BIEN - Gerechtigkeit Bei Aristoteles (NE v)

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Das 5. Kapitel des V. Buches der Nikomachischen Ethik, das insgesamt dem Thema Gerechtigkeit gewidmet ist 1 , stellt als Ergebnis der Überlegungen der vorangehenden vier Ein- gangskapitel fest: “Daß es also mehrere Gerechtigkeiten gibt und noch eine Gerechtigkeit neben der ganzen Tugend, ist hieraus klar” (1130b6ff.). Aristoteles fährt fort, und wir über- nehmen diesen Programmsatz: “Bestimmen wir also, was und welcher Art sie ist”: die “Gerechtigkeit als ganze Tugend” und die “Gerechtigkeit neben der ganzen Tugend” 2 . Mehreren griechischen Philosophen und Staatsmännern wird die Äußerung zugeschrieben, daß jemanden zu einem guten Menschen zu machen darin bestehe, daß man ihn zum Bürger eines Staates mit guten Gesetzen mache. Die “Anony- mität” dieses Satzes zeigt, daß es sich um eine kulturelle Selbstverständlichkeit gehandelt haben muß. Seine anthropo- logisch-ethische Voraussetzung besteht in der Annahme, daß Menschsein und Bürgersein, rechtlich-politische Ordnung und sittliche Lebensweisung in einer guten Polis ineins zu- 7 Günther Bien Gerechtigkeit bei Aristoteles (V) 1 Die Nikomachische Ethik wird im folgenden zitiert nach der Übersetzung von Eugen Rolfes in: Aristoteles, Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes hrsg. von Günther Bien, Hamburg 4. Aufl. 1975. 2 Aufbau von Buch V: 1. Themenstellung und methodische Vorbemerkungen (Kap. 1) 2. Unterscheidung von allgemeiner und partikularer Gerechtigkeit (Kap. 2) 3. Behandlung der allgemeinen (Kap. 3) und der beiden Formen von par- tikularer Gerechtigkeit (Kap. 4–9) 4. Formen des Rechtes; Unrecht und ungerechte Tat (Kap. 10) 5. Besprechung von fünf Einzelproblemen (Kap. 11–13, 15) und des Be- griffes der Billigkeit (Kap. 14). Unangemeldet | 188.98.182.252 Heruntergeladen am | 09.08.13 00:11

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Gerechtigkeit bei Aristoteles

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  • Das 5. Kapitel des V. Buches der Nikomachischen Ethik, dasinsgesamt dem Thema Gerechtigkeit gewidmet ist1, stellt alsErgebnis der berlegungen der vorangehenden vier Ein-gangskapitel fest: Da es also mehrere Gerechtigkeiten gibtund noch eine Gerechtigkeit neben der ganzen Tugend, isthieraus klar (1130b6ff.). Aristoteles fhrt fort, und wir ber-nehmen diesen Programmsatz: Bestimmen wir also, was undwelcher Art sie ist: die Gerechtigkeit als ganze Tugend unddie Gerechtigkeit neben der ganzen Tugend2 .

    Mehreren griechischen Philosophen und Staatsmnnernwird die uerung zugeschrieben, da jemanden zu einemguten Menschen zu machen darin bestehe, da man ihn zumBrger eines Staates mit guten Gesetzen mache. Die Anony-mitt dieses Satzes zeigt, da es sich um eine kulturelleSelbstverstndlichkeit gehandelt haben mu. Seine anthropo-logisch-ethische Voraussetzung besteht in der Annahme, daMenschsein und Brgersein, rechtlich-politische Ordnungund sittliche Lebensweisung in einer guten Polis ineins zu-

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    Gerechtigkeit beiAristoteles (V)

    1 Die Nikomachische Ethik wird im folgenden zitiert nach der bersetzungvon Eugen Rolfes in: Aristoteles, Nikomachische Ethik. Auf der Grundlageder bersetzung von Eugen Rolfes hrsg. von Gnther Bien, Hamburg 4. Aufl.1975.2 Aufbau von Buch V:

    1. Themenstellung und methodische Vorbemerkungen (Kap. 1)2. Unterscheidung von allgemeiner und partikularer Gerechtigkeit

    (Kap. 2)3. Behandlung der allgemeinen (Kap. 3) und der beiden Formen von par-

    tikularer Gerechtigkeit (Kap. 49)4. Formen des Rechtes; Unrecht und ungerechte Tat (Kap. 10)5. Besprechung von fnf Einzelproblemen (Kap. 1113, 15) und des Be-

    griffes der Billigkeit (Kap. 14).

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  • sammenfallen. Der Begriff rechtliche Ordnung ist hierbeiin einer sehr weiten Bedeutung zu verstehen; sie umfat so-wohl das geschriebene und gesatzte Recht einer bestimmtenPolis, also die positiven Gesetze, wie auch die ungeschriebe-nen, gttlichen und als natrlich ausgezeichneten Gesetze,also die Gesetze, von denen Antigone in der SophokleischenTragdie (Antigone V. 454f.) sagt, sie seien nicht erst von heuteoder gestern, sondern bestnden immerdar, niemand wisse,woher sie kmen. Solche Gesetze oder Gebote waren etwa dieForderung, Tote zu bestatten Antigone verteidigt sie mitden zitierten Worten gegen Kreon, als sie gegen dessen aus-drckliches Verbot ihren Bruder Polyneikes bestattet , fer-ner das Gebot, die Gtter zu ehren und die Eltern zu achten,einem Irrenden den Weg zu weisen, niemandem, der darumbittet, Feuer oder einen Trunk Wasser zu verweigern, die Ver-pflichtung, Wohlttern gegenber sich dankbar zu erweisenusw. (Vgl. Hirzel 1900/1977). Zu den Gesetzen in dem hiergemeinten umfassenden Sinne gehren auch die gesellschaft-lichen Konventionen und Weisen des Sichbetragens, die Sit-ten also und die blichkeiten der Conduite, ferner die je-weils geltenden rituellen Kultvorschriften und berhaupt dieVerehrung der heimischen Gtter. Fat man den Regelungs-bereich der Gesetze (nomoi) so weit, dann wird verstndlich,da als gerecht und damit berhaupt als gut und tugendhaftder Mensch gelten konnte, der sich an die Gesetze hlt, undda alles Gesetzliche als gerecht angesehen werden konnte.Aristoteles zitiert als Beleg fr die Richtigkeit dieser ethisch-politischen Konzeption als ein verbreitetes Sprichwort denSatz, den wir auch in der Spruchsammlung des Theognis (V.147) und an vielen anderen Stellen greifen knnen: In derGerechtigkeit ist alle Tugend enthalten (EN V 3, 1129b29f.;Vgl. W. Jaeger 1954, 149). Er selbst identifiziert die so ver-standene Gerechtigkeit denn auch mit der Tugend schlecht-hin: Diese Gerechtigkeit ist die vollkommene Tugend [];sie gilt fr die vorzglichste unter den Tugenden, fr eine Tu-gend so wunderbar schn, da nicht der Abend- und nicht derMorgenstern gleich ihr erglnzt (1129b2531). Aristotelesresmiert seine auf diese Tugend, die gesetzliche Gerechtig-keit, bezogenen berlegungen mit der Feststellung: Die ge-

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  • setzliche Gerechtigkeit ist kein bloer Teil der Tugend, son-dern die ganze Tugend, und die ihr entgegengesetzte Unge-rechtigkeit kein Teil der Schlechtigkeit, sondern wiederumdie ganze Schlechtigkeit (1130a810). Man kann sich die Be-deutung und Wichtigkeit, die dieser umfassenden Gerechtig-keit auch sonst in der alten Welt zuerkannt wurde, leichtdurch einen Blick in eine Konkordanz zur hebrischen Bibelund zum Neuen Testament vor Augen fhren: hier ist mehrals 800mal vom Gerechten die Rede, und es soll damit derGute und der Heilige schlechthin benannt werden (vgl.Pieper 1964, 97). Auch unsere Sprache hlt noch die Erinne-rung daran fest, wenn sie einen durch umfassende sittlicheQualitten sich auszeichnenden Menschen schlicht einenrechtlichen oder rechtschaffenen Menschen nennt. He-gel hat im 150 seiner Rechtsphilosophie an die fortdauerndeAktualitt dieser Konzeption (mit kritischem Blick auf denneuzeitlichen Standpunkt der Moralitt, vgl. Bien 1984) erin-nert und ihre Gltigkeit zu erweisen unternommen. (Es istdies ein Abschnitt, der auch sonst mit expliziten und implizi-ten Hinweisen auf Aristoteles durchsetzt ist und der erkenn-bar auch auf den eingangs zitierten Rat griechischer Weiserber die richtige Erziehung anspielt3) Das Sittliche [] istdie Tugend, die, insofern sie nichts zeigt als die einfache An-gemessenheit des Individuums an die Pflichten der Verhlt-nisse, denen es angehrt, Rechtschaffenheit ist. Was derMensch tun msse, welches die Pflichten sind, die er zu erfl-len hat, um tugendhaft zu sein, ist in einem sittlichen Ge-meinwesen leicht zu sagen es ist nichts anderes von ihm zutun, als was ihm in seinen Verhltnissen vorgezeichnet, aus-gesprochen und bekannt ist. Die Rechtschaffenheit ist das All-gemeine, was an ihn teils rechtlich, teils sittlich gefordert wer-den kann. Auch an das von Aristoteles berufene Sprichwortvom umfassenden Charakter der Gerechtigkeit erinnert He-gel: Die verschiedenen Seiten der Rechtschaffenheit knnen

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    3 Ausdrcklich wird dieser Satz als die uerung eines Pythagoreers (oderauch des Sokrates) dann im 153 angefhrt: Auf die Frage eines Vaters nachder besten Weise, seinen Sohn sittlich zu erziehen, gab ein Pythagoreer (auchanderen wird sie in den Mund gelegt) die Antwort: wenn du ihn zum Brgereines Staats von guten Gesetzen machst.

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  • ebensogut auch Tugenden genannt werden. Es fllt nunauf, da Aristoteles, so hoch er auch die gesetzliche Gerech-tigkeit stellt, sie dennoch recht bald verabschiedet (ohne sieim mindesten zu negieren oder ihren Anspruch herabzumin-dern4), um zur Behandlung einer anderen Art von Gerechtig-keit berzugehen: Wir fragen nach der Gerechtigkeit als Teilder Tugend; eine solche gibt es nmlich, behaupten wir, be-ginnt das 4. Kapitel (1130 a14f.). Der Eingangssatz des 5. Ka-pitels nimmt noch einmal auf: Da es neben der Gerechtig-keit als der ganzen Tugend noch eine andere Gerechtigkeitgibt, ist nunmehr klar (1130b6f.). Der versichernde Charak-ter dieser Stze und der auffallende, weil bei Aristoteles nichthufige Hinweis darauf, da es sich bei der Behauptung die-ser besonderen Art von Gerechtigkeit um eine eigene Lehrehandelt, lt die Aristoteles sehr wohl bewute und, wie wirsagen drfen, zweifellos gegebene epochale Bedeutung diesesLehrstcks erkennen. In der Tat: Aristoteles hat mit seinenDarlegungen ber die Gerechtigkeit als Teil der Tugend ei-nen bestimmten materialen Bereich und formalen Aspekt dergesellschaftlich-ethisch-politischen Wirklichkeit entdecktund zum ersten Mal thematisiert. Um deutlich zu machen,worum es geht, sind zwei Dinge zu behandeln: es ist erstens

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    4 Jene Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit also, die sich auf den ganzen Um-fang der Tugend bezieht und die die Anwendung der ganzen Tugend, bezie-hungsweise des ganzen Lasters, auf unser Verhltnis zu anderen Menschen ist,mge als erledigt gelten, EN V 5, 1130b1820. Eine extreme Diskreditie-rung des Satzes, da gerecht sein darin bestnde, den Gesetzen zu gehorchen,lesen wir bei dem athenischen Sophisten Antiphon: Die Gerechtigkeit be-steht darin, da man Gesetz und Brauch in dem Staat, in man als Brger lebt,nicht bertritt. Am vorteilhaftesten wird sich dabei der einzelne Mensch zurGerechtigkeit stellen, wenn er in Anwesenheit von Zeugen Gesetz und Brauchhochhlt, ohne solche dagegen die Gebote der Natur. Denn die Forderungenvon Gesetz und Brauch sind willkrlich auferlegt, die Gebote der Natur da-gegen beruhen auf Notwendigkeit. Denn die Forderungen von Gesetz undBrauch sind vereinbart, nicht natrlich geworden, die Gebote der Natur abersind natrlich geworden, nicht vereinbart. Wenn man nun bei der bertre-tung von Gesetz und Brauch von denen, welche die Vereinbarung getroffenhaben, unbemerkt bleibt, ist man von Schande und Strafe frei, andernfallsnicht. Vergewaltigt man dagegen die mit der Natur verwachsenen Gesetzeber das mgliche Ma hinaus, so ist das Unheil um nichts geringer, wenn esauch kein Mensch merkt, und um nichts grer, auch wenn es alle Welt sieht.(Vgl. W. Jaeger 1954, 149 Anm. 1.)

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  • darzulegen, was es fr die geschichtliche Position der prak-tischen Philosophie des Aristoteles bedeutet, da er die ge-setzliche Gerechtigkeit relativiert, und da er als erster Philo-soph mit theoretischen Grnden gewisse Zweifel an der Mg-lichkeit einer schlichten Identifizierung des Status eines gutenBrgers und eines guten Menschen uert, und welche Fol-gen diese Einsicht fr die praktische Philosophie insgesamthaben mute; es ist sodann zweitens zu behandeln, welchesder besondere Charakter der Seite der menschlichen Angele-genheiten ist, der sich dem spezifischen Blick des Aristoteleshier zum ersten Mal erschlossen hat. Halten wir zunchstzum Zwecke einer leichteren und abkrzenden Verstndi-gung die in der Tradition der Schulphilosophie erfolgten ter-minologischen Fixierungen der beiden Gerechtigkeitsartenfest: die gesetzliche Gerechtigkeit (A) sei als die universaleGerechtigkeit benannt (iustitia legalis sive universalis sive gene-ralis), die andere Art (B), die als Teil der ganzen Tugend vonAristoteles eingefhrt wurde, heie die Teilgerechtigkeit oderpartikulare (bzw. partikulre) Gerechtigkeit (iustitia particula-ris). Der Sinn und die geschichtliche Bedeutung dieser Be-griffe ist zu erlutern, wobei gleich jetzt auf die leicht abkr-zende Sprechweise in diesen Namen hingewiesen sei: In ge-nauer, aber eben doch umstndlicher Benennung mte esheien die Gerechtigkeit als die ganze Tugend bzw. sofernsie die ganze Tugend ist und die Gerechtigkeit als Teil derTugend bzw. sofern sie ein Teil der Tugend ist; der durchdie quantifizierenden Adjektive universal und partikulr ei-gentlich zu kennzeichnende und zu differenzierende Begriffist nicht die Gerechtigkeit, sondern die Tugend. Es ist aller-dings eine gute aristotelische Regel, da man sich bei der Be-nennung der Dinge an den allgemein eingefhrten Sprachge-brauch halten solle (vgl. Topik II 2, 110a1622). Es ist dies eineRegel, deren Befolgung auch in kritischen Fllen fr denschadlos bleibt, der sich einmal den durch die Wrter ange-zielten Sachverhalt deutlich gemacht hat, und der daher dierichtigere Benennung kennt und diese wenigstens gele-gentlich in Gedanken fr sich substituiert.

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  • 7.1 Die universale oder gesetzlicheGerechtigkeit

    Aus den bisherigen Darlegungen mag deutlich gewordensein, welchen Sachverhalt Aristoteles mit dem Begriff eineruniversalen oder gesetzlichen Gerechtigkeit benennen undthematisieren will. Es geht nunmehr darum, die einschrn-kenden Grnde in den Blick zu nehmen, die Aristoteles ver-anlat haben, es nicht bei diesem Begriff zu belassen, ja das indiesem Begriff sich aussprechende ethische, politische, ge-sellschaftliche und anthropologische Konzept mit einemFragezeichen zu versehen. Der erste Hinweis auf die leichteingeschrnkte Gltigkeit der gngigen berzeugung, daein Beobachter des Gesetzes sein und gerecht seinschlechthin identische Sachverhalte bezeichnen, ist in dermoderat modifizierenden Floskel in einem bestimmtenSinne zu sehen, mit der die theoretische Grundlage dieserGleichsetzung wiedergegeben wird: Da uns (nach allgemeinverbreiteten Vorstellungen und Wortverwendungen) der Ge-setzesbertreter als ungerecht und der Beobachter des Ge-setzes als gerecht galt, so ist offenbar alles Gesetzliche in ei-nem bestimmten Sinne gerecht und Recht (V 3, 1129b11ff.).Als Grund fr die (freilich eingeschrnkten) Identifizierun-gen wird angegeben: Was von der gesetzgebenden Gewaltvorgeschrieben ist, ist gesetzlich, und jede gesetzliche Vor-schrift bezeichnen wir als gerecht oder Recht. Die Gesetzebeziehen sich nun auf alle Lebensbereiche: Sie handeln vonallem, heit es lapidar. Erlutert wird die Universalitt die-ser universalen, weil in diesem umfassenden Sinne legalenGerechtigkeit mit mehreren Beispielen aus dem Wirkungs-kreis der (nach Abzug der Gerechtigkeit verbleibenden) bei-den ethischen unter den vier Kardinaltugenden (Tapferkeit,Selbstbeherrschung) und aller anderen Tugenden. Das Ge-setz normiere alles, hier gebietend und dort verbietend, undzwar tue es das in der rechten Weise, wenn es selbst gut ge-fat ist, dagegen in schlechter, wenn es nachlssig, wie ausdem Stegreif entworfen sei (1129b34). Dieser den Geltungs-anspruch des Gesetzlichgerechten einschrnkende Hinweisauf die mglicherweise fehlenden oder aber gegebenen tech-

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  • nischen Qualitten eines Gesetzes ist harmlos verglichen mitder Einsicht, die sich in der Fortsetzung des Satzes von deruniversalen Regelungsleistung des Gesetzes ausspricht: Es istdie Einsicht, da das, was in den Staaten als gerecht gilt, da-von abhngt, wer gerade die politische Macht und damit auchdie juristische und ethische Definitionsmacht besitzt; die Ge-setze regeln alle Lebensbereiche, wobei sie den Nutzen imAuge haben, und zwar indem sie entweder den allen Brgerngemeinsamen Nutzen verfolgen oder aber den Nutzen derAristokraten oder den der jeweiligen Herrscher, mgen siedies dank ihrer Tugend oder einer sonstigen sie auszeichnen-den Eigenschaft sein (1129b15ff.). Die Einsicht in die Plu-ralitt der politischen Verfassungen und in die grundstzlicheUnterscheidungsmglichkeit der Herrschaftsformen erstensdanach, ob sie den Nutzen der Regierenden oder der Regier-ten oder das wre das aristotelische Ideal den gemeinsa-men Nutzen aller5 verfolgen, sowie zweitens danach, auf wel-cher Qualitt und welchem Rechtsanspruch der jeweiligenAmtsinhaber die Herrschaft beruht (freie Geburt, berlegeneTugend, Reichtum, Adel, Bildung, berlegenheit der Zahlnach) ist die entscheidende Erkenntnis, aufgrund derer dieschlichte Gleichsetzung von gesetzlich und gerecht nichtmehr mglich ist. Wer einmal mit der Sophistik die Relati-vitt und Pluralitt der Verfassungen eingesehen hat, wirdschnell gewahr, da in Abhngigkeit davon die gleiche Rela-tivitt den in den Staaten geltenden Gesetzen und damitberhaupt den Gerechtigkeitsvorstellungen6, den Erzie-hungsformen und dem jeweiligen Brgerstatus anhaften, ja

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    5 Cf. Politik III 6, 1279a17ff.: So sieht man denn, da alle diejenigen Verfas-sungen, die auf den gemeinsamen Nutzen abzielen, richtige sind nach demMastabe des Rechtes schlechthin, und da dagegen diejenigen, die nur aufden eigenen Vorteil der Regierenden abzielen, smtlich fehlerhafte Verfas-sungen und Entartungen der richtigen sind.6 Vgl. die Ausfhrungen des Thrasymachos bei Platon, Rep. I, 338e339a:Jegliche Regierung gibt die Gesetze nach dem, was ihr zutrglich ist, die De-mokratie demokratische, die Tyrannis tyrannische und die anderen ebenso.Und indem sie sie so geben, zeigen sie also, da dieses ihnen Ntzliche dasGerechte ist fr die Regierten. Und den diese bertretenden strafen sie alsgesetzwidrig und ungerecht handelnden. Dies nun, o Bester, ist das, wovon ichmeine, da es in allen Regierungen dasselbe Gerechte ist, das der bestehen-den Regierung Zutrgliche.

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  • da sogar die Tugenden der Brger in Abhngigkeit von derjeweiligen Verfassung und Staatsform je andere sind7.

    Die Einsicht, da die Gesetze und das Gerechte von der in-teressegeleiteten Setzung durch die abhngen, welche dieMacht in den Staaten haben, fhrt zu zwei weiteren Gedan-ken und Bedenklichkeiten. Der Sophist Thrasymachus hat inden Eingangserrterungen in Platons Staat daraus dieKonsequenz gezogen, da das Gerechte erstens immer derNutzen des Strkeren ist, und da es also zweitens ber-haupt immer der Nutzen des anderen ist. So weit bist du abmit deinen Gedanken von der Gerechtigkeit und dem Ge-rechten, wirft er Sokrates vor, da du noch nicht weit, dadie Gerechtigkeit und das Gerechte eigentlich ein fremdesGut ist, nmlich der Vorteil des Strkeren und des Herr-schenden, aber der ureigene Schaden des Gehorchenden undDienenden [] Du mut dir, o einfltigster Sokrates, die Sa-che daraufhin ansehen, da der Gerechte in allen Fllenschlechter dasteht und wegkommt als der Ungerechte (Rep.I, 343c, zuvor schon 338c). Eine Folge ist, da niemand frei-willig gerecht ist, sondern nur aus Schwche und Not; dennwo jeder nur glaubt, da er werde unrecht tun knnen, da tuter es auch. Denn jedermann ist berzeugt, da ihm persn-lich die Ungerechtigkeit mehr ntzt als die Gerechtigkeit(Rep. II 360c). Aristoteles selbst hat dann aufgrund jenerEinsicht seinerseits die anfangs zitierte pdagogische Maximevon der richtigen Erziehung in Frage gestellt; er hat erkannt,da Menschsein und Brgersein einerseits und die Normender Erziehung zum Gemeinwesen und die der Einzelerzie-hung andererseits nicht mehr unbefragt identifiziert werdenknnen: Der grte Teil der Gesetzesvorschriften betrifftHandlungen der ganzen Tugend. Denn das Gesetz gebietet,im Leben jede Tugend zu ben, und verbietet, irgendwel-chem Laster Raum zu geben. Das Mittel aber, diese ganze Tu-gend zu verwirklichen, sind jene gesetzlichen Bestimmungen,die die Erziehung fr das Gemeinwesen regeln. Was freilichdie Einzelerziehung betrifft, die zum guten Manne schlecht-

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    7 Vgl. die Belege in: G. Bien, Grundlegung 1985, Register S. 401 siehe Rela-tivitt der Verfassungen.

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  • hin bildet, so ist die Frage, ob sie zur Staatslehre oder zu ei-ner anderen Disziplin gehrt, noch eigens zu behandeln.Denn vielleicht ist es nicht dasselbe, ein guter Menschschlechthin und ein guter Brger eines beliebigen Staates zusein (1130b2129). In der Politik III 4, 1276b3035 wird alsErgebnis lngerer berlegungen festgestellt: Es mu die Tu-gend des Brgers zu der Form und Verfassung seines Staatesim Verhltnis stehen. Gibt es mithin mehrere Arten der Ver-fassung, so kann offenbar die vollendete Tugend eines gutenBrgers nicht blo eine sein, whrend man doch den gutenMenschen nach der einen vollendeten Tugend so nennt. Daman demnach ein guter Brger sein und doch die Tugend,die den guten Menschen ausmacht, nicht besitzen kann,leuchtet ein; am extremen Fall kann man es sich klarmachen:wer sich unter einem tyrannischen Regiment als guter Br-ger hervortut und auszeichnet, kann eben dadurch keinguter Mensch sein. Aber auch abgesehen von diesem uer-sten Fall: Die Vielgestaltigkeit mglicher Polisordnungenund die eine ideale Vollendung des Menschen schlieen ihreIdentifizierbarkeit aus. Nur unter den Bedingungen eineridealen politischen Ordnung, im besten Staate also, sinddie Tugend eines Mannes und eines Brgers notwendig die-selben (Pol. III 18, 1288a398).

    Die universale oder gesetzliche Gerechtigkeit ist die Tu-gend eines Weltzustandes, den man mit Hegel9 so charakte-risieren kann, da in ihm die besondere Individualitt mitdem Substantiellen und Allgemeinen in der Form eines frag-los geltenden und ffentlich anerkannten Gesetzes in tren-nungslosem Zusammenhange bleiben kann, weil die umge-bende Welt der Zustnde und Verhltnisse keine fr sich undbereits unabhngig vom Subjektiven und Individuellen exi-stierende wesentliche Objektivitt gewonnen hat. Da dieseVoraussetzungen fr Aristoteles nicht mehr unbezweifelt ge-geben sind, da also das Allgemeine und Durchgreifende desmenschlichen Lebens, das eigentlich Sittliche, nicht mehr al-

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    8 Vgl. auch Politik VII 14, 1333a1116, VIII 1, 1337a1132. Ausfhrliche Be-handlung des Problems der Erziehung: EN X 10, 1179b201181b12.9 sthetik, hrsg. v. F. Bassenge, Berlin 1955, S.204ff.

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  • lein und nicht mehr primr in den gegebenen Gesetzen, imEthos und Nomos bestand, mute Aristoteles in einer ge-wissen Antizipation spterer kantischer Einsichten auf dieBedeutung der Subjektivitt und der inneren moralischen Be-schaffenheit des Handelnden aufmerksam werden. Aristote-les begrndet ausdrcklich, warum der Standpunkt einerbloen Legalitt sein Recht verloren hat, warum es also nichtmehr gengt, einfach uerlich das zu tun, was die Gesetzevorschreiben: Solches wre recht und richtig nur im akziden-tellen Sinne (Kap. 13, 1137a10ff. Man mag hier sehen, wieunzutreffend eine zur Zeit verbreitete Auffassung ist, die diepraktische Philosophie des Aristoteles nicht nur der Positioneiner sog. konventionellen Sittlichkeit zuordnet, sondern inihr geradezu deren paradigmatische Gestalt sieht). Aristote-les diskutiert sodann des lngeren den Unterschied zwischenobjektivem Unrecht, ungerechter uerer Handlung undUngerechtigkeit als sittlichem Habitus des Subjektes sowienoch einmal die Bedeutung der subjektiven Momente vonVorsatz und Freiwilligkeit (Kap. 10).

    Die in der sprichwrtlichen Wendung von der Gerechtig-keit als der Zusammenfassung aller Tugenden enthalteneWahrheit nimmt Aristoteles zustimmend auf und modifiziertsie doch: Diese Gerechtigkeit ist die vollkommene Tugend,freilich nicht die vollkommene Tugend berhaupt, sondernsoweit sie auf andere Bezug hat, weshalb sie denn auch oft frdie vorzglichste unter den Tugenden gilt []. Sie gilt darumals die vollkommenste Tugend, weil sie die Anwendung dervollkommenen Tugend ist. Vollkommen ist sie aber, weil ihrInhaber die Tugend auch gegen andere ausben kann und nichtblo fr sich selbst. Denn viele knnen die Tugend in ihreneigenen Angelegenheiten ausben, aber in dem, was auf an-dere Bezug hat, knnen sie es nicht []. Ebendarum scheintauch die Gerechtigkeit allein unter den Tugenden ein frem-des Gut zu sein, weil sie sich auf andere bezieht. Denn sie tut,was anderen ntzt, sei es dem Herrscher das thrasymach-eische Argument , sei es dem Partner (bei einem gemeinsa-men Geschft) [] Der Beste jedenfalls ist, wer seine Tugendnicht nur sich, sondern auch anderen zugute kommen lt.(V 3, 1129b25ff.). Aristoteles nimmt also mit erstaunlicher

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  • Unbefangenheit die sophistische, durchaus (auch) im zyni-schen Sinne zu verwendende Kennzeichnung der Gerechtig-keit als eines fremden Gutes auf, entschrft sie aber zugleichdadurch, da er sie aus dem Diskussionszusammenhangfremder Nutzen, aber eigener Schaden herausbringt und zueinem rein definitorischen Moment der Tugendbeschrei-bung macht10. Wie er zugleich an dem alten Rang der alle sitt-lichen Qualitten umfassenden Polistugend festhlt und dochauch das sophistische Moment des Fremdbezuges anerkennt,zeigt seine abschlieende Darlegung, die ihr Wesen, ein Ver-mittlungsversuch zu sein, deutlich zu erkennen gibt: Die ge-setzliche Gerechtigkeit ist kein bloer Teil der Tugend, son-dern die ganze Tugend [] Wie die Tugend und diese Ge-rechtigkeit sich trotzdem unterscheiden, erhellt aus dem Ge-sagten. Beide sind dasselbe, in ihrem Sein (d. h. in ihrer Rea-lisierung) aber sind sie nicht dasselbe, sondern insofern sie aufden anderen bezogen ist, ist sie Gerechtigkeit, insofern sie je-doch die entsprechende Grundhaltung einfachhin (also ohneeinen solchen definitorischen Zusatz, G. B.) ist, ist sie die Tu-gend (EN V 3, 1130a8ff.).

    7.2 Die Gerechtigkeit als Teiltugend

    Die relativ umstndliche Weise, in der Aristoteles den Begriffder partikulren Gerechtigkeit nach umfnglichen methodi-schen Vorberlegungen ber die Klrung mehrdeutigerWrter (etwa aufgrund der Mehrdeutigkeit ihres Gegenbe-griffes, 1129a23) gewinnt und einfhrt, und die mehrmaligeVersicherung, da es eine solche Gerechtigkeit neben der

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    10 Freilich kennt die Nikomachische Ethik durchaus auch das Problem derNutzen-, Schaden- und Ausgleichskalkulation bei Handlungen der Gerech-tigkeit im Dienste anderer. Der wahre Herrscher ist Wchter des Rechtes undmit dem Recht auch der Gleichheit. Und da er vor den anderen nichts voraushaben will, wenn er gerecht ist denn er teilt sich selber kein Plus vomschlechthin Guten zu und wirkt darum fr einen anderen daher der obenschon zitierte Ausspruch, die Gerechtigkeit sei ein fremdes Gut , so mu ihmalso ein gewisser Lohn zugestanden werden, und dies ist die Ehre und derRuhm. Wem aber dieses nicht gengt, der wird ein Tyrann (Kap. 10,1134b1ff.).

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  • universalen wirklich gebe, macht deutlich, da es sich bei die-sem Lehrstck um eine aristotelische Entdeckung oderNeuerung handelt. (Fast mchte man meinen, da der Autorsich gewissermaen immer wieder selbst erst von der Rich-tigkeit seiner Einsicht habe berzeugen mssen.) Ein Indizfr die Mehrdeutigkeit des Wortes Gerechtigkeit bzw.Ungerechtigkeit liefert ihm der Sprachgebrauch. Fr die-sen ist ungerecht einmal der Mensch, der sich nicht an die Ge-setze hlt, sowie zweitens der pleonekts, also der, welcher dasist die wrtliche bertragung mehr haben will, und derdarum ein Freund der Ungleichheit ist11. Um sich eine an-schauungsgesttigte Vorstellung von der Bedeutung des Ter-minus pleonekts und des zugehrigen Substantivs pleonexiavor Augen zu fhren, mte man sich an dieser Stelle die po-litische Anthropologie des groen thukydideischen Ge-schichtswerkes vergegenwrtigen, in dem smtliche politi-schen Unrechtshandlungen, Vertragsbrche, berflle aufbefreundete Staaten, Expansions- und Eroberungskriegeusw. auf diese Untugend als ein anthropologisches Grund-konstituens zurckgefhrt werden. Hier bleibt uns nur, dielexikalischen Ausknfte zu vermerken. Mehr haben wollenbedeutet demnach auch einen greren Anteil oder allge-mein einen Vorteil vor anderen haben wollen, im Vorteil seinwollen, den Partner bervorteilen, andere beeintrchtigen,ja andere betrgen; das Substantiv pleonexia kann ber dieunter Umstnden neutralen Komponenten Mehr habenwollen12 und Gewinn hinaus auch die eindeutig wertendenBedeutungen Betrug, Eigennutz, Habsucht, Begehrlichkeit,Herrschsucht, Gewaltherrschaft, Unterdrckung andererannehmen. Die Pleonexie wir belassen es angesichts derzahlreichen Konnotationen dieses Begriffs praktischerweise

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    11 In einigen Handschriften steht vor Freund der Ungleichheit noch ein-mal der Artikel; dadurch haben sich die lteren lateinischen bersetzer (undin deren Nachfolge Eugen Rolfes) dazu bewegen lassen, hier flschlicherweisedrei Bedeutungen zu sehen (Videtur autem illegalis iniustus esse et avarus etinaequalis, vgl. G. Bien, Erl. zu EN 1129a32, in: Aristoteles, NikomachischeEthik 1985, S. 284f.).12 Mehr haben wollen kann einmal (1) meinen, mehr als man hat, sodann(2) mehr als andere sowie schlielich (3) mehr als einem zusteht haben wollen.

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  • bei dem griechischen Wort hat es mit den Lebensgtern zutun, freilich nicht mit allen, sondern mit denen, die ueresGlck und Unglck bedingen, und die zwar schlechthin undan sich immer gut sind, aber nicht immer fr den einzelnen.Konkret gedacht ist an materiellen Gewinn, aber auch anEhre und Ansehen, an Posten und politische mter und anMacht, insgesamt also an solches, worin sich die Menschenmiteinander in Vergleich zu setzen pflegen. Der Gebrauchsolcher Gter und alle damit verbundenen Probleme sindspezifisch menschliche Gegebenheiten (vgl. Bien 1985, 69ff.).Das sich auf diesen Bereich beziehende Recht hat seine Stelleunter Wesen, die an den Gtern schlechthin teilhaben unddavon ein Zuviel und ein Zuwenig haben knnen. Es gibt We-sen, die kein Zuviel davon haben knnen, dies sind (nach Ari-stoteles) vielleicht die Gtter, und wieder andere gibt es, un-heilbar Schlechte, denen kein Teil davon ntzt, sondern allesschadet, und endlich gibt es solche, denen sie innerhalb be-stimmter Grenzen ntzlich sind. Darum ist das Recht einemenschliche Angelegenheit (V 13, 1137a2630). Eine Erlu-terung des Gedankens, da diese Gter sowohl ntzen wieauch schaden knnen und da das Besitzen allein noch keinenGewinn bedeutet, bietet das Schlukapitel der EudemischenEthik (VIII 3, 1248b 2634; vgl. auch ebd. 1249a 10/11): Gutist der ein Angehriger der dritten der eben unterschiede-nen Gruppen , dem die natrlichen Gter gut, d. h. nichtschdlich sind. Denn die stark umworbenen und in der Gel-tung am hchsten stehenden Gter Ansehen, Reichtum,krperliche Vorzge, Glck-Haben und Macht das sindzwar natrliche Gter, aber sie haben die Eigentmlichkeit,fr manche auch schdlich sein zu knnen, je nach deren see-lischer Grundverfassung. Denn weder der Unverstndigenoch der Ungerechte oder der Zuchtlose kann vom Gebrauchdieser Gter einen Nutzen haben. Aristoteles erlutert dasvon ihm Gemeinte wie auch sonst oft am parallelen Beispielder gesunden bzw. kranken Konstitution: Der Kranke kannaus der Nahrung des Gesunden, aus den fr diesen frderli-chen klimatischen Bedingungen usw. keinen Nutzen ziehen,ja sie nicht einmal ertragen. Analog zu dem Satz Gut ist, frwen das Gute gut ist kann man sagen Gesund ist, fr wen

    Gerechtigkeit bei Aristoteles 147

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  • das Gesunde gesundheitsfrderlich und berhaupt ertrglichist.13

    Es ist nun nicht so, da der Ungerechte immer zuviel ha-ben will, unter Umstnden will er auch zuwenig oder dochweniger bekommen, nmlich von dem, was an sich ein belist. Da aber das kleinere bel gewissermaen als ein Gut er-scheint und das Mehr haben Wollen auf Gter gerichtet ist,so scheint auch ein solcher Mensch ein mehr haben wollen-der zu sein; in Wirklichkeit aber ist er ein Freund der Un-gleichheit. Das ist nmlich der weitere und allgemeinere, dasZuviel und das Zuwenig umfassende Begriff (EN V 2,1129b611).

    Die in diesen berlegungen verwendeten Kategorien mehrund weniger, zuviel und zuwenig sowie gleich und ungleich las-sen gleich zu Beginn den ausgesprochen quantifizierendenDuktus der aristotelischen Ausfhrungen ber die partikulreGerechtigkeit erkennen. Die gemeinsame Benennung Ge-rechtigkeit kommt ihr darum zu, weil in ihrer Definition wiein der der ihr synonymen universalen und gesetzlichen Ge-rechtigkeit der Bezug auf andere enthalten ist (iustitia semperest ad alterum, wie die sptere Schulphilosophie diesen Tatbe-stand formuliert hat.) Das Verhltnis der beiden Arten vonGerechtigkeit ist so zu bestimmen. 1. Beide Gerechtigkeitenimplizieren eine Relation auf andere hin, nur bezieht sich dieeine auf Ehre oder Eigentum oder Gesundheit oder in wel-chen Ausdruck wir das alles zusammenfassen mgen, undentspringt aus der unordentlichen Freude am Gewinn,whrend sich die andere auf alles bezieht, womit der Tugend-hafte es sonst zu tun hat (1130b15). Mit einem drastischenBeispiel wird erlutert, da, wenn der eine einem Gewinn zu-liebe Ehebruch begeht und noch Geld dazu bekommt, der an-dere dieselbe Tat aus Triebhaftigkeit verbt, so da er nochGeld dafr ausgibt und so eine finanzielle Einbue14 erleidet,

    148 Gnther Bien

    13 Auf diese berlegungen beruft sich Aristoteles in der Politik V 13,1332a2125: In der Ethik ist ausgefhrt worden, da der Gute und Tugend-haftige von der Art ist, da wegen seiner Tugend das an sich und schlechthinGute auch fr ihn gut ist, und daraus folgt dann notwendig, da auch die Art,wie er die Gter anwendet, im absoluten Sinne tugendhaft und schn ist.14 Die bersetzung von Franz Dirlmeier ist an dieser Stelle zu korrigieren.

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  • so scheint der letztere eher zuchtlos als mehr-haben-wollendund gewinnschtig zu sein, der erstere dagegen ungerecht,aber nicht eigentlich zuchtlos; was er tat, tat er offenbar einesmateriellen Gewinnes wegen (V 4, 1130a2428). 2. Alle an-deren Verste gegen die Gerechtigkeit lassen sich immer aufeine bestimmte Untugend zurckfhren, z. B. der Ehebruchauf Zuchtlosigkeit, das Entweichen aus Reih und Glied in derSchlacht auf Feigheit, Mihandlung anderer auf Wut undZorn, unerlaubter Gewinn aber auf keine andere Untugendals auf Ungerechtigkeit (V 4, 1130a2832). Daraus ergibtsich, noch einmal: Die universale Gerechtigkeit enthlt alsihre Konkretisierung alle anderen Tugenden: die Tapferkeit,die Selbstbeherrschung, die Ehrlichkeit, die weiteren Teiltu-genden A, B, C, D usw. Eine dieser partikulren oder Teiltu-genden neben anderen Teiltugenden ist nun die Haltung, dieauf ungeordneten Gterbesitz und Haben-Wollen aus ist, dieiustitia particularis (quia ad iustitiam legalem sive universalem sehabet ut pars ad totum, Thomas von Aquin). Da die ihr kon-trre Ungerechtigkeit auf ein Mehr, ein Zuviel und auf Un-gleichheit aus ist, kann sie selbst auch Gerechtigkeit derGleichheit (bzw. des Ausgleichs) (iustitia aequalitatis) heien.

    Die partikulre Gerechtigkeit regelt ihrerseits wiederumzwei Bereiche: einmal (a) die Zuerteilung von Ehre oder Geldoder anderen Gtern, die unter die Staatsangehrigen zurVerteilung gelangen knnen denn hier kann der eine un-gleich viel und gleich viel erhalten wie der andere ; eine an-dere Funktion und Realisierung besteht (b) darin, den ver-traglichen Verkehr der einzelnen untereinander zu regeln. Jene(I) heit die austeilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva, di-anemetische Gerechtigkeit), diese (II) wird als die ausglei-chende, wiederherstellende, korrektive oder mit der grie-

    Gerechtigkeit bei Aristoteles 149

    Der Zusatz und Strafe hinnimmt in dem Satze Wenn jemand einen Ehe-bruch begeht aus Triebhaftigkeit, wobei er noch Geldverlust und Strafe hin-nimmt (S. 98) ist zu streichen; statt dessen mu es heien: Wenn er noch zu-legt und einen Geldverlust hinnimmt. Der Aspekt der Strafe durch ein f-fentliches Gericht, ein Ehrengericht oder die ffentliche Meinung mu ausdem Spiel bleiben: das Begriffspaar kerdos kai zemia, Gewinn und Verlust sinddie festen quantifizierenden Termini zur Bezeichnung dessen, worauf sich dasMehr-haben-Wollen bezieht.

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  • chischen Bezeichnung die diorthotische (oder epanorthoti-sche15) Gerechtigkeit (iustitia regulativa sive correctiva, in com-mutatibus directiva) benannt.

    Es ist nicht zu bersehen, da die Einteilung der verschie-denen Begriffe und Formen der Gerechtigkeit und des Rechtsbei Aristoteles sehr vielgestaltig und z. T. auch widersprch-lich ist, jedenfalls da sie nicht ohne weiteres klar ist (vgl. Rei-ner 1964, 59 Anm. 17). Man wird dies mit der Tatsache er-klren (und entschuldigen), da Aristoteles hier zum erstenMal den Versuch einer begrifflichen und intellektuellenStrukturierung eines gesellschaftlichen Gebietes unter-nimmt, das er zuerst zum Thema der Philosophie gemachthat. Hinzu kommt, da in der Tradition der Schulphilosophiegewisse terminologische Fixierungen vorgenommen wordensind, die ihrerseits die aristotelischen Gedanken nicht zutref-fend wiedergegeben haben, die aber kraft ihrer hohen autori-tativen Geltung fr Jahrhunderte den Blick auf die Texte ver-stellt haben.

    Das grte Problem bietet die zweite Form der parti-kulren Gerechtigkeit, die den vertraglichen Verkehr der ein-zelnen untereinander regelnde. Seit Thomas von Aquinwurde diese Form als die Tausch- oder kommutative Gerech-tigkeit (iustitia commutativa) bezeichnet und fixiert. Gemeintist damit die Tugend, die dann gegeben ist, wenn der freiwil-lige vertragliche und geschftliche Verkehr von zwei Partnernrichtig und nach Gebhr abluft. Fr diesen Fall spricht Ari-stoteles wohl von einem Recht der Wiedervergeltung nachMagabe der Proportionalitt (1132b32), aber genau bese-hen fhrt er keinen hierfr eigens zustndigen sittlichenHabitus ein. Auch in der abschlieenden, die Ergebnisse dergesamten Diskussion zusammenfassenden Definition im 9.Kapitel (1134a1ff.) wird dieser Typ nicht erwhnt. Was Ari-stoteles thematisiert, ist der durch einen Akt der Gerechtig-keit zu vollziehende Ausgleich von Gtern und Schdigungenin dem Falle, da bei einer Geschftsverbindung einem derPartner unrecht geschehen ist. Dies ist dann die ausglei-

    150 Gnther Bien

    15 diorthotisch: 1131b25; epanorthotisch: 1132a18; vgl. Salomon, Der Be-griff der G. bei Ar. 24 ff; Trude 1955, 89ff.

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  • chende, wiederherstellende, korrektive oder regelnde Ge-rechtigkeit, die iustitia correctiva sive in commutatibus directiva.

    Hans Reiner (1964, 58 Anm. 15) hat plausibel machen kn-nen, wie es wohl bei Thomas zu dem Miverstndnis gekom-men ist. Thomas scheint eine lateinische bersetzung desSatzes 1130b30ff. Von der partikularen Gerechtigkeit isteine Art die, die bei Zuerteilungen (en tois dianomais) vonueren Gtern vorkommt, eine andere ist die bei Geschfts-vorgngen (en tois synallagmasi) regelnde vorgelegen zu ha-ben, die was nach den Sprachregeln durchaus mglich ist das griechische Adjektiv regelnde (diorthotikon) auf beidegesellschaftlichen Bereiche bezieht (wozu ja auch der sprach-liche Parallelismus der Wendungen bei Zuerteilungen/beiGeschftsvorgngen geradezu verfhrt). In der Wiedergabedes Gedankens in der Summa theologiae IIII qaest. 61, art.3ist der Vorgang zu erkennen: Distributiva iustitia est directivadistributionis, commutativa vero iustitia est directiva commu-tationum. Dadurch, da das direktive Moment nun keinSpezifikum der zweiten Art mehr ist wobei dieser Begriff jadessen eigentliche definitorische Bedeutung ausgemachthatte , tritt an dessen Stelle in der Definition jetzt die Be-reichsbezeichnung: Aus der bei Austauschvorgngen regeln-den Gerechtigkeit wird so die Austauschgerechtigkeit, dieiustitia commutativa16. Die Einordnung und Benennung derzweiten Art der partikulren Gerechtigkeit, der Ausgleichs-gerechtigkeit, als Austauschgerechtigkeit fhrt dazu, daThomas beispielsweise den Mord ausdrcklich als eine Ver-letzung der Tauschgerechtigkeit diskutiert17. Diese Subsum-tion ist freilich nach jener Titulierung dieser Gerechtig-

    Gerechtigkeit bei Aristoteles 151

    16 Das im Text wiedergebene Zitat aus Thomas ist so der Diskussion bei H.Reiner (a.a.O. 58 Anm. 16) entnommen. Im Sed contra von quaest. 63 art. 3wird der Vorgang der Verschiebung des definitorischen Momentes directivavon der zweiten auf die erste Art der Teilgerechtigkeit noch deutlicher, wennes dort als Aristoteleszitat (!) heit: Una species iustitiae est directiva indistributionibus, et alia in commutationibus.17 Vgl. H. Reiner 1964, 62 Anm. 23. Sowenig es fr eine Wegnahme des Le-bens einen nachtrglichen Ausgleich durch Entschdigung des Gettetenberhaupt gibt, so wenig ist hierin eine Tauschvereinbarung oder ein wirkli-cher Austausch auch nur berhaupt mglich. Das Menschenleben ist kein Ge-genstand, der gegen etwas anderes vertauscht werden kann.

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  • keitsart konsequent. Das wird aus dem weiteren Gedanken-gang der Nikomachischen Ethik deutlich.

    Aus Anla der Einfhrung der zweiten Unterart der Teil-gerechtigkeit skizziert Aristoteles eine Gesamtbersicht berdie mglichen Verkehrs- und (oft doch recht ungleichen)Vertrags- und Tauschbeziehungen (synallagmata) innerhalbder Gesellschaft. Die Austausch- oder Vertragsbeziehun-gen sind demnach (1.) teils freiwillig, (2.) teils unfreiwillig. Zuden ersteren (1.) gehren Kauf und Verkauf, Zinsdarlehenund Brgschaftserklrungen, Leihe, Hinterlegung und Miet-kontrakte. Der Ursprung solcher wechselseitiger Beziehun-gen ist beiderseits eine freie Entscheidung. Die unfreiwilligenBeziehungen18 (2.) sind wiederum entweder (a) heimlicheHandlungen (wie Diebstahl, Ehebruch, Giftmischerei, fal-sches Zeugnis) oder gewaltsame Aktionen (b) (wie Mihand-lung, Freiheitsberaubung, Totschlag, entehrende Beschimp-fung19). Der Text fhrt nun wrtlich fort: Von der partikula-ren Gerechtigkeit [] ist die andere die den Tauschverkehr dereinzelnen untereinander regelnde. Die letztere hat zwei Teile.Es gibt nmlich freiwillige und unfreiwillige Austauschbezie-hungen, bei den letzteren wieder heimliche und gewaltsame(1131a1ff.). Diese Einteilung, die als eine solche von Gerech-tigkeitsbegriffen eingefhrt wird, gliedert in Wirklichkeit je-doch gesellschaftliche Aktionen verschiedener Art; eine di-rekte Anwendung auf Gerechtigkeitsformen wird an keinerStelle gegeben (etwa in dem Sinne, da von einer gewaltsa-men oder heimlichen Gerechtigkeit gesprochen wrde20).

    152 Gnther Bien

    18 Ich whle hier fr synallagma, was sonst Tausch oder Verkehr bedeu-tet, das neutralere Wort Beziehung, da wir mit jenen Benennungen nur frei-willige Verhltnisse bezeichnen; vgl. Fechner 1855/1987, 32f. Anm. 4 (Hin-weis auf den Wortgebrauch im Rmischen Recht malus contractus seu delic-tum).19 Vgl. das Schema bei Bien, Erl. zur EN 1130b30, 286. Bei B 1 b) bb knntestatt manifesta auch violenta stehen. Zur Information ber die einzelnenRechtsgeschfte bzw. Delikte sind die Literaturhinweise bei Dirlmeier, An-merkungen zur EN S. 404 zu 100,3 hilfreich.20 Die Handbcher nicht die groen Autoren selbst haben dann freilichkurzerhand die entsprechenden Benennungen kreiert. Im Index rerum etnotabilium et nominum der Ausgabe des Kommentars des Thomas zur Ni-komachischen Ethik von P. Fr. R. Spiazzi (1949, p. 583 sq.) werden bedenkenloseine iustitia voluntaria et involuntaria, occulta et manifesta, eine freiwillige

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  • Man wird die vermite Einteilung vielleicht so ergnzenknnen. Diejenige Tugend, deren Aufgabe im Ausgleich zwi-schen den Partnern nach Akten von unfreiwilligen Ge-schftsbeziehungen besteht, und zwar sowohl nach heimli-chen wie nach gewaltsamen Aktionen, ist die wiederherstel-lende oder ausgleichende oder korrigierende Gerechtigkeit(das ius correctivum, die iustitia in commutatibus directiva).

    Fr den Fall, da der freiwillige vertragliche und geschft-liche Verkehr von zwei Partnern richtig und nach Gebhr ab-luft, benennt die Nikomachische Ethik im Zusammenhang derBehandlung in Kap. 8 keine eigene Tugend, sie spricht wohlvon einem Recht der Wiedervergeltung nach Magabe derProportionalitt (1132b32). Dieser Interpretation steht freilich nur in gewissem Sinne, in gewissem Sinne aber doch der die Behandlung dieser Gerechtigkeit (nach Erledigungder Austeilungsgerechtigkeit) einleitende Satz entgegen:Der noch brige Teil (der partikulren Gerechtigkeit) ist dieausgleichende (diorthotische), die ihre Anwendung bei denTausch- (oder Vertrags)beziehungen hat, und zwar sowohlbei den freiwilligen wie bei den unfreiwilligen (1131b25).Hieraus geht nicht hervor, ob man daraus zwei im strengenSinne von einander zu trennende Tugendtypen ableiten kannoder nur zwei Varianten desselben. Den Oberbegriff gibt je-denfalls nicht die commutatio, der Gteraustausch ab, sondernder Ausgleich, die correctio. Die neutralste Kennzeichnungbeider Formen wre nach 1131b25f. epanorthotische Ge-rechtigkeit (bei freiwilligen Tauschbeziehungen) und epan-orthotische Gerechtigkeit (bei unfreiwilligen Tauschbezie-

    Gerechtigkeit bei Aristoteles 153

    und unfreiwillige, eine heimliche und eine offen erkennbare Gerechtigkeit re-gistriert; schlgt man die verzeichneten Stellen nach, so zeigt sich jedoch, daThomas selbst nicht so spricht; er gibt przise wieder, da es sich um eine Ein-teilung der Formen von Interaktionen handelt (etwa no. 930 zu Text no. 660sq = Bekker 1131a3ff.). Im brigen ist Thomas auch insofern durchaus genau,wenn er im corpus articuli von S.th. IIII qaest. 61 art. 3 als Ergebnis res-miert: Ideo omnes istae actiones ad unam speciem iustitiae pertinent, scilicetad commutativam. Folglich beziehen sich alle jene Handlungen (gemeint sindKauf und Verkauf, Brgschaft, Miete, Mord, Raub, Diebstahl, ffentlicheEntehrung) auf eine einzige Form der Gerechtigkeit, nmlich die kommuta-tive. Es wird nicht behauptet, da sie smtlich Akte oder gar Formen dieserGerechtigkeit seien!

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  • hungen). Wir whlen als Oberbegriff den Titel ausglei-chende Gerechtigkeit.

    Die austeilende Gerechtigkeit

    Fr die austeilende Gerechtigkeit nennt Aristoteles zweiBeispiele: eine Geldverteilung unter den Brgern aus f-fentlichen Mitteln (Kap. 7, 1131b29ff.) sowie die Aufteilungvon politischen mtern und Machtbefugnissen (Kap. 6,1131a25ff.). Immer geht es in solchen Fllen darum, daGleiche Gleiches und Ungleiche Ungleiches erhalten. Diefolgenden Elemente sind in einer solchen Situation notwen-dig als gegeben zu denken:1. jemand, der austeilt,2. eine gemeinsame materielle oder immaterielle Gter-

    masse, die zur Verteilung ansteht,3. mindestens zwei Personen, unter die verteilt werden soll,4. eine Wrdigkeit und ein Anspruchsgrund, an dem ge-

    messen einem jeden ein bestimmtes Gterma zusteht,5. der bestimmte, der Wrdigkeit entsprechend zuzuwei-

    sende Anteil jeder der beiden Personen am gemeinsamenGut sowie nicht zu vergessen, da Gegenstand und Anlaaller dieser berlegungen,

    6. die Gerechtigkeit dessen, der die Zuteilung vornimmt.

    Im Falle der politischen Rechte gibt es keine die mter,Machtbefugnisse, Entscheidungsgewalten und Ehren austei-lende Figur, die vom Standpunkt einer neutralen dritten Po-sition aus hier das Richtige und Gerechte entscheiden unddurch Herrschaftszuweisung vollziehen knnte: Die Vertei-lung der politischen Macht ist der Gegenstand des politischenStreites. Es ist dies ein Streit, der auch mit Argumenten ge-fhrt wird. In diesem Streit berufen sich die Demokraten aufdas Recht der freien Geburt, die Oligarchen auf den Besitz,andere sehen ihr Vorrecht in der vornehmen Abstammung,die Aristokraten das Wort im eigentlichen Sinne von Herr-schaft der Besten und zum (allgemeinen) Besten genommen(vgl. Politik III 7, 1279a35) in der Tugend. Die vernnftige

    154 Gnther Bien

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  • Bestimmung der Wrdigkeit zur Herrschaft ist daher nachAristoteles die Grundaporie des Politischen (Pol. III 12,1282b20 ) und dementsprechend ein zentrales Thema seinerpolitischen Philosophie: Es ist eine schwierige Frage, wasdas Herrschende im Staate sein soll. Entweder mu es diezahlenmig berlegene Menge (das heit dann aber: die Ar-men) sein, oder die Reichen, oder die Tugendhaften, oder derEine Beste von allen, oder ein Tyrann. Jede dieser Positio-nen kann gute Grnde fr sich anfhren, aber jede hat iso-liert genommen ihre Schwierigkeiten und ihr Unrechtsmo-ment (Pol. III 10, 1281a11).

    Leichter ist die Aufteilung einer materiellen und eindeutigzu quantifizierenden Gtermasse unter die Brger; sie hatnach dem Verhltnis der eingebrachten Leistungen zu ge-schehen. Grundstzlich gilt hier (wie auch in allen anderenVerteilungssituationen) das Recht der Proportionalitt. Derder Person A zugewiesene Anteil mu sich zu dem der PersonB zugewiesenen Anteil proportional ebenso verhalten, wiesich der Anspruch und die Wrdigkeit der beiden Personenzu einander verhlt:

    Person A : Person B = Anteil a : Anteil b.Eine solche Proportionalitt nennt Aristoteles mit den Ma-

    thematikern seiner Zeit eine diskrete oder auch geometischeProportionalitt. Diese letztere liegt dann vor, wenn sich je-weils die Summe der Person und ihres Anteils zueinander ver-halten wie die Personen selbst:

    (Person A + Anteil a) : (Person B + Anteil b) =Person A : Person B

    Das Recht der austeilenden Gerechtigkeit ist also diesesProportionale, das Unrecht aber ist, was wider die Proportio-nalitt verstt. Es kann teils ein Mehr, teils ein Weniger sein:Wer Unrecht tut, eignet sich vom Guten zuviel an, und werUnrecht leidet, bekommt davon zuwenig. Beim bel aber istes umgekehrt. Denn das kleinere bel kann im Vergleich zumgreren bel als ein Gut gelten, da das kleinere bel vordem greren den Vorzug hat, und da, was den Vorzug hat,ein Gut ist (V 7, 1131b17ff.). Das Proportionale ist hier dasGerechte, nmlich die Mitte und das Mittlere zwischen dem,was der Proportionalitt zuwiderluft (1131b10).

    Gerechtigkeit bei Aristoteles 155

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  • Die Ausgleichsgerechtigkeit Typ 1:Der Ausgleich bei freiwilligen Geschftsbeziehungenoder Die Tauschgerechtigkeit

    Kernstck der aristotelischen Theorie der ausgleichendenGerechtigkeit ist die Untersuchung der Verhltnisse beimfreiwilligen Tauschverkehr. Das 8. Kapitel, das die freiwilli-gen Verkehrsverhltnisse in einer Gesellschaft behandelt, istdas lngste im ersten systematischen Teil des Gerechtigkeits-buches, in welchem die Formen der Gerechtigkeit unter-schieden und behandelt werden. In seltener Grundstzlich-keit geht Aristoteles bis in geradezu mythische Tiefen zurck,wenn er das Recht des Totenrichters Rhadamanthys beruftund die Wiedervergeltungsphilosophie der Pythagoreer; hierlesen wir andererseits in grter Verdichtung grundstz-liche Aussagen ber arbeitsteilige Gesellschaften, ber dasBedrfnis als das Moment, das die Menschen zusammenhlt,wir treffen auf die erste systematische Behandlung des Geldesin Europa sowie auf prinzipielle Reflexionen ber die Not-wendigkeit und die Grenzen der Quantifizierung von Le-bensgtern.

    1. Die Notwendigkeit einer Verschiedenheit von Leistun-gen und Bedrfnissen. Es wre um die verschiedenen Ttig-keiten und Knste in einer arbeitsteilig differenzierten Ge-sellschaft geschehen, wenn nicht jeder, der ein Produktschafft, das sich quantitativ und qualitativ bewerten lt, dafrim Gegenzug sowohl in quantitativer als auch in qualitati-ver Hinsicht entsprechend entlohnt wrde. Denn aus zweirzten wird keine Gesellschaft, sondern aus Arzt und Bauerund berhaupt aus verschiedenen und ungleichen Personen,zwischen denen aber eine Gleichheit hergestellt werden soll(1133a15ff.).

    2. In Wahrheit ist es das Bedrfnis, das alles zusammenhlt.Denn wenn die Menschen nichts bedrften oder nicht diegleichen oder doch vergleichbare Bedrfnisse htten, sowrde entweder kein Austausch stattfinden oder doch keinegegenseitigen Vereinbarungen (1133a26ff.; vgl. 1133b610).

    3. Nicht der Austausch als solcher hlt die Gesellschaftzusammen, sondern die verhltnismige Vergeltung.

    156 Gnther Bien

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  • Grundstzlich gilt: Wrde das Bse nicht vergolten, so htteman den Zustand der Sklaverei; ohne Vergeltung des Gutengbe es keine Gegenleistung, auf der doch die Gesellschaftund Gemeinschaft beruht. Darum errichtet man auch dasHeiligtum der Chariten auf ffentlichen Pltzen, damit mander Gegenleistung gedenke, die der Dankbarkeit eigen ist.Denn man mu dem, der uns gefllig gewesen ist, Gegen-dienste erweisen und auch selbst wieder zuerst ihm geflligsein (1133a3ff.).

    4. Es mu nun alles, was untereinander ausgetauscht wird,in einem gewissen Sinne vergleichbar sein. Zu diesem Zweckehat man das Geld erfunden, das sozusagen zu einer Mitte wird.Denn das Geld mit alles und demnach auch den berschuund den Mangel; es dient also z. B. zur Berechnung, wievielSchuhe einem Haus oder einem gewissen Ma von Lebens-mitteln gleichkommen. Ohne solche Berechenbarkeit knntekein Austausch und keine Gemeinschaft sein. Die Berech-nung liee sich aber nicht anwenden, wenn nicht die fragli-chen Werte in gewissem Sinne gleich wren (1133a18ff.).

    5. So mu denn fr alles eine Einheit als Ma bestehen.Dieses Eine ist in Wahrheit das Bedrfnis, das alles zusam-menhlt (1133a26) es ist der Grund fr das Zusammenblei-ben der Menschen wie auch das Ma ihrer gegenseitigenVergeltung.

    6. Nun ist aufgrund menschlicher bereinkunft das Geldgleichsam Stellvertreter des Bedrfnisses geworden, unddarum trgt es den Namen Nomisma (Geld), weil es seinenWert nicht von Natur hat, sondern durch den Nomos, dasGesetz, und weil es bei uns steht, es zu verndern und auerUmlauf zu setzen (1133a29ff.). In Fllen, wo wir ein Gut an-bieten knnen, selbst aber gerade kein Bedrfnis haben, istdas Geld darber hinaus ein Garant und Brge knftiger Be-drfnisbefriedigung; wer mit Geld kommt, erhlt nach Be-darf. Die Stabilitt des Geldwertes ist zwar keine absolute,aber doch zuverlssiger als die von Gebrauchsgtern und Le-bensmitteln (1133b11ff.).

    7. Daher mu alles seinen Preis haben; denn so wird immerAustausch und somit Verkehrsgemeinschaft mglich seinknnen. Das Geld macht also wie ein Ma alle Dinge kom-

    Gerechtigkeit bei Aristoteles 157

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  • mensurabel und stellt dadurch eine Gleichheit unter ihnenher. Denn ohne Austausch wre keine Gemeinschaft undohne Gleichheit kein Austausch und ohne Kommensurabi-litt keine Gleichheit (1133b14ff.). Freilich ist sich Aristote-les der mit diesen Bestimmungen verbundenen Problematikbewut: In Wahrheit knnen freilich Dinge, die sehr vonein-ander verschieden sind, nicht kommensurabel sein, das Geldbietet nur eine fiktionale Aushilfe: Denn alles wird nach ihmgemessen (1133b22). Das Geld ist allerdings selbst nicht derletzte Mastab: es ist nur Stellvertreter des Bedrfnisses kraftbereinkunft, und es ist Garant knftiger Bedrfnisbefriedi-gung das letzte Eine, das in Wahrheit alles zusammenhlt,ist das Bedrfnis (1133a2421).

    Die Ausgleichsgerechtigkeit Typ 2:Der Ausgleich bei unfreiwilligen Geschftsbeziehungenoder: Die korrigierende richterliche Gerechtigkeit

    Die anthropologische Funktion der partikulren Gerechtig-keit, von der die jetzt behandelte Form eine Unterart dar-stellt, besteht darin, die Probleme zu bewltigen, die mit demmenschlichen Grundtrieb der Pleonexie, dem Mehr-haben-Wollen, gegeben sind. Die Teilgerechtigkeit stellt in ihrenverschiedenen Formen jeweils auf ihre Weise das Recht alseine Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig her. Da-bei ist der Vorteil und Gewinn ein Zuviel des Guten und einZuwenig des bels, der Nachteil und Schaden aber das Um-gekehrte.

    Es ist insbesondere das Geschft des Richters, in Fllen un-gleicher, weil ungerechter Verteilung von Gewinn und Scha-den fr einen Ausgleich zu sorgen, d. h. die Mitte wiederher-zustellen. Der Richter ist der Mann der Mitte, der dadurch,da er die Mitte trifft, das Rechte trifft. Zum Richter gehen

    158 Gnther Bien

    21 Vgl. zur Diskussion der gesellschaftsphilosophischen Implikationen die-ser Theorie G. Bien, Erl. zu EN 1133b18, in: Aristoteles, Nikom. Ethik S. 288(Gegenberstellung zu Platon und zu Karl Marx; Erklrung der aristoteli-schen Lsung durch seine Orientierung an der Lebensdienlichkeit als demletzten Wertmastab der Gter); vgl. auch G. Bien, Die aristotelische ko-nomik (1989), und: Die aktuelle Bedeutung d. konom. Theorie (1990).

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  • bedeute daher soviel wie zur Gerechtigkeit gehen, weil er wiedie lebendige Gerechtigkeit sein soll. In relativ komplizierten(hier nicht wiederzugebenden22) Berechnungen stellt Ari-stoteles dar, wie ein solcher Ausgleich vorzunehmen ist. DerRichter stellt die Gleichheit her und macht es so, wie wenn ereine in ungleiche Teile geteilte Linie vor sich htte, von derengrerem Teil er das Stck, um welches derselbe grer ist alsdie Hlfte, wegnhme und zu dem kleineren Teil hinzutte.Wenn aber das Ganze in zwei Teile geteilt ist, sagt man: Je-der hat seinen Teil. Daher versucht der Richter das Unrecht,welches in der Ungleichheit besteht, auszugleichen. Dennwenn der eine geschlagen worden ist, der andere geschlagenhat, oder auch der eine gettet hat, der andere gettet wor-den ist, so ist die durch dieses Leiden und jenes Tun be-wirkte, auf einer Linie vorzustellende Gtermenge in un-gleiche Teile geteilt; der Richter sucht nun durch die Strafeeinen Ausgleich herbeizufhren, indem er dem Tter seinenVorteil entzieht.

    Er mu den Ausgleich in der Weise vornehmen, da er demeinen das gibt, was er dem anderen nimmt, d. h., er mu denGewinn des einen zum Ausgleich des Verlustes des ande-ren gewissermaen verschieben. Gewinnen bedeutet mehrerhalten, als man vorher hatte, verlieren bedeutet, wenigererhalten, als man vorher besa. Er mu dem Schlger denVorteil und Gewinn nehmen und dem Geschlagenenzum Ausgleich seines Nachteils und Schadens auf die quan-titativ proportionale, aber natrlich qualitativ angemesseneWeise geben23. Aristoteles wei sehr wohl, da hier in meta-phorischer Weise gesprochen wird, und da der metaphern-spendende und normativ primre Bereich die auf Freiwillig-keit beruhenden Geschftsbeziehungen der Einzelnen sind.In diesen Dingen rede man nmlich ganz allgemein von Vor-teil und Gewinn, wenn auch der Ausdruck fr einzelne

    Gerechtigkeit bei Aristoteles 159

    22 Es sei auf die einschlgigen Kommentare z. St. verwiesen, etwa auf das Li-nienschema bei Bien, EN S. 287 zu 1132a29 und b6.23 Den Extremfall, da der eine der Partner nach einem Akt der unfrei-willigen Geschftsbeziehung Mord keine Ausgleichszahlungen mehr inEmpfang nehmen kann, hat Aristoteles nicht eigens diskutiert; hier sind wohldie Familie oder Sippe als Empfnger zu substituieren.

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  • Verhltnisse nicht eigentlich passe, wie wenn z. B. der Schl-ger Vorteil und der Geschlagene Nachteil haben soll; aber beiAbmessung erlittenen Unrechtes sei es nun einmal so, daman dasselbe Nachteil fr den Geschdigten, das zugefgteUnrecht aber zugleich Vorteil (auf seiten des Tters) nenne(1132a11ff. Solche, bliche Sprachgebruche konstatierendeArgumentationen stellen einen fr sokratisch-platonischeSeelen frappanten und oft auch rgerlichen Umgang mitdem Grundproblem von Unrechttun und Unrechtleiden man denke an Platons Gorgias dar). So ist denn diesesRecht eine Mitte zwischen einem nicht auf freiem Willen be-ruhenden Gewinn und Verlust, also dies, da man nach wievor das Gleiche hat (1132b1822). Mitte, Gewinn, Verlust,Gleiches und Gleichheit, Mehr-haben-Wollen: das also sindnoch einmal die tragenden Kategorien der aristotelischenDiskussion der Gerechtigkeit, die als Teil der ganzen Tugend(iustitia particularis) die Gerechtigkeit der Gleichheit und desAusgleichs (iustitia aequalitatis) ist.

    7.3 Die Billigkeit

    Die Erkenntnis der Tatsache, da das Recht nicht mehr ein-fachhin mit dem Gerechten gleichgesetzt werden kann, sowiedie Feststellung, da ein geschriebenes Gesetz zwar fr dieMehrzahl der unter es subsumierten Flle zutreffen mag, abereben doch nicht fr ausnahmslos alle, und da es Dinge gibt,die berhaupt nicht gesetzlich zu erfassen, sondern nur durchEinzelentscheidungen zu regeln sind, zwingt zu genauerenReflexionen ber den Umgang mit dem geschriebenenRecht. Die Tugend und Fhigkeit, in solchen Fllen einesVersagens des geschriebenen Gesetzes richtig zu entscheidenund zu handeln, hat Aristoteles als das Recht und die Tugendder Billigkeit (epieikeia, lat. aequitas) im 14. Kapitel(1137a31ff.) des Gerechtigkeitsbuches behandelt. Diegrundstzliche Problematik des Billigen und der Billigkeitzeigt sich bei dem Versuch, deren Verhltnis zum Recht undzur Gerechtigkeit zu bestimmen. Einerseits lobt man das Bil-lige und den billigen Mann in der Art, da man diese Prdi-

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  • kate mit dem Gutsein berhaupt gleichsetzt24 und verallge-meinernd auch auf anderes bertrgt, wodurch man zu ver-stehen gibt, da das Billigere das Bessere sei; anderseits mues als ungereimt erscheinen, da das Billige Lob verdienenund doch vom Recht verschieden sein soll. Denn entweder istdas Recht nicht gut oder das Billige, wenn vom Recht ver-schieden, nicht gerecht, oder wenn beide richtig und gut sind,sind sie einerlei. Die von Aristoteles vorgetragene Lsungdieser trilemmatischen Paradoxie ist in ihrer Schlichtheit ge-nial. Einerseits ist das Billige, mit einem gewissen Recht ver-glichen, ein besseres Recht, anderseits ist es nicht in demSinne besser als das Recht, als wre es eine andere Gattung.Recht und Billigkeit sind also einerlei, und obschon beiderichtig und gut sind, so ist doch die Billigkeit das Bessere.Oder: Das Billige ist selbst ein Recht, aber besser als ein ge-wisses Recht, nicht aber als das Recht schlechthin (1137b8ff.,24f., 33f.). Als Definition des Billigen ergibt sich: Es ist eineKorrektur des Gesetzes, wo dieses wegen seiner allgemeinenFassung mangelhaft bleibt (b 26); der Billige ist von der Art,da er solches Recht will und verwirklicht, und da er nichtin kleinlicher Genauigkeit sein Recht solange verfolgt, bis eszu Unrecht wird, sondern, obwohl das Gesetz auf seiner Seitestnde, geneigt ist, mit einem bescheideneren Teil zufriedenzu sein. Eine solche sittliche Haltung, die Billigkeit, ist selbsteine Art von Gerechtigkeit und keine davon verschiedeneGrundhaltung (b 34 ff.). Die Rhetorik geht bei der Behand-lung der Billigkeit (I 13, 1374a27ff.) ebenfalls von der struk-turellen Schwche des geschriebenen Rechtes aus. Sie zhltdarber hinaus eine grere Vielfalt von menschlichen Ver-haltensweisen als zur Billigkeit gehrig auf (1374b1ff.):Nachsicht ben; zwischen menschlicher Schwche (nicht un-erwartetes, aber ohne Bswilligkeit geschehenes Fehlverhal-ten), Rechtswidrigkeiten (nicht unerwartet, aber mit Bswil-ligkeit) und Unglcksfllen (unerwartet und ohne bse Ab-sicht) unterscheiden; nicht auf das Gesetz, sondern den Ge-

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    24 Vgl. die zahlreichen im Bonitzschen Index 217b36ff. notierten Stellen, andenen der Billige mit dem Guten identifiziert und dem Schlechten gegen-bergestellt wird.

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  • setzgeber, nicht auf den Wortlaut, sondern den Sinn, nicht aufdie Tat, sondern auf den Vorsatz achten; lieber durch Wort alsdurch Tat eine Entscheidung herbeifhren lassen; lieber zumSchiedsrichter als zum Gericht gehen. In der NikomachischenEthik werden solche Verhaltensweisen den dianoetischenTugenden zugeordnet, nherhin der Klugheit (phronsis)als eine ihrer Spezialformen; die Billigkeit ist demnach (bei-nahe) gleichbedeutend mit der Klugheit, einem verstndnis-vollen Wesen und der Verstndigkeit; diese Haltungen habenes alle mit Entscheidungen bezglich des Praktischen, Ein-zelnen und Letzten zu tun, die Billigkeit speziell mit allemGuten, sofern es ein fremdes Interesse berhrt (VI 12,1143a27ff.). Hier kommt dann wieder der mit der Gerechtig-keit gemeinsame Richtungssinn zur Sprache: Iustitia est adalterum.

    Zum Schlu seien noch einmal die in der EN behandeltenGerechtigkeitsbegriffe zusammengestellt.

    A. Allgemeine oder gesetzliche Gerechtigkeit (iustitia univer-salis sive legalis): Sie ist die ganze und vollkommene Tu-gend, umfat alle Einzeltugenden, besteht in der Befol-gung der Gesetze; sie realisiert und bewahrt in der staatli-chen Gemeinschaft die Glckseligkeit und ihre Bestand-teile (1129b17).1. Sie ist Gerechtigkeit, insofern sie auf einen anderen be-

    zogen ist (iustitia semper est ad alterum).2. Sie ist die Tugend schlechthin, sofern ohne diesen Zusatz.

    B. Teilgerechtigkeit (iustitia particularis): Einzeltugend nebenden anderen (ethischen) Tugenden: Gegenstandsbereich:die Gter, von denen das uere Glck und Unglck ab-hngen und in bezug auf die es ein Mehr-haben-Wollen(Pleonexie) gibt; Mastab: Proportionalitt (je verschie-dene Verhltnismigkeit).1. Austeilende Gerechtigkeit (dianemetische Gerechtigkeit,

    iustitia distributiva), Mastab: diskrete oder geome-trische Proportionalitt, Verteilung nach Anspruch,Wrde und Berechtigung.

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  • 2. Ausgleichende Gerechtigkeit, Mastab: arithmetischeProportionalitt.

    a. Austauschende Gerechtigkeit in freiwilligen Vertrags-und Geschftsbeziehungen (iustitia commutativa), gleichtdie unterschiedlichen Bedrfnisse aus.

    b. Wiederherstellende oder korrektive Gerechtigkeit (dior-thotische oder epanorthotische G., iustitia regulativa sive cor-rectiva), gleicht Ungerechtigkeiten in heimlichen odergewaltsamen, d. h. unfreiwilligen Verkehrsbeziehun-gen aus; sie ist das Amt des Richters als des Mannes derMitte, denn er erstellt ausgleichend die Mitte zwischeneinem nicht auf beiderseitigem freiem Willen beruhen-den Gewinn und Verlust.

    C. Sonderbegriffe1. Das Recht der Wiedervergeltung nicht nach dem Ma-

    stab der Proportionalitt, sondern der einfachen Gleich-heit (Gleiches fr Gleiches); von Aristoteles alsRechtsform entschieden abgelehnt.

    2. Die Billigkeit (epieikeia, epikie, aequitas): als Korrekturdes geschriebenen Rechtes ist sie besser als dieses; sieist eine besondere, ja die hchste Form der Gerechtig-keit.

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    Gerechtigkeit bei Aristoteles 163

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    164 Gnther Bien

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