Bil Dungs Roman

0

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung......................................................................................................S. 3

2. Einführung in den deutschen Bildungsroman...........................................S. 5

2.1. Zum Begriff ‚Bildung„.......................................................................................S. 5

2.2. Historischer Überblick........................................................................................S. 6

2.3. Geschichte der Gattung Bildungsroman.............................................................S. 7

2.3.1. Verwendung des Gattungsbegriffs..........................................................S. 8

2.3.2. Problematik der Gattungsbestimmung....................................................S. 9

2.4. Eine typisch deutsche Gattung?........................................................................S. 10

2.5. Charakteristik des Bildungsromans..................................................................S. 11

2.6. Literaturwissenschaftliche Diskussion.............................................................S. 12

2.7. Konzeption des Protagonisten..........................................................................S. 14

2.8. Bildungsroman um Jahrhundertwende und im 20. Jahrhundert.......................S. 15

2.8.1. Situation in der Gesellschaft..................................................................S. 15

2.8.2. Situation in der Literatur.......................................................................S. 15

2.8.3. Strukturtypus des Bildungsromans der Jahrhundertwende...................S. 16

3. Kurzbiographie - Hermann Hesse..................................................................S. 18

3.1. Der Sonderfall Hesse........................................................................................S. 21

4. „Peter Camenzind“............................................................................................S. 23

4.1. Inhaltsangabe....................................................................................................S. 23

4.2. Zur Entstehung des Werkes..............................................................................S. 25

4.3. Einflüsse auf das Werk.....................................................................................S. 26

4.3.1. „Peter Camenzind“ und „Der grüne Heinrich“.....................................S. 26

4.3.2. Andere Einflüsse...................................................................................S. 27

4.4. Autobiographische Merkmale im Buch............................................................S. 27

4.5. „Peter Camenzind“ - ein Bildungsroman.........................................................S. 28

4.6. Chronologie des Werkes...................................................................................S. 28

4.7. Formen der Liebe im Roman............................................................................S. 30

4.7.1. Liebe zu den Frauen..............................................................................S. 30

4.7.2. Menschenliebe.......................................................................................S. 30

1

4.7.3. Das Verhältnis zwischen Dichtertum und Liebe..................................S. 31

4.8. Bildungskonzeption des Helden.....................................................................S. 32

4.9. Strukturelle Merkmale....................................................................................S. 33

4.10. Die Rolle des Vaters im Roman....................................................................S. 34

4.11. Die Rolle des Lebensfreundes.......................................................................S. 35

4.12. Das Motiv der Natur......................................................................................S. 36

4.13. Ergebnis der Lebensreise des Helden............................................................S. 37

4.14. Fazit...............................................................................................................S. 39

5. „Das Glasperlenspiel“........................................................................................S. 40

5.1. Inhaltsangabe...................................................................................................S. 40

5.2. Einführung in das „Glasperlenspiel“...............................................................S. 43

5.3. Entstehung und Wesen des Werkes.................................................................S. 44

5.4. Struktur und Aufteilung...................................................................................S. 46

5.4.1. Einzelne Teile des Werkes....................................................................S. 47

5.4.2. Die Erzählweise im Werk......................................................................S. 49

5.5. Innere Bildung und Entwicklung des Helden..................................................S. 50

5.5.1. Charakteristik Josef Knechts.................................................................S. 50

5.5.2. Personen, die sich am Knechts Erwachen beteiligten...........................S. 51

5.5.3. Knechts Tod als weitere Bildungsstufe.................................................S. 52

5.5.4. Lebensgesetz des Helden.......................................................................S. 53

5.6. „Das Glasperlenspiel“ – eine Utopie?.............................................................S. 55

5.6.1. „Das Glasperlenspiel“ als Zukunftsvision.............................................S. 56

5.7. Aktualität des Werkes......................................................................................S. 57

5.8. Bildungsprinzipien im Werk............................................................................S. 58

5.8.1. Das Wesen der Bildung im Werk..........................................................S. 58

5.8.2. Das Prinzip der Polarität und des Dualismus........................................S. 59

5.8.3. Das Prinzip des Dienens........................................................................S. 61

5.8.4. Die Bedeutung der Synthese.................................................................S. 62

5.8.5. Musik als Bildungsmittel.......................................................................S. 62

5.8.6. Absenz der Frauen im Werk..................................................................S. 63

5.9. Die Existenz der pädagogischen Provinz im Werk.........................................S. 64

5.9.1. Entstehung und Struktur Kastaliens......................................................S. 64

5.9.2. Das „Spiel der Spiele“...........................................................................S. 66

2

5.10. Fazit...............................................................................................................S. 67

6. Hesses pädagogische Ideen und Vorstellungen............................................S. 69

7. „Peter Camenzind“ und „Das Glasperlenspiel“: Ein Vergleich..............S. 72

8. Resümee.................................................................................................................S. 74

Literaturverzeichnis...............................................................................................S. 76

3

1. Einleitung

Meine Dichtungen sind alle ohne Absichten, ohne Tendenzen entstanden. Wenn ich

aber nachträglich nach einem gemeinsamen Sinn in ihnen suche, so finde ich

allerdings einen solchen: vom Camenzind bis zum Steppenwolf und Josef Knecht

können sie alle als eine Verteidigung (zuweilen auch als Notschrei) der

Persönlichkeit, des Individuums gedeutet werden.1 (Hermann Hesse)

Werke Hermann Hesses bleiben zu jeder Zeit aktuell, immer wieder entdecken

Jugendgruppen seine Bücher und wählen ihn zu ihrem persönlichen ‚geistigen Führer„

aus. Hesse vermittelt in seinem Werk keine Wahrheiten oder Lebensprinzipien. Er

schildert eigene Erlebnisse und Erfahrungen. Hermann Hesse erklärte oft, er sei kein

Vertreter einer festen Lehre, sondern nur Mensch der Wandlungen, ein Suchender auf

weitem Weg zum wahren Leben. Seine Werke orientieren sich an das Individuum. Aus

allen menschlichen Tugenden hatte er den Eigensinn am liebsten, denn er den

Gehorsam gegen sich selbst und nicht gegen die Massen fordert. So entdeckt man in

seinem ganzen Werk immer wieder in verschiedenen Formen die Motive des Protests

gegen die Konsumgesellschaft und ihren ‚Herdensinn„. Obwohl Hesse kein

Fachpädagoge war, weihte er sein Werk der Problematik der menschlichen Entwicklung

und Erziehung ein.

In der vorliegenden Diplomarbeit beschäftige ich mich mit dem Wesen des

Bildungsromans und seiner Form im Werk Hermann Hesses, zur Analyse wählte ich

mir den ersten und letzten Roman von diesem Autor und zwar Peter Camenzind und

Das Glasperlenspiel aus. Der Schwerpunkt meiner Arbeit beruht auf ausführlicher

Analyse dieser Werke was die Angehörigkeit zu dieser Gattung betrifft, inwiefern es

sich bei diesen Romanen tatsächlich um die Bildungsromane handelt.

Im ersten Teil beschäftige ich mich mit dem Begriff Bildung und Bildungsroman

näher, wobei ich mich vor allem auf den Zeitraum der Jahrhundertwende und Beginn

des 20. Jahrhunderts konzentriere, in dem Hermann Hesse lebte. Diese Romanform

entstand in Deutschland und ist dort häufig verbreitet. Sie schildert den Lebensweg

eines jungen Mannes, der sich mit verschiedenen Weltbereichen auseinandersetzt, um

die Erkenntnis über sich und über die Welt um sich herum zu gewinnen.

1 Zitiert nach: UNSELD, Siegfried: Hermann Hesse – Werk und Wirkungsgeschichte, Insel Taschenbuch

Verlag, Frankfurt am Main 1985, S. 5

4

Darauf knüpft der Lebenslauf des Autors und Inhalte der einzelnen Werke an. Diesen

Teil halte ich für wichtig, da er sich auch mit den Umständen befasst und für richtiges

Verständnis von dem Text notwendig ist.

Im Folgenden untersuche ich die einzelne Werke, was die Struktur, Aufbau und

Merkmale des Bildungsromans anbelangt. Zum Schluss vergleiche ich beide Werke und

erwähne auch Hesses eigene pädagogische Ideen.

Der Sinn und gleichzeitig auch das Ziel dieser Arbeit ist, nicht nur die Merkmale des

Bildungsromans zu erkunden, sondern auch pädagogische Grundgedanken im Werk

Hermann Hesses zu ermitteln.

5

2. Einführung in den deutschen Bildungsroman

Wenn wir uns mit dem Bildungsroman beschäftigen sollen, müssen wir zuerst

festlegen, wie und wodurch sich diese Gattung kennzeichnet. Das Genre Bildungsroman

ist in der Literaturforschung problematisch zu bestimmen, sowohl was die generische

Definition betrifft, als auch die Frage, welche Werke dieser Romanart zuzuordnen sind.2

Wir müssen zuerst ermitteln, welche Kriterien diese Romanart prägen oder wie sie sich

selbst abgrenzt, bevor wir uns mit den einzelnen Werken befassen werden.

Gehören unter die Bildungsromane nur die Werke, die nach der Goetheschen

Bildungsvorstellung (Wilhelm Meister) geschrieben wurden, oder darf man dazu auch

Romane des 20. und 21. Jahrhunderts zählen?

Manche Forscher sind der Meinung, dass man mit dem Ende des Zweiten

Weltkrieges auch das Ende des Bildungsromans beobachten kann. Seit dieser Zeit sind

aber manche Werke in anderen Ländern Europas, in den USA und natürlich auch in

Deutschland entstanden, die diese Hypothese eher widerlegen.

2.1. Zum Begriff ‚Bildung‘

Es ist nicht einfach den Begriff ‚Bildung„ zu erklären. Die grundlegende, während

des 18. Jahrhunderts entstandene Voraussetzung für den Bildungsprozess ist die

selbstreflexive Individualität. Diese erweist sich dann als unberechenbar. Das heiβt, dass

man den Prozess der Selbstbildung nicht vorhersehen kann. Seit dem 18. Jahrhundert

verbreitete sich die Idee, dass während des individuellen Bildungsprozesses „der junge

Erwachsene einen bestimmten Charakter gewinnen soll.“3 Ein Bildungsprozess des

Individuums sei eigentlich die Folge von Entwicklungsphasen, wobei sich dieser

Prozess auch krisenhaft vollziehen und die Identitätsbildung ganz misslingen kann.

2 Vgl. MAYER, Gerhart: Der deutsche Bildungsroman : Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, J.B.

Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1992, S. 11 3 Ebd. S. 13

6

Mit der Entstehung der modernen Bildungsidee entstanden auch viele verschiedene

Bildungstheorien. Bildung sei „Verhältnis des einzelnen zum Ganzen, Prozess des

individuellen Hineinwachsens in einen gesellschaftlichen Zusammenhang.“4

Man kann die Bildung von zwei ganz unterschiedlichen Perspektiven betrachten, die

sich im 19. Jahrhundert entwickelten. Erstens ist es der „neuhumanistische

Bildungsbegriff in der Nachfolge Humboldts, Ideal der harmonischen, allseitig

gebildeten Persönlichkeit.“5 Zweitens geht es um die durch „pragmatische

Utilitätsgesichtspunkte betonende Auffassung von Bildung.“6 Hier legt man Wert auf

die Kenntnisse und praktische Fertigkeiten des Individuums. Im Falle des

Bildungsromans verliert für uns aber diese Begriffsbestimmung an Bedeutung.

2.2. Historischer Überblick

Das Wort ‚Bildung„ führt auf das griechische paideia, lateinisch humanitas zurück.

Die Griechen verwendeten diesen Begriff, um sich von den Barbaren abzugrenzen und

zwar „durch Sprachverfügung, Schriftgebrauch und gemeinsame Geschichte.“7 Im

Mittelalter verstand man unter Bildung das Abbild (imago), Gestaltung (formatio) und

Nachbildung (imitatio).8 Im Zentrum stand die Gottesbildlichkeit - der Mensch sollte

nach ihr geformt werden.

Während der Aufklärungszeit legte man in der Bildung Wert auf rationelle

Fähigkeiten des Individuums. Hegel spricht von der so genannten

‚humanitätsphilosophischen Bildung„. Die Naturwissenschaftler des 18. Jahrhunderts

schufen die neue botanisch-morphologische Auffassung.9 Die Antike beeinflusste in

dieser Zeit das Bildungskonzept auch und wurde teilweise zum Vorbild (Vorstellung,

dass in der Antike der Mensch seine höchste Bildungsstufe erreichte), durch sie lieβ sich

auch Goethe inspirieren. Seine Bildungsvorstellung setzt sich in der Aufklärung durch

und betont die Ganzheit und Harmonie des Menschen. Der Bildungsroman erlebte in

dieser Zeit den Aufstieg und wurde zur allgemein anerkannten Gattung.

4 JACOBS, Jürgen/KRAUSE, Markus: Der deutsche Bildungsroman : Gattungsgeschichte vom 18. bis

zum 20. Jahrhundert, C. H. Beck, München 1989, S. 145 5 Ebd. 6 Ebd. 7 SELBMANN, Rolf: Der deutsche Bildungsroman, J.B. Metzler Verlag, Stuttgart; Weimar 1994, S. 1 8 Vgl. Ebd. S. 1 9 Erklärung: die göttliche Leitung zum Beispiel bei dem Wachsen der Pflanze wurde geleugnet.

7

Seit dem 19. Jahrhundert wurde die Bildung zum Besitz, der Prestige gewährleistete.

In der Gesellschaft gehörte sie zu den entscheidenden Kriterien, wie sich die sozialen

Schichten abgrenzten. Ungebildetheit wurde zum Kennzeichen der niedrigeren

Schichten der Gesellschaft, des Proletariats. Zu dieser Zeit brach die groβe Welle der

Bildungskritik aus, die Gesellschaft rief nach Umwertung der Bildungskonzeption. Die

Folge war die Verbreitung der elitären Bildungsvorstellungen einerseits und die

„Versuche, die naturwissenschaftlich-technische Entwicklung in den Bildungsbegriff

aufzunehmen“10

andererseits.

Nach 1945 versuchte die DDR den Zusammenhang von Bildung und

Arbeiterbewegung zu bewahren, in der BRD wurde das neuhumanistische

Bildungskonzept wiederentdeckt. „In der Gegenwart ist die Bildung keine zentrale

Kategorie öffentlicher Auseinandersetzungen und nationaler Identitätsfindung mehr.“11

2.3. Geschichte der Gattung Bildungsroman

Der Aufstieg des Romans ist während des 18. Jahrhunderts in der Zeit der

Frühaufklärung und des Klassizismus in Deutschland zu beobachten. Als erster

deutscher Bildungsroman wird allgemein Geschichte des Agathons von Christoph M.

Wieland anerkannt. Es geht in diesem Werk noch um keine Entwicklungsgeschichte,

sondern die abenteuerlichen Erlebnisse der Hauptfigur werden geschildert. Erst spätere

Romane weisen die Merkmale der Entwicklung und Integration des Individuums auf.

Mit Wilhelm Meister Lehrjahre und Wanderjahre von Johann Wolfgang von Goethe

entstand das grundlegende Werk des Bildungsromans, dessen Struktur später bewundert

und oft nachgeahmt wurde.

Im 19. Jahrhundert verbreiteten sich in der Gesellschaft Krisengefühle und Zweifel,

die Technik entwickelte sich rasch, sowohl in Produktion als auch in Kommunikation,

das Jahr 1848 wurde zum Revolutionsjahr in ganz Europa. Das Verhältnis zwischen

dem Mensch und seiner Umwelt komplizierte sich, wurde problematischer. Der

Bildungsroman erlebte seinen Aufstieg und wurde zur „repräsentativen und führenden

10 Ebd. S. 6 11 Ebd.

8

Literaturgattung.“12

Kellers Der Grüne Heinrich bereicherte die Gattung um neue

Merkmale und zwar die autobiographischen Züge und Desillusionsthematik (Georg

Lukács).

Das 20. Jahrhundert ist laut Robert Musil die Zeit des Umbruchs, Chaos, Zerfall der

Werte.13

Die traditionelle Darstellung des Romans erlebte in dieser Zeit auch ihre Krise.

2.3.1. Verwendung des Gattungsbegriffs

Die ersten Autoren der Bildungsromane und Denker um 1800 wie z.B. Goethe,

Herder, Schiller u.a. haben den Gattungsbegriff ‚Bildungsroman„ noch nicht gebraucht

(obwohl er schon in der Gesellschaft bekannt war), da sein Ideenkomplex noch nicht

existierte. Erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts offenbarten sich die ersten

Bemühungen, das theoretische Konzept zur Menschenbildung zu formulieren. Seit

Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich diese Gattungsbezeichnung schon allgemein

eingebürgert.

12 JACOBS, Jürgen/KRAUSE, Markus: Der deutsche Bildungsroman : Gattungsgeschichte vom 18. bis

zum 20. Jahrhundert, C. H. Beck, München 1989, S. 147 13 Vgl. Ebd. S. 199

9

2.3.2. Problematik der Gattungsbestimmung

Es kommt bei der Gattung Bildungsroman oft zum Streit, ob das Werk „schon ein

Bildungsroman, noch keiner oder keiner mehr ist.“14

Laut Selbmann ist aber wesentlich,

dass die Texte in Kernmerkmalen übereinstimmen. Die Varianz der peripheren

Merkmale ist dann möglich, sogar wünschenswert.

Ähnliche Romanformen wie Erziehungs- oder Entwicklungsroman können leicht mit

dem Bildungsroman verwechselt werden. Melitta Gerhard bezweifelt, dass es gar

möglich ist, den Bildungsroman von den zwei anderen Gattungen eindeutig zu

differenzieren, da die Bildung auch Elemente von Entwicklung und Erziehung umfasst.

Ortrud Gutjahr präsentierte eine eigene Idee der Gattungsabgrenzung und zwar:

Entscheidender Unterschied zu den beiden verwandten Romantypen ist jedoch,

dass im Bildungsroman die Fähigkeit, das eigene Gewordensein und damit gerade

Erziehung und Entwicklung kritisch zu hinterfragen, als grundlegendes

Bildungsvermögen zum Thema wird.15

14 Ebd. S. 27 15 GUTHJAHR, Ortrud: Einführung in den Bildungsroman, WBG Verlag, Darmstadt 2007, S. 13

10

2.4. Eine typisch deutsche Gattung?

„Es gibt unterdessen eine Spielart des Romans, die allerdings deutsch, typisch-

deutsch, legitim-national ist, und dies ist der autobiographisch erfüllte Bildungs- und

Entwicklungsroman.“16

(Thomas Mann)

Das Genre Bildungsroman wird oft als eine für die deutsche Literatur

charakteristische Gattung angesehen. Der Begriff selbst steht für den Romantypus, der

in Deutschland im späten 18. Jahrhundert entstand und „in dem der Bildungsgang eines

jugendlichen Protagonisten zumeist von der Kindheit bis zur Berufsfindung oder

Berufung zum Künstler thematisiert wird.“17

Da der Begriff für die deutsprachige

Literatur spezifisch ist, wird er auch in anderen Sprachen als Terminus technicus

verwendet.

Sich mit der eigenen Innerlichkeit zu beschäftigen wird als typisch deutsche

Eigenschaft angesehen, sie war für diese Epoche charakteristisch und in ihr

verwirklichte sich die Voraussetzung für die Entstehung der Bildungs- und

Entwicklungsromane. Diese Tendenz des deutschen Volkes wurzelt in der unpolitischen

Haltung der Bevölkerung, Missachtung des Bürgertums und staatlicher Zersplitterung.

Die jungen Leute beschäftigten sich viel lieber mit ihrem Inneren als mit dem

öffentlichen Leben.

Seidler behauptete, „der Bildungsroman spielt besonders in der deutschen Literatur

eine große Rolle und ist der deutsche Beitrag zum großen Romanschaffen der

Weltliteratur”18

Auch um die Jahrhundertwende wurde weiterhin der Bildungsroman als

typisch deutsche Gattung angesehen. Laut Anders Krüger sei der Bildungsroman:

...eine Romanart, die ein ganz ausgesprochen nationales Gepräge trägt, die sie

eigenartiger, individueller kein anderes Volk aufzuweisen hat, den deutschen

Bildungsroman, der im letzten Jahrhundert ganz eigentlich der Roman der Dichter

und Denker war und es voraussichtlich auch bleiben wird.19

Es sind aber seitdem manche Werke in der ganzen Welt entstanden, die die

Merkmale des Bildungsromans (Generationskonflikt, Selbstbildung, Selbsterprobung im

Beruf etc.) aufweisen und deshalb hindert nichts daran, sie auch als Bildungsromane zu

bezeichnen.

16 Zitiert nach: Ebd. S. 26. 17 Ebd. S. 7. 18 HISAHIRO, Hayashi: Der deutsche Bildungsroman von Goethe bis Thomas Mann,

http://www.gsid.nagoya-u.ac.jp/bpub/research/public/forum/29/01.pdf 19 Zitiert nach: GUTHJAHR, Ortrud: Einführung in den Bildungsroman, WBG Verlag, Darmstadt 2007,

S. 18.

11

2.5. Charakteristik des Bildungsromans

Die Voraussetzung des Bildungsromans ist die Idee der ‚Bildsamkeit des

Individuums„.20

Zum zentralen Thema werden die Entwicklungsgeschichte des Helden,

Suche nach Orientierungsmustern und Bestimmung seines Standortes in der

Gesellschaft. Die Suche nach Orientierungsmustern ist oft krisenhaft und mit der

Selbstfindung und innerer Progression des Helden verbunden.

In der Geschichte entfaltet sich das Leben des Helden von seiner Kindheit an bis ins

Erwachsenenalter. Der Held erarbeitet sich sein eigenes individuell bestimmtes

Verhältnis zur Welt aufgrund der Auseinandersetzung zwischen dem Ich und der

Gesellschaft. Das Individuum bildet sich innerlich, wobei es die Gesellschaft und den

Staat als ‚fremde Gewalt„ erfährt. Der Protagonist setzt sich mit der Umwelt und

Ordnungen auseinander, verfolgt sein Ziel, um seinen Wünschen entsprechend eine

angemessene Lebensform zu finden. „Der Bildungsgang gleicht dabei einem

Reifungsprozess, bei dem natürliche Anlagen in einem gesellschaftlichen Umfeld über

Konflikt- und Krisenerfahrungen zur Ausbildung gelangen.“21

Manche Philosophen und ihre Ideen beeinflussten während der Jahrzehnte die

Gestaltung dieser Gattung. Wie sich die Bildungsvorstellung im Laufe der Zeit änderte,

so kann man auch Veränderungen im Bildungsroman beobachten. Zum Beispiel mit der

Philosophie von Rousseau drang in diesen Romantypus ‚naturgemäβe Erziehung„, mit

Herder und Lessing das ‚Humanitätsideal„ ein.

Im Bildungsroman kann man auch autobiographische Merkmale entdecken. „Der

Wunsch, individuelle Existenz zur Anerkennung zu bringen, wie er der neuen Form der

Autobiographie zugrunde liegt, prägt auch die Gestaltung des Bildungsromans.“22

Diese

zwei Gattungen (Bildungsroman und Biographie) stehen sich sehr nah – sowohl in der

Thematik als auch in der Darstellungsweise. Was die Unterschiede zwischen ihnen

betrifft, könnte man sagen, dass während die Autobiographie meist aus der

Altersperspektive geschildert und mit der Lebensbilanz verknüpft ist, wird im

Bildungsroman ein Heranwachsender in der Phase suchender Selbsterprobung zur

Hauptgestalt.23


Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1992, S. 18. 21 GUTHJAHR, Ortrud: Einführung in den Bildungsroman, WBG Verlag, Darmstadt 2007, S. 8. 22 Ebd. S. 38. 23 Vgl. Ebd.

12

2.6. Literaturwissenschaftliche Diskussion

Der Gattungsbegriff Bildungsroman wurde zum ersten Mal am Anfang des

19. Jahrhunderts von dem Philologen Karl von Morgenstern (1770–1852) in Vorträgen

und Abhandlungen benutzt. Morgenstern befasste sich hier mit dem Wesen des

Bildungsromans. Nach ihm bedeutet die Bildung nicht nur Lebenserfahrung und

Entwicklung des Autors, er weist auch auf die Bildung des Helden und des Lesers hin.

Auβerdem schlieβt dieser Begriff den Entwicklungsprozess, das Ende solches Prozesses

und den Inbegriff der kulturellen Werte ein.

Die Bildungsroman-Forschung begann mit Wilhelm Dilthey. Er erfand den Begriff

zwar nicht, doch führte er ihn in die literaturwissenschaftliche Diskussion ein. „Ich

möchte die Romane, welche die Schule des Wilhelm Meister ausmachen […]

Bildungsromane nennen. Goethes Werk zeigt menschliche Ausbildung in verschiedenen

Stufen, Gestalten, Lebensepochen.“24

Dilthey also benutzte die Benennung

Bildungsroman für Werke des Wilhelm-Meister-Typus. Das Goethesche Werk Wilhelm

Meister Lehrjahre diente lange Zeit als Vorbild und Muster für andere, nachfolgende

Romane.

Weiter erwähnte Dilthey, dass im Bildungsroman der „Entwicklungsgang einer

zentralen Figur erzählt wird, der über bald bereichernde, bald desillusionierende

Erfahrungen zur Selbstfindung und zum Eintreten in bejahte Bindungen führt.“25

Da

diese Definition wenig spezifiziert ist, muss diese Romanart durch andere Romantypen

abgegrenzt werden, wie zum Beispiel Schelmen-, Gesellschafts- oder Abenteuerroman

etc. Laut Dilthey schildert der Bildungsroman die Geschichte eines jungen Mannes, der

in das Leben eintritt, nach Freundschaft und Liebe sucht, begegnet ihnen, muss aber

auch mit harten Realitäten kämpfen, unter den Lebenserfahrungen reift er heran und

schlieβlich findet er sich selbst und seinen Platz im Leben.26

Der Literaturwissenschaftler Georg Lukács befasste sich mit dem Bildungsroman

auch und präzisierte das Grundproblem der Gattung. Der Bildungsroman sei die „Suche

nach einem Lebenssinn in einer als fremd und feindlich erfahrenen Welt, wobei der

Weg des problematischen Helden auf das Ziel einer harmonischen Lösung ausgerichtet

24 Zitiert nach: SELBMANN, Rolf: Der deutsche Bildungsroman, J.B. Metzler Verlag, Stuttgart; Weimar

1994, S. 15 25 Zitiert nach: JACOBS, Jürgen/KRAUSE, Markus: Der deutsche Bildungsroman: Gattungsgeschichte

vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, C. H. Beck, München 1989, S. 20. 26 Vgl. Ebd. S. 25.

13

ist.“27

Von Belang ist dabei der Ausgleich des Helden mit der Welt. Diese seine

Gattungsbestimmung gehört zu den bedeutendsten.

Ernst L. Stahl neigte auch zu der Tradition der Goethezeit. Melitta Gerhard war

dagegen der Meinung, dass es sich im Falle des Bildungsromans um einen ‚nach-

Goetheschen Entwicklungsroman„ handelt. In die Diskussion über diese Gattung trugen

auch andere Literaturwissenschaftler und Denker wie zum Beispiel Lothar Köhn, Fritz

Martini, Hans Borcherdt und andere bei.

Rolf Selbmann erwähnte auch das Konzept des so genannten Antibildungsromans.

Seiner Theorie nach steht im Mittelpunkt der Handlung die Bildung und es ist nicht

wichtig, „ob die Bildungsgeschichte gelingt, bruchlos verläuft, zu Fehlbindungen führt,

dem Helden verloren geht usw.“28

Falls sie misslingt, geht es um den schon erwähnten

Antibildungsroman.

27 Ebd. S. 28. 28 SELBMANN, Rolf: Der deutsche Bildungsroman, J.B. Metzler Verlag, Stuttgart; Weimar 1994, S. 33.

14

2.7. Konzeption des Protagonisten

Im Mittelpunkt des Romans steht „die individuelle Entwicklungsgeschichte einer

zentralen Figur.“29

Den Bildungsgang des Protagonisten bestimmen verschiedene

Kennzeichen. Zu den Hauptkennzeichen gehören: Bildung des Helden, Liebe als

Bildungserfahrung, Lernen durch Irrtum, die Passivität des Helden, Kritik und

Selbstreflexion, Stufengang der Entwicklung.30

Jacobs führt ähnliche Aspekte wie

Gutjahr ein, er nennt aber dazu noch Auseinandersetzung mit dem Elternhaus,

Einwirkung von Mentoren, Selbsterprobung in einem Beruf und Begegnung mit der

Sphäre der Kunst als bestimmend.31

Besonders die Kritikfähigkeit und stufenweise Entwicklung spielen in der

Bildungsgeschichte des Protagonisten eine wichtige Rolle. Der Held (oder der Erzähler)

schildert ironisch eventuell humorvoll seine Entwicklungsschritte. „Ein Kennzeichen

des Bildungsroman ist also, dass die Hauptfigur in eine fördernde wie auch

widerständige Welt hineinsozialisiert wird und dass sie Wünsche und Vorstellungen

entwickelt, die durch Erfahrungen revidiert werden müssen.“32

Morgensterns Definition der Stufenentwicklung gehört zu den berühmtesten:

„Bildungsroman wird es heiβen dürfen, erstens und vorzüglich wegen seines Stoffs,

weil er des Helden Bildung in ihrem Anfang und Fortgang bis zu einer gewissen Stufe

der Vollendung darstellt.“33

29 Ebd. S. 44. 30 Vgl. Ebd. S. 44-49. 31 Vgl. JACOBS, Jürgen/KRAUSE, Markus: Der deutsche Bildungsroman: Gattungsgeschichte vom 18.

bis zum 20. Jahrhundert, C. H. Beck, München 1989, S. 37. 32 GUTHJAHR, Ortrud: Einführung in den Bildungsroman, WBG Verlag, Darmstadt 2007, S. 48. 33 Ebd.

15

2.8. Bildungsroman um Jahrhundertwende und im 20. Jahrhundert

2.8.1. Situation in der Gesellschaft

Der Zeitraum um die Jahrhundertwende deckt sich mit der Wilhelminischen Ära. Es

war die Zeit „des Umbruchs zwischen der monarchischen Bürgerkultur des 19.

Jahrhunderts und der republikanischen Gesellschaft der Weimarer Zeit.“34

Industrie in

Deutschland war um die Jahrhundertwende auf hohem Niveau. Neben der politischen

Gröβe und wirtschaftlichen Prosperität des Reiches wuchsen die Gefühle der

verbrauchten Traditionen und das geistige Chaos der Übergangsgeneration. Das

Krisenbewusstsein in der Gesellschaft wurde immer gröβer und es verbreiteten sich

auch sozialistische Tendenzen marxistischer Prägung. Die Emanzipationsbewegung der

Frauen begann sich stärker durchzusetzen (1894 – Gründung der Bund Deutscher

Frauenvereine). Junge Menschen suchten nach eigenen Wegen der Selbsterfüllung,

„indem sie sich von den konventionell erstarrten Autoritäten im Elternhaus, Schule,

Kirche und Staat mehr oder minder entschieden distanzierten.“35

Autoren, die zwischen Jahren 1858 und 1877 geboren wurden, gehörten nicht mehr

zu der von der Wilhelminischen Ära geprägten Generation. Sie suchten nach einer

humaneren Bildungskonzeption immer mehr in der Opposition zum Herrschaftssystem.

2.8.2. Situation in der Literatur

Diese gesellschaftliche Stimmung spiegelte sich auch in dem Aufbau des

Bildungsromans wider. Den avantgardistischen Bildungsroman prägte vor allem die

Suche nach unverbrauchten humanen Werten. Die Gattung stellte sich gegen die

bourgeoise Gesellschaft, wirkte destruierend und zugleich sinnstiftend. Andererseits gab

es auch Werke der konservativen Autoren, die sich bemühten, ein positives Verhältnis

des Individuums zur Gesellschaft darzustellen (vgl. Paul Ernst: Der schmale Weg zum

Glück). Es entstanden auch solche Werke, die vielleicht nicht in der offenen Opposition

34 MAYER, Gerhart: Der deutsche Bildungsroman : Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, J.B.

Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1992, S. 173. 35 Ebd. S. 174.

16

zum Wilhelminismus verharrten, die sich aber antimodernistisch ausprägten und sich

mit Kapitalismus und Sozialismus kritisch auseinandersetzten.

Die Form des Bildungsromans bezog sich wieder auf das Wilhelm-Meister-Schema,

diesmal aber schon verkürzt. Stichworte, die diese Gattung bestimmten, lauteten:

Einzelgängertum, Ich-Isolierung, Zivilisationsfeindlichkeit, Geschichtsmystik.36

Die geschärfte Wahrnehmung der permanenten Gefährdung des Ich ermöglicht

neue Formen des Individualromans, in denen Bildungsgeschichten aufscheinen.

Als Gegenentwurf zur Wirklichkeit, als Geschichte der Seele, die auszieht, sich

kennenzulernen, findet der moderne Roman zur Gattungsgeschichte des

Bildungsromans zurück.37

2.8.3. Strukturtypus des Bildungsromans der Jahrhundertwende

Die Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Realismus hatte die Übernahme

gewisser Elemente zur Folge, die die Grundstruktur des Bildungsromans dieser Epoche

formierten. Die Thematik der Suche des jungen Menschen nach der personalen Identität

blieb erhalten. Sie bestimmte die Form der Geschichte, die chronologisch das Leben der

Hauptfigur verfolgte. Auf Grund dieser Grundthematik endet die Geschichte in

„zielgerichteter innerer Progression mit der Selbstfindung des Protagonisten.“38

Der

Held wird in zentrale Position gestellt, die Nebenfiguren bilden sein soziales Umfeld,

sind ihm funktional zugeordnet und spiegeln seine Wesensart wider. Dank didaktischer

Motivation des Erzählers strebt er nach einem positiven Leserbezug und einer klaren

Übersichtlichkeit des Romanaufbaus (durch Vorreden, wertende Kommentare,

Kapitelüberschriften, generalisierende Reflexionen).

Im Mittelpunkt steht die Progression des Protagonisten, er trennt sich von den

Normen und Wertvorstellungen der Gesellschaft und findet seine Lebensweise im

auβerbürgerlichen Nonkonformismus. Die Geschichte bilden dann üblicherweise zwei

Makrophasen: „die Kindheit in einem sozial integrierten Elternhaus und die allmähliche

Selbstbefreiung aus gesellschaftlicher Fremdbestimmung.“39

36 SELBMANN, Rolf: Der deutsche Bildungsroman, J.B. Metzler Verlag, Stuttgart; Weimar 1994, S. 147 37 Ebd. S. 148. 38 MAYER, Gerhart: Der deutsche Bildungsroman : Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, J.B.

Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1992, S. 182 39 Ebd.

17

Es erscheint auch der dreiphasige, zyklische Aufbau der Fabel: Der Hauptheld

verlässt seine Heimat auf dem Lande, wandert in der Welt, die ihm entfremd ist, und

schlieβlich, schon desillusioniert, verlässt er auch diese Welt.

Diese Romanart tendiert zur subjektiv erzählten Seelenbiographie, deshalb ist die

Anzahl der Figuren und die Raumbedingungen reduziert. Die Auβenwelt erfüllt nur die

Funktion „einer stimmungshaft-atmosphärischen Grundierung der Erfahrungen des

Protagonisten.“40

40 Ebd.

18

3. Kurzbiographie - Hermann Hesse

Hermann Hesse wurde am 2. Juli 1877 in Calw (Württemberg) geboren. Sein Vater

Johannes Hesse stammte aus Estland (dieses Land gehörte früher zum Russland) und

die Mutter Marie Gundert-Dubois ist in Indien als Missionarstochter zur Welt

gekommen. Beide Eltern waren streng gläubig und arbeiteten eine Zeit lang in Indien im

Auftrag der Mission.

Hesse prägten während seines Lebens drei entscheidende Einflussfaktoren:

christliche, unnationalistische Gesinnung und schwäbischer Pietismus der Eltern,

chinesische Lektüre und Schaffen und die Weisheit des schweizerischen

Kulturhistorikers Jacob Burckhardt. Es inspirierte ihn von klein auf auch die

fernöstliche Welt, da Indien das Heimatland seiner Mutter war. Hesse wuchs in einer

weltoffenen Familie auf, es wirkten auf ihn während seines Lebens viele

unterschiedliche Einflüsse, so ist es nicht verwunderlich, dass er seine Gedanken über

Jesus, Kirche und Konfession oft änderte. Hesse behauptete von sich selbst: „Ich bin

kein Vertreter einer festen, fertig formierten Lehre, ich bin ein Mensch des Werdens

und der Wandlungen.“41

Von Anfang an wurde für ihn die theologische Laufbahn bestimmt, Hesse hatte aber

andere Vorstellungen von seiner Zukunft „Von meinem 13. Lebensjahr an war mir das

eine klar, dass ich entweder ein Dichter oder gar nichts werden wolle. […] Ein Dichter

zu werden aber, das war unmöglich; es werden zu wollen, war eine Lächerlichkeit und

Schande, wie ich bald erfuhr.“42

Er verbrachte die Kinderjahre in Calw und Basel, dann

legte er das Landexamen ab und besuchte eine Zeit die Schule im Kloster Maulbronn.

Hier litt er unter dem Stress und floh von dem Seminar. Eine Zeit wechselte er die

Schulen und Heilanstalten. Das war aber auch nicht der richtige Weg zum Glück, Hesse

litt unter Depressionen und in der Anstalt Bad Boll beging er einen Selbstmordversuch,

glücklicherweise blieb er am Leben.

In der Buchhandlung Heckenhauer fand er eine feste Anstellung als Lehrling.

Endlich war er zufrieden, las Goethe, Schiller, Novalis, mochte Nietzsche, Chopin und

rekapitulierte sein bewegtes Ausreifen im Werk Hinterlassene Schriften und Gedichte

von Hermann Lauscher (1896-1899).

41 HILSCHER, Eberhard: Poetische Weltbilder : Essays über Heinrich Mann, Thomas Mann, Hermann

Hesse, Robert Musil und Lion Feuchtwanger, Buchverlag Der Morgen, Berlin 1979, S. 103. 42 BALL, Hugo: Hermann Hesse: sein Leben und sein Werk, Suhrkamp Verlag, Berlin 1963, S. 53.

https://aleph.muni.cz/F/P31KILJGF9Y98J8PXNDXG6FS5XI8UAJKGB1P14R1BCTXGQ4X1P-54777?func=full-set-set&set_number=019854&set_entry=000013&format=999


19

Im Jahr 1901 verwirklichte sich Hesse seinen groβen Traum und unternahm eine

Reise nach Italien, 1903 besuchte er dieses Land nochmals, diesmal mit seiner

angehenden Ehefrau und Fotografin Maria Bernoulli (1868–1963). Mit ihr hatte er

später drei Söhne. Hesse heiratete dann noch zweimal, seine letzte Gattin war Ninon

Dolbin (1895-1966), Kunsthistorikerin und Spezialistin für griechische Antike. Nach

seiner Rückkehr aus Italien schrieb Hesse den Roman Peter Camenzind, durch dieses

Werk, wurde er bekannt und konnte als freier Schriftsteller leben.

Mit Maria lebte Hesse von 1904 bis 1912 in Gaienhofen am Bodensee. In diesem

kleinen Dorf plante er das Leben fern der Zivilisation zu führen. Hier schrieb er seinen

zweiten Roman Unterm Rad zu Ende.

1911 unternahm er zusammen mit seinen Freunden eine Reise nach Indien, man

könnte es als Flucht aus der Lebensidylle in Gaienhofen verstehen. Diese Reise sollte

ihm helfen, Distanz und Überblick über das Geschehen in Europa und sein eigenes

Leben zu gewinnen. Obwohl der Ausflug eher die Gegenwirkung brachte, beeinflusste

diese Reise sein weiteres Schaffen. 1912 zog er mit der ganzen Familie nach Bern um.

Als der erste Weltkrieg ausbrach, war er in der Kriegsgefangenenfürsorge tätig.

Seine Aufgabe war, für die deutschen Kriegsgefangenen Bücher zu sammeln. Am 3.

November 1914 veröffentlichte er in der Neuen Zürcher Zeitung Artikel „O Freunde,

nicht diese Töne“ wo er an die Intellektuellen appellierte, damit sie sich abseits von

Nationalismus und Krieg halten. Dieser Artikel wurde viel diskutiert und in

Deutschland meistens negativ aufgenommen.

Das Jahr 1916 stand für Hesse im Zeichen der tiefen Krise. Es starb sein Vater (die

Mutter schon im Jahre 1902), es erkrankte der jüngste Sohn Martin an

Gehirnhautentzündung und die Ehefrau Maria an Schizophrenie. Hesse fühlte sich

erschöpft und musste selbst psychiatrische Behandlung aufsuchen.

1917 schrieb er den Roman Demian und veröffentlichte ihn 1919 unter dem

Pseudonym Emil Sinclair. Er lieβ sich scheiden und zog aus Bern nach Tessin. In

Montagnola untermietete er sich einige Zimmer im schlossartigen Gebäude Cassa

Camuzzi.

Dort verbrachte Hesse 12 Jahre und schrieb seine groβen Werke wie z.B. Klingsors

letzter Sommer, Siddhartha, Kurgast, Der Steppenwolf, Narziβ und Goldmund. Er

malte, zeichnete und meditierte. Zwischen den Jahren 1919 und 1923 publizierte er

zusammen mit seinem Freund Richard Woltereck die Zeitschrift Vivos Voco - ein

internationales Pazifistenblatt, charakterisiert als „Ruf an die Lebenden, an die Jungen

20

vor allem… um Hilfe und Mitkämpfer gegen die Not der Zeit.“43

Unter anderem

begegnete er in Montagnola seiner zweiten Frau Lisa Wegner (dargestellt als

Romanfigur Kamala in Siddhartha) und schlieβlich auch seiner dritten und letzten Frau

Ninon Dolbin geb. Ausländer.

1931 siedelte der Schriftsteller aus Casa Camuzzi in Casa Hesse über, die sich noch

heute oberhalb von Montagnola befindet. In dieser Zeit war in Deutschland Hitler an der

Macht, viele Schriftsteller mussten ihre Heimat verlassen, manche fanden Asyl gerade

bei Hesse und in seiner Casa. Er lebte hier in „Abkehr von der direkten

Auseinandersetzung mit der Epoche“44

, als Schweizer Staatsbürger berührte ihn die

Situation in Deutschland nicht. Unberührt blieb er auch was die damals neuen

literarischen Strömungen betrifft, Expressionismus oder Neue Sachlichkeit

beeinflussten ihn nicht, er schrieb immer, wie er wollte und was er wollte.

Viel Zeit verbrachte er im Garten, pflegte Freundschaften mit seinen Verlegern,

anderen Schriftstellern, Musikern und arbeitete an seinem Alterswerk und

Bildungsroman Das Glasperlenspiel. Zwölf Jahre brauchte er, um den Bildungsroman

zu beendigen. Die Arbeit an ihm ermöglichte ihm die Kriegszeit zu überstehen. „Es galt

für mich zweierlei: einen geistigen Raum aufzubauen, in dem ich atmen und leben

konnte, aller Vergiftung der Welt zum Trotz…und zweitens der Wirklichkeit des

Geistes gegen die barbarischen Mächte zum Ausdruck zu bringen.“45

Hesse wurden zahlreiche Preise verliehen, unter anderem Gottfried-Keller-Preis

(1936), Goethepreis der Stadt Frankfurt (1946), Nobelpreis für Literatur (1946) oder

Braunschweiger Wilhelm-Raabe-Preis (1950) und viele andere. Er wurde zum

Ehrenbürger von Calw und Ehrendoktor der Universität in Bern.

Mit dem Altersroman Das Glasperlenspiel wurde Hesses literarisches Werk

praktisch abgeschlossen. Er schrieb zwar weiter, aber nur Erzählungen und Gedichte.

Alle Angebote für Verfilmungen seiner Werke lehnte er ab, „weil er seine Bücher in

erster Linie als Sprachkunstwerke verstand, deren Beschädigung bei der Herstellung

von Drehbüchern er in jedem Falle als ‚Degradierung und Barbarei„ empfand.“46

Hesses

43 MIDDEL, Eike: Hermann Hesse : die Bilderwelt seines Lebens, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig

1972, S. 155 44 Ebd. S. 230. 45 VOLKER, Michels: Materialien zu Hermann Hesse "Das Glasperlenspiel". Erster Band, Texte von

Hermann Hesse / herausgegeben von Volker Michels, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1973, S. 2. 46 MIDDEL, Eike: Hermann Hesse : die Bilderwelt seines Lebens, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig

1972, S. 299.



21

Verhältnis zu Deutschland war kompliziert, er empfand Misstrauen gegenüber den

Politikern und der politischen Entwicklung in Deutschland.

Hermann Hesse starb in Montagnola am 9. August 1962 im Schlaf an Hirnblutung,

schon lange Zeit litt er an Leukämie, obwohl er darüber nicht Bescheid wusste.

3.1. Der Sonderfall Hesse

Hermann Hesse war Schriftsteller, Dichter, Essayist, Rezensent und Herausgeber. Er

wird oft als „der letzte Ritter aus dem glanzvollen Zuge der Romantik“47

bezeichnet.

Von klein auf interessierte und beeinflusste ihn die christliche und fernöstliche Welt.

Aus Indien stammte seine Mutter, sein Groβvater Hermann Gundert war Indologe und

beide Eltern arbeiteten in christlicher Mission. Hesse war einer der besten Kenner der

ostasiatischen Kultur – er studierte chinesische Meister wie Laotse (Tao-te-king),

Konfuzius (Gespräche des Kungtse – in diesem Werk machte sich Hesse mit der

Philosophie der ‚rechten Mitte„, Antinationalismus und Musikkunst vertraut), Lue Bu

We und verglich sie mit griechischen Philosophen. Durch Bhagavad Gita, Mahabharata,

Upanishaden und Buddha lernte er Milde, Gleichmut, Meditation, Joga und Nicht-

Verletzen kennen.

Erst viel später, in den dreiβigen Jahren, wurde sich Hesse seiner christlichen

Herkunft wieder bewusst und schrieb nicht mehr über den Fernen Osten, die

Einwirkungen auf den Geist verdufteten aber nicht (z.B. Das Glasperlenspiel –

Indischer Lebenslauf).

Alte Weisheiten inspirierten ihn und er verehrte sie, ein echter Bekenner

irgendwelcher Konfession war er aber nie. Hesse erkannte, dass alle Religionen und

Weisheiten der Welt in sich das gleiche Geheimnis enthalten:

Einmal bei Buddha, einmal in der Bibel, einmal bei Lao Tse oder Dschuang Dsi,

einmal auch bei Goethe oder anderen Dichtern spürte ich mich vom Geheimnis

berührt, und mit der Zeit merkte ich, dass es stets dasselbe Geheimnis war, stets

aus derselben Quelle kam, über alle Sprachen, Zeiten und Denkformen hinweg.48

(Hermann Hesse)


Hesse, Robert Musil und Lion Feuchtwanger, Buchverlag Der Morgen, Berlin 1979, S. 128 48 JENS, Walter/KÜNG, Hans: Anwälte der Humanität: Thomas Mann, Hermann Hesse, Heinrich Böll,

Kindler Verlag, München 1989, S. 224



22

Er warnte vor den Gefahren und Modetendenzen in der Welt des zwanzigsten

Jahrhunderts, den „groβen und raschen Verbrauch von Weltanschauungen und den

modischen Zen-Buddhismus-Rummel“49

lehnte er völlig ab.

Nationalismus bedeutete für Hesse ‚Grundübel der Zeit„. Er erlebte beide Weltkriege,

einerseits verhielt er sich passiv und unberührt, andererseits schrieb er zeitkritische

Artikel, unterstützte Emigranten aus Deutschland und rezensierte Werke von

Antifaschisten und Juden. Er lieβ sich nie von kulturellen Vorurteilen und

nationalistischen Gedanken verführen, ganz im Gegenteil: „Es wurde ihm immer

bewusster, dass der Nationalismus eine Hauptursache von Unfrieden und zivilisatorisch-

kulturellem Rückschritt auf der Erde war und ist.“50

Hermann Hesse war ein groβer

Pazifist. Multikulturalität und die Idee der Globalisierung bedeuteten für ihn

humanistische Notwendigkeit, um den Frieden in der Welt zu fördern und zu sichern.


Hesse, Robert Musil und Lion Feuchtwanger, Buchverlag Der Morgen, Berlin 1979, S. 112 50 Weltbürger - Hermann Hesses übernationales und multikulturelles Denken und Wirken

[online] URL:<http://www.hermannhesse.de/aktuelles/mehr.php?id=498&tag=02&monat=Februar&jahr=

2010)> [25.2.2010]



http://www.hermannhesse.de/aktuelles/mehr.php?id=498&tag=02&monat=Februar&jahr=2010


23

4. „Peter Camenzind“

4.1. Inhaltsangabe

Peter Camenzind wurde in einem kleinen Dörfchen namens Nimikon in

schweizerischen Alpen geboren. Fast alle, die dort lebten, hieβen Camenzind und die

ganze Bevölkerung hier war auf irgendeine Weise verschwägert. Alles ähnelte sich

selbst: die Häuser, Leute, wenn jemand starb, ersetzte ihn jemand anderer. Peter

verglich die Leute mit den Felsen und Bäumen. Sie mussten auch harte

Lebensbedingungen ertragen und er schätzte sie dafür „…hart, streng gefaltet, wenig

redend, die Besten am wenigstens.“51

Peter liebte das Dorf, die Dorfleute hier und vor allem die Natur. Oft floh er in die

Berge und beobachtete die Tiere, Bäume, Pflanzen. „Berge, See, Sturm und Sonne

waren meine Freunde, erzählten mir und erzogen mich und waren mir lange Zeit lieber

als irgend Menschen und Menschenschicksale.“52

Am liebsten hatte er die Wolken.

In der Erziehung spielten seine Eltern nur eine geringe Rolle. Sie hatten keine Zeit für

ihn und er selbst brauchte sie zur Erziehung nicht, er war viel lieber in den Bergen. Vom

Vater kriegte er vorsorglich und regelmäβig den Prügel, ohne zu wissen, warum

eigentlich. Sein Onkel Konrad war eine sehr besondere Gestalt, teilweise Narr und

teilweise Schlaukopf, Peter bewunderte ihn.

Camenzind sagte von sich selbst, er sei von Natur aus faul und schüchtern. Dennoch

besuchte er das Gymnasium und trotz seiner Faulheit war er im Studium

überdurchschnittlich. Freunde fand er hier aber nicht. Er verliebte sich in Rösi

Girtanner, er liebte sie heimlich und sie erfuhr es nie. Sie stammte aus der höheren

Schicht und Peter fand nie den Mut ihr zu sagen, was er füllt. So war es eigentlich mit

allen Frauen in seinem Leben. Nach dem Gymnasium studierte er Philologie an der

Universität in Zürich. In dieser Zeit starb seine Mutter.

In Zürich begegnete er Richard. Er wurde zu seinem Freund und zusammen erlebten

sie viele schöne Abenteuer. Er verliebte sich in eine Malerin aber sie lehnte ihn ab. Aus

Trauer begann Peter zu trinken, machte Schluss mit dem Studium und schrieb Artikel

51 HESSE, Hermann: Gesammelte Werke, Erster Band, Stufen, Die späten Gedichte, Frühe Prosa, Peter

Camenzind, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1987, S. 345 52 Ebd. S. 353

24

für eine Zeitung. Immer noch hatte er das Gefühl, dass in der Zukunft auf ihn etwas

Wunderbares wartet, dass er einmal Dichter wird und ein Meisterwerk schreibt.

Als sich das Ende Richards Studium näherte, unternahmen die Beiden eine Fahrt nach

Italien. Für Peter erfüllte sich sein Traum und sie versprachen sich in der Zukunft auch

andere Ausflüge zu unternehmen. Kurz danach erfuhr Peter, dass Richard in einem

Fluss ertrank. Peter begann wieder zu trinken.

Er wurde Redakteur in einer Zeitung aber bald wurde er wegen seiner Frechheit

entlassen. Eine Weile arbeitete er in Paris als Zeitungskorrespondent und erlebte die

wildeste Zeit seines Lebens. Dann ging er nach Basel und begegnete hier Elisabeth,

seine Schicksalsfrau. In der Gesellschaft hatte er einen schlechten Ruf wegen Alkohol,

trotzdem wurden sie Freunde und später verliebte sich Peter in sie. Er sagte es ihr aber

nicht und sie verlobte sich mit einem anderen Mann.

Enttäuscht und niedergeschlagen verlieβ er Basel und unternahm die Fahrt nach Assisi,

weil er den St. Franziskus bewunderte und sich schon lange Zeit wünschte, seine

Heimat zu besuchen. Er freundete sich mit den Menschen hier an, sie bewunderten und

liebten ihn. Hier war Peter wirklich glücklich und fand sein verlorenes

Lebensgleichgewicht.

Als er zurückkehrte, lernte er durch Zufall den Körperbehinderten Boppi kennen. Sie

wurden Freunde, Peter betreute ihn, kaufte ihm einen Rollstuhl und schlieβlich lebte

Boppi mit ihm in seiner Wohnung. Sie gingen zusammen oft in die Natur oder in den

ZOO, weil sie beide die Pflanzen und Tiere liebten. Später erfuhr Peter, dass Boppi

schwer krank ist, es war aber schon zu spät ihm zu helfen und Boppi starb.

Peter fuhr nach Nimikon, um seinen Vater zu besuchen, dem es gesundheitlich

schlecht ging. Er trank zu viel und Peter entschied sich hier zu bleiben und ihn zu

betreuen. Er und sein Onkel Konrad wurden bald gute Freunde und Peter sammelte

weiter die Materialien für sein Meisterwerk, das er vielleicht einmal schreiben würde.

25

4.2. Zur Entstehung des Werkes

Hesses erste Studien zum Werk Peter Camenzind entstanden im August 1900

während seines Aufenthaltes am Vierwaldstättersee. 1901 machte er seine erste

Italienreise durch die Städte Ober-Italiens und 1902 begann der Dichter mit der Arbeit

an seinem ersten Roman, die von dem plötzlichen Tod seiner Mutter gezeichnet war.

1903 unternahm er mit der zukünftigen Ehefrau Maria Bernoulli die zweite Reise durch

Italien und noch am 9. Juni unterschrieb er den Vertrag über sein nächstes Werk mit

dem S. Fischer Verlag. Die Erlebnisse und Eindrücke aus den Reisen spiegelte er später

im Werk wider, ebenso den Tod der Mutter. Am 15. Februar 1904 erschien im S.

Fischer Verlag der Roman Peter Camenzind, gewidmet Ludwig Finck (seit 1942 dem

Ehepaar Fritz und Alice Leuthold). Im Herbst dieses Jahres erhielt Hesse für sein Werk

den Wiener Bauernfeld-Preis. Der Roman brachte ihm groβe Popularität und eine

wesentliche Finanzspritze, so dass er sich weiterhin nur seiner schriftstellerischen

Tätigkeit widmen konnte.

Obwohl der Roman aus der Zeit vor den beiden Weltkriegen stammt, „atmet er nicht

Zufriedenheit und Sattheit, denn er ist Werk und Bekenntnis eines jungen Menschen,

und Zufriedenheit und Sattheit gehören nicht zu den Merkmalen der Jugend.“53

Diese

Unzufriedenheit richtet der Protagonist nicht nur gegen die Gesellschaft, die er

kritisierte, aber vor allem gegen sich selbst.

53HESSE, Hermann: Gesammelte Werke, Elfter Band, Schriften zur Literatur 1, Suhrkamp Taschenbuch


26

4.3. Einflüsse auf das Werk

4.3.1. „Peter Camenzind“ und „Der grüne Heinrich“

Gottfried Kellers Der grüne Heinrich gehört neben J. W. Goethes Wilhelm Meister

und Adalbert Stifters Nachsommer zu den bedeutendsten Bildungsromanen der

deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts.

Es ist kein Geheimnis, dass sich Hesse beim Schreiben seines ersten groβen Werkes

gerade durch Kellers Grünen Heinrich inspirieren lieβ. Ähnlich wie Kellers Werk,

schildert Camenzind eine autobiographische Geschichte im Zeichen des Realismus und

der Romantik. Martin Pfeifer äuβerte sich in seiner Studie über Hesses Werk:

„Grundidee, Gesamtkonzeption und Handlungsverlauf des ‚Peter Camenzind„ hat der

Dichter, als ein Schüler dem verehrten Meister, dem groβen schweizerischen Realisten

einfach abgeschaut.“54

Und manche Stellen im Buch beweisen, dass es so wirklich ist. Kellers Roman

schildert das Leben eines jungen Künstlers, der ähnlich wie Camenzind in die Welt

hinaus reist, um sich dort im künstlerischen Beruf zu bestätigen. Als Künstler ist

Heinrich aber nicht erfolgreich und enttäuscht gibt er den Beruf als Maler auf, da er

erkennt, dass auch die Malkunst vermarktbar ist. Er kehrt in seine Heimat zurück.

Auch Camenzind verlässt seinen Heimatort, um Dichter zu werden. Stattdessen

arbeitet er als minderwertiger Rezensent und übt seinen Beruf nur für das Geld aus.

„Vor meiner Schriftstellerei hatte ich nach wie vor selber keinen Respekt. Ich konnte

von meiner Arbeit leben, kleine Ersparnisse zurücklegen und gelegentlich auch meinem

Vater etwas Geld senden.“55

Weiterer Beweis der Inspiration durch den Grünen

Heinrich ist, dass sich der Hauptheld in einer Passage im Buch als „grüner Peter“56

bezeichnet. Die Kreise der Künstler und Literaten, in die er dank seiner Stellung in der

Gesellschaft und seinem Freund Richard gerät, bestätigen ihn nur darin, dass die echte

Kunst nicht in den Menschen, sondern in der Natur steckt. Er kehrt aus der

Öffentlichkeit in sein kleines Heimatdorf zurück.

54 PFEIFER, Martin/POPPE, Reiner: Königs Erlauterungen und Materialien, Bd.17, Hermann Hesse –

Peter Camenzind, Unterm Rad, Knulp, C. Bange Verlag, Hollfeld 1996, S. 31 55 HESSE, Hermann: Gesammelte Werke, Erster Band, Stufen, Die späten Gedichte, Frühe Prosa, Peter

Camenzind, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1987, S. 451 56 Ebd. S. 380

27

4.3.2. Andere Einflüsse

Hesse beeinflusste zur Zeit der Entstehung des Romans die ‚biozentrische

Anschauung„ und Konzeption des ‚Deus absconditus„ (der verborgene Gott). Diese

Gedanken entfalteten sich bei ihm in der Verbundenheit mit der Natur, neuromantischer

Lebensmystik und Alleinheit des Seins.57

Hesse befasste sich im Camenzind mit

aktuellen Problemen seiner Zeit. Die Gesellschafts- und Sozialkritik im Buch richtet

sich an die immer wachsende Zentralisierung des Lebens in die Städte zum Nachteil des

Landes. Die Familie, Schule und Wissenschaft stellen in seiner Anschauung nur

konventionelle und deshalb nicht zuverlässige Bildungswerte vor.

Beim Camenzind lieβ sich Hesse auch durch Rousseau und seine Vorstellung des

Menschenbildes inspirieren. Rousseau stellte sich kritisch gegen die Vergesellschaftung

der Menschen und technischen Fortschritt. Er forderte den ‚Rücktritt zur Natur„. Für

Camenzind bedeutete die Natur viel. In ihrer Gestaltung erkannte er die Harmonie des

Weltalls.

4.4. Autobiographische Merkmale im Buch

Camenzinds Traum war Dichter zu werden. Hier spiegelt sich Hesses eigener Traum

wider, den er sich seit seiner Kindheit verwirklichen versuchte.

Interessant ist die Frauengestalt Elisabeth, Camenzinds gröβte Liebe. Hesse hatte die

Beziehung zur Familie La Roche, wo er wahrscheinlich auch der schönen und

unerreichbaren Elisabeth begegnete, die das Urbild zu Elisabeth im Buch war. Sogar ein

Gedicht widmete er ihr, in dem er sie mit einer weiβen Wolke vergleicht.

Wie eine weiβe Wolke

Am hohen Himmel steht,

So weiβ und schön und ferne

Bist du, Elisabeth.58


Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1992, S. 196 58 HESSE, Hermann: Gesammelte Werke, Erster Band, Stufen, Die späten Gedichte, Frühe Prosa, Peter

Camenzind, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1987, S. 15

28

Auch eigene Erlebnisse und philosophische Ansichten wie Bewunderung des

heiligen Franziskus, Reise durch Italien, Tod der Mutter, Verhältnis zum Vater,

Einzelgängertum, positive Einstellung zum Handwerk gliederte Hesse in das Werk ein.

4.5. „Peter Camenzind“ - ein Bildungsroman

Peter Camenzind schildert den Prozess der Suche nach Selbstbestätigung der eigenen

Existenz in der Welt, nach seiner eigenen Lebensweise. Das Werk stellt den Bildungs-

und Entwicklungsprozess des Helden dar. Die Erfüllung und seine Lebensaufgabe

findet der Held nach vielen Irrtümern und Enttäuschungen von der Welt in seinem

Heimatdorf Nimikon.

Was das Ziel des Bildungsprozesses betrifft, geht es dem Protagonisten vor allem um

die Überwindung der Menschenscheu und Lebensfeindschaft, er soll nicht nur die Natur

sondern auch die Menschen lieben lernen. Peters Bildungsaufgabe ist es die eigene

Einsamkeit zu ertragen, sich von ihr zu erlösen und die Wiedervereinigung mit der Welt

zu finden. Er will die Harmonie und Gemeinsamkeit aller Dinge erreichen, dabei soll

ihm sein Dichtertum helfen. Individualismus ist hier unerwünscht, der Held muss sich

eher um die Einreihung in die Gesellschaft bemühen.

4.6. Chronologie des Werkes

Der Bildungsgang des Protagonisten entfaltet sich in drei chronologisch

eingeordneten Phasen: Kindheit, Jugend, Reife. Die Kinderjahre verbringt Peter im

Dorf, wo ihn eher die Natur als die Eltern und Schule prägt und erzieht. Von klein auf

sehnt er sich nach einem wahren, ordentlichen Leben. Da er immer lieber seine Freizeit

in der Natur als mit den Menschen verbringt, entwickelt sich bei ihm eine bestimmte

Art der Menschenscheu.

Berge, See, Sturm und Sonne waren meine Freunde, erzählten mir und erzogen

mich und waren mir lange Zeit lieber und bekannter als irgend Menschen und

Menschenschicksale. Meine Lieblinge aber, die ich dem glänzenden See und den

traurigen Föhren und sonnigen Felsen vorzog, waren die Wolken.59

59 Ebd. S. 353

29

Auf dem Gymnasium ist er seinen Mitschülern gegenüber misstrauisch und auch im

Umgang mit Mädchen zeigt sich eine bestimmte Unsicherheit und Schüchternheit.

Die Jugendzeit verbringt Peter in Zürich teilweise als Student und später als

Journalist. Hier begegnet er dem Bürgertum und seinen Konventionen. Die Lebensweise

dieser Menschen belastet ihn als ‚Anhänger des wahren Lebens„. Erst dank der

Freundschaft mit Richard, einem unbeschwerten Menschen mit kindischer Natur, darf

Peter „vorübergehend das Gefühl intensiver Lebensverbundenheit.“60

genieβen. Der

Tod seines Freundes bedeutet für ihn neue Quälerei, Zweifel an sich selbst und der

eigenen Existenz. Er fällt in die Schwermut zurück.

Camenzinds frühe Männerjahre sind durch manche stürmische Veränderungen in

seinem Leben gekennzeichnet. Er irrt in der Welt herum und erst der Aufenthalt im

Heimatort Franz von Assisis bringt ihm Ruhe ins Leben. In der Nächstenliebe findet er

seinen Lebenssinn, er kehrt in sein Heimatdorf zurück und ist bereit sich dem alten

Vater zu widmen.


Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1992, S. 195

30

4.7. Formen der Liebe im Roman

4.7.1. Liebe zu den Frauen

„Um von der Liebe zu reden - darin bin ich zeitlebens ein Knabe geblieben.“61

Mit

diesem Satz beginnt das zweite Kapitel Peter Camenzinds. Das Verhalten des Helden zu

den Frauen prägt sich durch Passivität und Abwarten aus. Es scheint, als ob Peter in

dem Mutter - Kind -Verhältnis sein ganzes Leben stecken blieb.

Von der Mutter her und auch aus eigenem, undeutlichem Gefühl verehrte ich die

Frauen insgesamt als ein fremdes, schönes und rätselhaftes Geschlecht, das uns

durch eine angeborene Schönheit und Einheitlichkeit des Wesens überlegen ist und

das wir heilig halten müssen, weil es gleich Sternen und blauen Berghöhen uns

ferne ist und Gott näher zu sein scheint.62

Seine Art der Liebe zu einer Frau ist die Verehrung der Mutter in ihr. Da er an die

Kindheit und dadurch auch an die Mutter, die er bald verlor, gebunden ist, tritt er

gegenüber den Frauen ziemlich unsicher und ohne Selbstvertrauen auf. Peter

verheimlicht in seinem Inneren die Gefühle zu den Frauen, er weigert sich ihnen zu

bekennen, was er fühlt. So verliert er aber auch die Chance auf eine Liebesbeziehung.

4.7.2. Menschenliebe

Der Aufenthalt in der Heimat Franz von Assisis und die Liebe zu ihm und zu seiner

Lehre hilft Peter das Gleichgewicht im Leben zu finden. Die Lehre des Heiligen zeigt

ihm neue Möglichkeiten und Formen. So wandelt er seine unerfüllte Liebe zu den

Frauen in eine unendliche Nächstenliebe um. „Ich liebe jetzt den heiligen Franz, und er

hat mich gelehrt, alle Menschen liebzuhaben, euch und die Leute von Perugia und auch

alle diese Kinder hier, und sogar den Geliebten der Erminia.“63

Bestimmter Abstand zu den Frauen blieb aber weiter erhalten. „Denn trotz meiner

italienischen Erfahrung hatte ich immer noch ein leises Misstrauen gegen die Frauen,


Camenzind, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1987, S. 366 62Ebd. 63 Ebd. S.447

31

als müssten sie an den hoffnungslosen Qualen der in sie verliebten Männer ihre

grausame Freude haben.“64

Als Bestätigung der grenzlosen Liebe Peters prägt sich seine Freundschaft mit dem

teilweise gelähmten Boppi aus. Der Umwandlungsprozess der Liebe ist abgeschlossen.

4.7.3. Das Verhältnis zwischen Dichtertum und Liebe

Das Dichtertum spielt im Camenzinds Leben eine wichtige Rolle, denn es „die

Selbsterlösung und durch diese die Erlösung der Dinge überhaupt zum Ziele hat.“65

Peters erste Begegnung mit der Literatur verwirklichte sich schon während seines

Studiums, durch Selbststudium erweiterte er sich die Kenntnisse über sie. Da er sich mit

ihr und mit der Natur oft beschäftigte, entwickelte sich bei ihm die Vorstellung selbst

Dichter zu werden. Das Dichtertum wurde ihm zum Hilfsmittel auf dem Weg zur

Selbstbildung. Später begann er sich aber langsam von ihm zu lösen, die irdische Liebe

schien ihm wichtiger und notwendiger.

Über seine Dichtung ist im Buch die Rede immer weniger, dagegen die Suche nach

der Liebe wird zum Zentralthema. Es geht aber nicht mehr um eine leidenschaftliche

Liebe zu einer Frau, sondern um die ruhige, dauernde Liebe zu jedem Wesen auf der

Welt. Sie ist aber zweckhaft, es ist eine Art der Selbst-Therapie und wirkt unecht. Man

kann doch nicht selbst bestimmen die ganze Welt zu lieben. Solche Liebe kommt nicht

von Herzen. Denn: „Fand Peter in der Frauenliebe schon nicht das rechte Maβ, so hat er

es in dieser Liebe als Charitas ebenso wenig gefunden.“66

Malte Dahrendorf klassifiziert

sie als „Resignation seines Bildungswillens“67

Diese Liebe stillt zwar sein Leiden, zur

Vollendung führt sie aber nicht.

Wenn Knecht später wieder nach Nimikon zurückkehrt, scheint sein Traum Dichter

zu werden nicht ganz unterdrückt. Er bewahrt in seinem Inneren weiterhin den

Gedanken an das groβe Werk, das er einmal schreibt.

64 Ebd. S.450 65 DAHRENDORF, Malte: Der Entwicklungsroman bei Hermann Hesse (Dissertation), Philosophische

Fakultät der Universität Hamburg, Hamburg 1954, S. 34 66 Ebd. S.36 67 Ebd.

32

4.8. Bildungskonzeption des Helden

Camenzind präsentiert sich als Einzelgänger, gegen alle Normen der bürgerlichen

Gesellschaft gerichtet. Er will sich der Gesellschaft allgemein nicht anpassen, er will

seinen eigenen Weg gehen, er ist ein „einsamer König in einem von ihm selbst

geschaffenem Traumreich.“68

Peters Bildung war ursprünglich die Idee seines Oheims Konrad. Seine Projekte

endeten aber meistens schlecht oder sogar im Fiasko. Man kann deshalb schon von

Anfang an vermuten, in welchem Sinne sich die Geschichte weiter abspielen wird.

Die Extreme der Bohéme ziehen Peter nicht an, er bleibt dem ‚Kulturjahrmarkt„

entfremdet. In der Moderne erkennt er nur die Welt der Schwächen, Halbheiten und

Geschwätzigkeit. Das ist nicht die Wirklichkeit, nach der er strebt. Enttäuscht von der

Gesellschaft, kehrt Peter schlieβlich lieber nach Nimikon zurück, wo auf ihn ein

einfaches, mit der Natur verbundenes Leben wartet.

Das Schicksal des Protagonisten stellt auch eine bestimmte Art der

Wiedergutmachung „zu den Normen und Wertvorstellungen des zeitgenössischen

Besitz- und Bildungsbürgertums“69

dar. Ziemlich bald erkennt Peter, dass er in die

bürgerliche Gesellschaft nicht passt und distanziert sich von ihr. Die Gesellschaft und

der Staat sind ihm gleichgültig. Seine charakteristischen Eigenschaften wie Faulheit und

Trinksucht reihen ihn nicht zu den erfolgversprechenden Burschen, die die Zukunft

gestalten.

Es offenbaren sich hier die Züge des Heimatromans obwohl das Werk selbst kein

Heimatroman ist. Es wird die Idylle des Dorfes geschildert, als Gegenpol zum Land

wird die Stadt angesehen, die etwas Fremdes, Unerwünschtes und Dekadentes darstellt

(vgl. Camenzinds Aufenthalt in Paris). Der Schluss wirkt dann eher als die Folge der

Desillusionierung statt der Bildung.

Gescheitert im öffentlichen Leben, kehrt Peter zurück, um in der Landidylle unter

den Menschen wie er selbst ist zu leben. Die Bildungsinstitutionen und sein folgender

Beruf bereicherten sein Leben nicht, sie führten ihn nur in eine noch tiefere Krise. Und

da Peter nicht fähig war diese Krise zu bewältigen, entfloh er ihr.

68 HESSE, Hermann: Gesammelte Werke, Elfter Band, Schriften zur Literatur 1, Suhrkamp Taschenbuch

Verlag, Frankfurt am Main 1987, S. 26 69 MAYER, Gerhart: Der deutsche Bildungsroman : Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, J.B.

Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1992, S. 196

33

Die echte Bildung liegt bei Peter in Überwindung der Schwermut, Angst vor der

Welt. Er sollte in sich die Neigung zum ‚animalischen Leben„ unterdrücken und der

menschlichen Gesellschaft sich annähern versuchen.

4.9. Strukturelle Merkmale

Im Peter Camenzind finden wir verschiedene strukturelle Merkmale des

Bildungsromans. Es wird der innere Bildungsvorgang des Haupthelden geschildert und

zwar in chronologischer Reihenfolge, obwohl mit groβen temporalen Sprüngen. Das ist

ein typisches Zeichen der späteren Romane von Hermann Hesse. Die wichtigsten

Phasen seiner Bildung werden aber angegeben. Den Zeitraum seiner Bildung können

wir in drei Phasen aufteilen: Kindheit, Jugendzeit, mittlere Mannesjahre.

Was die Sprache betrifft, blieb Hesse von den Modetendenzen unberührt, er benutzte

gesprochenes Deutsch seiner Heimat. Die Erzählweise des Romans wirkt frisch und

lebendig. Der Autor nutzt oft die Ich-Form, durch sie offenbart er bestimmten Grad der

Identifizierung mit dem Helden.

Für das Werk ist die neuromantische Auffassung kennzeichnend: romantische Reise

nach Italien, Legende über Franz von Assisi, poetische und wilde Bergnatur, Liebesleid,

Richards göttliche Heiterkeit, in Gott versöhnter Tod Boppis. Auβer der Romantik

finden wir im Werk auch realistische Züge.

Was die Hauptfigur betrifft, stellt sie die Zentralgestalt vor und ihr sind die

Nebenfiguren funktional zugeordnet. Und da es um die Geschichte eines

verschlossenen Mannes geht, treten in der Handlung nicht viele Nebengestalten auf. Sie

bekommen nur weinig Spielraum und ihr persönliches Profil ist vernachlässigt.

Zahlreiche Leseranreden und ironische Kommentare des Erzählers und des

Protagonisten in Einem offenbaren, dass der Autor nicht nur lehren sondern auch

beglücken will.

Schlieβlich zeigt sich die Auβenwelt nicht als bereichernder Faktor, denn der

Hauptheld seine Selbstbestätigung in dem Heimatort findet. Auch in dieser Hinsicht ist

der Einfluss des romantischen Bildungsromans, wie zum Beispiel des Grünen Heinrich,

in dem Werk unbestritten.

34

Als bestimmter Mangel des Romans könnte die Neigung zur totalen Ablehnung der

Zivilisation angesehen werden.

4.10. Die Rolle des Vaters im Roman

Die Figur des Vaters ist im Leben jedes Menschen sehr wichtig, er ist für die

intellektuelle und emotionale Entwicklung des Kindes verantwortlich. Er verkörpert die

Autorität. So ist die Vaterfigur auch für den Helden des Bildungsromans wesentlich und

wir befassen uns mit ihr in diesem Kapitel ein bisschen näher.

Im Falle des Glasperlenspiels spielen die Eltern keine Rolle. Da Knecht als Waise

aufwächst, ist die Erziehung streng auf den Orden und auf die Gestalt Josef Knechts

übertragen. Bei Peter Camenzind blieb aber das elterliche Element erhalten.

Der Vater kann in verschiedenen Rollen für das Kind auftreten. Er ist der Ernährer,

Beschützer, Erzieher und Freund.70

Falls der Vater als Vorbild akzeptiert wird, kann er

sein eigenes System der Werte auf das Kind übertragen, im anderen Fall wendet sich

der Held an die Gruppe der Jugendlichen (‚peer group„)71

oder an eine andere potentielle

positive Führungsfigur.

Im Peter Camenzind repräsentiert die Vaterfigur den „richtungslosen, schwachen

Vater.“72

Sein Einfluss ist nur minimal, zugleich gewinnt ein gleichaltriger Freund

(Richard) an Bedeutung. Der Versuch des Vaters den Sohn zu führen oder die Macht

auf ihn auszuüben wird ignoriert, als Autorität wirkt er eher lächerlich.

Peters Vater ist ein typischer Nimikoner – einfach und unauffällig. Seine Art der

Erziehung ist der regelmäβige Prügel, den Peter meistens grundlos kriegt:

...ich bekam eine Tracht Prügel, ohne dass der Vater oder ich selbst genauer

gewusst hätte, wofür. Es waren stille Opfer am Altar der Nemesis, und sie wurden

ohne Schelten seinerseits oder Geschrei meinerseits dargebracht als schuldiger

Tribut an eine geheimnisvolle Macht.73

70 Vgl. GIESEKE, Astrid: Die Vaterfiguren im deutschsprachigen Bildungsroman des frühen 20.

Jahrhunderts (Dissertation), Dissertations- und Fotodruck Frank GmbH, München 1986, S. 20-22 71 Vgl. Ebd. S.132 72 Vgl. Ebd. S.85 73 HESSE, Hermann: Gesammelte Werke, Erster Band, Stufen, Die späten Gedichte, Frühe Prosa, Peter

Camenzind, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1987, S. 352-353

35

Als Peter in die Welt geht, verliert die Figur des Vaters ganz an Bedeutung und an

der schon sowieso geringen Erziehungskraft. Ab jetzt muss der Protagonist selbst sein

Leben gestalten. Später, als beide ihm nahesten Freunde sterben, beginnt er die

Beziehung mit dem Vater von neuem zu bilden. Er kümmert sich um ihn. Der Vater

dagegen versucht sich von dem Sohn Abstand zu halten. Einmal wird Peter

wahrscheinlich seine Rolle in der Gemeinde übernehmen, er hält es für eine

Selbstverständlichkeit und einen ganz natürlichen Vorgang seines Lebens.

4.11. Die Rolle des Lebensfreundes

Peters Aufgabe war unter anderem auch sein Leben selbst zu bewältigen. Die

Kameradschaften halfen ihm selbstbewusster und sicherer aufzutreten. Aber als er den

Freund verlor befand er sich wieder auf derselben Stelle wie am Anfang. Peter musste

begreifen, dass ihn niemand vor seinem eigenen Leben schützen kann, dass nur von ihm

selbst abhängt, wie er mit ihm klarkommt. Man darf nicht nur auf das Leben warten,

sondern man muss selbst leben.

Die Freundschaft mit Richard hilft Peter sich von der Schwermütigkeit zu befreien.

Seine offene und lebenslustige Natur lässt auch den sonst melancholischen Peter nicht

in Ruhe. Zusammen erleben sie viele lustige Abenteuer. Nach Richards Tod scheint

aber alles verloren zu sein. Peter zieht sich aus der Gesellschaft zurück, von der

Schwermut beherrscht, huldigt er dem Alkohol.

Nach mehreren Jahren tritt in sein Leben der Krüppel Boppi. Dank ihm gewinnt

Peter eine ganz neue Lebensansicht, „einen stillen, zufriedenen Humor, eine gütige,

weise Weltbetrachtung.“74

Obwohl sich Peter um ihn kümmert, erweist sich bei näherer

Betrachtung eher Boppi als der Gebende. Peters Selbstvertrauen wird gröβer und die

Qualität der Freundschaft ist vergleichbar mit der Freundschaft mit Richard.

74 GIESEKE, Astrid: Die Vaterfiguren im deutschsprachigen Bildungsroman des frühen 20. Jahrhunderts

(Dissertation), Dissertations- und Fotodruck Frank GmbH, München 1986, S. 99

36

4.12. Das Motiv der Natur

Die Natur spielt im Peters Leben eine bedeutende und unersetzbare Rolle. Gerade die

lyrische Beschreibung der Natur gehört zu den schönsten und wertvollsten Passagen im

Buch. Die Gebirgswelt seiner Heimat bedeutet Peter viel, in den Felsen, Bäumen,

Blumen und vor allem in den Wolken findet er Gott. Er liebt sie. Das Naturerlebnis

seiner Kindheit erschwert ihm später den Umgang mit den Menschen.

Mit der Natur hängt auch das Erlebnis der Ferne zusammen. „Oh, die Wolken, die

schönen, schwebenden, ratlosen! Ich war ein Kind und liebte sie, schaute sie an und

wusste nicht, dass auch ich als eine Wolke durchs Leben gehen würde – wandernd,

überall fremd, schwebend zwischen Zeit und Ewigkeit.“75

Genauso wie eine Wolke will

auch er durch das Leben wandern.

Peter ist anders als die Nimikoner aus dem Dorf, er will in die Welt aufbrechen. Die

Sehnsucht nach Wanderungen, nach Entdecken neuer Landschaften lässt ihn nicht in

Ruhe. Sie entfaltet sich während seiner ersten Bergsteigung: „Und nun verstand ich

auch die Schönheit und Schwermut der Wolken erst ganz, da ich sah, in was für endlose

Ferne wir wanderten.“76

Schlieβlich, nach manchen Täuschungen in der Welt, kehrte er

aber in seine Gebirgsheimat zurück. Er bevorzugt die Natur vor dem Weltrummel.

„Camendzinds Naturverbundenheit wurde als positiver Gegensatz zur groβstädtischen

Zivilisation verkündet.“77

Auβerdem kann man in Camenzind die wachsende Feindseligkeit gegenüber der

Gesellschaft, Staat und Industrie zu Gunsten der Verherrlichung des Landes und

Einzelgängertums beobachten. Ähnlich wie Rousseau machte Camenzind den

Widerstand gegen die Gesellschaft durch und strebte dann zur Natur zurück.


Camenzind, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1987, S. 354 76 Ebd. S. 356 77 KOVÁŘ, Jaroslav: Zur Problematik der ersten Schaffensperiode Hermann Hesses, In: Brüner Beiträge

zur Germanistik und Nordistik, Band I, MASAŘÍK, Zdeněk (Hg.), Univerzita J.E. Purkyně, Brno 1977,

S. 129

37

4.13. Ergebnis der Lebensreise des Helden

Am Ende der Geschichte scheint es, dass der ganze ‚Ausflug in die Welt„ nutzlos und

nur Zeitverschwendung war. Denn Peter ist nicht anders sondern gleich wie die

Nimikoner und gehört deshalb zu ihnen. Die Reise hat ihm nichts Wesentliches

gebracht, umso weniger das erhoffte Glück. Sein Lebensplan scheiterte. Für Peters

Natur ist die „Schwerlebigkeit, Zagheit, Passivität, Menschenscheu und Schwermut“78

charakteristisch. Seine Vorherbestimmung zum Landleben spiegelt sich in Hesses

eigenem Schicksal kurz nach der Entstehung des Werkes wider und zwar in der Ehe und

Übersiedlung nach Gaienhofen im Jahre 1904. Es scheint, als ob er sich im Camenzind

seinen eigenen Traum vom Leben am Lande verwirklichte. Er schrieb einmal:

Es war die erste Zuflucht meiner jungen Ehe, die erste legitime Werkstatt meines

Berufes, hier zum erstenmal lieβ ich mich das Gefühl von Sesshaftigkeit…hier

zum erstenmal lieβ ich mich auf den hübschen Traum ein, mir an einem Orte

eigener Wahl etwas wie Heimat schaffen und erwerben zu können.79

Camenzinds Bildungs- und Lebensaufgabe war, den Weg zu den Menschen zu finden

und die eigene Stellung unter ihnen zu behaupten. Das gelang ihm aber nicht. Obwohl

er die Fortschritte während seines Aufenthaltes ‚in der Welt„ machte, lernte er aus den

Misserfolgen nicht und fiel immer wieder in den gleichen Zustand zurück wie am

Anfang. Das einzige Weiterkommen scheint die Mäβigung seiner Ansprüche auf das

Leben zu sein. Er brauchte nicht mehr Dichter zu werden, es reichte ihm, ein einfaches

Leben wie die Nimikoner zu führen, obwohl er am Anfang aus dieser Gesellschaft

ausbrechen wollte. Die Resignation und ein bestimmter Krampf, der sich in jedem

seinem Handeln offenbart, hindern ihm daran ein höheres Leben zu führen.

Peter bemühte sich um eine bestimmte Art der ‚Bildung„ und ‚Erziehung„ seiner

Persönlichkeit, jedoch ohne Ergebnis. Schlieβlich musste er feststellen, dass er in die

Welt der Moderne nicht passt. Er scheiterte in seinem eigenen Bestreben und fand das

Gleichgewicht in der Beziehung zur modernen Kultur nicht.

Die Heimat stellte eher ein Hindernis auf dem Weg zur Bildung vor, sie verband ihn

mit seiner Kindheit und mit der zu früh verstorbenen Mutter. Als er zurückkam, kehrte

er auch in seine Kindheit zurück. Er blieb innerlich ein Kind und zwar nicht nur in der

Liebe, sondern in allen Bereichen seines Lebens. Die Vollendung fehlt hier. Malte

78 DAHRENDORF, Malte: Der Entwicklungsroman bei Hermann Hesse, Philosophische Fakultät der

Universität Hamburg (Dissertation), Hamburg 1954, S. 38 79 Zitiert nach: Ebd.

38

Dahrendorf rekapituliert sein Bemühen um einen Platz in der Welt folgendermaβen:

„Peters Lebensreise ist sinnlos geblieben, sie hat ihn nur von seinen törichten

Glücksansprüche geheilt, oder eigentlich: sie hat ihn zur Erkenntnis geführt, dass er sich

von seinen Lebensansprüchen befreien muss, um ‚glücklich„ zu werden.“80

Geht es hier also um einen misslungenen Bildungsroman? Sicher nicht. Zwar kehrt

Peter in seine Heimat zurück, nicht aber ganz unverändert. Seine Stellung zum

Heimatdorf ändert sich. Von nun an braucht er nicht mehr zu fliehen, er beginnt in

Nimikon sein Leben von neuem zu gestalten. Sein Rückkehr bedeutet nicht den

Höhepunkt seiner inneren Bildung, sondern nur wieder eine weitere Entwicklung, von

derem Ende man nicht sagen kann, ob sie gut oder schlecht ausfällt.

80 Ebd. S. 40-41

39

4.14. Fazit

Peter versuchte sich von den Erziehungssystemen zu lösen und sein Leben selbst zu

gestalten. Es war wie ein Einbruch der Bergwelt in die Stadt, der aber nicht erfolgreich

war. Das Glück, so hoffte er, liegt in der Welt. Am Ende seines Bildungsweges kommen

wir zur Erkenntnis, dass es nicht so ganz wahr ist und sein Wunsch, in die groβe Welt

aufzubrechen und dort zu leben, nur eine Täuschung war.

Wegen der menschlichen Vollendung, um die sich Peter bemühte, musste er dann als

Dichter in der Welt scheitern. Als sich der Protagonist dieser Tatsache bewusst wird,

kehrt er wieder nach Nimikon zurück. Fraglich aber ist, ob er zu dieser Erkenntnis

gekommen wäre, wenn er sein ganzes Leben in Nimikon geblieben wäre. Falls nicht,

bleibt diese Reise trotz der Serie von Enttäuschungen vorteilhaft, denn er erreichte

durch sie eine bestimmte Stufe des Erwachens. Dank der Lehre des heiligen Franziskus

und Lebensfreude Boppis gelang es ihm, den Schwermut zu überwinden und

Verachtung gegen die Menschen teilweise zu beseitigen.

Hesse orientierte sich in seinem ganzen Werk auf den inneren Konflikt, auf den

Kampf der Seele, denn nur durch die Seele, durch das Innere kann der Mensch zur

wahren Erkenntnis, zur Erlösung kommen. Diese Erlösung scheint für alle seine

Dichtungen grundlegend zu sein. Ob Peter Camenzind auf dem richtigen Weg zur

Erlösung ist, bleibt fraglich, sicher aber ist, dass der Schluss des Romans eher resignativ

als hoffnungsvoll ausklingt.

Zum Schluss dieses Kapitels noch ein paar Worte über das Werk von dem Autor

selbst:

Sie werden auf den ersten Blick sehen, dass mein Werkchen unmodern, ja

antimodern ist. Auch an formalen Mängeln wird es nicht fehlen. Dagegen ist Volk

und Land aus langen, liebevollen Beobachtungen dargestellt und es steht nichts

Erfundenes und Unerlebtes drin. Den Schwerpunkt sollte die seelische

Entwicklung des Sonderlings Peter bilden, alles Nebenher ist daher skizzenhaft

behandelt.81

81 Zitiert nach: UNSELD, Siegfried: Hermann Hesse – Werk und Wirkungsgeschichte, Insel Taschenbuch


40

5. „Das Glasperlenspiel“

5.1. Inhaltsangabe

Der Erzähler schildert Leben und Wirken des Magister Ludi Josef Knecht von seiner

Kindheit bis zum Tode. Die Handlung spielt sich im 23. oder 24. Jahrhundert ab (die

Jahresangaben fehlen) in einer kleinen pädagogischen Provinz namens Kastalien.

Kastalien wurde berühmt durch ihre hohe Konzentration der Eliteschulen und als

Standort des Glasperlenspiels. Knecht kam nach Kastalien als kleiner Knabe. Zuerst

besuchte er die Schule in Eschholz dann studierte er in Waldzell.

Von Anfang an war er von Kastalien und dem Schulsystem hier begeistert. Er durfte

jede Kunst, jede Wissenschaft studieren, die er auswählte. Waldzell war außerdem Sitz

des Magister Ludi, der das Glasperlenspiel leitete und jedes Jahr mit anderen Magistern

vorbereitete. Josef traf hier verschiedene Personen, manche wurden seine Freunde,

bedeutend ist vor allem seine Freundschaft mit Plinio Designori. Dieser Junge gehörte

nicht zum Orden wie die Mehrheit seiner Mitschüler. Knecht wird in der Zukunft einen

Beruf im Dienst des Ordens ausüben, zum Beispiel als Lehrer, Erzieher, Übersetzer.

Diesen Beruf darf er sich nicht selbst auswählen, sondern der Orden bestimmt, für

welche Beschäftigung er sich am besten eignet. Natürlich könnten sie den Orden auch

verlassen, aber das tun sie meistens nicht. Dagegen Plinio und ihm ähnliche, es sind

nicht viele, leben in zwei Welten. Die Welt der Kenntnisse, Weisheit und

Wissenschaften stellt Kastalien dar, die zweite Welt vertritt die Realität dort draußen

hinter „dem Zaun“ der Schule, dort haben die Studenten ihre Familien. Plinio besucht

Waldzell, um die beste Bildung zu bekommen. Aber er bleibt dort nicht für immer. Er

wird einmal in wirklicher Welt leben. Zuerst sind Plinio und Knecht Feinde, dann

werden sie Freunde. Und Josef beginnt sich die Fragen zu stellen. Welche Welt ist die

wirkliche, die wahre?

Knechts Studienjahre waren die glücklichste Zeit seines Lebens. Er konnte beliebige

Fächer studieren, beliebige Seminare besuchen und auch beliebig lang studieren. Die

Aufnahme in den Orden bedeutete für ihn das Ende seiner Freiheit. Jetzt war er dem

Orden verpflichtet und musste ihm dienen.

41

Er erfüllte hervorragend alle Aufgaben und Missionen dank seiner Begabung,

Charme und gewisser Kunst, andere Leute zu überzeugen können. Eine Mission übte er

in dem Benediktinerkloster Mariafells aus. Hier lernte er Pater Jakobus kennen, der ihm

die Augen für Geschichte öffnete.

Als er später zum Magister Ludi ernannt wurde, empfand er wenig Glück und immer

größere Verpflichtung. „…und wer höher steigt und größere Aufgabe bekommt, wird

nicht freier, er wird nur immer verantwortlicher.“82

Die Beliebtheit des Glasperlenspieles in der Welt war nicht mehr so groß wie früher.

Knecht hatte eine schwierige Aufgabe vor sich: das Glasperlenspiel für nächstes Jahr

vorzubereiten und seine Beliebtheit dadurch zu steigern.

In dieser Zeit erfuhr er, dass sein Freund, Lehrer und Vorbild, der Musikmeister,

krank war und wahrscheinlich bald verstirbt. Als er ihn besuchte, sah er, dass er nicht

krank ist, sondern dass er sich an der Schwelle in eine andere Welt befand. Dieser

Prozess ist mit dem Tod des menschlichen Körpers verbunden. Knecht fühlte sich in der

Anwesenheit seines alten Lehrers ganz anders, wie verwandelt. Außerdem fühlte er,

dass aus dem Meister bestimmtes Licht, Ruhe und Frieden ausstrahlt. Er fragte danach

seinen Freund Ferromonte (der Musikmeister lehnte die Konversation ab, er nutzte eine

andere Kommunikationsform, die Josef aber nicht verstehen konnte). Ferromonte

leugnete zuerst, dass er nichts Besonderes bemerkte, dann stimmte er aber zu. Trotzdem

wollte er diesen Zustand, in dem sich der Meister befand, nicht anerkennen, weil es

unerklärbar war und er an solche übersinnliche Erscheinungen nicht glaubte. Er musste

aber zugeben, dass dieser Greis etwas Ungewöhnliches erlebt und dass es viel mehr als

der Tod ist.

Der Musikmeister starb und Josef veranstaltete das große Jahresspiel und übte weiter

sein Amt aus. Er war gewissenhaft und verantwortlich, erfüllte mit spielender

Leichtigkeit alle Aufgaben. So verliefen mehrere Jahre.

Eines Tages begegnete er wieder seinem alten Freund Plinio Designori und führte

mit ihm einen besonderen Dialog. Plinio war traurig, die Welt war zu hart für ihn und er

konnte ihre Schwere nicht weiter ertragen. Er erzählte Josef seine Lebensgeschichte.

Nach dem Studium in Waldzell versuchte er auch in der äußeren Welt nach den

kastalischen Regeln zu leben. Das war aber nicht möglich. Er fühlte sich verzweifelt

und gespalten.

82 HESSE, Hermann: Das Glasperlenspiel, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, Berlin 1985, S. 89

42

Josef entschied sich ihm zu helfen. Er wollte sich von Kastalien befreien, acht Jahre

war er als Magister Ludi im Amt und jetzt hatte fast keine Kräfte mehr. Sein Wunsch

war, kleine Schüler zu unterrichten, so wie früher der Musikmeister. Bevor er eine

Beschäftigung findet, wird er bei Plinio und seiner Familie leben und seinen Sohn Tito

erziehen. Als Gegenleistung hilft er dem Freund das verlorene Gleichgewicht durch

Meditation wieder zu entdecken.

Knecht verlieβ Kastalien heimlich, weil sein Abschiedsgesuch von dem Orden

abgelehnt wurde. Von Plinio erfuhr er, dass der kleine Tito auf ihn im Gebirge wartet,

wo sich ihr Ferienhäuschen befindet. Als er dann an Ort und Stelle war, kam ihm Tito

entgegen. Josef fühlt sich nach der Reise aber nicht wohl und ging lieber bald schlafen.

Am Morgen des nächsten Tages trafen sich die zwei am See, der sich in der Nähe des

Hauses befand. Die Sonne ging auf und sie waren von diesem Augenblick überwältigt.

Tito schlug vor zum anderen Ufer des Sees zu schwimmen. Obwohl Josef kein guter

Schwimmer war und sich immer noch schwach fühlte, stimmte er zu. Das Wasser war

aber zu kalt, Knecht überschätzte seine Kräfte und ertrank. Tito versuchte ihn noch zu

retten, es war aber schon zu spät. „Oh weh, dachte er entsetzt, jetzt bin ich an seinem

Tode schuldig.“83

83 Ebd. S. 466

43

5.2. Einführung in das „Glasperlenspiel“

Das Glasperlenspiel ist verbunden mit der politischen Situation in Deutschland nach

dem Jahr 1930. Vielleicht wird es einmal als der groβe Gegenentwurf zu den

Verbrechen des Nazi-Regimes in Deutschland anerkannt, als „scharfe Analyse dieser

Zeit und gleichzeitig als Utopie, deren Zukunftserwartung Inhalte der klassischen

Utopien, wie die Rückkehr zur Natur, die der Idee des Friedens und die einer

klassenlosen Gesellschaft aufnimmt.“84

Hermann Hesse schrieb das Glasperlenspiel ungefähr 12 Jahre ab 1931 bis 1942. Er

selbst betonte oft, dass die Arbeit an diesem Werk ihm das Überleben der kritischen

Jahre des Zweiten Weltkriegs ermöglichte. „Es galt für mich zweierlei: einen geistigen

Raum aufzubauen in dem ich atmen und leben konnte, aller Vergiftung der Welt zum

Trotz…und zweitens den Widerstand des Geistes gegen die barbarischen Mächte zum

Ausdruck zu bringen.“85

Der Autor setzt sich im Glasperlenspiel mit der Epoche, in der

er lebte, und mit seinem gesamten Werk auseinander.

Das Glasperlenspiel könnte als Summe aller seiner Werke verstanden werden. In

dieser Dichtung verwirklichte sich der Höhepunkt Hesses literarischen Schaffens und

praktisch wurde es somit abgeschlossen. Im Knecht vereinigen sich alle Haupthelden

der vorherigen Dichtungen.

84 Ebd. S. 201 85 VOLKER, Michels (Hg.): Materialien zu Hermann Hesse "Das Glasperlenspiel". Erster Band, Texte

von Hermann Hesse, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1973 S. 2

44

5.3. Entstehung und Wesen des Werkes

Hesse begann mit der Arbeit am Glasperlenspiel in der Mitte des Jahres 1931,

nachdem er die Erzählung Morgenlandfahrt beendete.

Die Arbeit ging aber langsam voran, manchmal zweifelte der Autor selbst, dass er

das Buch einmal zu Ende schreibt. Hesse fühlte sich schon alt, hatte keine Lust mehr

zum Schreiben. 1933 schrieb er in einem Brief an seinen Freund Hermann Hubacher:

Seit anderthalb Jahren habe ich den Plan zu einer Dichtung und bin noch nicht

soweit gekommen, eine Zeile zu schreiben, weil ich alt werde, weil es mir zu gut

und bequem geht, weil ich jeden Tag durch die Post etc. etc. gezwungen werde,

den vielbeschäftigten berühmten Mann zu spielen.86

Trotzdem entstanden in dieser Zeit die ersten Ideen und Stichworte zum

Glasperlenspiel. Im Januar 1932 wurde das Motto des Buches entworfen. Die

Einleitung entstand kurze Zeit später, sie musste aber neu bearbeitet werden, da sie zu

aktuell und zeitbeeinflusst war.

1934 schrieb Hesse einen der drei fiktiven Lebensläufe - den Regenmacher. Dieser

Lebenslauf erschien später in der Neuen Rundschau. Ursprünglich sollte das Buch

neben der zentralen Geschichte Josef Knechts weitere vier Lebensläufe beinhalten.

Hesse fang die Arbeit am vierten Lebenslauf an, beendete ihn aber nicht. Dieser

Lebenslauf sollte sich im 18. Jahrhundert abspielen und das Leben des schwäbischen

Theologen, Schüler Johann Albrecht Bengels schildern. „Die Pietistensprache schmeckt

mir auch heut noch nicht, aber sie regt mich auch nicht mehr auf … einige Typen, wie

Bengel, sind echte Weise und Verwandelte gewesen … sie sind die einzigen Theologen

jener Zeit, die man noch lesen kann.“87

Die tiefere Beschäftigung mit dem Geistlichen

Johann Albrecht Bengel verweist auf die Versöhnung Hesses mit dem Christentum und

mit dem Pietismus der Eltern.

1935 geriet Hesse in eine Schaffenskrise. Es waren alle seine Ersparnisse weg, seine

Freunde aus Deutschland suchten bei ihm Asyl und der Bruder Hans beging

Selbstmord. In Deutschland wurde er verleumdet, die Zeitschrift Die Neue Literatur

stempelte ihn als Volksverräter ab. Trotzdem erschienen in der Zeitschrift Corona Die

Gedichte des jungen Josef Knecht.

86 Ebd. S. 60 87 Ebd. S. 78-79

45

Im Brief an den Fischer Verlag vom 11.5.1936 hofft Hesse, die Krise sei schon

vorbei und dass er die Arbeit am Glasperlenspiel fortsetzen kann. Er schrieb den

zweiten Lebenslauf Beichtvater und andere Gedichte zum Glasperlenspiel. Während des

Jahres 1937 entstand der Indische Lebenslauf. Um 1939 war schon ein Drittel des

Werkes fertig (Einleitung, Abhandlung über das Glasperlenspiel, Kapiteln Berufung

und Waldzell). Laut Hesse gilt die Einleitung zum Glasperlenspiel als „der Schlüssel

zum Ganzen.“88

Die drei Lebensläufe betrachtet er als „das am meisten Dichterische im

ganzen Buch.“89

1942 war das Glasperlenspiel beendet.

Ursprünglich sollte das Werk von seinem Verleger Suhrkamp gedruckt werden. In

Deutschland wurde es aber vom Propaganda-Ministerium wegen des Kapitels, das im

Kloster abspielt, verboten und Hesse musste sich einen neuen Verleger in der Schweiz

suchen. Schlieβlich unterschrieb er den Vertrag mit Fretz & Wasmuth Verlag. Der volle

Titel lautete: Das Glasperlenspiel. Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister

Ludi Knecht samt hinterlassenen Schriften. Widmung: Den Morgenlandfahrern.

Dass das Werk in Zürich gedruckt werden musste, bedeutete für Hesse eine groβe

Enttäuschung, das Buch wurde für das Leserpublikum in Deutschland bestimmt. 1942

im Brief an Rolf Conrad schrieb Hesse: „Das Buch bleibt jenen Lesern, die es

erwarteten und die etwas davon hätten, vorenthalten … Aber so ist es ja mit allem, was

die meisten Menschen heute tun – der Sinn liegt irgendwo im Metaphysischen,

vielleicht -“90

Erst am 17. Oktober 1945 erhielt Peter Suhrkamp die erste

nachkriegsdeutsche Verlagslizenz und das Werk konnte somit auch in Deutschland

erscheinen.

88 Ebd. S. 202 89 Ebd. S. 205 90 Ebd. S. 225

46

5.4. Struktur und Aufteilung

Das Werk ist in Teile gegliedert: Widmung, Motto, Knechts Lebenslauf,

hinterlassene Gedichte des Studenten Josef Knecht und drei fiktive Lebensläufe. Jeder

Teil ist abhängig von dem anderen und alle zusammen bilden eine groβe Dichtung.

Die Doppelwertigkeit der Dinge und Personen durchdringt das ganze Werk. Am

Anfang stellt Kastalien etwas Edles vor, durch den Prozess der Entwertung verwandelt

es sich später in eine Institution eher negativen Charakters. Weiteres Merkmal der

Doppelwertigkeit finden wir auch in Knechts Auszeichnung als ‚Magister Ludi„. Diese

Wortverbindung stammt aus dem Lateinischen und bezeichnet sowohl den Spielmeister

als auch den Schulmeister.

Im Glasperlenspiel vermischen sich verschiedene Religionen und Kulturen – das

Chinesische, Indische, Buddhistische und Katholische. Mit diesen Kulturen beschäftigte

sich Hesse manche Jahre näher und später wendete er die Kenntnisse über sie und über

Yoga und I-Ging auch in diesem Buch an.

Im Werk finden wir die Elemente des Gleichnisses und Allegorie. Das

Glasperlenspiel prägen auch manche autobiographische Merkmale. Zum Beispiel sein

eigenes Selbstbildnis verwirklichte Hesse in der Gestalt des Älteren Bruders. Als ob wir

vor den Augen die Gestalt des Autors selbst hätten.

Ein schmächtiger Mann, in graugelbes Leinen gekleidet, mit einer Brille über

blauen abwartenden Augen, erhob sich von einem Blumenbeet, über dem er

kauernd verweilt hatte, kam langsam auf den Besucher zu, nicht unfreundlich, aber

mit jener etwas linkischen Scheu, wie Zurückgezogene und Alleinlebende sie

manchmal an sich haben.91

Auch manche andere Gestalten im Roman hatten sein Gegenbild in der Wirklichkeit.

Carlo Ferromonte war Karl Isenberg, Hesses musikalisch begabter Neffe. Der Magister

Ludi Thomas von der Trave stellte Thomas Mann dar, der an der Trave geboren wurde,

Pater Jakobus den Historiker Jacob Burckhardt, Kloster Maulbronn wurde teilweise in

der Konzeption Kastaliens verbildlicht und so könnte man fortsetzen.

Das Bambusgehölz erinnert an die Casa Hesse in Montagnola, wo sich der Autor im

Garten auch so ein Stilleben einrichtete.

91 HESSE, Hermann: Das Glasperlenspiel, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, Berlin 1985, S. 136-137

47

5.4.1. Einzelne Teile des Werkes

Die Widmung und das Motto

Die Widmung lautet: den Morgenlandfahrern. Soll also das Werk einen Schritt

zurück bedeuten? Sicher nicht. Hesse verweist zwar auf seine vorherige Erzählung

Morgenlandfahrt, sie bezeichnet aber eher das Vorspiel seines Gipfelwerkes. Beide

Dichtungen haben viel Gemeinsames, die Erzählung Morgenlandfahrt wird oft als

Einführung ins Glasperlenspiel betrachtet oder umgekehrt, das Glasperlenspiel sei die

Fortsetzung der Morgenlandfahrt. Man kann schon in Anlehnung an die Widmung

vorahnen, dass uns eine Reise durch die Zeiten erwartet.

Das Motto erscheint im Buch in zwei Sprachen, auf Latein und auf Deutsch. Und

schon hier versucht der Dichter den Leser zu mystifizieren und sich mit ihm zu

‚spielen„. Als Verfasser wird Albertus Secundus genannt, dieser Name ist aber erfunden.

Der richtige Verfasser ist niemand anderer als Hermann Hesse selbst. Das Motto wurde

von seinen Freunden Franz Schall (Clangor) in scholastisches Latein übertragen und

von Josef Feinhals (Collofino) revidiert. Dieser kurze Text offenbart, was das

Glasperlenspiel wirklich ist und was es werden will. Hesse zeigt uns etwas Unreales,

Erfundenes aber dagegen auch etwas Mögliches und Wünschbares. Das ganze Werk ist

eine Idee, ein Entwurf der möglichen Wirklichkeit, die nicht ausgeschlossen ist. Der

Autor macht also klar, dass Kastalien nicht existiert, dass es aber vielleicht einmal

existieren könnte.

Nach dem Motto folgt die Einleitung. Erst die vierte veränderte Fassung erschien im

Dezember 1934 in der Neuen Rundschau (die vorherige Fassung war zu politisch und

konnte deshalb in Deutschland nicht erscheinen) und bildet den schwersten aber auch

wichtigsten Teil des Buches. In der Einleitung erfahren wir mehr über das

‚feuilletonistische Zeitalter„, das aus fiktiven Quellen rekonstruiert wird.

Das feuilletonistische Zeitalter

Zusammen mit dem Rundschreiben Josef Knechts bildet die Beschreibung des

‚feuilletonistischen Zeitalters„ den kulturkritischen Teil des Werkes. Das Zeitalter

48

entspricht ungefähr dem 19. und 20. Jahrhundert. Es ist die Zeit der gesellschaftlichen

und politischen Unruhen, des Niedergangs und Zerfalls des Geistes und aller Werte. Die

ganze Welt befand sich in schwieriger Situation, nichts war sicher und überall

verbreitete sich Misstrauen gegenüber allem und allen. Die Leute wollten Augen

schlieβen vor den Problemen, die sie nicht lösen konnten. Das ‚Feuilleton„ bezeichnet

hier die Entwertung des Wortes, die „Popularisierung aller Bildungs- und

Wissenswerte.“92 Geist wurde nicht mehr entwickelt sondern unterdrückt. Leute

verschlossen sich einfach in ihrem eigenen Weltchen, voll von Feuilletons und

Kreuzworträtsel und die Probleme lieβen sie hinter der Tür. „Sie, die so viele Aufsätze

lasen und Vorträge hörten, sie gönnten sich die Zeit und Mühe nicht, sich gegen die

Furcht stark zu machen, die Angst vor dem Tode in sich zu bekämpfen, sie lebten

zuckend dahin und glaubten an kein Morgen.“93 So schildert der Erzähler die Zeit der

‚Begriffsinflation„.

Knechts Lebensläufe

Hesse bezeichnete die drei hinterlassenen Lebensläufe als „das am meisten

Dichterische im Buch.“94 Im Regenmacher, Beichtvater und in Indischem Lebenslauf,

wiederholt sich das Leben Knechts in verschiedenen Zeiten und Kulturen, sie bearbeiten

immer wieder das pädagogische Verhältnis zwischen dem Meister und seinem Lehrling.

Diese paradigmatischen Lebensläufe bedeuten für Knecht eine Art der Selbstbildung. Er

lernt durch ihr Schreiben die Kunst der Selbstreflexion und Selbsterkenntnis. Wir

können in ihnen auch andere bildende Faktoren erkennen wie zum Beispiel das Lehrer-

Schüler-Verhältnis und die Hingebung an die Gesellschaft.

Unter anderem stellen die Lebensläufe eine Fahrt durch alte Zeiten und unbekannte

Landschaften dar, sie überschreiten die Zeitgrenzen und wir können dank ihnen die

„geistige Entwicklung der Menschheit“95

beobachten.

92 VOLKER, Michels (Hg.): Materialien zu Hermann Hesse "Das Glasperlenspiel". Zweiter Band, Texte

über das Glasperlenspiel, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1974, S. 10 93 HESSE, Hermann: Das Glasperlenspiel, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, Berlin 1985, S. 20 94 VOLKER, Michels (Hg.): Materialien zu Hermann Hesse "Das Glasperlenspiel". Erster Band, Texte

von Hermann Hesse, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1973 S. 205 95 VOLKER, Michels (Hg.): Materialien zu Hermann Hesse "Das Glasperlenspiel". Zweiter Band, Texte

über das Glasperlenspiel, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1974, S. 232

49

Hesses Inspiration durch indische, chinesische Lehre und Christentum ist

unbestritten. Der indische Lebenslauf erinnert fern an Siddhartha und Zweigs indische

Legende Die Augen des ewigen Bruders. Das Motiv der Wiedergeburt, die sich in jedem

Lebenslauf immer wieder wiederholt, wurzelt auch in Hesses Beschäftigung mit diesen

Lehren.

5.4.2. Die Erzählweise im Werk

Im Glasperlenspiel entfaltet sich Hesses Meisterschaft in Mythisieren und

Fabulieren. Die ganze Geschichte scheint historisch zuverlässig zu sein. Hesse denkt die

imaginären Quellen und historische Parallelen aus, die er später in der Rolle des

Erzählers ausnützt.

Der Erzähler, der die Biografie Josef Knechts verfasst und „damit geradezu einen

Beitrag zur Ordensgeschichte leistet“,96

ist wahrscheinlich ein kastalischer Student. Als

Chronist beruft er sich auf verschiedene fiktive Quellen wie zum Beispiel: Archivakten,

Briefe, Augenzeugenberichte, Schülerberichte, literarische Produktion Knechts und

mündliche Überlieferungen. Es kommt zum Wechsel der Ich- und Er-Form,

verschiedene Erzählperspektiven überschneiden sich (z.B. Designori im „Ein

Gespräch“, drei hinterlassene Lebensläufe). Die Sprache des Erzählers wirkt sachlich,

nüchtern und unmystisch, fast wie eine Recherche im Gegenteil zu den hinterlassenen

Schriften. Die ganze Handlung wird aufgrund der Dokumente geschildert und gewinnt

somit den Charakter einer wissenschaftlichen Untersuchung.

96 Ebd. S. 11

50

5.5. Innere Bildung und Entwicklung des Helden

5.5.1. Charakteristik Josef Knechts

In Knecht trafen sich alle Hauptgestalten der Hesses früheren Werke von Camenzind

bis zum Siddhartha in der Form einer Bilanz.

Von seiner Geburt weiβ man nicht viel. Entweder verlieβen ihn seine Eltern sehr

bald, oder wurde er Waise. Er lernte nie seine Eltern kennen, was viele Nachteile aber

auch einige Vorteile brachte. Der bedeutendste Vorteil ist, dass er sich nie entscheiden

musste, ob er in der ‚Welt„ oder in Kastalien leben wird. Für ihn war sein Weg von

klein auf bestimmt und zwar: der Orden bedeutete die einzige mögliche Variante.

Bis zum zwölften oder dreizehnten Lebensjahr besuchte er die Lateinschule in

Berolfingen, dann wurde er in die Eliteschule in Eschholz aufgenommen, zwei Jahre

später besuchte er die Schule in Waldzell, wo er die Kunst des Glasperlenspiels lernte.

Danach folgten seine freien Studienjahre und schlieβlich wurde er Ordensmitglied und

Magister Ludi. Sein Weg schien direkt, stufenweise und ohne Hindernisse zu sein.

Was Knechts Natur betrifft war er eher schweigsam, schüchtern und am liebsten

allein. Er war ein introvertierter Außenseiter, wie übrigens alle Haupthelden in Werken

Hermann Hesses. Auf die Leute wirkte Josef weltoffen und charmant, er hatte „die

Gabe sich angenehm und beliebt zu machen.“97

Mit Hilfe dieser Fähigkeit könnte er die

Massen beherrschen. Trotzdem konzentrierte er sich eher auf die Bildung des

Einzelnen. Knecht hatte groβen Sinn für Humor, der aber den meisten Menschen

verborgen blieb. Sein Freund Plinio charakterisierte ihn wie folgt:

Er war ein viel gröβerer Schelm, als seine Leute ahnten, voll Spiel, voll Witz, voll

Durchtriebenheit, voll Spaβ am Zaubern, am Sichverstehen, am überraschenden

Verschwinden und Auftauchen… Ich glaube, Menschen von seiner Art tun das

meiste unbewusst, wie reflektorisch, sie fühlen sich vor eine Aufgabe gestellt,

hören sich von einer Not angerufen und geben sich dem Anruf ohne weiteres hin.98

Knechts Leben entwickelte sich in Stufen, als er einer Stufe entwuchs, war er für die

andere bereit. Er bewahrte in sich Schuldgefühle gegenüber der Welt. Da er das reine

Gewissen Kastaliens war, wusste er, dass die pädagogische Provinz ihrer Umgebung,

die sie finanziell unterstützte, etwas schuldig bleibt. Deshalb musste er lehren, an die

Jugend wirken, erziehen. Er stellte sich aber nicht in die Rolle des Weltverbessers, er

97 HESSE, Hermann: Das Glasperlenspiel, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, Berlin 1985, S. 200 98 PFEIFER, Martin: Königs Erläuterungen und Materialien, Bd.316, Hermann Hesse – Das

Glasperlenspiel, C. Bange Verlag, Hollfeld 1994, S. 91

51

war der Suchende, der sich durch Erziehung des kleinen Tito um die

Wiedergutmachung bemühte. Nur durch die kastalische Erziehung in der Welt und

daraus folgende Synthese der Welt und Geist könnte man Kastalien retten.

Schlieβlich musste er Kastalien verlassen, denn es trieb ihn aus der geistigen in die

weltliche Sphäre, wobei sich er gerade um die Synthese von Geist und Leben bemühte.

Er fühlte sich der pädagogischen Provinz entwachsen. Knecht blieb seinem inneren

Gesetz treu und aus diesem Grund kann das Verlassen Kastaliens nicht als Willkür oder

Ungehorsam sondern als weitere Stufe seiner Entwicklung angesehen werden.

5.5.2. Personen, die sich am Knechts Erwachen beteiligten

Auf dem Weg zur ‚Bildung„ und zum ‚Erwachen„ beeinflussten Knecht vor allem die

Begegnungen mit dem Älterem Bruder und I-Ging (Natur), Musikmeister (Musik) und

Pater Jakobus (Geschichte). Dagegen die Freundschaften mit Plinio Designori (Welt)

und Fritz Tegularius (Einseitigkeit des Geistes) sind eher negativen Charakters,

trotzdem aber erforderlich was die innere Bildung des Haupthelden betrifft. Sie

repräsentieren das Chaos in der Welt und in der menschlichen Seele. Fritz Tegularius

stellt den Mangel Kastaliens dar. Er ist nicht fähig, im realen Leben zu fungieren und

Kastalien muss ihn vor der Auβenwelt beschützen. Sich in die Hierarchie des Ordens

einreihen kann er aber auch nicht, er unterliegt nur dem Selbstzweck des Geistes. In ihm

spiegelt sich die Drohung, welchen Kurs Kastalien langsam steuert.

Was die Freundschaft mit Plinio betrifft, stellt Plinio Knechts Gegenpol dar. Die

Auseinandersetzungen zwischen ihnen repräsentieren den ersten Anreiz zum Josefs

Erwachen. Knecht strebte nach dem Einzelnen, sein Wunsch war ein Lehrer und

Erzieher zu werden. Dagegen Designori wollte als Politiker die Massen beeinflussen

und so verlor er das Vertrauen seines eigenen Sohnes.

Auch die Begegnung mit dem Älteren Bruder (Hesses ‚Alter Ego„) bedeutete im

Knechts Leben wesentliche Veränderung. Während des Aufenthaltes im Bambusgehölz

steigerte sich bei ihm die skeptische Anschauung Kastaliens und gleichzeitig

52

entwickelte sich seine Vorstellung über eine richtig fungierende pädagogische Provinz.

Es bedeutete für Josef den „neuen Anstoβ zum Erwachen.“99

Weiteren Schritt zum Erwachen machte er nach der Begegnung mit Pater Jakobus.

Beim Entstehen dieser Gestalt inspirierte sich Hesse durch den deutschen Historiker

Jacob Burckhardt.

Was den Pater Jakobus und die Historie betrifft, so hat der Pater aus alter

Ähnlichkeit und Verehrung den Vornamen von Jacob Burckhardt bekommen, des

Historikers, den ich vor allen anderen liebe; er wusste zu seiner Zeit viel, auch viel

voraus, mehr als zum Beispiel Nietzsche.100

Pater Jakobus half Knecht, seine Augen zu öffnen und den Orden auch im

geschichtlichen Zusammenhang zu sehen. Pater Jakobus urteilt: „Geschichte treiben

heiβt: sich dem Chaos überlassen und dennoch den Glauben an die Ordnung und den

Sinn bewahren.“101

Dank Pater erkennt Josef den Mangel Kastaliens, und weiter

entwickelt er seine Vision, wie sich die Provinz in der Zukunft gestalten sollte. Denn

man kann nicht die Jugend erziehen und dabei auf die Geschichte verzichten, wenn

diese Generation die Geschichte in der Zukunft formen soll.

5.5.3. Knechts Tod als weitere Bildungsstufe

Man könnte vermuten, dass mit Knechts Tod sein Versuch, sich in das

Weltgeschehen einzugliedern, gescheitert ist. Man könnte überzeugt sein, dass er in

Kastalien verkümmerte und deshalb des wirklichen Lebens in der realen Welt nicht

mehr fähig war. Das ist aber nicht die Hauptidee der Geschichte.

Der Tod am See ist nicht durch Zufall oder Ungeschicktheit des Protagonisten

verursacht, wir müssen uns nicht fürchten, dass der kleine Tito unbelehrt bleibt. Wie

Hesse selbst betonte, geht es hier um einen Opfertod, um die letzte Stufe in Knechts

Entwicklung. Ihn hat der Musikmeister berufen, Tito erlebt seine Berufung durch

Knechts Tod.

Aber nicht in der behütenden Provinz, sondern in der Welt wird sich Titos

Entwicklung abspielen. Und wir sind Zeuge einer magischen Verwandlung: Knecht

99 DAHRENDORF, Malte: Der Entwicklungsroman bei Hermann Hesse (Dissertation), Philosophische

Fakultät der Universität Hamburg, Hamburg 1954, S. 225 100 VOLKER, Michels (Hg.): Materialien zu Hermann Hesse "Das Glasperlenspiel". Erster Band, Texte

von Hermann Hesse, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1973 S. 114-115 101 HESSE, Hermann: Das Glasperlenspiel, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, Berlin 1985, S. 181

53

betritt eine neue Stufe, die nicht mehr auf dem Erden stattfindet und der junge Tito tritt

in die geistige Sphäre seines Lebens ein. Josefs Aufgabe wurde erfüllt, durch den Tod

übergab er seinem Schüler mehr als durch eine jahrelange Ausbildung. Tito hat vor sich

seine eigene Aufgabe, von ihm erhofft man die zukünftige Mitarbeit der Welt und des

Geistes, Verwirklichung Knechts Idee des geistigen Lebens in der Welt.

Im Gegensatz zu Harry Haller im Steppenwolf flieht Knecht nicht vor dem Tod in ein

einfaches belustigendes Leben, sondern er geht dem Hingang stolz entgegen, er

transzendiert in eine andere Welt, denn die alte ihm keine weitere

Entwicklungsmöglichkeit mehr anbieten konnte.

Tito hebt nach Knechts Ertrinken den Mantel seines Lehrers und übernimmt so im

Zeichen der Reinkarnation seine Lebensaufgabe. Von nun an ist das Schicksal

Kastaliens in seinen Händen. In Tito sollen sich Welt und kastalische Geistigkeit

vereinigen, ebenso wie alles im Universum die Einheit bildet. Ein Leben endet und ein

anderes beginnt sich zu formen.

5.5.4. Lebensgesetz des Helden

Knechts Leben war stufenweise, es war eine Kette von erfüllten Aufforderungen.

Ihm gelang die Synthese zwischen dem Geist und Leben, denn er die Wahrheit lebte. Er

spielte „das überkastalische Glasperlenspiel“102

(Kirchhoff)

Der Sinn seines Lebens war dienen und erziehen. „Das Beste, was das Amt mir

brachte, war die Entdeckung, dass nicht nur Musizieren und Glasperlenspielen

beglückende Tätigkeiten sind, sondern auch Lehren und Erziehen“,103

erklärt Josef

Knecht. Alle seine Fähigkeiten und Energie konzentrierte er an einzelnen Menschen, an

Tito.

Wenn er nach eigener Wahl Kastalien gestalten könnte, würde es vor allem die

praktische Erziehung, Hingabe an den Einzelnen, Verantwortung gegenüber dem

Universum und Kampf gegen die Erstarrung einschlieβen.

Die Stichworte, die Knechts Bildung und Entwicklung durchdringen, klingen:

Berufenwerden und Erwachen. Jede Berufung führt zum Erwachen, wobei die Zahl der

102 Zitiert nach: DAHRENDORF, Malte: Der Entwicklungsroman bei Hermann Hesse (Dissertation),

Philosophische Fakultät der Universität Hamburg, Hamburg 1954, S. 239 103 HESSE, Hermann: Das Glasperlenspiel, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, Berlin 1985, S. 453

54

Berufungen unbegrenzt ist. Immer, in jeder neuen Lebenssituation muss man von

neuem anfangen. Das Erwachen ist dann nur Bestätigung, Sichwiederfinden in neuer

Lage, neuer Stufe. Daraus ergibt sich, dass das Leben eigentlich eine Spirale ist, man

kehrt immer zurück und trotzdem steigt ins Höhere, zur Wahrheit.

Es war ein langer und anstrengender Weg, den Knecht ging. Der Bildungsprozess,

den er dabei durchmachte, führte zu Wahrheit, Wirklichkeit und zum Erleben der

Wahrheit und Wirklichkeit.

55

5.6. „Das Glasperlenspiel“ – eine Utopie?

Wenn man von dem Glasperlenspiel spricht, wird oft auch der Begriff ‚Utopie„

erwähnt. In den Lexika finden wir zu diesem Termin etwa folgende Definition: Utopie

ist das Wort des griechischen Ursprungs und bezeichnet ein erfundenes Land, wo der

Idealzustand herrscht. Ou bedeutet nicht und tópos bezeichnet die Stelle, das Land oder

das Ort. Es ist also ein Nichtland oder Nirgendwo.104

Das utopische Werk beschreibt

also eine Gesellschaft in der Zukunft, wo eine ideale Ordnung herrscht. Es gibt positive

Utopien: T. More - Utopia, Plato - Der Staat, aber auch negative Utopien wie z.B.: G.

Orwell - 1984. Das Wort utopisch repräsentiert dann etwas, was „nur in der Vorstellung,

Fantasie möglich; mit der Wirklichkeit nicht vereinbar; fantastisch“105

ist.

Kann man aber im Falle des Glasperlenspiels von einer Utopie sprechen? Der Autor

behauptete, sein Werk sei zwar eine Kulturutopie aber es zeigt auch „eine Möglichkeit

des geistigen Lebens, einen platonischen Traum, nicht ein für ewig gültig zu haltendes

Ideal, sondern eine mögliche, sich ihrer Realität bewusste Welt.“106

Es sei eine „in

diversen Graden der Verwirklichung schon oft auf Erden sichtbar gewordene Idee.“107

Kastalien wirkt zwar fantastisch aber eher mittelalterlich als aus einer fernen

Zukunft. Der ideale Gesellschaftszustand, ein wichtiges Merkmal der Utopie, herrscht

dort nicht (in Orwells 1984 aber auch nicht). Der technische Fortschritt wird

vernachlässigt sogar ganz ausgelassen. Es ist möglich, dass dem Autor bestimmte

futurologische Voraussetzungen für eine echte Zukunftsvision fehlten - er benutzte im

Werk veraltete Ausdrücke wie zum Beispiel ‚Eilpost„ oder ‚Apparat„. Hesse hielt nicht

viel von den ‚nützlichen Kulturerscheinungen„, sie bedeuteten für ihn nur weitere

Belastung der Natur, die er liebte. „Hinter der Zivilisation hier ist die Erde voll von

Schlackenbergen und Abfallhaufen… Mozart und Mörike haben der Welt nicht viel

gekostet, sie waren wohlfeil wie der Sonnenschein, jeder Angestellte in einem

technischen Büro kommt teurer.“108

Hesse wollte also nicht ein utopisches Land

104 Vgl. Duden Deutsches Universalwörterbuch. 6. Auflage, Herausgegeben von Werner Scholze-

Stubenrecht et al., Dudenverlag, Mannheim 2007, S. 1786 105 Ebd. 106 VOLKER, Michels (Hg.): Materialien zu Hermann Hesse "Das Glasperlenspiel". Erster Band, Texte

von Hermann Hesse, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1973 S. 232 107 PFEIFER, Martin: Königs Erläuterungen und Materialien, Bd.316, Hermann Hesse – Das

Glasperlenspiel, C. Bange Verlag, Hollfeld 1994, S. 98 108 Zitiert nach: UNSELD, Siegfried: Hermann Hesse – Werk und Wirkungsgeschichte, Insel

Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1985, S. 15

56

einschlieβlich der technischen Errungenschaften darstellen. Daher ist das

Glasperlenspiel eher eine Utopie des Geistes.

Der Gedanke einer Universalsprache ist höchst futuristisch. Hesses Vorstellung der

‚Weltsprache„ verwirklicht sich im Glasperlenspiel. Die zwei bedeutendsten Elemente

dieses Spieles sind Mathematik und Musik und fern erinnert diese Geheimsprache an

Computer und an binäres System.

5.6.1. „Das Glasperlenspiel“ als Zukunftsvision

Was die Chronologie betrifft, behandelt das Werk (samt den hinterlassenen

Schriften) den Zeitraum von der einstmaligen Vergangenheit bis in die Zukunft.

Knechts eigenes Schicksal wird aus der Zeit ungefähr um das Jahr 2400 geschildert. Die

Abhandlung über das feuilletonistische Zeitalter ist in der Form des zeitkritischen

Rückblickes des Erzählers und geht bis zu der Zeit bald nach 1900 zurück. Entstehung

und Beginn der Existenz Kastaliens erfolgt dann in dem Zeitraum nach dem ersten

Weltkrieg.

Laut Hesse stellt das Glasperlenspiel nichts Neues dar, dieser Gedanke einer

universalen Sprache war immer da. Aus diesem Grund ist Kastalien nicht nur Utopie

oder Zukunft, sondern auch Vergangenheit und Gegenwart. Ob das Glasperlenspiel

utopisches Werk ist oder nicht, bleibt fraglich. Es geht um eine Fiktion, die sich aber,

dem Motto verdankend, als ‚unwahrscheinliche Wahrscheinlichkeit„ präsentiert.

Für dieses Buch ist die Zeitlosigkeit und Überschreiten der Grenzen charakteristisch.

Auf die Vergangenheit vergisst Hesse aber doch nicht, er geht von ihr aus und bleibt ihr

auch weiterhin verpflichtet. Professor Dr. Günter Gottschalk meinte von dem

Glasperlenspiel: „Das Buch wendet sich mindestens ebenso intensiv den groβen

kulturellen und geistigen Werten der Vergangenheit zu wie den erhofften und

erstrebenswerten der Zukunft, von denen sich schon ein Teil verwirklicht hat.“109

Friedrich Schlegel nannte Hesse einen „rückwärts blickenden Prophet.“110

109 GOTTSCHALK, Günther, Beads und Bytes, Das Glasperlenspiel, das Weltwissen und das Internet

[on-line]. URL:< http://www.gss.ucsb.edu/projects/hesse/papers/GG-Vortrag.pdf >, [23.2.2010], S. 6 110 Zitiert nach: Ebd.

http://www.gss.ucsb.edu/projects/hesse/papers/GG-Vortrag.pdf

57

5.7. Aktualität des Werkes

Dank der Zeitlosigkeit bleibt das Werk immer aktuell. Die Aktualität beruht auch auf

der Darstellungsweise. Wir finden in Hesses Dichtungen keine Lösungen und

Belehrungen, es werden uns nur die Prozesse offenbart. So wirkt das ganze Werk

unverbindlich, ohne jeglicher Fixierung oder Dogmatik.

Hesse war sehr empfindlich was die Situation in der Welt betrifft. Schon bald nach

dem ersten Weltkrieg können wir in seinen Briefen und Rezensionen die Vorahnung

eines noch schlimmeren Krieges zu spüren. Günther Gottschalk schrieb von seiner

visionären Begabung:

Aus gutem Grund bleibt Hesse heute aktuell, besonders auch für die Jugend und

die geistig Junggebliebenen, denn er hat, wie diese Beispiele belegen, einen

eindrucksvollen Sinn für die Zukunft bewiesen, der immer noch gilt und seiner

innigen Beschäftigung mit dem Geschick der Menschheit entspricht.111

Weiterer Grund dafür, warum das Werk auch heute gelesen wird, ist das Motiv der

Rebellion des Protagonisten gegen die Anpassung und ihr verwandten Formen wie

Unterordnung, Eigennutz, Schule etc. Diese Revolte ist vor allem durch den Kampf der

jungen Generation mit der älteren ausgeprägt. Der Eigensinn ist gegenüber dem

Herdensinn gestellt. Knecht war auch kein vorbildlicher Kastalier.

Das feuilletonistische Zeitalter, das im Buch ganz ausführlich beschrieben wird, ist

auch eins der Merkmale der Aktualität. Die Umweltverschmutzung, Mittelmäβigkeit

oder Konsum und Entwertung des Wortes wurden zu Hauptmerkmalen unserer heutigen

Gesellschaft.

Und so entdeckt man Hesses Bücher vor allem in den Krisenzeiten immer wieder.

Solange sie gelesen werden, bleibt uns vielleicht die Hoffnung auf bessere Zukunft.

111 Ebd. S. 10

58

5.8. Bildungsprinzipien im Werk

In tiefer Verzweifelung fragte Josef Knecht des Musikmeisters nach einer echten

Lehre, nach der Lebenswahrheit. Alles schien ihm voll von Widersprüchen. Der weise

Musikmeister antwortete ihm, dass die Wahrheit nicht in der Welt um sich herum,

sondern in dem Leben selbst steckt. „Du sollst dich auch gar nicht nach einer

vollkommenen Lehre sehnen, Freund, sondern nach einer Vervollkommnung deiner

selbst. Die Gottheit ist in dir, nicht in den Begriffen und Büchern. Die Wahrheit wird

gelebt, nicht doziert.“112

Das ist das charakteristische Merkmal Hesses Einstellung zur

Bildung. Die Wahrheit und Weisheit sollte man nicht in den Büchern, sondern in sich

selbst suchen.

5.8.1. Das Wesen der Bildung im Werk

Hesse fürchtete, dass mit der wachsenden Zivilisierung die Gefahr der

Vernachlässigung und Verödung des geistigen Lebens entsteht. Diese Befürchtungen

schilderte er in der Beschreibung des ‚feuilletonistischen Zeitalters„ im Glasperlenspiel.

Die Bildung bedeutete für Hesse einen dynamischen Vorgang. Sie soll stufenweise

verlaufen, jede Erreichung einer Stufe beinhaltet in sich gleichzeitig den Anfang einer

neuen, höheren Stufe. Das Gedicht „Stufen“, ursprünglich „Transzendieren!“, schrieb

Josef während seines ostasiatischen Studiums. In dem Gedicht geht es um eine

Mahnung, um den Lebensruf an Knecht.

Das Leben ist eigentlich das ständige durchschreiten der Räume, immer muss man

von neuem beginnen. Inspiriert durch indische Weisheit könnten wir sagen: man muss

immer neue Inkarnationen auf sich nehmen. Obwohl Knecht keine Heimat hatte, fand er

sie eigentlich in der Beweglichkeit. Der Mensch sollte dem Geist dienen und

gleichzeitig auch selbst leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

An keinem wie an einer Heimat hängen,

Der Weltgeist will nicht fesseln und uns engen,

Er will uns Stuf um Stufe heben, weiten.113

112 HESSE, Hermann: Das Glasperlenspiel, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, Berlin 1985, S. 87 113 Ebd. 485

59

Als sich der Mensch dieser Tatsache bewusst wird, ist er laut Hesse ‚erwachen„. Das

Erwachen bedeutet „ein Augenaufschlagen und ein Sichwiederfinden in neuer Lage, ein

Sicheinfügen in neue Konstellationen.“114

Diese Neigung entfaltet sich schon im

Steppenwolf.

Hesses Vorstellung nach sollte sich der Mensch nicht gegen das Schicksal wehren,

sondern mit ihm einverstanden sein, dann ist das Leben nicht so mühsam.

Die Bildung ist nicht nur das Übernehmen der Kenntnisse, sondern auch die

Auseinandersetzung mit der Welt. „Bildung ruft zu persönlicher Entscheidung

gegenüber den Dingen von auβen auf, sie fordert Stellungnahme.“115

Und so, dem

Dualismus entsprechend, werden nebeneinander zwei Welten gestellt: die Welt der

Kenntnisse und die Welt der Erlebnisse. Das Erleben ist aber viel wichtiger als bloβes

Übernehmen des Wissens.

Im Gespräch mit Meister Alexander versuchte Knecht den Grund zu erklären, warum

er in Kastalien nicht mehr bleiben kann:

Mein Leben, so etwa nahm ich mir vor, sollte ein Transzendieren sein, ein

Fortschreiten von Stufe zu Stufe, es sollte ein Raum um den anderen

durchschreiten und zurückgelassen werden, so wie eine Musik Thema um Thema,

Tempo um Tempo erledigt, abspielt, vollendet und hinter sich lässt, nie müde, nie

schlafend, stets wach, stets vollkommen gegenwärtig.116

5.8.2. Das Prinzip der Polarität und des Dualismus

Das Problem der Polarität und echter Synthese im Leben bilden eines der

Grundthemen des Glasperlenspiels. Das Leben ist nicht statisch, sondern dynamisch, es

ist voll von Gegensätzen und Kämpfen, es bewegt sich zwischen zwei Polen. Diese Pole

gehören zusammen, sie beeinflussen sich gegenseitig. Laut Hesse vertritt die Polarität

und der Dualismus das Grundprinzip des Weltgeschehens. Auch in der Natur hängt alles

mit allem zusammen und beinhaltet in sich sowohl das Gute als auch das Böse. Manche

Arzneipflanze kann als gutes Heilmittel aber auch wirksamer Giftstoff verwendet

werden. Um ausgeglichenes Leben zu führen, muss die Synthese in das Leben eintreten.

Aber wie kann man sie erzielen? Nicht nur im Glasperlenspiel, die Thematik der

114 Ebd. 413 115 LORENZEN, Hermann: Pädagogische Ideen bei Hermann Hesse, Setzkorn-Scheifhacken Verlag,

Mühlheim (Ruhr) 1955, S. 41 116 HESSE, Hermann: Das Glasperlenspiel, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, Berlin 1985, S. 453

60

Polarität bildet das Grundthema aller Hesses Dichtungen. So zum Beispiel in

Siddhartha befasst sich der Hauptheld mit der Idee des Dualismus. Schlieβlich muss er

feststellen, dass es sich nicht nur ganz ‚Sansara„ oder ganz ‚Nirvana„ gibt, „nie ist ein

Mensch ganz heilig oder ganz sündig.“117

Die Welt ist nicht unvollkommen, sie braucht nicht besser werden. Die Welt ist in

jedem Augenblick vollständig, sie schlieβt in sich sowohl das Gute als auch das Böse

ein. Genauso ist es mit der Natur, den Menschen und ihrer Seele. Sich dieser Tatsache

bewusst werden ist der erste Schritt zum Erwachen. Laut Hesse umfasst die Polarität

den Kernpunkt des Individuums. Die Lebenskunst besteht darin, das Gleichgewicht, das

rechte Maβ zwischen den Polen zu finden und zu behalten.

Das Prinzip des Dualismus charakterisiert am besten die Passage in Narziss und

Goldmund: „Wir zwei, lieber Freund, sind Sonne und Mond, sind Meer und Land.

Unser Ziel ist nicht, ineinander überzugehen, sondern einander zu erkennen und einer

im andern das sehen und ehren lernen, was er ist: des anderen Gegenstück und

Ergänzung.“118

Genauso sollte das Verhältnis zwischen Kastalien und Welt aussehen,

diese zwei Pole sollten sich gegenseitig ergänzen.

Dank Pater Jakobus, Plinio Designori und Altmusikmeister wurde Knecht die

Existenz der Polarität im Leben offenbart. Der Aufbruch Knechts aus Kastalien ist im

Zeichen des Dualismus und Polarität. Jeder Anfang hat sein Ende und ist ohne es

sinnlos.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

Der uns beschützt und der uns hilft zu leben.

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!119

117 LORENZEN, Hermann: Pädagogische Ideen bei Hermann Hesse, Setzkorn-Scheifhacken Verlag,

Mühlheim (Ruhr) 1955, S. 14 118Zitiert nach: Ebd. S.18 119 HESSE, Hermann: Das Glasperlenspiel, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, Berlin 1985, S. 405

61

5.8.3. Das Prinzip des Dienens

Das Dienen bedeutet für Hesse die Hingabe für eine Sache oder für den Nächsten. Es

ist das weitere Leitmotiv des Glasperlenspiels und zugleich stellt es für den Autor die

höchste Tugend des Menschen dar. Im Brief an einen jungen Mann erklärt Hesse:

“Lernen Sie, einerlei wo, einmal wirklich dienen, wirklich sich hingeben, wirklich an

die Sache zu denken, statt an sich selber – das ist der einzige Weg aus Ihrer Einöde

heraus.“120

Es geht also nicht um Dienen irgendeiner Autorität, sondern eigenem Geist

und der Wahrheit.

Der Name Knecht bedeutet Diener, in veränderten Variationen erscheint er auch in

den drei hinterlassenen Lebensläufen (Knecht, Famulus – lateinische Form des Namens

Knecht, Dasa – Knecht in Sanskrit). Er ist also von Geburt an zum Dienen verurteilt im

Gegenteil zu Wilhelm Meister, dessen Familienname den Lehrer bezeichnet. Aber wem

soll er dienen? Der junge Knecht diente dem Orden, der idealen Welt namens Kastalien.

Der ältere Knecht vertrat die Idee der Relativität dieser Welt. Und schlieβlich wurde der

Diener und der Meister eine Person. Denn Knecht wurde zum ‚Magister Ludi„ ernannt,

diese Wortverbindung ist lateinischen Ursprungs und bezeichnet sowohl den

Spielmeister als auch den Schulmeister. Schon wieder stoβen wir auf das Motiv der

Doppelwertigkeit.

Wie ich schon erwähnte, spielt sich das Leben Josef Knechts zwischen zwei Polen

(Kastalien und Auβenwelt) ab. Und durch Dienen dem Geist entdeckt er die

Möglichkeit, wie er diese zwei Pole verbinden und versöhnen könnte. So wird die

Synthese erreicht.

Die unterschiedlichen bildenden Mächte, die auf Knecht sein ganzes Leben (wie zum

Beispiel Musik, chinesische und indische Lehre, Geschichte) wirkten, lehrten ihn, wie

dem Geist vollkommen zu dienen.

120 Zitiert nach: LORENZEN, Hermann: Pädagogische Ideen bei Hermann Hesse, Setzkorn-Scheifhacken

Verlag, Mühlheim (Ruhr) 1955, S. 33

62

5.8.4. Die Bedeutung der Synthese

Die Bildung ist im Glasperlenspiel als Gesamtbildung und als der Kampf gegen die

Scheinbildung verstanden. Da aber das Ganze aus Teilen besteht (Aristoteles), sollte

man sich in der Bildung um die ‚Synthese„ bemühen. Das Werk weist auf die Gefahr

der Einseitigkeit und des Spezialistentum hin. Erst wenn sie abgeschafft werden, kann

man die Lebensharmonie erreichen. Die Ganzheit des Menschen ist sein höchstes Ziel,

das Vorbild solcher Persönlichkeit ist die Gestalt des Musikmeisters im Glasperlenspiel.

Im Werk ist die Synthese und innere Harmonie als ‚Heiterkeit„ benannt. Wer die

Heiterkeit gewinnt, kommt zur inneren Ruhe. Der Musikmeister erreichte sie durch

Musik. Hesse lässt Knecht zu Plinio sagen:

Diese Heiterkeit ist weder Tändelei noch Selbstgefälligkeit, sie ist höchste

Erkenntnis und Liebe, ist Bejahen aller Wirklichkeit, Wachsein am Rand aller

Tiefen und Abgründe, sie ist eine Tugend der Heiligen und der Ritter, sie ist

unstörbar und nimmt mit dem Alter und der Todesnähe nur immer zu. Sie ist das

Geheimnis des Schönen und die eigentliche Substanz jeder Kunst.121

Laut Hesse sind die Menschen in den Jugendjahren am besten bildungsfähig. So auch

Knecht richtet seine Aufmerksamkeit an die Jüngste, die noch nicht verbildet sind. Man

muss ihnen den Weg zum Kern des einfachen Lebens zeigen und das Verlangen nach

der Harmonie in ihrem Inneren unterstützen.

5.8.5. Musik als Bildungsmittel

Im Glasperlenspiel wird die Musik als bedeutendes Bildungsmittel angesehen. Der

Grund dafür ist, dass sie laut Hesse den Inbegriff der Harmonie symbolisiert. Der

Mensch sollte sich öffnen für die „formenden Kräfte der Musik.“122

Schon das

gemeinsame Musizieren Knechts mit Musikmeister beinhaltet in sich viel tiefere

Bedeutung als nur Spiel. Die Musik formt und bildet den Geist, wie nah es an

Buddhismus, Hinduismus und an die heilende Fähigkeit des Om-Zeichens erinnert.

Dieses Musizieren ist für Knecht und den Musikmeister eine Art der Meditation. Der

Musikmeister wählte die Musik als Mittel zur Heiterkeit aus.

121 HESSE, Hermann: Das Glasperlenspiel, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, Berlin 1985, S. 344 122 Ebd. S.59

63

5.8.6. Absenz der Frauen im Werk

Im Werk erscheinen praktisch keine Frauen. Aber im Hesses Entwurf zum

Glasperlenspiel aus dem Jahr 1932 fehlte das weibliche Element nicht. Die Existenz der

Frauen wurde hier zwar nur marginal erwähnt, aber doch. Die Frauen erscheinen hier

als verschleierte Geschöpfe, die auβerhalb Kastaliens leben. Knecht suchte die

Gesellschaft dieser Weiber einmal im Jahr aus. Da die Frau verschleiert war, erfuhr er

nicht, ob sie schön oder hässlich ist. In die Gruppe solcher Frauen gehörten solche, die

keinen Mann fanden oder Frauen „die zeitweise aus Bindung und Kultur ins Chaos der

Triebe zurück müssen. Sie tun es zuweilen mit Wissen ihrer Männer.“123

Der weibliche Aspekt, der im Bildungsroman erforderlich ist und dem Helden bei der

inneren Entwicklung hilft, fehlt im Werk. Hermann Hesse schrieb nämlich darüber, was

er gut kannte und das sind die Spiele der Männer. Dagegen die Frauen sind ihm als dem

alternden Autor ferner und geheimnisvoller geworden.

Was die Liebe betrifft, äuβerte sich Hesse in einem Brief an seine Leserin, dass es

nicht ausgeschlossen ist, dass sich Josef in seinem Leben verliebte, in wen aber und

wann, das bleibt Geheimnis.

123 PFEIFER, Martin: Königs Erläuterungen und Materialien, Bd.316, Hermann Hesse – Das

Glasperlenspiel, C. Bange Verlag, Hollfeld 1994, S. 98

64

5.9. Die Existenz der pädagogischen Provinz im Werk

Die Benennung ‚Kastalien„ führt auf die Reinigungs- und Musenquelle ‚Kastalia„ in

Delphi zurück, die dem Gott Apollo geweiht ist.

Die Existenz Kastaliens bezieht sich unter anderem auf Platons Politeia und Goethes

Wilhelm Meister Wanderjahre. Vor allem bei Goethe inspirierte sich Hesse beim

Entstehen der ‚pädagogischen Provinz„. Im Glasperlenspiel wird die ideale

Bildungseinrichtung geschildert, wobei aber die praktische Orientierung fehlt. Wir

finden hier nur die sterile Gesellschaft, die sich der ‚reinen Lehre„ widmet, es ist das

„Trophäen-Museum vergangener Vernünftigkeit, ein Herbarium des Geistes, der keine

Frucht mehr trägt.“124

Über die Beeinflussung durch Platon äuβerte sich Hesse in einem Brief vom Februar

1944: „In Wirklichkeit ist Kastalien, Orden, meditative Gelehrsamkeit usw. weder ein

Zukunftstraum noch ein Postulat, sondern eine ewige, platonische, in diversen Graden

der Verwirklichung schon auf Erden sichtbar gewordene Idee.“125

Hiermit verweist

Hesse an platonische Akademien und Yoga-Schulen. Hesse stellte sich aber streng

dagegen, seine pädagogische Provinz als irgendein Programm zu verstehen, es sei nur

ein Entwurf.

5.9.1. Entstehung und Struktur Kastaliens

Der Autor schuf im Buch eine fiktive Welt - Kastalien. Eine kleine Gruppe der

Gelehrten entschied sich, den Geist zu pflegen, ohne Interesse am weltlichen

Geschehen. Sie erbauten Kastalien als Gegenwelt zur Welt des feuilletonistischen

Zeitalters, als die Patronanz des reinen Geistes in der Form des Ordens. Es war ein

Versuch, dieses Zeitalter ganz zu überwinden und die Stätte des Geistes zu bauen. „Und

so wie die Kirche einst die Führung und Erziehung der Seelen in die Hand nahm, so


Hesse, Robert Musil und Lion Feuchtwanger, Buchverlag Der Morgen, Berlin 1979, S. 137 125Zitiert nach: LORENZEN, Hermann: Pädagogische Ideen bei Hermann Hesse, Setzkorn-Scheifhacken

Verlag, Mühlheim (Ruhr) 1955, S. 63



65

ergreifen die Kastalier – Priester des Wissens, Streiter der Kultur – die Erziehung und

Führung der Geister.“126

Kastalien stellt einen ‚Staat im Staate„ mit seiner ganzen Verwaltung und Bürokratie

dar, von der weltlichen Politik ist es völlig unberührt. Das Grundprinzip Kastaliens

beruht auf der Erhöhung und Bewahrung des Geistes im Unterschied zur Entwertung

des Geistes in der Welt.

Ein typischer Kastalier ist selbstsicher, ausgeglichen und heiter, „er lebt die

Wahrheit, verwirklicht sie an sich selber.“127

Die Kastalier besitzen kein Eigentum,

leugnen die Ehe und öffentlichen Erfolg. Sie sollen das Wissen der ganzen Welt

bewahren, eigene künstlerische Produktion wurde ihnen untersagt.

Die Hauptaufgabe Kastaliens war, die Welt mit den hochgebildeten Lehrern und

ihrem Wissen zu versorgen. Es sollte der Vermittler zwischen Leben und Geist

darstellen. Somit wäre die Synthese zwischen den Polen (Geben und Nehmen) erzielt

und die Folgen des feuilletonistischen Ära gemildert. Diese Vereinigung der beiden

Welten wurde neben der inneren Entwicklung zur Grundaufgabe Josef Knechts.

Kastalien pflegte ein Spannungsverhältnis zur Welt. Hier lebte die geistige Elite, die

Welt umfasste dagegen das arbeitende Volk. Die geistige Elite wollte aber nicht mit der

Welt mitarbeiten, sie isolierte sich von ihr, obwohl ihre Existenz von der Welt abhängig

war. Wahrscheinlich aus Angst, dass ihre Geistesschätze wieder von der Gesellschaft

vernichtet werden könnten, verschloss sie sich in ihrem kleinen Weltchen. Um wie viel

war dann Kastalien besser als die Leute des feuilletonistischen Zeitalters, die auch vor

eigenen Problemen Augen schlossen und in eigener Welt lebten? Die pädagogische

Provinz schien von auβen gesichert sein, sie war aber auch gefährdet, genauso wie die

Auβenwelt.

Diese Gemeinschaft war hierarchisch aufgebaut. Der Wunsch des einzelnen

bedeutete wenig im Verhältnis zu der Hierarchie. Und ihre Macht zu ‚binden„ war groβ:

Nein, es war der Orden selbst, es war die Hierarchie, in die er sich bei dieser

plötzlichen Selbstbetrachtung unbegreiflich hineingewachsen und eingebaut fand,

es war die Verantwortung, das Umfangensein vom Allgemeinen und Höheren, das

manchen Jungen alt und manchen Alten jung konnte erscheinen lassen, das einen

festhielt, das einen stützte und zugleich der Freiheit beraubte...128

126 VOLKER, Michels (Hg.): Materialien zu Hermann Hesse "Das Glasperlenspiel". Zweiter

Band, Texte über das Glasperlenspiel, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1974, S. 74 127 DAHRENDORF, Malte: Der Entwicklungsroman bei Hermann Hesse (Dissertation), Philosophische

Fakultät der Universität Hamburg, Hamburg 1954, S. 214 128 HESSE, Hermann: Das Glasperlenspiel, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, Berlin 1985, S. 192-193

66

Der, wer hier studierte, diente reiner Wissenschaft und dem Geist, er wurde von

Kastalien vor der Auβenwelt geschützt. „Das Streben nach Wahrheit und die

Sauberhaltung aller Wissensquellen, Treue gegen die Gesetze und Methoden des

Geistes sind die obersten Prinzipien des geistigen Lebens.“129

Die Kastalier wehrten

sich auf diese Weise gegen den Missbrauch des Geistes, der in der Welt drohte.

5.9.2. Das „Spiel der Spiele“

Diese Gruppe der Gelehrten entwickelte sich sein eigenes Spiel – das

Glasperlenspiel. Hesse beschreibt die Urform des Gerätes, auf dem das Glasperlenspiel

gespielt wurde, als ein Kugelzählapparat von Drähten (Notenlinien) und Glasperlen

(Notenwerte) verschiedener Form, Größe und Farbe. Diese Beschreibung ist aber sehr

mangelhaft (wahrscheinlich absichtlich) und es hängt von dem Leser ab, wie er sich das

Instrument vorstellt.

Was den eigentlichen Sinn des Spieles betrifft, könnte man sagen, dass es um eine

Art der Zeichensprache aber auch Geheim- und Universalsprache ging, die alle

Wissenschaften und Künste zusammen verband, von denen am bedeutendsten Musik

und Mathematik waren. Es war eine Spielkunde und gleichzeitig auch eine Art der

Meditation. Trotzdem konnte aber das Glasperlenspiel das Ganze nicht umfassen. Als

Knecht versuchte, das I-Ging ins Glasperlenspiel einzubauen, stellte er fest, dass es

nicht vollkommen möglich ist. Denn das Spiel verhielt sich in der Beziehung zum I-

Ging wie ein Teil zum Ganzen, wie das Ausgedachte zum Gelebten.

Die Form des Glasperlenspiels wurde auch von den hervorragenden Musikern

‚Morgenlandfahrern„ beeinflusst und der Erfinder des Spieles sei der Musiktheoretiker

Bastian Perrot aus Calw.


Mühlheim (Ruhr) 1955, S. 67

67

5.10. Fazit

Was die Grundidee Kastaliens betrifft, kommt Knecht zur Erkenntnis, das es nicht

das Ansammeln und Bewahren des Wissens sondern der Schüler-Meister- oder Schüler-

Lehrer-Verhältnis sein sollte. Dieses Verhältnis ist auch durch die Polarität beeinflusst.

Das heiβt, man muss zugleich Schüler und Meister, der Nehmende und der Gebende

sein. „Wir Kastalier sind Schulmeister“130

sagt Carlo Ferromonte im Glasperlenspiel.

Schulmeister zu sein, ist eine verantwortliche Aufgabe, von ihm hängt der Erfolg im

Leben der nächsten Generationen ab.

Hesse versuchte im Werk die Frage zu lösen, ob die Kunst nur auβerhalb oder auch

innerhalb der heutigen Gesellschaft möglich ist, vor allem aber warnte er vor der

ästhetisch-intellektuellen Haltung, vor der rein intellektuellen Züchtung des Geistes.

Aus diesem Grund schuf er Kastalien. Knecht erprobte beide Möglichkeiten und

schlieβlich musste er feststellen, dass kein Extrem gut ist. Die Synthese ist die Antwort

auf diese problematische Frage. Die immer sich stärkende Konzentration auf den Geist

in der Provinz führte aber zu wachsender Verschlossenheit und Desinteresse an dem

Geschehen in der Auβenwelt, statt ihr zu dienen und alle ihre Kenntnisse ihr zu bieten.

Die ursprüngliche Idee und Schickung Kastaliens scheiterten.

Dieses Problem ist Knecht bekannt. Die Grundprinzipien des Ordens sind die

Objektivität und Wahrheitsliebe im Studium und die Pflege der meditativen Weisheit

und Harmonie.131

Aber diese Prinzipien müssen laut Knecht im Gleichgewicht gehalten

werden, Kastalien sollte Diener des Staates und nicht Selbstzweck sein. Um das

Gleichgewicht zu erzielen, muss man die Synthese zwischen Geist und Leben zu finden.

„Wir sollen nicht aus der Vita activa in die Vita contemplativa fliehen, noch umgekehrt,

sondern zwischen beiden wechselnd unterwegs sein, in beiden zu Hause sein, an beiden

teilhaben.“132

So urteilt Knecht. Also nicht die Isolierung sondern das Zusammenspiel.

Weitere prägende Motive, die im Buch auftauchen ist das Stufenmotiv und Motiv des

überzeitlichen Lebenslaufes.

Das Leben ist die Polarität. Der Weg zur Synthese ist nicht einfach, aber möglich.

Jeder Mensch muss sie selber erzielen. Knecht ist es gelungen. Obwohl er Kastalien


über das Glasperlenspiel, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1974, S. 53 131 Vgl. HESSE, Hermann: Das Glasperlenspiel, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, Berlin 1985, S. 255 132 Ebd. S. 256

68

verlieβ, blieb er der Provinz weiter verpflichtet. Die Freiheit, die er gewann, erwies sich

als eine weitere Bildungsstufe. Diesmal wurde von ihm viel mehr als früher gefordert

und zwar sein eigenes Leben.

Man kann nicht bestimmen, was in dem Werk das Wichtigste ist, ob das Spiel,

Knecht, Kastalien oder Orden, denn das alles zusammen einen Komplex bildet.

69

6. Hesses pädagogische Ideen und Vorstellungen

Hesse war Mensch der Wandlungen, nicht einer festen Glaubenslehre. Und obwohl

er nicht in die Rolle des Erziehers gestellt worden wollte, wurde er oft für ihn gehalten.

Sein pädagogisches Fühlen hat den Ursprung in seiner Kindheit und in dem stark

entwickelten Einfühlungsvermögen.

Immer wieder bemüht sich Hesse in seinen Werken um „das echte pädagogische

Verhältnis.“133

Und immer wieder erscheint in seinen Dichtungen das ‚Schüler-Meister-

Schema„. Am stärksten ist dieses Motiv im Glasperlenspiel, man kann aber diese

Tendenz schon seit Camenzind beobachten. Es ist nicht streng festgestellt, wer der

Schüler und wer der Lehrer ist. Sie können sich die Rollen tauschen. Dieses Verhältnis

ist flexibel und sein Hauptmerkmal ist die Zucht des Geistes, „denn der Lehrer hat ja

nicht dem Schüler zu dienen, sondern beide dem Geist.“134

Im Camenzind lehrt Richard seinen Freund Peter am Leben Freude haben, Boppi

lehrt ihn wieder worauf die Herrlichkeit des einfachen Lebens beruht. Hermine bringt

Harry im Steppenwolf ihre Lebenskunst bei. Und im Siddhartha erkennt der Hauptheld

dank der Lehre des alten Fährmanns und des Flusses, worin das gröβte

Lebensgeheimnis wurzelt. Am Ende des Bildungsprozesses wird aus dem Lernenden

der Lehrende, denn: „Man erwirbt nicht, um zu besitzen, sondern um weiterzugeben an

die Bedürftigen.“135

Dieses Motiv prägt nicht nur Hesses Werk, sondern auch sein eigenes Leben. Er war

immer der Suchende, immer unterwegs zum Sinn des Weltalls. Hesses eigener Weg zur

Bildung war schwierig und nicht problemlos. Es dauerte ihm lange, bis er die beste

Bildungsweise für sich fand. Er entdeckte sie vor allem in der Selbsterziehung und als

Autodidakt in der Selbstbildung. Am besten charakterisieren seine Erziehung die Worte

des deutschen Schriftstellers Rudolf Hagelstange: „Wenn ‚Erziehung„ scheitert, muss

Selbsterziehung an ihre Stelle treten. Das hat uns Hesse durch Leben und Werk deutlich

gemacht; dazu hat er leise aber eindringlich immer wieder aufgerufen.“136

(Rudolf

Hagelstange, Gerichtstag halten über sich selbst, 29.6.1957)


über das Glasperlenspiel, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1974, S. 35 134 HESSE, Hermann: Das Glasperlenspiel, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, Berlin 1985, S. 517 135 VOLKER, Michels (Hg.): Materialien zu Hermann Hesse "Das Glasperlenspiel". Zweiter Band, Texte

über das Glasperlenspiel, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1974, S. 315 136 Zitiert nach: Ebd. S. 316

70

Hesse war Vertreter keiner festen Lehre oder Religion, er blieb sein ganzes Leben

lang dem humanistischen Ideal treu. „Eben darum könnte ich keiner Kirche gehören,

weil dort die Höhe und Freiheit des Geistes fehlt, weil jede sich für die beste, die

einzige, und jeden ihr nicht Zugehörenden für verirrt hält.“137

Seine Stellung zur Kirche

widerspiegelt sich im Umgang Kastaliens mit ihr, der durch die Beachtung und Abstand

gekennzeichnet ist.

Was die Angehörigkeit einer Gesellschaft betrifft, drückte er sich dazu

folgendermaβen aus: „...ich bin Eremit und habe nie irgendeiner Gemeinschaft

angehört, auβer jener der Morgenlandfahrer, eines Bundes von Gläubigen, dessen

Existenzform eine sehr ähnliche ist wie die Kastaliens.“138

Sein ganzes literarisches

Schaffen kennzeichnet sich durch die Selbstreflexion des eigenen Lebens, es ist „eine

wieder neu aufgenommene hochpsychologische Selbstdarstellung, Selbstbeobachtung,

Selbstanalyse, ja Selbstverwirklichung.“139

Laut Hesse ist die Grundaufgabe des Menschen die Seele zu entwickeln, den

Stufenweg beschreiten und auf die höchste Stufe abzielen. Hermann Hesse befürchtete

die Maβlosigkeit, die zum gefährlichen Leben und zu den Menschentypen führt, wie

zum Beispiel Hitler oder Mussolini.

Viel mehr als um die Zerstörung der Ordensgesellschaft oder die Anbetung des

Individuums geht es ihm in seinen Werken um ein aufrichtiges Leben des Einzelnen

und seine Selbstbestätigung in der Gesellschaft. Und nur für solche Leser, die dieser

Umstände bewusst werden, sind seine Dichtungen bestimmt.

Bildung versus Schule

Hesses Stellung zur Schulerziehung war ziemlich negativ, besonders im Unterm Rad

ist diese Tatsache markant. Diese Anschauung wurzelt in seiner eigenen

Schulerfahrung, die eher negativen Charakters war. Die Erziehung muss auch die

Individualität des Einzelnen, der einmalig ist, berücksichtigen. Hesses

Bildungsvorstellungen wurden vor allem durch Humanismus beeinflusst.

137 VOLKER, Michels (Hg.): Materialien zu Hermann Hesse "Das Glasperlenspiel". Erster Band, Texte

von Hermann Hesse, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1973, S. 283 138 Ebd. S. 278 139 JENS, Walter/KÜNG, Hans: Anwälte der Humanität: Thomas Mann, Hermann Hesse, Heinrich Böll,

Kindler Verlag, München 1989, S. 161

71

Die eigenen Erfahrungen stellen im Bildungsprozess ein erhebliches Element. So

auch Knecht kann nicht sein ganzes Leben in Kastalien verbringen, er muss in die Welt

gehen und eigene Schritte machen. Der Bildungsvorstellung nach, die Hesse vertrat,

„stellt er sich in die Reihe der Pädagogen, die ihren Weg nehmen von Rousseau,

Pestalozzi, Fröbel, über die Jugendbewegung zu Berthold Otto bis hin zu den modernen

pädagogischen Theorien.“140


Mühlheim (Ruhr) 1955, S. 53

72

7. „Peter Camenzind“ und „Das Glasperlenspiel“: Ein

Vergleich

Von Peter Camenzind bis zum Glasperlenspiel erfolgte im Werk Hermann Hesses

groβe Entwicklung. Dem Autor gelang es, die rein negative Stellung zur Gesellschaft

und die Abneigung gegen die Stadt, so wie sie im Camenzind beschrieben werden, in

eine Natursymbolik des Glasperlenspiels zu verwandeln. In beiden Werken behandelt

man immer die gleichen Themen - Dualismus, Polarität, Geist, wahre Erkenntnis,

Gegensätzlichkeit von Kunst und Leben und die Möglichkeit ihrer Synthese. Man kann

in ihnen bestimmte Abneigung von dem Künstlertum und wachsende Neigung zum

einfachen Leben beobachten. Auf das Künstlerische wird es aber nicht vollkommen

verzichtet.

Gemeinsam ist den untersuchten Werken auch die negative Darstellung des

Feuilletonismus, von dem sich der Hauptheld abwendet, um die Wahrheit in seinem

Inneren zu finden. Im Camenzind verkörpert es die Moderne, im Glasperlenspiel die

ganze Gesellschaft auβer Kastalien. Die Abkehr von Industriegesellschaft und

Inklination zum Nonkonformismus prägt die Form der beiden Romane.

Beide Haupthelden sind Auβenseiter, sie rebellieren auf ihre Weise gegen die

Normen der Gesellschaft. Hesse legte in seinen Büchern Wert auf den Eigensinn des

Menschen. Der Eigensinn und die Rebellion gehören untrennbar zusammen.

Auch der Tod durch Ertrinken im Wasser wiederholt sich in beiden Werken. Im

Camenzind starb Richard, Peters beste Freund, beim Baden im Fluss und im

Glasperlenspiel fand Josef Knecht den Tod im Bergsee.

Das, was im Camenzind als unfertig schien wurde im Glasperlenspiel zur

Meisterschaft geführt. Peter Camenzind erlebte auf seinem Weg manche

Enttäuschungen, die ihn belehrten, dass sein Traum der Dichter zu werden nur ein

Irrtum war. Er kehrte dann in seinen Heimatort zurück, aber bestimmte Unzufriedenheit

und Resignation blieb in seiner Stellung deutlich. Josef Knecht stieg dagegen in seiner

Bildung stufenweise aufwärts und mit jeder Stufe war er dem Erwachen näher, bis er

die Erlösung erreichte.

In beiden Werken legte Hesse den Nachdruck auf die innere Entwicklung des

Individuums und warnte vor der Verkümmerung des Geistes. Plus ultra, immer weiter,

die Säulen des Herakles niederreiβen, in die Ferne, immer neue Räume durchschreiten,

73

transzendieren, auf die Vergangenheit aber nicht verzichten – das ist die Schickung der

beiden Bücher. Das was im Camenzind begonnen wurde, fand später im Glasperlenspiel

seine Vollendung. Mit diesem Hesses letzten Roman wurde sein literarisches Schaffen

praktisch abgeschlossen.

74

8. Resümee In vorliegender Diplomarbeit versuchte ich neben der Einführung in den

Bildungsroman und Untersuchung der einzelnen Werke vor allem die bedeutendste

Merkmale des Bildungsromans im Schaffen Hermann Hesses zu entdecken.

Diese Gattung hat in Deutschland langjährige Tradition. Obwohl sich Hesse

weigerte, seine Bücher zu den allgemein anerkannten Literaturgattungen zu zählen oder

sie überhaupt als Literatur zu bezeichnen, finden wir in ihnen manche Kennzeichen

dieser Romanart. Der Autor setzte sich während seines Lebens intensiv mit den

erzieherischen und pädagogischen Vorstellungen auseinander, wie manche andere

Autoren zur Zeit um 1900. In seinen Romanen finden wir aber keine Belehrungen und

Anweisungen. Sie sind auf innerseelische Konflikte, ihre Auflösung und dadurch

erzielte Erlösung und wahre Erkenntnis gerichtet. Seine pädagogischen Theorien

entfaltet er nicht in der Form der Regeln, als Dichter benutzt er poetische Bilder,

Symbole, obwohl dann die Gefahr droht, dass sie dem Leser nicht alle vollkommen

verständlich werden.

Hesses Werk ist schwer einzuordnen. Zum Beispiel im Falle des Glasperlenspiels

geht es um ein Alterswerk, eine Utopie, einen Erziehungs- und Entwicklungsroman und

nicht zuletzt um einen Bildungsroman. Wenn wir den Autor selbst fragen könnten,

würde er uns sicher antworten, dass es eigentlich alles und gleichzeitig nichts davon ist.

Für ihn waren es einfach Dichtungen - möglicherweise da er sich im Herzen eher als

Dichter und nicht als Schriftsteller fühlte, oder da sein ganzes Schaffen eine romantisch

poetische Tendenz durchdringt, die eher für die Poesie als Prosa charakteristisch ist.

Der Sinn seines Werkes ist in jeder Dichtung deutlich. Hesse bemüht sich um die

Verteidigung des Individuums und seiner Persönlichkeit. Seiner Meinung nach ist „der

einzelne, einmalige Mensch mit seinen Erbschaften und Möglichkeiten ein zartes,

gebrechliches Ding, er kann wohl einen Anwalt brauchen.“141

Diese Tatsache offenbart

sich in beiden analysierten Werken. Camenzind erlebte seine Revolte gegen die

bürgerliche Gesellschaft und kehrte zur Natur und einfachem Leben zurück. Knecht

verzichtet auf das Bewahren des Geistes im künstlichen Milieu der pädagogischen

Provinz und konzentriert sich auf Bildung seines einzigen Schülers.

Im letzten Teil meiner Arbeit bemühte ich mich um Vergleich der beiden Werke und

ermittelte Hesses pädagogische Vorstellungen. Bei Peter Camenzind kann man ohne

141 Zitiert nach: Ebd. S. 5

75

Zweifel die Angehörigkeit zum Bildungsroman bestätigen. Das Glasperlenspiel, der

letzte Roman von Hermann Hesse, ist nicht mehr so einfach einzuordnen. Er weist die

Merkmale sowohl des Bildungsromans als auch der Utopie auf. Dieses Werk beinhaltet

auch manche pädagogische Ideen und Vorstellungen des Autors. Die Grundmerkmale

des Bildungsromans sind im Werk jedoch enthalten: der Bildungsweg des Protagonisten

von seiner Kindheit bis zum Erwachsenenalter wird verfolgt, die Motive der

Selbstfindung, Krisenerfahrung und innere Progression des Helden fehlen da auch nicht.

So hindert meiner Meinung nach nichts daran, dieses Werk auch als Bildungsroman zu

bezeichnen.

Wie der Autor selbst behauptete, versucht er in seinem Werk so einen idealen

Lebenswandel darzustellen, „in dem Liebe, Schönheit und Ordnung herrschen ... in dem

der Mensch nicht Herdenvieh wird, sondern die Würde, die Schönheit und auch die

Tragik seiner Einmaligkeit behalten darf.“142

Das ist das Kennzeichen und gleichzeitig

Schickung Hesses Lebens und Schaffens.

142 Zitiert nach: Ebd.

76

Literaturverzeichnis

Primärliteratur:

HESSE, Hermann: Gesammelte Werke, Erster Band, Stufen, Die späten Gedichte,

Frühe Prosa, Peter Camenzind, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main

1987

HESSE, Hermann: Das Glasperlenspiel, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, Berlin

1985

Sekundärliteratur:

BALL, Hugo: Hermann Hesse: sein Leben und sein Werk, Suhrkamp Verlag, Berlin

1963

DAHRENDORF, Malte: Der Entwicklungsroman bei Hermann Hesse (Dissertation),

Philosophische Fakultät der Universität Hamburg, Hamburg 1954, S. 25-42, 210-244

GIESEKE, Astrid: Die Vaterfiguren im deutschsprachigen Bildungsroman des frühen

20. Jahrhunderts (Dissertation), Dissertations- und Fotodruck Frank GmbH, München

1986.

GUTHJAHR, Ortrud: Einführung in den Bildungsroman, WBG Verlag, Darmstadt

2007, S.7-90

GYSI, Klaus/BÖTTCHER, Kurt/KROHN, Paul Günter: Hermann Hesse: Hilfsmaterial

für den Literaturunterricht, Volk und Wissen Volkseigener Verlag, Berlin 1956, S. 5-

38, 70-83

HESSE, Hermann: Gesammelte Werke, Elfter Band, Schriften zur Literatur 1,

Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1987, S. 24-28, 90-99, 113-124

HESSE, Hermann/MICHELS, Volker (Hg.): Gesammelte Werke, Zwölfter Band,

Schriften zur Literatur 2, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1987, S.

16-42, 145-197, 286-292, 293-302

HILSCHER, Eberhard: Poetische Weltbilder: Essays über Heinrich Mann, Thomas

Mann, Hermann Hesse, Robert Musil und Lion Feuchtwanger, Buchverlag Der Morgen,

Berlin 1979, S. 102-146

JACOBS, Jürgen/KRAUSE, Markus: Der deutsche Bildungsroman: Gattungsgeschichte

vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, C. H. Beck, München 1989.

JENS, Walter/KÜNG, Hans: Anwälte der Humanität: Thomas Mann, Hermann Hesse,

Heinrich Böll, Kindler Verlag, München 1989, S. 39-59, 159-238



77

KOVÁŘ, Jaroslav: Zur Problematik der ersten Schaffensperiode Hermann Hesses, In:

Brünner Beiträge zur Germanistik und Nordistik, Band I, MASAŘÍK, Zdeněk (Hg.),

Univerzita J.E. Purkyně, Brno 1977, S. 115-135

LORENZEN, Hermann: Pädagogische Ideen bei Hermann Hesse, Setzkorn-

Scheifhacken Verlag, Mühlheim (Ruhr) 1955

MAYER, Gerhart: Der deutsche Bildungsroman: Von der Aufklärung bis zur

Gegenwart, J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1992.

MIDDEL, Eike: Hermann Hesse : die Bilderwelt seines Lebens, Verlag Philipp Reclam

jun., Leipzig 1972

PFEIFER, Martin: Königs Erläuterungen und Materialien, Bd.17, Hermann Hesse –

Peter Camenzind, Unterm Rad, Knulp, C. Bange Verlag, Hollfeld 1996, S. 5-36, 74-78

PFEIFER, Martin: Königs Erläuterungen und Materialien, Bd.316, Hermann Hesse –

Das Glasperlenspiel, C. Bange Verlag, Hollfeld 1994

SELBMANN, Rolf: Der deutsche Bildungsroman, J.B. Metzler Verlag, Stuttgart;

Weimar 1994, S. 1-76

UNSELD, Siegfried: Hermann Hesse – Werk und Wirkungsgeschichte, Insel

Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1985, S. 5-19, 22-37, 200-228

VOLKER, Michels (Hg.): Materialien zu Hermann Hesse "Das Glasperlenspiel".

Erster Band, Texte von Hermann Hesse, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1973.

VOLKER, Michels (Hg.): Materialien zu Hermann Hesse "Das Glasperlenspiel".

Zweiter Band, Texte über das Glasperlenspiel, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main

1974.

Internetquellen:

GOTTSCHALK, Günther, Beads und Bytes, Das Glasperlenspiel, das Weltwissen und

das Internet [online] URL:<http://www.gss.ucsb.edu/projects/hesse/papers/GG-

Vortrag.pdf> [23.2.2010]

HISAHIRO, Hayashi: Der deutsche Bildungsroman von Goethe bis Thomas Mann,

2005 [online] URL: <http://www.gsid.nagoya-u.ac.jp/bpub/research/public/forum/29/01.pdf>

[27.1.2010]

LERCH, Silke Inken: Hermann Hesse und die Hippies, [online] URL: <http://www.free

webs.com/misque/hesse02.htm> [11.4.2010]

MALISCHKE, Andreas: Ideal und Wirklichkeit in Hermann Hesses das

‚Glasperlenspiel‘, (Vorschau) [online] URL: <http://books.google.de/books?id=-

aTnIsdcdtcC&pg=PA28&lpg=PA28&dq=Clangor+Glasperlenspiel&source=bl&ots=W

5SzOCbCMe&sig=LUUcSSgbGmUmZNeJMJiYFswEuXw&hl=de&ei=vTmJS9iXNJf




http://www.gsid.nagoya-u.ac.jp/bpub/research/public/forum/29/01.pdf

http://books.google.de/books?id=-aTnIsdcdtcC&pg=PA28&lpg=PA28&dq=Clangor+Glasperlenspiel&source=bl&ots=W5SzOCbCMe&sig=LUUcSSgbGmUmZNeJMJiYFswEuXw&hl=de&ei=vTmJS9iXNJf4mgPwg7G0BA&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=4&ved=0CA4Q6AEwAw#v=onepage&q=Clangor%20Glasperlenspiel&f=false



78

4mgPwg7G0BA&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=4&ved=0CA4Q6AEwAw

#v=onepage&q=Clangor%20Glasperlenspiel&f=false> [10.3.2010]

RÖSCH, G.M.: Roman im 20. Jahrhundert, Das Glasperlenspiel, [online]

URL: <http://www.idf.uni-heidelberg.de/mitarbeiter/roesch/04_Lehre/WS_05_06/Rhd1

2glasperlsptxt1.pdf> [17.2.2010]

Weltbürger - Hermann Hesses übernationales und multikulturelles Denken und Wirken

[online] URL:<http://www.hermannhesse.de/aktuelles/mehr.php?id=498&tag=02&mon

at=Februar&jahr=2010)> [25.2.2010]

Modifikationen des Bildungsromans in der klassischen Moderne, [online] URL: <http://

www.litde.com/jahrhundert/modifikationen-des-bildungsromans-in-der-klassischen-

moderne.php> [15.2.2010]

Das Politiklexikon, [online] URL: <http://www1.bpb.de/popup/popup_lemmata.html?gu

id=B9GRGP> [3.3.2010]

Kastalia, [online] URL: <http://www.wissen.de/wde/generator/wissen/ressorts/geschich

te/index,page=1137508.htm> [12.3.2010]

Vijayā: Ein Leben in Einsamkeit: Selbstsucht oder Selbstlosigkeit? [online] URL: <http:

//www.theravadanetz.de/Dhammaduta0702.htm> [14.4.2010]

Hermann Hesse, [online] URL: <http://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Hesse>

[15.2.2010]

Bildungsroman, [online] URL: <http://de.wikipedia.org/wiki/Bildungsroman>

[15.2.2010]

Bildungsroman, [online] URL: < http://www.uni-due.de/einladung/Vorlesungen/epik/bil

dungsroman.htm> [15.2.2010]

Jean-Jacques Rousseau, [online] URL: <http://de.wikipedia.org/wiki/Rousseau>

[27.3.2010]

Deus absconditus, [online] URL: <http://de.wikipedia.org/wiki/Deus_absconditus>

[30.3.2010]

Der Bildungsroman-eine deutsche Literaturgattung?[online] URL:<http://www.litde.co

m/sonstige/der-bildungsroman-eine-deutsche-literaturgattung.php> [30.3.2010]



http://de.wikipedia.org/wiki/Deus_absconditus

Bil Dungs Roman

Documents

Transcript of Bil Dungs Roman