Verbot der Doppelverwertungvon Strafzumessungstatsachen und des Täter-Opfer-Ausgleichs,8

• zur Abgrenzung von Tateinheit und Tatmehrheit, gerade auch unter Berücksich-tigung der „neuen Fortsetzungstat“ im Sinne einer Bewertungseinheit9 und hin-sichtlich der speziellen Problematik bei mehreren Tätern mit unterschiedlicherBeteiligung und

• zur anfänglichen sowie nachträglichen Gesamtstrafenbildung.

2. Ausblick

Die Durchsicht der Entscheidungen des Berichtsjahres zeigt, dass es – wie auchschon in den vergangenen Jahren – derzeit keine grundlegenden Probleme in derRechtsprechung im Hinblick auf Fragen des Allgemeinen Teils des StGB gibt. Viel-mehr ging es vornehmlich darum, Einzelfragen weiter zu klären, welche vielfachaber auch von dem jeweiligen konkreten Sachverhalt abhingen.

Wichtige Entscheidungen grundsätzlicher Natur sind in der nächsten Zeit ausjetziger Sicht nicht zu erwarten.

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7 Vgl. hierzu Rn. 39 ff.8 Vgl. hierzu Rn. 61 ff.9 Vgl. hierzu Rn. 65 ff.

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II. Neuere höchstrichterliche Rechtsprechung zu Einzelfragen des StGB Allgemeiner Teil

1. Zuständigkeit – § 9 StGB

Fragen der Zuständigkeit werden meist vorab geklärt, so dass sie selten Gegenstandoberstgerichtlicher Rechtsprechung im Revisionsverfahren sind. Im Berichtsjahr gabes deshalb auch nur eine nennenswerte Entscheidung, welche sich (auch) mit Zu-ständigkeitsfragen befasste. Dabei entschied der 4. Strafsenat, dass bei Ankaufsver-einbarungen und dem anschließenden Transport eines fremden Fahrzeugs nach Bel-gien, das dort an den Hehler übergeben wurde, gemäß § 9 Abs. 1 StGB ein Tatortauch in Deutschland hinsichtlich des Hehlereitatbestands gegeben sein kann.10

[24] d) Der Senat weist darauf hin, dass ein Tatort der Hehlerei auch dann inDeutschland liegen könnte, wenn hier vorgenommene Handlungen des Angeklagtendas Versuchsstadium erreichten. Hierfür könnte eine verbindliche Vereinbarung überden Ankauf und die Abnahme der vom Vortäter bereits rechtswidrig erlangten(BGH, Urteil vom 7. März 1995 – 1 StR 523/94, StV 1996, 81, 82) Fahrzeuge rei-chen, wenn sie daraufhin absprachegemäß unmittelbar auf den Weg zu dem verein-barten Übergabeort gebracht wurden. Hierin kann ein unmittelbares Ansetzen zurTatbestandsverwirklichung und damit ein Versuch des Ankaufens als Unterfall desSichverschaffens liegen (vgl. BGH, Urteil vom 7. November 2007 – 5 StR 371/07Rn. 24, NStZ 2008, 409, 410). Die bloße Vereinbarung mit den Tätern einer vorausgegangenen Vermögensstraftat, die Beute abnehmen zu wollen, erfüllt denVersuchstatbestand jedoch noch nicht (vgl. BGH, Urteil vom 5. Dezember 1990 – 2 StR 287/90, BGHR StGB § 259 Abs. 1 Sichverschaffen 4).

2. Amtsträger – § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB

Niedergelassene Vertragsärzte handeln bei der Wahrnehmung der ihnen übertra-genen Aufgaben weder als Amtsträger im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. cStGB noch als Beauftragte der gesetzlichen Krankenkassen im Sinne des § 299StGB.11

[8] Der niedergelassene, für die vertragsärztliche Versorgung zugelassene Arzt han-delt bei der Verordnung von Arzneimitteln nicht als ein für die Wahrnehmung vonAufgaben der öffentlichen Verwaltung bestellter Amtsträger im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c StGB.[9] 1. Allerdings zählen die gesetzlichen Krankenkassen zu den in dieser Vorschriftgenannten Einrichtungen …

10 BGH, Beschluss vom 8.3.2012 – 4 StR 629/11.11 BGH (Großer Senat in Strafsachen), Beschluss vom 29.3.2012 – GSSt 2/11.

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[14] 2. Die Vertragsärzte sind jedoch nicht dazu bestellt, im Auftrag der gesetz-lichen Krankenkassen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen.[15] a) Zwar steht außer Frage, dass das System der gesetzlichen Krankenversiche-rung als Ganzes eine aus dem Sozialstaatsgrundsatz des Art. 20 Abs. 1 GG folgendeAufgabe erfüllt, durch deren Wahrnehmung in hohem Maße Interessen nicht alleinder einzelnen Versicherten, sondern der Allgemeinheit wahrgenommen werden …[16] b) Jedoch ist das in den §§ 72 ff. SGB V geregelte System der vertragsärzt-lichen Versorgung so ausgestaltet, dass der einzelne Vertragsarzt keine Aufgabeöffentlicher Verwaltung wahrnimmt.[17] Öffentliche Verwaltung im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c StGB istnicht allein die Gesamtheit der von Hoheitsträgern ausgeübten Eingriffs- und Leis-tungsverwaltung; vielmehr sind auch Mischformen sowie die Tätigkeit von Pri-vatrechtssubjekten erfasst, wenn diese wie ein „verlängerter Arm“ hoheitlicherGewalt tätig werden (BGH, Urteile vom 19. Dezember 1997 – 2 StR 521/ 97,BGHSt 43, 370, 377; vom 3. März 1999 – 2 StR 437/98, BGHSt 45, 16, 19; vom15. März 2001 – 5 StR 454/00, BGHSt 46, 310, 312; vom 16. Juli 2004 – 2 StR486/03, BGHSt 49, 214, 219; vom 2. Dezember 2005 – 5 StR 119/05, BGHSt 50,299, 303; vom 27. November 2009 – 2 StR 104/09, BGHSt 54, 202, 212; vgl.Fischer, StGB, 59. Aufl., § 11 Rn. 22a m.w.N.). Für die Zuordnung der Tätigkeitvon Privaten zum Bereich öffentlicher Verwaltung kommt es darauf an, dass derAusführende dem Bürger nicht auf der Ebene vertraglicher Gleichordnung mit dergrundsätzlichen Möglichkeit individueller Aushandlung des Verhältnisses entgegen-tritt, sondern quasi als ausführendes Organ hoheitlicher Gewalt. Es fehlt Recht-beziehungen im Rahmen öffentlicher Verwaltung daher typischerweise ein bestim-mendes Element individuell begründeten Vertrauens, der Gleichordnung und derGestaltungsfreiheit.[18] Letztlich beruht die Bestimmung des Begriffs der Wahrnehmung von Aufgabenöffentlicher Verwaltung im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c StGB auf einerwertenden Abgrenzung. Dies gilt insbesondere in Bereichen, die nicht zur unmittel-baren staatlichen Verwaltung zählen. Zu prüfen ist jeweils, ob der Tätigkeit derbetreffenden Person im Verhältnis zum Bürger der Charakter – wenn auch nur mit-telbar – eines hoheitlichen Eingriffs zukommt oder ob das persönliche Verhältniszwischen den Beteiligten so im Vordergrund steht, dass ein hoheitlicher Charakterder Erfüllung öffentlicher Aufgaben dahinter zurücktritt. Letzteres ist nach Ansichtdes Großen Senats im Verhältnis zwischen Vertragsarzt und Patient der Fall.[19] aa) Die Vertragsärzte üben Ihren Beruf in freiberuflicher Tätigkeit aus (§ 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG), auch wenn die Zulassung zur vertragsärztlichen Versor-gung zur Teilnahme an dieser Versorgung nicht nur berechtigt, sondern auch ver-pflichtet (§ 95 Abs. 3 Satz 1 SGB V). Der Vertragsarzt ist nicht Angestellter oderbloßer Funktionsträger einer öffentlichen Behörde; er wird im konkreten Fall nichtaufgrund einer in eine hierarchische Struktur integrierten Dienststellung tätig, sondernaufgrund der individuellen, freien Auswahl der versicherten Person. Er nimmt damiteine im Konzept der gesetzlichen Krankenversicherung vorgesehene, speziell ausgestal-tete Zwischenposition ein, die ihn von dem in einem öffentlichen Krankenhaus an-gestellten Arzt, aber auch von solchen Ärzten unterscheidet, die in einem staatlichenSystem ambulanter Heilfürsorge nach dem Modell eines Poliklinik-Systems tätig sind.[20] bb) Das Verhältnis des Versicherten zum Vertragsarzt wird wesentlich be-stimmt von Elementen persönlichen Vertrauens und einer der Bestimmung durch dieKrankenkassen entzogenen Gestaltungsfreiheit: …

A. StGB – Allgemeiner Teil4

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[21] cc) Auch die Regelungen über die Ausstellung einer vertragsärztlichen Verord-nung von Arznei-, Heil- oder Hilfsmitteln rechtfertigen nicht die Annahme, der Ver-tragsarzt handle insoweit in Ausführung öffentlicher Verwaltung. Die Verordnungkonkretisiert zwar die gesetzlichen Leistungsansprüche der Versicherten auf Sachleis-tungen (§ 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V); sie ist aber untrennbarer Bestandteil der ärzt-lichen Behandlung und vollzieht sich innerhalb des personal geprägten Vertrauens-verhältnisses zwischen der versicherten Person und dem von ihr gewählten Vertrags-arzt; sie ist vom Arzt an seiner aus § 1 BÄO folgenden Verpflichtung auszurichten,ohne dass die gesetzliche Krankenkasse hierauf einwirken könnte (vgl. BSG, Urteilvom 16. Dezember 1993 – 4 RK 5/92, BSGE 73, 271, 282).[22] c) Dass der Vertragsarzt keine Aufgabe öffentlicher Verwaltung wahrnimmt,entspricht im Übrigen auch der zivilrechtlichen Betrachtungsweise. Der Bundes-gerichtshof hat in Zivilsachen mehrfach hervorgehoben, dass – von wenigen Aus-nahmen abgesehen – die ärztliche Heilbehandlung ihrem Grundgedanken nach mitder Ausübung eines öffentlichen Amts unvereinbar sei. Zwischen dem Vertragsarztund dem Patienten kommt ein zivilrechtliches Behandlungsverhältnis zustande. ImFall der Schlechterfüllung des Behandlungsvertrags haftet der Arzt nicht nach Amts-haftungsgrundsätzen (BGH, Urteil vom 19.Dezember 1960 – III ZR 185/60, VersR1961, 225, 226; Urteil vom 9. Dezember 1974 – III ZR 131/72, BGHZ 63, 265,270; Urteil vom 28. Juni 1994 – VI ZR 153/93, BGHZ 126, 297, 301 f.; vgl. auchGeigel, Der Haftpflichtprozess, 26. Aufl., Kap. 14 Rn. 211; Kap. 28 Rn. 130). Dassdieses bürgerlich-rechtliche Rechtsverhältnis von den Vorschriften des Sozialversiche-rungsrechts überlagert wird, ändert daran nichts.[23] d) Da es der vertragsärztlichen Tätigkeit in ihrer konkreten Gestalt und Aus-prägung somit – unbeschadet des Umstands, dass das Vertragsarztsystem insgesamteine öffentliche Aufgabe erfüllt – schon am Charakter der Wahrnehmung einer Auf-gabe öffentlicher Verwaltung mangelt, kommt es auf die Frage einer formellen oderkonkludenten „Bestellung“ im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c StGB nichtentscheidend an. Insoweit ist nur ergänzend auszuführen:[24] Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt eine Bestellung imSinne der genannten Vorschrift keinen förmlichen Bestellungsakt voraus (BGH,Urteile vom 15. Mai 1997 – 1 StR 233/96, BGHSt 43, 96, 102 f.; vom 9. Juli 2009 –5 StR 263/08, BGHSt 54, 39, 43). Die Zulassung eines Arztes zur vertragsärztlichenVersorgung (§ 95 SGB V) ist aber schon deshalb keine Bestellung im Sinne von § 11Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c StGB, weil es insoweit an einer der Krankenkasse unmittel-bar zurechenbaren Entscheidung fehlt (vgl. § 96 Abs. 1, 2 SGB V). Im Übrigenkann nicht jede Zulassung oder Hinzuziehung zur Erfüllung öffentlicher Aufgabenals Bestellung angesehen werden (vgl. BGH, Urteil vom 21. August 1996 – 2 StR234/96, BGHSt 42, 230, 232); vielmehr kann der Begriff nur mit Blick auf den Cha-rakter der Aufgabe bestimmt werden, zu deren Erfüllung die Privatperson herange-zogen wird.[25] IV. Der gemäß § 95 SGB V zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassene Arzthandelt bei der Verordnung von Medikamenten auch nicht als Beauftragter einesgeschäftlichen Betriebes (§ 299 Abs. 1 StGB) …

II. 2. Amtsträger – § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB 5

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3. Begehung durch Unterlassen – § 13 StGB

Jeder, der Gefahrenquellen schafft, hat nach allgemeinen Grundsätzen die erforder-lichen Vorkehrungen zum Schutz anderer Personen zu treffen. Strafbar ist dieNichtabwendung einer Gefahr aus der vom Garanten eröffneten Gefahrenquelledann, wenn eine nahe liegende Möglichkeit begründet wurde, dass Rechtsgüteranderer Personen verletzt werden könnten. Wer eine Flasche mit einem gefährlichenMittel auf dem Wohnzimmertisch einer Geschädigten abstellt, schafft eine erheb-liche Gefahrenquelle, wenn er weiß, dass diese Person davon trinken könnte. EineHandlungspflicht wurde jedenfalls in dem Augenblick begründet, indem der Garantbemerkt, dass die Geschädigte tatsächlich davon trinkt.12

[7] Nach allgemeinen Grundsätzen hat jeder, der Gefahrenquellen schafft, die erfor-derlichen Vorkehrungen zum Schutz anderer Personen zu treffen (vgl. BGHSt 53,38, 42). Da eine absolute Sicherung gegen Gefahren nicht erreichbar ist, beschränktsich die Verkehrssicherungspflicht auf das Ergreifen solcher Maßnahmen, die nachden Gesamtumständen zumutbar sind und die ein umsichtiger Mensch für notwen-dig hält, um Andere vor Schäden zu bewahren. Strafbar ist die Nichtabwendungeiner Gefahr aus der vom Garanten eröffneten Gefahrenquelle dann, wenn einenahe liegende Möglichkeit begründet wurde, dass Rechtsgüter anderer Personen ver-letzt werden können. Der Angeklagte hatte durch Abstellen der Flasche mit demgefährlichen Mittel auf dem Wohnzimmertisch im Zimmer der Geschädigten eineerhebliche Gefahrenquelle geschaffen. Er hatte der Geschädigten früher den Konsumangeboten, weshalb auch die Möglichkeit bestand, dass sie davon trinken würde.Eine Handlungspflicht für den Angeklagten wurde in dem Augenblick begründet, indem er wahrnahm, dass die Geschädigte tatsächlich davon trank. Da er nach denFeststellungen genau um die rasche Wirkung und die besondere Gefährlichkeit derEinnahme des Mittels durch Menschen wusste und erkannte, dass die Geschädigteeine erhebliche Menge des Mittels getrunken hatte, hätte er nachdem er bemerkthatte, dass sie die Flüssigkeit nicht sogleich erbrach, unverzüglich den Notarzt rufenmüssen. Diese Pflicht hat er schuldhaft nicht erfüllt. Das Unterlassen ist nach denrechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Landgerichts für den Tod der Geschä-digten im Sinne einer hypothetischen Rettung bei unverzüglichem Herbeirufen desNotarztes ursächlich geworden. [8] Eine eigenverantwortlich versuchte Selbsttötung der Geschädigten lag nicht vor.Fehlt es an einer ernst gemeinten und freiverantwortlichen Entscheidung des Opferssich zu töten, dann ist das Nichtverhindern des Todes durch einen Garanten als Tot-schlag durch Unterlassen zu beurteilen (vgl. Wessels/Hettinger, Strafrecht BesondererTeil, Bd. 1, 34. Aufl. 2010, Rn. 54). Das Landgericht hat rechtsfehlerfrei angenom-men, dem spontanen Trinken des Reinigungsmittels habe kein ernstlicher Selbsttö-tungsentschluss zu Grunde gelegen. Da die Geschädigte in Anwesenheit des Ange-klagten von dem Reinigungsmittel trank, ist davon auszugehen, dass sie dies tat, umauf sich aufmerksam zu machen. Es lag kein freiverantwortlicher Selbsttötungsent-schluss zugrunde. Dies wird daraus deutlich, dass sie der Aufforderung des Ange-klagten, sich zu erbrechen, Folge leistete.

A. StGB – Allgemeiner Teil

12 BGH, Urteil vom 31.12.2011 – 2 StR 295/11.

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4. Handeln für andere, Handeln als Organ – § 14 StGB

An eine Beauftragung im Sinne des § 14 Abs. 2 Nr. 2 StGB sind strenge Anforde-rungen zu stellen, da mit der Beauftragung eine persönliche Normadressatenstel-lung des Beauftragten begründet wird, die ihm die Erfüllung betriebsbezogenerPflichten überbürdet. Die bloße Einräumung von Leitungsbefugnissen reicht hierfürebenso wenig aus wie die Einbeziehung in eine unternehmerische Mitverantwor-tung. Entscheidend ist vielmehr, dass gesetzliche Arbeitgeberpflichten in die eigen-verantwortliche Entscheidungsgewalt des Beauftragten übergehen.13

[12] 2. Die Zurechnung der Arbeitgeberstellung nach § 266a Abs. 1 und 2 StGB zuLasten der Angeklagten M.K. hält dagegen revisionsrechtlicher Überprüfung nichtstand, weil die Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 Nr. 2 StGB nicht rechtsfehlerfreibegründet wurden.[13] a) Es bestehen hier schon durchgreifende Bedenken, ob das Landgericht in ge-nügender Form dargestellt hat, dass die Angeklagte ausdrücklich beauftragt wurde.Zwar ist ein solcher Auftrag auch formfrei möglich (vgl. Perron in Schönke/Schrö-der, StGB, 28. Aufl., § 14 Rn. 34). Er muss jedoch zweifelsfrei erfolgen und ausrei-chend konkret sein, damit für den Beauftragten das Ausmaß der von ihm zu erfül-lenden Pflichten eindeutig erkennbar ist. Hierzu enthält das landgerichtliche Urteilindessen keine Ausführungen. Es beschränkt sich auf die Feststellung, dass eineBeauftragung erfolgt ist. Zu deren näherem Inhalt sowie zu den Umständen dieserBeauftragung verhält es sich nicht. Das Revisionsgericht vermag deswegen nicht zuprüfen, ob die inhaltlichen Voraussetzungen einer Beauftragung zutreffend ange-nommen wurden. [14] b) Der Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe lässt im Übrigen die Annahmeeiner Beauftragung im Sinne des § 14 Abs. 2 Nr. 2 StGB fernliegend erscheinen. Anihr Vorliegen sind – wie schon die ansonsten nicht zu rechtfertigende Gleichstellungmit Organen und Betriebsleitern (§ 14 Abs. 2 Nr. 1 StGB) verdeutlicht – strengeAnforderungen zu stellen (vgl. auch Marxen/Böse in Nomos-Kommentar, StGB,3.Aufl., § 14 Rn. 7 ff.). Mit der Beauftragung wird eine persönliche Normadressaten-stellung des Beauftragten begründet, die ihm (strafbewehrt) die Erfüllung betriebs-bezogener Pflichten überbürdet. Die bloße Einräumung von Leitungsbefugnissenreicht hierfür ebenso wenig aus wie die Einbeziehung in eine unternehmerische Mit-verantwortung (Perron aaO Rn. 35; Marxen/Böse aaO Rn. 60).[15] Entscheidend ist vielmehr, dass gesetzliche Arbeitgeberpflichten in die eigenver-antwortliche Entscheidungsgewalt des Beauftragten übergehen (Bosch in Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB, 2009, § 14 Rn. 16). Im Rahmen einer solchen Prüfungkann indiziell auch von Bedeutung sein, ob der Betrieb aufgrund seiner Größe über-haupt eine personelle Aufteilung der Verantwortlichkeitsbereiche erforderlich macht.In diesem Sinne kann auch der Gedanke der Sozialadäquanz der Beauftragungherangezogen werden (vgl. dazu Regierungsentwurf eines Einführungsgesetzes zumGesetz über Ordnungswidrigkeiten, BT-Drucks. V/1319 S. 65; Perron, aaO, Rn. 36;Fischer, StGB, 59. Aufl., § 14 Rn. 13; Göhler/Gürtler, 16. Aufl., OWiG, § 9 Rn. 32).

II. 4. Handeln für andere, Handeln als Organ – § 14 StGB

13 BGH, Beschluss vom 12.9.2012 – 5 StR 363/12.

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TOPENTSCHEIDUNG ■

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Die Regelung des § 14 Abs. 2 Nr. 2 StGB führt nämlich zu einer jedenfalls partiel-len Verlagerung strafbewehrter Pflichten vom primär zuständigen Organ auf nach-geordnete Mitarbeiter (vgl. Schünemann in LK, 12. Aufl., § 14 Rn. 68). Deshalbdarf auch nicht ohne weiteres von der Übertragung von Leitungsbefugnissen auf dieBegründung einer Normadressatenstellung geschlossen werden. Vielmehr ist zu prü-fen, ob – wie etwa im Hinblick auf die betriebliche Struktur oder die Vorerfahrun-gen der handelnden Personen – eine sachliche Notwendigkeit für eine derart weit-gehende Aufgabenübertragung bestanden haben könnte. Je weniger eine solche er-kennbar ist, umso ferner liegt es, eine Übertragung genuiner Arbeitgeberpflichtenanzunehmen. Die sinnvolle Aufgabenabschichtung zwischen Organ und Beauftrag-tem liegt dem Tatbestand des § 14 Abs. 2 Nr. 2 StGB als Grundidee zugrunde (vgl.BT-Drucks. 10/318 S. 15), weil es für den Beauftragten regelmäßig nur unter dieserVoraussetzung möglich sein wird, im Aufgabenbereich des eigentlichen Organsselbständig zu handeln (vgl. Schünemann, aaO, Rn. 62). Fehlt dem mit solchen Auf-gaben Betrauten die eigene Entscheidungsfreiheit, dann handelt er nicht wie einorganschaftlicher Vertreter, sondern allenfalls als dessen Gehilfe.[16] Im vorliegenden Fall mag zwar die Angeklagte M. K. für den Personalsektor,was Einstellungen, Arbeitsanweisungen und Vereinnahmung des „Tellergeldes“ an-geht, zuständig gewesen sein, weil ihr der Mitangeklagte insoweit eine Leitungs-befugnis eingeräumt hat. Dies lässt aber noch nicht den Schluss zu, dass sie da-mit sämtliche mit den Personalangelegenheiten zusammenhängenden betrieblichenPflichten übernommen hat. Hiergegen spricht entscheidend, dass dem AngeklagtenD. K. die „Büroarbeit“ vorbehalten blieb. Neben finanziellen Fragen kann die„Büroarbeit“ aber im Wesentlichen nur die dem Betrieb gegenüber Behörden ob-liegenden Aufgaben betroffen haben, wozu im hervorgehobenen Maße auch die Er-füllung der Arbeitgeberpflichten gegenüber den Sozialversicherungsträgern zählt.Nach den Urteilsfeststellungen beschränkte sich die Rolle der Angeklagten M. K.vorrangig auf diejenige einer fachlichen Vorgesetzten gegenüber dem Reinigungsper-sonal. Dies genügt aber nicht den Anforderungen an eine Beauftragung nach § 14Abs. 2 Nr. 2 StGB. Dasselbe gilt für den Umstand, dass beide Angeklagte als Ehe-leute ersichtlich vertrauensvoll zusammengearbeitet haben. [17] 3. Aus den gleichen Gründen scheidet auch eine Qualifizierung der Angeklag-ten als „Teilbetriebsleiterin“ im Sinne des § 14 Abs. 2 Nr. 1 StGB aus. Da es fürdiese Zurechnungsvorschrift keiner ausdrücklichen Beauftragung bedarf, sondernsich die Übertragung auch konkludent aus der Betrauung mit der vollständigen oderteilweisen Leitung des Betriebs ergibt (BGH, Urteil vom 4. Juli 1989 – VI ZR 23/89,DB 1989, 2272), können die inhaltlichen Voraussetzungen im Vergleich zur aus-drücklichen Beauftragung im Sinne der Nr. 2 jedenfalls nicht schwächer sein (vgl.auch Radtke in MK, StGB, 2. Aufl., § 14 Rn. 96).

A. StGB – Allgemeiner Teil8

■ PRAXISBEDEUTUNG

Während bis vor einigen Jahren die Ermittlungen wegen Straftaten bei Firmenmeist schnell beendet waren, wenn ein möglicherweise für OrganisationsdelikteVerantwortlicher, wenn auch auf unterer Stufe, gefunden war, wird heute sicher-lich zutreffend auch im höheren Verantwortungsbereich ermittelt, weil letztlichdie meisten Mitarbeiter auf Anweisung tätig werden und gerade bei Firmen mitMaschinenparks erforderliche Wartungsarbeiten nicht selten auf „höhere“ An-

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5. Vorsätzliches und fahrlässiges Handeln – § 15 StGB

Die Abgrenzung des bedingten Tötungsvorsatzes vom Körperverletzungsvorsatzerfordert bei schwerwiegenden Gewalttaten eine sorgfältige Prüfung unter Berück-sichtigung aller Umstände des Einzelfalls. Da die Schuldformen des bedingten Vor-satzes und der bewussten Fahrlässigkeit im Grenzbereich eng einander liegen, müs-sen bei der Annahme bedingten Vorsatzes beide Elemente der inneren Tatseite, alsosowohl das Wissens- als auch das Willenselement, umfassend geprüft und gegebe-nenfalls durch tatsächliche Feststellungen des Tatrichters belegt werden. Dabei stelltdie offensichtliche Gefährlichkeit einer Handlung für den Nachweis einen Umstandvon erheblichem Gewicht dar, so dass bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungender subjektive Tatbestand eines Tötungsdelikts sehr nahe liegt.14

[7] Die Abgrenzung des bedingten Tötungsvorsatzes vom Körperverletzungsvorsatzerfordert bei schwerwiegenden Gewalttaten eine sorgfältige Prüfung unter Berück-sichtigung aller Umstände des Einzelfalls. Bedingt vorsätzliches Handeln setztvoraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich undnicht ganz fern liegend erkennt, ferner, dass er ihn billigt oder sich um des erstreb-ten Zieles willen mit ihm abfindet. Da die Schuldformen des bedingten Vorsatzesund der bewussten Fahrlässigkeit im Grenzbereich eng beieinander liegen, müssenbei der Annahme bedingten Vorsatzes beide Elemente der inneren Tatseite, also so-wohl das Wissens- als auch das Willenselement, umfassend geprüft und gegebenen-falls durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Dabei stellt die offensichtlicheLebensgefährlichkeit einer Handlung für den Nachweis einen Umstand von erheb-lichem Gewicht dar, sodass bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen der subjek-tive Tatbestand eines Tötungsdelikts sehr nahe liegt. Gleichwohl bedarf angesichtsder hohen Hemmschwelle gegenüber einer Tötung die Frage der Billigung des Todeseiner Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände, in die vor allemauch die psychische Verfassung des Täters bei der Tatbegehung sowie seine Motivemit einzubeziehen sind. Insbesondere bei spontanen, unüberlegt oder in affektiverErregung ausgeführten Handlungen kann aus der Kenntnis der Gefahr des mög-lichen Todeseintritts nicht ohne Berücksichtigung der sich aus der Tat und der Per-sönlichkeit des Täters ergebenden Besonderheiten geschlossen werden, dass das –selbständig neben dem Wissenselement stehende – voluntative Vorsatzelement ge-geben ist.

II. 5. Vorsätzliches und fahrlässiges Handeln – § 15 StGB

14 BGH, Urteil vom 16.8.2012 – 3 StR 237/12; vgl. hierzu auch die weiteren EntscheidungenRn. 174 ff.

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weisung hinausgezögert werden. An Hand der o.a. Abgrenzungskriterien wird eseinfacher sein, die Verantwortlichkeiten festzustellen und – bei Nichtvorliegen –ggfs. sich effektiv zu verteidigen.

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6. Schuldunfähigkeit, verminderte Schuldfähigkeit – §§ 20, 21 StGB

Bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit kommt der Blutalkoholkonzentration umsogeringere Bedeutung zu, je mehr sonstige aussagekräftige psychodiagnostischeBeweisanzeichen zur Verfügung stehen. Es gibt keinen Rechts- oder Erfahrungssatz,der es gebietet, ohne Rücksicht auf die im konkreten Fall feststellbaren psychodia-gnostischen Kriterien, ab einer bestimmten Höhe der Blutalkoholinstallation regel-mäßig von zumindest „bei Begehung der Tat“ erheblich verminderter Schuldfähig-keit auszugehen. Für die Beurteilung der Schuldfähigkeit maßgeblich ist eine Ge-samtschau aller wesentlichen objektiven und subjektiven Umstände, die sich auf dasErscheinungsbild des Täters vor, während und nach der Tat beziehen.15

[21] Es ist prinzipiell unmöglich, „einer bestimmten Blutalkoholkonzentration fürjeden Einzelfall gültige psychopathologische, neurologisch-körperliche Symptomeoder Verhaltensauffälligkeiten zuzuordnen. Es existiert keine lineare Abhängigkeitder Symptomatik von der Blutalkoholkonzentration. Aus diesen Gründen ist esprinzipiell unmöglich, allein aus der Blutalkoholkonzentration das Ausmaß eineralkoholisierungsbedingten Beeinträchtigung ableiten zu wollen“ (Foerster in Venz-laff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 5. Aufl. 2009, S. 246; ebenso Nedopil,Forensische Psychiatrie, 3. Aufl. 2007, S. 124 ff.; vgl. auch Schöch in Kröber/Döl-ling/Leygraf/Sass, Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Band 1 S. 111 f.). Eswäre daher auch verfehlt, einem psychodiagnostischen Beweisanzeichen – etwa demLeistungsverhalten vor, bei oder nach Tatbegehung – von vornherein mit Blick aufeine bestimmte Blutalkoholkonzentration oder mit Blick auf eine zum Erreichenhöherer Blutalkoholwerte notwendigerweise bestehende Alkoholgewöhnung eineAussagekraft zur Beurteilung der Schuldfähigkeit i.S.d. §§ 20, 21 StGB abzuspre-chen. Zur Problematik der Feststellung einer Blutalkoholkonzentration anhand vonTrinkmengenangaben eines Angeklagten verweist der Senat überdies auf die zutref-fenden Ausführungen von Wendt und Kröber (in Kröber/Dölling/Leygraf/Sass,Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Band 2 S. 245). [22] (3) Für die Beurteilung der Schuldfähigkeit maßgeblich ist demnach eine Ge-samtschau aller wesentlichen objektiven und subjektiven Umstände, die sich auf dasErscheinungsbild des Täters vor, während und nach der Tat beziehen (grundlegendSenatsentscheidung vom 29. April 1997 – 1 StR 511/95, BGHSt 43, 66 ff.; auchBGH, Beschluss vom 5. April 2000 – 3 StR 114/00; BGH, Urteil vom 22. Januar1997 – 3 StR 516/96). Dabei kann die – regelmäßig deshalb zu bestimmende (vgl.BGH, Beschluss vom 28. März 2012 – 5 StR 49/12; BGH, Beschluss vom 8. Okto-ber 1997 – 2 StR 478/97) – Blutalkoholkonzentration ein je nach den Umständendes Einzelfalls sogar gewichtiges, aber keinesfalls allein maßgebliches Beweisanzei-chen (Indiz) sein (vgl. BGH, Urteil vom 22. Oktober 2004 – 1 StR 248/04; BGH,Urteil vom 6. Juni 2002 – 1 StR 14/02; BGH, Urteil vom 3. Dezember 2002 – 1 StR378/02; vgl. auch BGH, Urteil vom 11. September 2003 – 4 StR 139/03; BGH,Urteil vom 22. April 1998 – 3 StR 15/98).

A. StGB – Allgemeiner Teil

15 BGH, Beschluss vom 29.5.2012 – 1 StR 59/12.

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■ TOPENTSCHEIDUNG

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[23] Welcher Beweiswert der Blutalkoholkonzentration (die weniger zur Auswir-kung des Alkohols als lediglich zu dessen wirksam aufgenommener Menge aussagt)im Verhältnis zu anderen psychodiagnostischen Beweisanzeichen beizumessen ist,lässt sich nicht schematisch beantworten. Er ist umso geringer, je mehr sonstige aus-sagekräftige psychodiagnostische Kriterien (Überblick hierzu z.B.: Plate, Psyche,Unrecht und Schuld, 2002, S. 194 ff.; Detter, Strafzumessung, 2009, II. Teil Rn. 83)zur Verfügung stehen. So können die konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfallseine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit bei Tatbegehung auch bei einer Blut-alkoholkonzentration schon von unter 2 ‰ begründen (BGH, Beschluss vom 3. De-zember 1999 – 3 StR 481/99), umgekehrt eine solche selbst bei errechneten Maximal-werten von über 3 ‰ auch ausschließen (BGH, Urteil vom 6. Juni 2002 – 1 StR 14/02:3,54 ‰; vgl. auch Foerster in Venzlaff/Foerster, aaO).

Demgegenüber bezieht sich die nachstehende Entscheidung in ihrer Begründung aufdie ältere Rechtsprechung der Jahre bis etwa 1997 und dürfte kaum der inzwischenständigen aktuellen Rspr des BGH entsprechen, wie auch die vorstehende, zeitlichnachfolgende Entscheidung verdeutlicht: Bei einem Täter, der zur Tatzeit eine Blut-alkoholkonzentration zwischen 2,3 und 2,7 Promille aufweist, ist die Annahmeeiner erheblichen Herabsetzung seiner Handlungsfähigkeit regelmäßig in einemhohen Grad wahrscheinlich.16

[4] a) Das Landgericht hat eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Ange-klagten verneint, obgleich dieser die Taten in stark alkoholisiertem Zustand began-gen hatte (maximale Blutalkoholkonzentration 2,75 ‰, wahrscheinliche Blutalko-holkonzentration von 2,33 ‰, UA S. 30). Zur Begründung führt es im Anschluss anein mündlich erstattetes Gutachten der Sachverständigen aus, dass „der Grad derAlkoholisierung wenig aussagekräftig sei, da der Angeklagte zum Tatzeitpunkt alko-holgewöhnt gewesen sei. Der Angeklagte habe angegeben, dass er sich angetrunken,aber nicht schwer betrunken gefühlt habe. Sein Erinnerungsvermögen habe sichnicht wesentlich eingeschränkt gezeigt, er habe betont, gewusst zu haben, was ertat.“ Überdies spreche für eine genaue Planung der Tat, dass „der Angeklagte übereinen längeren Zeitraum geplant Personen zur Verteidigung um sich geschart habeund den Angreifern letztlich gezielt im Erdgeschoss zuvorgekommen sei.“ Schließ-

II. 6. Schuldunfähigkeit, verminderte Schuldfähigkeit – §§ 20, 21 StGB

16 BGH, Beschluss vom 10.1.2012 – 5 StR 517/11.

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PRAXISBEDEUTUNG ■

Die vorstehende Entscheidung besagt klar und deutlich, dass Tendenzen im Hin-blick auf „Retrogefühle“ für die frühere Rechtsprechungsmeinung, wonach beifesten Grenzen einer Alkoholisierung von den Voraussetzungen des § 20 oder § 21 StGB auszugehen seien, keinen Bestand haben. Vielmehr wird es auch inZukunft im Wesentlichen darauf ankommen, ob die Gesamtschau aller zu be-rücksichtigenden Umstände auf eine Einschränkung oder gar einen Wegfall derSchuldfähigkeit hindeuten oder nicht. Wenn die Verteidigung eine solche Beurtei-lung anstrebt, wird auch sie entsprechende Befundtatsachen darlegen oder aufentsprechende Beweiserhebungen antragen müssen.

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lich spreche sein „gezieltes Rückzugsverhalten“, in dem er sich freiwillig gestellt undauf Notwehr berufen hat, gegen „eine relevante Beeinträchtigung der Einsichts-oder Steuerungsfähigkeit“ (UA S. 30 f.).[5] b) Diese Begründung hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand. Beieinem Täter, der zur Tatzeit eine Blutalkoholkonzentration zwischen 2,3 und 2,7 ‰aufwies, ist die Annahme einer erheblichen Herabsetzung seiner Hemmungsfähig-keit regelmäßig in einem hohen Grad wahrscheinlich (vgl. BGH, Urteil vom 6. März1986 – 4 StR 48/86, BGHSt 34, 29, 31; Beschluss vom 31. Mai 1988 – 3 StR 203/88, BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 13; vgl. Fischer, StGB, 59. Aufl., § 20 Rn. 21 m.w.N.). Eine erheblich verminderte Hemmungsfähigkeit lässt sich beieiner solchen beträchtlichen Alkoholisierung nur ausschließen, wenn gewichtigeAnzeichen für den Erhalt einer Hemmungsfähigkeit sprechen (vgl. BGH, Urteil vom29. April 1997 – 1 StR 511/95, BGHSt 43, 66, 68 ff.; Beschluss vom 26. November1997 – 2 StR 553/97, NStZ-RR 1998, 107; hierzu ferner Fischer, aaO, Rn. 22 ff.).

Pathologisches Spielen stellt für sich genommen noch keine die Schuldfähigkeiterheblich einschränkende oder ausschließende krankhafte seelische Störung oderschwere andere seelische Abartigkeit dar. Maßgeblich ist insoweit vielmehr, ob derBetroffene durch seine Spielsucht gravierende Änderungen in seiner Persönlichkeiterfährt, die in ihrem Schweregrad einer krankhaften seelischen Störung gleichwertigsind. Nur wenn die Spielsucht zu schwersten Persönlichkeitsveränderungen führtoder der Täter bei Geldbeschaffungstaten unter starken Entzugserscheinungen gelit-ten hat, kann ausnahmsweise eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeitanzunehmen sein.17

Die Fähigkeit, sich entsprechend der vorhandenen Einsicht in das Unrecht desTuns zu verhalten (§ 20 StGB), ist auf die Tathandlung bezogen zu prüfen.18

[2] 1. Die Erwägungen, aus denen das Landgericht einen Zustand der Schuld-unfähigkeit des Angeklagten zum Zeitpunkt der Tötung seiner Lebensgefährtin aus-geschlossen hat, sind unzureichend. Auf UA. S. 6 hat es zunächst festgestellt, dieEinsichts-Fähigkeit des Angeklagten sei erheblich vermindert gewesen. Dies wird imweiteren Verlauf der Urteilsgründe dahin korrigiert, dass durch das vorhandenehirnorganische Psychosyndrom in Verbindung mit der Alkoholisierung zur Tatzeitdie Steuerungs-Fähigkeit des Angeklagten erheblich eingeschränkt gewesen sei, da erin einem Zustand der Bewusstseinseinengung durch einen schwerwiegenden Affekt„quasi haften geblieben“ sei. Zum Ausschluss einer vollständigen Aufhebung derSteuerungsfähigkeit ist nur ausgeführt: „Dies sei nach Erläuterung des Sachverstän-digen unschwer daran zu erkennen, dass das Handeln des Angeklagten – vom Holenund Laden der Waffe, dem Hinaufgehen in den ersten Stock bis hin zum Entladenund wieder Wegschließen der Waffe – nur aus gesteuertem Verhalten heraus zu er-klären ist“ (UA S. 21). Diese Ausführung legt nahe, dass das Landgericht sich ohneeigene Beurteilung einer Ansicht des Sachverständigen angeschlossen hat, die ihrer-seits auf einer unzutreffenden und eingeengten Vorstellung vom Inhalt des Begriffsder Steuerungsunfähigkeit beruht. [3] Die Fähigkeit, sich entsprechend der vorhandenen Einsicht in das Unrecht desTuns zu verhalten (§ 20 StGB), ist auf die Tathandlung bezogen zu prüfen. Äußeres

A. StGB – Allgemeiner Teil

17 BGH, Beschluss vom 9.10.2012 – 2 StR 297/12.18 BGH, Beschluss vom 24.7.2012 – 2 StR 82/12.

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Verhalten, insbesondere auch der Ablauf von Tatvorbereitung, Tatausführung undNachtatverhalten, kann zwar indiziell für die innere Fähigkeit des Täters sein, denTatimpuls mit anderen Gesichtspunkten abzuwägen und sich ihm zu widersetzen.Gerade in Fällen wie dem vorliegenden drängt sich eine solche Indizwirkung abernicht auf und wäre jedenfalls vom Tatrichter im Einzelnen darzulegen. Denn für das spezifische Zustandsbild eines hirnorganischen Psychosyndroms mit abnormerReaktion schon auf geringe Mengen von Alkohol, einem charakteristischen „Haftenam Affekt“ und anschließender Amnesie ist der Umstand, dass der Täter äußerlichruhig und zielstrebig vorgeht, allenfalls von geringem Indizwert für das tatsächlichgegebene Bild des inneren Hemmungsvermögens. Dass der Angeklagte „gesteuert“seinen Revolver geholt und geladen, das Tatopfer ohne erkennbare emotionale Re-gung zunächst angeschossen und dann mit einem – von ihm als „Fangschuss“bezeichneten – zweiten Schuss vor zwei Zeugen erschossen und die Waffe danachsorgfältig wieder verwahrt hat, hat in seinem äußeren Ablauf, gerade auch aufgrunddieser sehr ungewöhnlichen Umstände, keinen ohne weiter.

Nicht ausreichend für die Annahme einer tief greifenden Bewusstseinsstörung imSinn des § 20 StGB ist es, wenn das Gericht sich auf die bloße Mitteilung einernicht näher beschriebenen Zwangserkrankung des Angeklagten beschränkt, dieseunter das Merkmal der (schweren) anderen seelischen Abartigkeit einordnet undgleichwohl eine weitgehende Irrelevanz des Defekts für die Schuldfähigkeit an-nimmt. Vielmehr sind zusätzlich die Grundlagen, die an diese Schlussfolgerunganknüpfen, in einer für die revisionsgerichtliche Überprüfung ausreichenden Weisedarzulegen.19

[9] 4. Die Schuldfähigkeitsprüfung des Landgerichts hält rechtlicher Überprüfungnicht stand. [10] a) Rechtsfehlerhaft beschränkt sich das sachverständig beratene Landgerichtauf die bloße Mitteilung einer – überdies nicht näher bestimmten und in ihren Aus-wirkungen nicht im Einzelnen beschriebenen – Zwangserkrankung des Angeklagten,deren Einordnung unter das Merkmal der (schweren) anderen seelischen Abartigkeitund einer gleichwohl anzunehmenden weitgehenden Irrelevanz des Defekts für dieSchuldfähigkeit. Die Grundlagen, an die diese Schlussfolgerungen des Gutachtersund – dem folgend – die Schwurgerichtskammer anknüpfen, sind damit nicht ineiner für die revisionsgerichtliche Überprüfung ausreichenden Weise dargetan. Diesgilt umso mehr, als das Zusammenwirken mehrerer Beeinträchtigungen stets einebesonders sorgfältige Gesamtwürdigung ihrer Auswirkungen auf das seelische Ge-füge des Täters erfordert (vgl. BGH, Urteil vom 6. März 1986 – 4 StR 40/86,BGHSt 34, 22, 26; Beschluss vom 9. April 1991 – 4 StR 120/91, BGHR StGB § 20Ursachen, mehrere 2). Daran fehlt es im angefochtenen Urteil völlig.[11] Dass die Zwangsstörung des Angeklagten ohne maßgebenden Einfluss auf des-sen Steuerungsfähigkeit geblieben ist, versteht sich hier auch nicht etwa von selbst.Eine durch die Krankheit bedingte „Instabilität“ erachtet das Landgericht als denImpulsdurchbruch begünstigenden Umstand. Darüber hinaus konnte der Angeklagtenach den Feststellungen seit längerer Zeit kaum noch die Wohnung verlassen undkümmerte sich hauptsächlich um die gemeinsame Tochter. Vor diesem Hintergrundliegt nahe, dass die schon naturgegebene Angst um den Verlust der Tochter krank-

II. 6. Schuldunfähigkeit, verminderte Schuldfähigkeit – §§ 20, 21 StGB

19 BGH, Beschluss vom 25.1.2012 – 5 StR 482/11.

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heitsbedingt ein noch erheblich stärkeres Gewicht gewann. Dafür könnte auch spre-chen, dass es schon im Vorfeld der Tat in demselben Zusammenhang zu körper-lichen Auseinandersetzungen mit der Geschädigten gekommen war.[12] b) Ferner erscheinen einige der durch das Landgericht gegen eine völlige Auf-hebung der Schuldfähigkeit angeführten Indizien allenfalls von eingeschränktem Ge-wicht. Das gilt etwa für das Holen des Messers aus der Küchenschublade und –schon angesichts der Vielzahl und Wucht sowie der nicht durch Sicherungstenden-zen geprägten Fortführung der Tat im Treppenhaus – für das Stechen in empfind-liche Körperregionen. Entsprechend liegt es bei der Rückkehr zum Kind und demAusziehen des blutverschmierten T-Shirts. Soweit das Landgericht schließlich maß-gebend Äußerungen des Angeklagten („Ihr Schweine“, „sonst stirbt der mir dajetzt“) im Sinne einer Ablenkung von seiner Täterschaft bzw. von der Identität desOpfers interpretiert hat, vermag dies nicht ohne weiteres einzuleuchten. Angesichtsder Beweislage und des sonstigen Verhaltens des Angeklagten, das ersichtlich nichtauf eine Verdeckung seiner Tat ausgerichtet war, erscheinen die genannten Äußerun-gen auf der Basis der Urteilsgründe, die eine etwaige Einlassung des Angeklagten zudiesem Punkt nicht mitteilen, vielmehr ohne Sinn.

Ist die einem Angeklagten vorgeworfene Tat ihm aufgrund seines übermäßig ange-passten, duldend-labilen und aggressionsgehemmten Charakters persönlichkeits-fremd, stellt dies ein mögliches Indiz für eine affektbedingte tiefgreifende Bewusst-seinsstörung des Angeklagten dar, welche der Tatrichter in seine Überlegungeneinbeziehen muss.20

[10] a) Rechtsfehlerhaft beschränkt sich das sachverständig beratene Landgerichtauf die bloße Mitteilung einer – überdies nicht näher bestimmten und in ihren Aus-wirkungen nicht im Einzelnen beschriebenen – Zwangserkrankung des Angeklagten,deren Einordnung unter das Merkmal der (schweren) anderen seelischen Abartigkeitund einer gleichwohl anzunehmenden weitgehenden Irrelevanz des Defekts für dieSchuldfähigkeit. Die Grundlagen, an die diese Schlussfolgerungen des Gutachtersund – dem folgend – die Schwurgerichtskammer anknüpfen, sind damit nicht ineiner für die revisionsgerichtliche Überprüfung ausreichenden Weise dargetan. Diesgilt umso mehr, als das Zusammenwirken mehrerer Beeinträchtigungen stets einebesonders sorgfältige Gesamtwürdigung ihrer Auswirkungen auf das seelische Ge-füge des Täters erfordert (vgl. BGH, Urteil vom 6. März 1986 – 4 StR 40/86, BGHSt34, 22, 26; Beschluss vom 9.April 1991 – 4 StR 120/91, BGHR StGB § 20 Ursachen,mehrere 2). Daran fehlt es im angefochtenen Urteil völlig.[11] Dass die Zwangsstörung des Angeklagten ohne maßgebenden Einfluss auf des-sen Steuerungsfähigkeit geblieben ist, versteht sich hier auch nicht etwa von selbst.Eine durch die Krankheit bedingte „Instabilität“ erachtet das Landgericht als denImpulsdurchbruch begünstigenden Umstand. Darüber hinaus konnte der Angeklagtenach den Feststellungen seit längerer Zeit kaum noch die Wohnung verlassen undkümmerte sich hauptsächlich um die gemeinsame Tochter. Vor diesem Hintergrundliegt nahe, dass die schon naturgegebene Angst um den Verlust der Tochter krank-heitsbedingt ein noch erheblich stärkeres Gewicht gewann. Dafür könnte auch spre-chen, dass es schon im Vorfeld der Tat in demselben Zusammenhang zu körper-lichen Auseinandersetzungen mit der Geschädigten gekommen war.

A. StGB – Allgemeiner Teil

20 BGH, Beschluss vom 7.8.2012 – 2 StR 218/12.

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[12] b) Ferner erscheinen einige der durch das Landgericht gegen eine völlige Auf-hebung der Schuldfähigkeit angeführten Indizien allenfalls von eingeschränktem Ge-wicht. Das gilt etwa für das Holen des Messers aus der Küchenschublade und –schon angesichts der Vielzahl und Wucht sowie der nicht durch Sicherungstenden-zen geprägten Fortführung der Tat im Treppenhaus – für das Stechen in empfind-liche Körperregionen. Entsprechend liegt es bei der Rückkehr zum Kind und demAusziehen des blutverschmierten T-Shirts. Soweit das Landgericht schließlich maß-gebend Äußerungen des Angeklagten („Ihr Schweine“, „sonst stirbt der mir dajetzt“) im Sinne einer Ablenkung von seiner Täterschaft bzw. von der Identität desOpfers interpretiert hat, vermag dies nicht ohne weiteres einzuleuchten. Angesichtsder Beweislage und des sonstigen Verhaltens des Angeklagten, das ersichtlich nichtauf eine Verdeckung seiner Tat ausgerichtet war, erscheinen die genannten Äußerun-gen auf der Basis der Urteilsgründe, die eine etwaige Einlassung des Angeklagten zudiesem Punkt nicht mitteilen, vielmehr ohne Sinn.

7. Versuch und Vollendung – §§ 22 ff. StGB

a) Vorbereitungshandlung und Versuch

Eine nicht unerhebliche Fehlerquelle bei Entscheidungen ist die oftmals bereits imRahmen der Feststellungen schwierige und dann bei der darauf beruhenden recht-lichen Subsumption nicht einfachere Frage, ob einer bestimmten Tathandlung inAbgrenzung zur bloßen Vorbereitung bereits eine Versuchsstrafbarkeit zugrundeliegt, und ob gegebenenfalls der Tatrichter darüber hinaus von einem Rücktritt aus-zugehen hat.

Für den Versuchsbeginn im Sinne des § 22 StGB ist nicht erforderlich, dass derTäter bereits ein Tatbestandsmerkmal verwirklicht. Es genügt, dass er Handlungenvornimmt, die nach seinen Tatplan der Erfüllung eines Tatbestandsmerkmals vorge-lagert sind und in die Erfüllung unmittelbar einmünden, die mithin das geschützteRechtsgut in eine konkrete Gefahr bringen. Für die Frage, ob ein Versuch fehlge-schlagen ist, kommt es auf die Sicht des Täters nach Abschluss der letzten Aus-führungshandlung (Rücktrittshorizont) an.21

[13] b) Das Handeln des Angeklagten hat auch bereits die Schwelle zum Versuch(§§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB) überschritten.[14] Eine Straftat versucht, wer nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirk-lichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt (§ 22 StGB). Dafür ist nicht erforder-lich, dass der Täter bereits ein Tatbestandsmerkmal verwirklicht. Es genügt, dass erHandlungen vornimmt, die nach seinem Tatplan der Erfüllung eines Tatbestands-merkmals vorgelagert sind und in die Tatbestandshandlung unmittelbar einmünden,die mithin – aus der Sicht des Täters – das geschützte Rechtsgut in eine konkreteGefahr bringen. Dementsprechend erstreckt sich das Versuchsstadium auf Handlun-gen, die im ungestörten Fortgang unmittelbar zur Tatbestandserfüllung führen sol-len oder die im unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit ihr ste-hen. Dies ist der Fall, wenn der Täter subjektiv die Schwelle zum „jetzt geht es los“

II. 7. Versuch und Vollendung – §§ 22 ff. StGB

21 BGH, Urteil vom 25.10.2012 – 4 StR 346/12.

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überschreitet und objektiv zur tatbestandsmäßigen Angriffshandlung ansetzt, sodass sein Tun ohne Zwischenakte in die Tatbestandserfüllung übergeht (st. Rspr.,vgl. nur BGH, Urteil vom 26.August 1986 – 1 StR 351/86, BGHR StGB § 22 An-setzen 5; Beschluss vom 11. Juni 2003 – 2 StR 83/03, BGHR StGB § 22 Anset-zen 31; Beschluss vom 27. September 2011 – 4 StR 454/11, BGHR StGB § 176 Abs. 1Versuch 1; Fischer, StGB, 59. Aufl., § 22 Rn. 10 m.w.N.). Nach diesem Maßstab hatder Angeklagte, als er in Tötungsabsicht mit seinem Pkw rückwärts auf die Ne-benklägerin zufuhr, die Schwelle zum „jetzt geht es los“ überschritten und hierdurchunmittelbar zur Verwirklichung seines Tötungsvorhabens angesetzt. Denn zwischenihm und der Nebenklägerin befand sich kein Hindernis mehr, so dass er das Tatop-fer nach seiner Vorstellung aus der Parkbucht heraus ohne weitere Zwischenakte „ineinem Zug“ überfahren konnte.[15] c) Das Landgericht musste sich nicht zu der Prüfung gedrängt sehen, ob derAngeklagte vom Versuch des Totschlags gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 StGB zu-rückgetreten ist. Hinsichtlich des Geschehens auf dem Parkplatz der Diskothek liegtein fehlgeschlagener Versuch vor, bei dem ein strafbefreiender Rücktritt von vor-neherein ausscheidet (st. Rspr., vgl. nur Senatsbeschluss vom 22. März 2012 – 4 StR541/11, NStZ-RR 2012, 239, 240). Davon ist auch das Landgericht ersichtlich aus-gegangen (UA S. 3, 20, 45 f.).[16] Fehlgeschlagen ist ein Versuch, wenn die Tat nach Misslingen des zunächst vor-gestellten Tatablaufs mit den bereits eingesetzten oder anderen nahe liegenden Mit-teln objektiv nicht mehr vollendet werden kann und der Täter dies erkennt oderwenn er subjektiv die Vollendung nicht mehr für möglich hält. Dabei kommt es aufdie Sicht des Täters nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung an (Rück-trittshorizont). Wenn der Täter zu diesem Zeitpunkt erkennt oder die subjektiveVorstellung hat, dass es zur Herbeiführung des Erfolgs eines erneuten Ansetzensbedürfte, etwa mit der Folge einer zeitlichen Zäsur und einer Unterbrechung desunmittelbaren Handlungsfortgangs, liegt ein Fehlschlag vor (st. Rspr., vgl. nurBGH, Urteil vom 25. November 2004 – 4 StR 326/04, NStZ 2005, 263, 264; Urteilvom 8. Februar 2007 – 3 StR 470/06, NStZ 2007, 399; Beschluss vom 7. Februar2008 – 5 StR 402/07; Beschluss vom 8. Oktober 2008 – 4 StR 233/08, NStZ 2009,628; Beschluss vom 22. März 2012 – 4 StR 541/11, NStZ-RR 2012, 239, 240).Nach diesen Grundsätzen ist hier von einem Fehlschlagen des Versuchs auszugehen.Objektiv hat der festgestellte Geschehensablauf auf dem Parkplatzgelände durch dasEingreifen des Zeugen P., das den abrupten Stillstand des Tatfahrzeugs zur Folgehatte und nach dem Hinzutreten des Zeugen T. dazu führte, dass die Nebenklägerinsich aus dem Sichtfeld des Angeklagten entfernen konnte, eine Zäsur erfahren.Durch das Eingreifen der Zeugen P. und T. war der Angeklagte gehindert, derNebenklägerin nachzusetzen und den angestrebten Taterfolg ohne zeitliche Zäsurdoch noch herbeizuführen.

b) Beendeter oder unbeendeter Versuch

Bei einem Tötungsdelikt liegt ein unbeendeter Versuch vor, bei dem allein der Ab-bruch der begonnen Tathandlung zum strafbefreiender Rücktritt vom Versuchführt, wenn der Täter zu diesem Zeitpunkt noch nicht alles getan hat, was nachseiner Vorstellung zur Herbeiführung des Todes erforderlich oder zumindest ausrei-chend ist. Wenn der Täter dagegen den Eintritt des Todes bereits für möglich hält,ist kann er nur noch dann strafbefreiend zurücktreten, wenn er den Tod des Opfers

A. StGB – Allgemeiner Teil16

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durch eigene Bemühungen verhindert oder sich zumindest freiwillig und ernsthaftdarum bemüht.22

[2] I. Nach den Urteilsfeststellungen bat der Nebenkläger K. den Angeklagten inseine Wohnung, um durch ein Gespräch eine streitige Angelegenheit zu klären. Inder Wohnung begannen der Angeklagte und der Nebenkläger alsbald erneut zustreiten. Daraufhin entschloss sich der Angeklagte spätestens jetzt, K. zu töten. Erzog ein versteckt gehaltenes Messer mit einer Klingenlänge von etwa 8–10 cm ausseiner Jackentasche und stieß es kraftvoll und gezielt in den Herzbereich des Geschä-digten, wobei er bewusst dessen von ihm erkannte Arg- und Wehrlosigkeit aus-nutzte. Die Messerklinge drang bis zum Heft in den Körper ein, eröffnete den Brust-korb und verletzte den Herzmuskel. Nachdem der Angeklagte das Messer wiederaus dem Brustkorb herausgezogen hatte und der Nebenkläger aufgestanden war,stach der Angeklagte ein zweites Mal mit dem Messer in Tötungsabsicht gezielt inRichtung des Herzens, traf aber nur das Brustbein.[3] Der Angeklagte, der davon ausging, alles zur Tötung des Nebenklägers Erfor-derliche getan zu haben, ging nun mit dem Messer in der Hand auf den Geschädig-ten Ki. zu, der sich ebenfalls in der Wohnung aufhielt. K. hängte sich daraufhin vonhinten an den Rücken des Angeklagten, der mit dem vor ihm stehenden Ki. ran-gelte. Während der Rangelei stach der Angeklagte mit dem Messer in den Bauch desGeschädigten Ki. und verursachte eine Verletzung, die er nicht als lebensgefährlichansah. In der Folgezeit gelang es K. und Ki., einen Arm des Angeklagten so umzu-drehen, dass dieser auf dem Boden fixiert war. Nachdem K. in das Wohnzimmergegangen war, um telefonisch Hilfe zu holen, brach er verletzungsbedingt zusammenund begann so laut zu stöhnen, dass es der Angeklagte und Ki. deutlich hören konn-ten. Ki. ließ den Angeklagten los, sah nach K., der stark blutete und nicht mehransprechbar war, und verließ die Wohnung, um Hilfe zu holen. Der Angeklagte, derdie inzwischen eingetretene Handlungsunfähigkeit des K. bemerkte und deshalb„erst Recht“ davon ausging, dass dieser versterben werde, steckte das auf denBoden gefallene Messer ein und floh.[4] II. Das Landgericht hat einen strafbefreienden Rücktritt vom versuchten Mordzum Nachteil des Geschädigten K. verneint und hierzu im Wesentlichen ausgeführt:… [6] III. Die Überprüfung des Urteils hat im Ergebnis keinen durchgreifendenRechtsfehler zu Lasten des Angeklagten ergeben. Dabei kann dahinstehen, ob dieÜberzeugung des Landgerichts, der Angeklagte sei im gesamten Zeitraum vomersten Stich gegen K. bis zum Verlassen der Wohnung davon ausgegangen, dass die-ser aufgrund der ihm zugefügten Verletzungen versterben könne, auf einer rechtsfeh-lerfreien Beweiswürdigung beruht. Ebenso kann offenbleiben, ob die Auffassung desLandgerichts, es liege jedenfalls ein fehlgeschlagener Versuch vor, rechtlicher Über-prüfung standhalten könnte. Denn das Landgericht ist ohne Rechtsfehler zu derFeststellung gelangt, dass der Angeklagte spätestens ab dem Moment, als K.röchelnd und handlungsunfähig im Wohnzimmer auf dem Boden lag, sich vorstellte,dieser könne infolge der ihm beigebrachten Stiche versterben. Damit lag zumindestin diesem Zeitpunkt ein beendeter Versuch vor, von dem der Angeklagte nur unterden Voraussetzungen des § 24 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. oder Satz 2 StGB hätte zurück-treten können. Diese hat er jedoch nicht erfüllt. Im Einzelnen:

II. 7. Versuch und Vollendung – §§ 22 ff. StGB

22 BGH, Urteil vom 1.12.2011 – 3 StR 337/11.

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[7] 1. Die Abgrenzung zwischen unbeendetem und beendetem Versuch bestimmt sichnach dem Vorstellungsbild des Täters nach Abschluss der letzten von ihm vorgenom-menen Ausführungshandlung, dem sogenannten Rücktrittshorizont (BGH, Urteilvom 12. November 1987 – 4 StR 541/87, BGHSt 35, 90, 91 f.; BGH, Beschluss vom19. Mai 1993 – GSSt 1/93, BGHSt 39, 221, 227). Bei einem Tötungsdelikt liegt dem-gemäß ein unbeendeter Versuch vor, bei dem allein der Abbruch der begonnenen Tat-handlung zum strafbefreienden Rücktritt vom Versuch führt, wenn der Täter zu diesem Zeitpunkt noch nicht alles getan hat, was nach seiner Vorstellung zur Her-beiführung des Todes erforderlich oder zumindest ausreichend ist (BGH, Beschlussvom 19. Mai 1993 – GSSt 1/93, BGHSt 39, 221, 227). Ein beendeter Tötungsver-such, bei dem er für einen strafbefreienden Rücktritt vom Versuch den Tod desOpfers durch eigene Rettungsbemühungen verhindern oder sich darum zumindestfreiwillig und ernsthaft bemühen muss, ist hingegen anzunehmen, wenn der Täterden Eintritt des Todes bereits für möglich hält (BGH, Beschluss vom 19. Mai 1993 –GSSt 1/93, BGHSt 39, 221, 227; BGH, Beschluss vom 21. März 2001 – 3 StR535/00) oder sich keine Vorstellungen über die Folgen seines Tuns macht (BGH,Urteil vom 2. November 1994 – 2 StR 449/94, BGHSt 40, 304, 306). Eine Korrek-tur des Rücktrittshorizonts ist in engen Grenzen möglich. Der Versuch einesTötungsdeliktes ist daher nicht beendet, wenn der Täter zunächst irrtümlich den Ein-tritt des Todes für möglich hält, aber nach alsbaldiger Erkenntnis seines Irrtums vonweiteren Ausführungshandlungen Abstand nimmt (BGH, Urteil vom 19. Juli 1989 –2 StR 270/89, BGHSt 36, 224, 225 f.; BGH, Beschluss vom 19. Mai 1993 – GSSt1/93, BGHSt 39, 221, 227 f.; BGH, Urteil vom 23. Oktober 1991 – 3 StR 321/91,BGHR StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Versuch, unbeendeter 25). Rechnet der Täter dage-gen zunächst nicht mit einem tödlichen Ausgang, so liegt eine umgekehrte Korrekturdes Rücktrittshorizonts vor, wenn er unmittelbar darauf erkennt, dass er sich inso-weit geirrt hat. In diesem Fall ist ein beendeter Versuch gegeben, wenn sich die Vor-stellung des Täters bei fortbestehender Handlungsmöglichkeit sogleich nach der letz-ten Tathandlung in engstem räumlichem und zeitlichem Zusammenhang mit dieserändert (BGH, Urteil vom 19. Juli 1989 – 2 StR 270/89, BGHSt 36, 224, 226; BGH,Beschluss vom 6. Oktober 2009 – 3 StR 384/09, NStZ 2010, 146).[8] 2. Nach diesen Maßstäben war der Mordversuch an K. beendet, als der Ange-klagte in der Vorstellung die Wohnung verließ, sein Opfer könne aufgrund der Sti-che versterben.

Die Feststellung des Tatrichters, dass es keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass derAngeklagte von einem Verbluten des Geschädigten „ausgegangen“ sei, ist rechtsfeh-lerhaft; denn ein Versuch wäre bereits dann beendet, wenn der Angeklagte eine sol-che Folge für möglich gehalten und sich darüber keine Gedanken gemacht hätte.23

[5] 1. Nach den Feststellungen hielten sich der Angeklagte, das spätere Tatopfer W.sowie die Zeugen P. und Z. in der Nacht zum 29. Oktober 2010 wie gewöhnlichbeim Zentralen Omnibusbahnhof in Hannover auf und konsumierten zusammenAlkohol. Als erster entfernte sich P. Er begab sich in den von ihm und W. als ge-meinsame Unterkunft genutzten Raum in einem in der Nähe befindlichen verlasse-nen Gebäude und legte sich dort schlafen. Am frühen Morgen wollte auch W. dieUnterkunft aufsuchen. Er lud den Angeklagten ein mitzukommen und mit ihm zu

A. StGB – Allgemeiner Teil

23 BGH, Urteil vom 2.2.2012 – 3 StR 401/11.

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essen. Neben dem schlafenden P. setzten sich beide einander gegenüber an den Tischund verzehrten ein Fleischgericht, von dem sie sich mit einem Küchenmesser jeweilsScheiben abschnitten. Gegen 3.00 Uhr hielt W. die Mahlzeit für beendet und legtedas Messer beiseite. [6] Aus nicht zu klärenden Gründen fasste der Angeklagte nun den Entschluss, W.zu töten. Hierzu wollte er die während des gemeinsamen Essens herrschende undaus Ws Sicht unverändert fortbestehende gute und friedliche Stimmung ausnutzen.Er bat W. deshalb nochmals um das Messer. In der Annahme, der Angeklagte wollesich noch ein Stück Fleisch abschneiden, holte W. das Messer – Klingenlänge etwa10 cm – aus der Ablage unter dem Tisch hervor und übergab es dem Angeklagten.Dieser nahm es an sich, stand auf und versetzte dem auf seinem Stuhl sitzenden W.mit den Worten „Ich werde dich töten“ und „Du sollst ausbluten“ zunächst vonvorn, dann, um den Tisch herumgehend, von hinten in schneller Abfolge insgesamtsieben Stiche in den Brust-, Rücken- und Nackenbereich. „Nachdem der Angeklagteinsgesamt siebenmal zugestochen hatte, ließ er von … W. ab, obwohl aus seinerSicht der Zeuge noch nicht tödlich verletzt war.“ W., der eine dicke Lederjacke trug,blutete zwar, zeigte sich aber sonst nicht beeinträchtigt. Vom Geschehen überraschtund um keinen weiteren Angriff des Angeklagten zu provozieren, blieb er sitzen undwar bemüht, sich nicht zu bewegen. Der Angeklagte beobachtete den so verharren-den W. noch einige Minuten und entfernte sich dann.[7] Nun erhob sich W., weckte P. und bat diesen, Hilfe zu holen. Beim Verlassendes Gebäudes traf P. auf den heimkehrenden Z. und verständigte mit diesem zusam-men die Polizei. W., der durch einen der Stiche in den Rücken einen akut lebens-bedrohlichen Pneumothorax erlitten hatte, wurde von Rettungskräften ins Kranken-haus verbracht und dort erfolgreich medizinisch versorgt. Die weiteren Stiche warennicht unmittelbar lebensbedrohlich. [8] 2. Ob ein Versuch im Sinne des § 24 Abs. 1 StGB beendet oder unbeendet ist,richtet sich nach der Vorstellung des Täters bei Abschluss der letzten Ausführungs-handlung. Ein unbeendeter Versuch ist danach gegeben, wenn der Täter zu diesemZeitpunkt davon ausgeht, zur Verwirklichung des Tatbestandes bedürfe es nochweiteren Handelns; beendet ist der Versuch demgegenüber, wenn der Täter den Ein-tritt des tatbestandlichen Erfolgs aufgrund seiner bisherigen Tathandlungen zumin-dest für möglich hält oder sich über deren Folgen keine Vorstellungen macht (Maß-geblichkeit des sog. Rücktrittshorizonts; vgl. Fischer, StGB, 59. Aufl., § 24 Rn. 14,15 m.w.N.). Unbeendet ist ein Versuch auch dann, wenn der Täter den Erfolgsein-tritt zwar zunächst für möglich hält, aber nachfolgend – etwa aufgrund weitererWahrnehmungen – und noch in einem engen zeitlichen und räumlichen Zusammen-hang mit dem Tatgeschehen zur gegenteiligen Auffassung gelangt (sog. Korrektur desRücktrittshorizonts; vgl. Fischer aaO Rn. 15a m.w.N.). [9] Zwar hat das Landgericht nicht verkannt, dass es für die Entscheidung, ob einVersuch beendet oder unbeendet ist, darauf ankommt, welche Vorstellung der Täterinnerhalb des sich aus diesen Grundsätzen ergebenden zeitlichen und örtlichen Rah-mens entwickelt. Jedoch hat es der Prüfung dieser inneren Tatseite einen rechtlichunzutreffenden Maßstab zu Grunde gelegt. Denn das Landgericht hat bei der Wür-digung der Beweise darauf abgestellt, es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass derAngeklagte von einem Verbluten des Geschädigten „ausgegangen“ sei. Beendet wäreder Versuch indes – wie dargelegt – bereits dann, wenn der Angeklagte eine solcheFolge für möglich gehalten oder sich hierüber keine Gedanken gemacht hätte.

[10] Auf diesem Rechtsfehler kann das Urteil beruhen.

II. 7. Versuch und Vollendung – §§ 22 ff. StGB 19

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Ein fehlgeschlagener Versuch liegt dann noch nicht vor, wenn der Täter den Eintrittdes tatbestandlichen Erfolges noch für möglich hält, er also die Tatausführung nochfortsetzen könnte. Ein strafbefreiender Rücktritt ist auch nicht deshalb ausgeschlos-sen, weil der Täter zwischenzeitlich sein außertatbestandliches Ziel, (hier: sich ausdem Griff eines Ladendiebes zu lösen) erreicht hatte.24

[4] 2. Das Landgericht hat nicht geprüft, ob der Angeklagte vom Versuch der ge-fährlichen Körperverletzung zurückgetreten ist, obwohl sich diese Prüfung nach denUmständen des Falles aufdrängte. Dies ist rechtsfehlerhaft.[5] Nach den bisherigen Feststellungen bleibt insbesondere die Möglichkeit offen,dass ein unbeendeter Versuch der gefährlichen Körperverletzung vorlag mit dermöglichen Folge, dass der Angeklagte davon ohne weiteres Tätigwerden mit straf-befreiender Wirkung zurückgetreten sein könnte (§ 24 Abs. 1 Satz 1 StGB). DieUrteilsgründe verhalten sich bereits nicht zu der Frage, ob der Angeklagte im weite-ren Verlauf der Auseinandersetzung im Besitz der Nagelfeile verblieb; die Strafkam-mer hat lediglich ausgeführt, dass er sie trotz der Aufforderung des Ladendetektivsnicht freiwillig fallen ließ. Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass der Angeklagtedie Nagelfeile bis zu seiner Festnahme in der Hand behielt und jederzeit wieder da-mit hätte zustechen können. Für die Annahme eines fehlgeschlagenen Versuchs, dervorliegt, wenn der Zurücktretende den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges nichtmehr für möglich hält (SSW-StGB/Kudlich/Schuhr, 1. Aufl., § 24 Rn. 16 m.w.N.),ist unter dieser Voraussetzung kein Raum. Ebensowenig zwingt der Umstand, dassder Angeklagte die Nagelfeile nicht freiwillig fallen ließ, zu dem Schluss, er habenicht freiwillig von weiteren Stichen gegen den Ladendetektiv abgesehen. Schließlichist ein strafbefreiender Rücktritt auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Ange-klagte zwischenzeitlich sein außertatbestandliches Ziel, sich aus dem Griff des Laden-detektivs zu lösen, erreicht hatte (BGH, Beschluss vom 19. Mai 1993 – GSSt 1/93,BGHSt 39, 221).

Fehlgeschlagen ist ein Versuch erst, wenn die Tat nach Misslingen des zunächst vor-gestellten Tatablaufs mit den bereits eingesetzten oder anderen nahe liegenden Mit-teln objektiv nicht mehr vollendet werden kann und der Täter dies erkennt oderwenn er subjektiv – sei es auch nur wegen aufkommender innerer Hemmungen –die Vollendung nicht mehr für möglich hält. Maßgeblich dafür ist nicht der ur-sprüngliche Tatplan, dem je nach Fallgestaltung allenfalls Indizwirkung für den Er-kenntnishorizont des Täters zukommen kann, sondern dessen Vorstellung nachAbschluss der letzten Ausführungshandlung.25

[9] 1. Die Feststellungen des Landgerichts tragen die Verurteilung des Angeklagtenwegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung nicht. Die Verneinungeines strafbefreienden Rücktritts vom Versuch hält der rechtlichen Nachprüfungnicht stand.[10] a) Zutreffend ist allerdings der rechtliche Ausgangspunkt des Landgerichts,wonach bei einem fehlgeschlagenen Versuch ein strafbefreiender Rücktritt nach § 24StGB von vorneherein ausscheidet (st. Rspr., vgl. nur Senatsurteil vom 10. April1986 – 4 StR 89/86, BGHSt 34, 53, 56; Urteil vom 30. November 1995 – 5 StR

A. StGB – Allgemeiner Teil

24 BGH, Beschluss vom 20.9.2012 – 3 StR 367/12.25 BGH, Beschluss vom 22.3.2012 – 4 StR 541/11.

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465/95, BGHSt 41, 368, 369). Fehlgeschlagen ist der Versuch jedoch erst, wenn dieTat nach Misslingen des zunächst vorgestellten Tatablaufs mit den bereits eingesetz-ten oder anderen nahe liegenden Mitteln objektiv nicht mehr vollendet werden kannund der Täter dies erkennt oder wenn er subjektiv – sei es auch nur wegen aufkom-mender innerer Hemmungen (Senatsbeschluss vom 26. September 2006 – 4 StR347/06, NStZ 2007, 91) – die Vollendung nicht mehr für möglich hält. Maßgeblichdafür ist nicht der ursprüngliche Tatplan, dem je nach Fallgestaltung allenfalls Indiz-wirkung für den Erkenntnishorizont des Täters zukommen kann (vgl. BGH, Be-schluss vom 2. November 2007 – 2 StR 336/07, NStZ 2008, 393), sondern dessenVorstellung nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung (BGH, Beschluss vom2. November 2007 – 2 StR 336/07, aaO). Ein Fehlschlag liegt nicht bereits darin,dass der Täter die Vorstellung hat, er müsse von seinem Tatplan abweichen, um denErfolg herbeizuführen. Hält er die Vollendung der Tat im unmittelbaren Handlungs-fortgang noch für möglich, wenn auch mit anderen Mitteln, so ist der Verzicht aufein Weiterhandeln als freiwilliger Rücktritt vom unbeendeten Versuch zu bewerten(Senatsbeschluss vom 26. September 2006 – 4 StR 347/06, aaO). Fehlgeschlagen istder Versuch erst, wenn der Täter erkennt oder die subjektive Vorstellung hat, dass eszur Herbeiführung des Erfolgs eines erneuten Ansetzens bedürfte, etwa mit derFolge einer zeitlichen Zäsur und einer Unterbrechung des unmittelbaren Handlungs-fortgangs (BGH, Beschluss vom 19. Mai 1993 – GSSt 1/93, BGHSt 39, 221, 232;Urteil vom 30. November 1995 – 5 StR 465/95, aaO). [11] b) Zu der Vorstellung des Angeklagten nach Misslingen des zunächst ins Augegefassten Tatablaufs – nach der Weigerung der Geschädigten ihre Wertgegenständeherauszugeben – teilt das Urteil nichts mit. Selbst wenn die Feststellungen des Land-gerichts dahin zu verstehen sein sollten, dass der Angeklagte S. unüberwindlicheHemmungen hatte, das nach wie vor im Pkw befindliche und ihm jederzeit zugäng-liche Messer über ein bloßes Mittel der Bedrohung hinaus einzusetzen, und insoweitnicht Herr seiner Entschlüsse war, verstünde es sich nicht von selbst, dass er keineweitere Handlungsalternative mehr sah, mit der er im unmittelbaren Fortgang nochhätte zur Tatvollendung gelangen können. Insbesondere lassen die Urteilsgründenicht erkennen, dass es ihm verwehrt war, ohne zeitliche Zäsur die Bedrohung mitdem Messer fortzusetzen oder Gewalt gegen die Zeugin H. anzuwenden. Insoweitist lediglich festgestellt, dass sich das völlig verängstigte Tatopfer nach wie vor indem vom Angeklagten geführten Pkw befand und infolge des vorherigen Gesche-hens derart aufgelöst war, dass es die Angeklagte W. gewähren ließ. Ein fehlgeschla-gener Versuch ist damit nicht belegt.

c) Rücktritt

Von einem unbeendeten Versuch kann der Täter durch bloßes Nichtweiterhandelnzurücktreten. Unbeendet ist der Versuch, wenn der Täter nach der letzten Aus-führungshandlung nach seinem Kenntnisstand nicht mit dem Eintritt des tatbe-standsmäßigen Erfolges rechnet, und sei es auch nur in Verkennung der durch seineHandlung verursachten Gefährdung des Opfers, und die Vollendung aus seinerSicht noch möglich ist.26

II. 7. Versuch und Vollendung – §§ 22 ff. StGB

26 BGH, Urteil vom 21.12.2011 – 1 StR 400/11.

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[22] a) Ob das Landgericht den Tötungsvorsatz rechtsfehlerfrei verneint hat (dazuunten aa), kann letztlich dahinstehen, da der Angeklagte von einem Tötungsversuchjedenfalls freiwillig zurückgetreten ist (unten bb).[23] aa) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Ihm alleinobliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. SeineSchlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglichsind. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem TatgerichtRechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigungwidersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder ge-sicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 14. Dezember2011 – 1 StR 501/11 m.w.N.).[24] Die Strafkammer kam nach Würdigung der von ihr getroffenen Feststellungenzu dem Ergebnis, der Angeklagte habe B. verletzen, aber nicht – auch nicht bedingtvorsätzlich – töten wollen. [25] Das Willenselement des bedingten Vorsatzes ist bei Tötungsdelikten danngegeben, wenn der Täter den von ihm als möglich erkannten Eintritt des Todes bil-ligt oder sich um des erstrebten Zieles willen damit abfindet. Dabei genügt für einevorsätzliche Tatbegehung, dass der Täter den konkreten Erfolgseintritt akzeptiertund er sich innerlich mit ihm abgefunden hat, mag er auch seinen Wünschen nichtentsprochen haben. Hatte der Täter dagegen begründeten Anlass darauf zu ver-trauen und vertraute er darauf, es werde nicht zum Erfolgseintritt kommen, kannbedingter Vorsatz nicht angenommen werden (BGH, Urteil vom 27. Januar 2011 – 4 StR 502/10 Rn. 34 m.w.N.).[26] Bei der Prüfung, ob der Täter vorsätzlich gehandelt hat, muss sowohl das Wis-sens- als auch das Willenselement im Rahmen einer Gesamtschau aller objektivenund subjektiven Umstände geprüft und durch tatsächliche Feststellungen belegt wer-den. Dabei liegt zwar die Annahme einer Billigung des Todes des Opfers nahe,wenn der Täter sein Vorhaben trotz erkannter Lebensgefährlichkeit durchführt.Allein aus dem Wissen um den möglichen Erfolgseintritt oder die Gefährlichkeit desVerhaltens kann aber nicht ohne Berücksichtigung etwaiger sich aus der Tat und derPersönlichkeit des Täters ergebender Besonderheiten geschlossen werden, dass auchdas Willenselement des Vorsatzes gegeben ist (vgl. BGH aaO Rn. 35).[27] Den sich hieraus ergebenden Anforderungen wird das landgerichtliche Urteilzwar weitgehend gerecht. Die Strafkammer hat bei ihrer Gesamtbetrachtung insbe-sondere erwogen, dass dem Angeklagten – einem Kampfsportler (Kickboxer) – dieGefährlichkeit seiner Tritte gegen die Brust (Solarplexus) und gegen den Kopf desGeschädigten bewusst war. Das Landgericht hat zutreffend darauf verwiesen, dassallein aus der objektiven Gefährlichkeit nicht zwingend auf den – bedingten –Tötungsvorsatz geschlossen werden kann. Die Strafkammer gelangte dann – auchaufgrund des Nachtatverhaltens – zu der Überzeugung, dass der Angeklagte bei sei-ner Spontantat den Tod des B. für völlig fernliegend erachtet und darauf vertrauthat, dass ein solcher auch nicht eintritt.[28] Die Strafkammer hat allerdings bei der Bewertung der Tathandlungen im Hin-blick auf das Willenselement eine etwas verkürzte Betrachtung angestellt. Sie bewer-tet die beiden Tritte insoweit jeweils für sich: „Auch der wuchtig geführte einmaligeTritt in das Gesicht des am Boden liegenden Opfers reicht für sich allein nicht ausvon einem bedingten Tötungsvorsatz auszugehen.“ Das Landgericht hebt dann imWeiteren vor allem darauf ab, dass dieser Tritt – ex post betrachtet – zu keinen gra-vierenden Verletzungen führte und nicht die Ursache für den späteren Zusammen-

A. StGB – Allgemeiner Teil22

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bruch B.s war. Damit kommt der maßgebliche Umstand etwas kurz, dass der Ange-klagte in einer Angriffsfolge zwei – vom ersten Faustschlag ganz abgesehen – höchstlebensgefährliche Angriffe gegen sein Opfer führte. Deshalb spricht auch die Tat-sache, dass die Auseinandersetzung insgesamt nur 14 Sekunden dauerte, nicht gegeneinen – bedingten – Tötungsvorsatz.[29] Die fehlende – jedenfalls fehlende ausdrückliche – Bewertung der rasch aufein-anderfolgenden Verletzungshandlungen im Zusammenhang könnte eine Lücke unddamit einen Rechtsfehler in der Beweiswürdigung darstellen. Ob dieser durchgrei-fend wäre, ob also auszuschließen ist, dass die Strafkammer bei deutlicher Gewich-tung auch dieses Aspekts in der Beweiswürdigung zur Feststellung eines bedingtenTötungsvorsatzes gekommen wäre, kann jedoch dahinstehen.[30] bb) Denn hätte der Angeklagte bedingt vorsätzlich versucht, B. zu töten, sowäre er nach den insoweit rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen der Strafkam-mer von diesem Tötungsversuch – freiwillig – strafbefreiend zurückgetreten (§ 24Abs. 1 Satz 1 StGB). [31] Von einem unbeendeten Versuch kann der Täter durch bloßes Nicht-weiter-handeln zurücktreten (BGH, Beschluss vom 19. Mai 1993 – GSSt 1/93, BGHSt 39,221, 228). Unbeendet ist der Versuch, wenn der Täter nach der letzten Ausführungs-handlung nach seinem Kenntnisstand nicht mit dem Eintritt des tatbestandsmäßigenErfolgs rechnet, und sei es auch nur in Verkennung der durch seine Handlung ver-ursachten Gefährdung des Opfers, und die Vollendung aus seiner Sicht noch mög-lich ist (BGH aaO, 227).[32] Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Zwar wurden die am Boden liegendenKämpfenden, der Angeklagte und B., von einer Reinigungskraft der Verkehrsbe-triebe zunächst getrennt. Nach dem Aufstehen war der Angeklagte jedoch in derLage, seinen Angriff sofort fortzusetzen und er tat dies auch mit einem wuchtigenTritt in das Gesicht seines noch am Boden liegenden Opfers. An weiteren Fußtrit-ten – in schneller Folge – war er nicht gehindert. Er entfernte sich jedoch. Davon,dass er B. bereits in extreme Lebensgefahr gebracht und damit im Grunde schonalles getan hatte, um ihn zu töten, wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nichts.

Wird eine in Wirklichkeit nicht bestehende Forderung zunächst durch Drohungenoder mittels Gewalt geltend gemacht, dies aber in der Folge nicht mehr weiterver-folgt, besteht Anlass für den Tatrichter, einen Rücktritt vom Versuch einer solchenErpressung zu prüfen.27

[7] a) Das Landgericht hat nicht geprüft, ob die Angeklagten vom Versuch derschweren räuberischen Erpressung mit strafbefreiender Wirkung zurückgetreten sind(§ 24 Abs. 2 Satz 1 StGB). [8] § 24 Abs. 2 Satz 1 StGB verlangt ohne Rücksicht auf die Frage, ob ein beende-ter oder unbeendeter Versuch vorliegt, die Verhinderung der Tatvollendung. Dabeibestehen grundsätzlich die gleichen Anforderungen wie beim Alleintäter, so dass ins-besondere das Verhalten des Zurücktretenden für das Ausbleiben der Vollendungzumindest mitursächlich werden muss. Unter Absatz 2 Satz 1 hat die Rechtspre-chung des Bundesgerichtshofs auch die Fälle gefasst, in denen die Beteiligten an derTat den Rücktritt einvernehmlich durchführen (BGH, Urteil vom 14. Mai 1996 –

II. 7. Versuch und Vollendung – §§ 22 ff. StGB

27 BGH, Beschluss vom 8.2.2012 – 4 StR 621/11.

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1 StR 51/96, BGHSt 42, 158, 162; Senatsbeschluss vom 4.April 1989 – 4 StR 125/89, NStZ 1989, 317, 318). Dabei wird es als ausreichend angesehen, wenn ein Betei-ligter mit dem Rücktritt des anderen einverstanden ist. Handeln alle Beteiligten ein-vernehmlich, kann das schlichte Nicht-Weiterhandeln für die Erfolgsverhinderungim Sinne von § 24 Abs. 2 Satz 1 StGB ausreichen (vgl. Senatsbeschluss aaO; Lilie/Albrecht in LK-StGB, 12. Aufl., § 24 Rn. 42; SSW-StGB/Kudlich/Schuhr, § 24 Rn. 58, jew. m.w.N.). Diese Grundsätze gelten auch für den Gehilfen, der anderen-falls bei einem wirksamen Rücktritt des Haupttäters, der bereits zur Erfolgsverhin-derung führt, trotz Rücktrittswillens überhaupt nicht zurücktreten könnte (BGH,Beschluss vom 28. Oktober 1998 – 5 StR 176/98, BGHSt 44, 204, 208). [9] b) Danach können die Angeklagten Sch., S. und H. im vorliegenden Fall jeweilsals Tatbeteiligte vom Versuch der schweren räuberischen Erpressung zurückgetretensein, indem sie einverständlich die gegenüber dem Geschädigten W. erhobene Forde-rung zur Zahlung einer „Strafe“ in Höhe von 5.000 Euro nach dem Treffen mit demGeschädigten in der „Bar“ nicht weiter verfolgten. Anlass für eine Erörterung derVoraussetzungen des § 24 Abs. 2 Satz 1 StGB boten insbesondere die Feststellun-gen, die das Landgericht zum Inhalt des zwischen dem Angeklagten H. und demGeschädigten W. am 22. Januar 2010 geführten Telefongesprächs getroffen hat (UA35/36). Der Zeuge sprach den Angeklagten H. nach Absprache mit der Polizei, andie er sich inzwischen gewandt hatte, auf die Modalitäten einer Übergabe des vonden Angeklagten geforderten Geldbetrages an. H. verhielt sich jedoch abwehrendund versuchte, die vom Landgericht als erwiesen angesehene, ursprünglich unterDrohungen erhobene Forderung ungeschehen zu machen. Er gab dem Geschädigtenunter Anderem zu verstehen, er müsse kein Geld beschaffen, da es eine entspre-chende Forderung nicht (mehr) gebe. Ein weiteres Telefongespräch ähnlichen Inhaltsführte der Angeklagte H. mit dem Geschädigten am 27. Januar 2010. Dass der An-geklagte H. diese Gespräche mit dem Geschädigten nur nach vorheriger Abstim-mung mit dem Mitangeklagten Sch. führte, der im „Charter S.“ der „Hells Angels“die Position des „Präsidenten“ einnahm, ist nahe liegend. Im Hinblick darauf undvor dem Hintergrund der im Urteil dargelegten hierarchischen Struktur dieser Grup-pierung hätte die Strafkammer die Möglichkeit eines Rücktritts der Angeklagtenvom Versuch der schweren räuberischen Erpressung im Sinne des § 24 Abs. 2 Satz 1StGB nicht unerörtert lassen dürfen.

Wenn ein Angeklagter dem Tatopfer zwei lebensgefährliche Stiche nahe des Herzensversetzt und dieses dann zu Boden fällt, liegt der Schluss nicht nahe, der Angeklagtesei davon ausgegangen, sein Opfer werde nicht an den Folgen der Stiche versterben.Falls er aber in der Folge dann wahrgenommen hat, dass das Opfer wieder aufstandund weglief, kommt eine „Korrektur des Rücktrittshorizonts“ in Betracht. Aller-dings bedarf es dafür eines engen räumlichen Zusammenhangs zwischen den beidenGeschehensabläufen.28

[29] Soweit das Landgericht den Angeklagten B. im Fall 4 der Urteilsgründe wegenRücktritts vom (unbeendeten) Versuch (§ 24 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. StGB) einesTötungsdelikts nur wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt hat, begegnet diesdurchgreifenden rechtlichen Bedenken.

A. StGB – Allgemeiner Teil

28 BGH, Urteil vom 8.5.2012 – 5 StR 528/11.

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Page 25: BGH-Rechtsprechung Strafrecht 2012/13

[30] a) Mit Recht weist der Generalbundesanwalt darauf hin, dass die Einschät-zung des Landgerichts, der Angeklagte habe im Zeitpunkt seines Weglaufens denEintritt des Tötungserfolgs nicht für möglich gehalten oder sich insoweit zumindestkeine Gedanken gemacht (vgl. BGH, Urteil vom 19. Juli 1989 – 2 StR 270/89,BGHSt 36, 224, 225 f.; BGH, Beschluss vom 19. Mai 1993 – GSSt 1/93, BGHSt 39,221, 227 f.; BGH, Urteil vom 23. Oktober 1991 – 3 StR 321/91, BGHR StGB § 24Abs. 1 Satz 1 Versuch, unbeendeter 25), in den Feststellungen keine Stütze findet.Der Angeklagte hatte dem Geschädigten zwei wuchtige Stiche in die linke Brust-korbseite versetzt, die unmittelbar unterhalb des Herzens trafen und lebensgefähr-liche Verletzungen hervorriefen. Infolgedessen hat sich die Jugendkammer rechtsfeh-lerfrei vom Vorliegen eines zumindest bedingten Tötungsvorsatzes überzeugt. Alsder Angeklagte nach Gegenwehr des Geschädigten weglief, war dieser zu Boden ge-fallen. Unter solchen Vorzeichen liegt der Schluss nicht nahe, der Angeklagte seidavon ausgegangen, sein Opfer werde nicht an den Folgen der Stiche versterben. Dieverlesene schriftliche Erklärung des Angeklagten, in der er sich vorrangig auf eineNotwehrsituation berief und zu der er ausweislich der Urteilsgründe keine Nachfra-gen beantwortete, bietet hierfür schon deswegen keine hinreichende Grundlage, weilsie von der Jugendkammer – insoweit ohne Rechtsfehler – als weitgehend unglaub-haft gewertet wurde. [31] b) Sofern – entsprechend den insoweit zutreffenden Erwägungen im angefoch-tenen Urteil – der äußere Geschehensablauf und der Tötungsvorsatz des Angeklag-ten B. abermals in gleicher Weise festgestellt werden sollten, werden zum „Rück-trittshorizont“ des Angeklagten neue Feststellungen zu treffen sein. Für den Fall,dass das Tatgericht auch mit Blick auf den Sturz des Opfers annehmen sollte, demAngeklagten sei bei Beginn seines Weglaufens der Eintritt des Todeserfolgs wenigs-tens gleichgültig gewesen (vgl. BGH, Urteil vom 2. November 1994 – 2 StR 449/94,BGHSt 40, 304), wird zu prüfen sein, ob für den späteren Zeitpunkt des – nach denUrteilsgründen durch den Angeklagten wahrgenommenen – Aufstehens und Weg-laufens des Opfers eine sogenannte „Korrektur des Rücktrittshorizonts“ in Betrachtkommt; der Versuch eines Tötungsdelikts ist bei einer solchen Konstellation nachden von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen nicht beendet, wenn derTäter zunächst irrtümlich den Eintritt des Todes für möglich hält, aber in engstemzeitlichem und räumlichem Zusammenhang nach Erkenntnis seines Irrtums vonweiteren Ausführungshandlungen Abstand nimmt (vgl. dazu zuletzt BGH, Be-schluss vom 1. Dezember 2011 – 3 StR 337/11, NStZ-RR 2012, 106 m.w.N.). Gege-benenfalls wird indessen weiter zu bedenken sein, dass sich der Angeklagte und derGeschädigte zu diesem Zeitpunkt bereits voneinander entfernt hatten, weswegen es zumindest am erforderlichen – „engsten“ – räumlichen Zusammenhang fehlenkönnte und aus der Sicht des Angeklagten zur Vollendung eines Tötungsdelikts einerneuter Geschehensablauf in Gang zu setzen gewesen wäre. Darüber hinaus wer-den unter Umständen ergänzende äußere Feststellungen zu der Frage zu treffen sein,ob dem Angeklagten überhaupt noch Handlungsmöglichkeiten zur Vollendung desTotschlags zur Verfügung gestanden haben, andernfalls auch ein fehlgeschlagenerVersuch zu erörtern wäre.

II. 7. Versuch und Vollendung – §§ 22 ff. StGB 25