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  • Abstimmung zum Jagdgesetz

    Stadt-Land-Kluft statt

    Rösti-GrabenMarkus Deissler

    Bei politischen Entscheidungen ist ein stetig wachsender Graben zwischen Stadt und Land zu

    erkennen, insbesondere auch im Themenbereich der Umwelt. Das heisst konkret, dass diejenigen, die

    abstimmen, nicht immer auch diejenigen sind, die vom Ergebnis der Abstimmung schlussendlich betroffen

    sind. Als deutliches Beispiel kann dazu die Abstimmung zur Jagdgesetzrevision beigezogen werden.

    Unser Autor Markus Deissler beleuchtet dabei als ausländischer Beobachter auch Blickwinkel,

    die das Gesamtbild erweitern.

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  • Vielen Schweizern ist das Referendum über das revidierte Jagdgesetz noch lebhaft in Erinne-rung, ob in guter oder in schlechter, das hält sich beinahe die Waage. Aber eben nur beinahe! Mit einer knappen Mehrheit entschied sich die Schweizer Bevölkerung im Herbst 2020 gegen das neue Jagdgesetz. Bei der näheren Betrachtung der Abstim-mungsergebnisse zeigt sich eine Spaltung der Gesellschaft zwischen Stadt und Land, Berg und Tal. Der Wohnort und das Abstimmungsverhalten des einzelnen sind stark miteinander verknüpft, dies gilt nicht nur für die Schweiz und auch für an-dere politische Themen als die Jagd. Trotzdem sollte diese spe-zielle Abstimmung insbesondere für die Jägerschaft den Anlass schaffen, sich näher mit dieser Thematik auseinanderzusetzen. Als ausländischer Beobachter versuche ich dabei auch Blickwin-kel zu beleuchten, die das Gesamtbild erweitern.

    Die Abstimmung über das neue JagdgesetzGleich zu Beginn eine kurze Rückblende auf das Ereignis, wel-ches den Anlass zu diesem Text gab – die Volksabstimmung über das neue Jagdgesetz vom 27. September 2020. Vom Par-lament war die Revision des Jagdgesetzes bereits mehrheitlich beschlossen worden – die Gegenseite hat aber die entspre-chenden Unterschriften gesammelt und das Referendum er-griffen, wodurch die Entscheidung der Bevölkerung vorgelegt werden musste.

    Nachdem der Termin der Abstimmung auch noch einmal we-gen der COVID-19-Pandemie um mehrere Monate verschoben wurde, hatte das Referendum eine lange Vorlaufzeit, in der beide Seiten um die Stimmen der Bevölkerung werben konnten und diese Möglichkeit auch intensiv nutzten. Dies gelang den Gegnern des neuen Jagdgesetzes letztendlich ein wenig besser als den Befürwortern und das Endergebnis war mit 51,9% Nein-Stimmen zu 48,1% Ja-Stimmen als durchaus knapp zu bezeich-nen. Die Wahlbeteiligung war mit 59,3% relativ hoch, ein höhe-rer Wert bei einer Volksabstimmung wurde zuletzt im Februar 2016 erreicht. Ein möglicher Grund für das hohe Interesse der Bevölkerung waren wohl auch die vier weiteren Volksabstim-mungen, die an diesem Termin ebenfalls stattfanden und quasi identische Beteiligungszahlen vorweisen können, da Wähler im Normalfall zu allen Fragen abstimmen.

    Eine Abstimmung zum Jagdgesetz allein hätte vermutlich we-niger Wähler mobilisieren können, inwiefern dies jedoch das Ergebnis hätte beeinflussen können, ist reine Spekulation. Für diese Einschätzung wäre es von besonderem Interesse zu wis-sen, wie das Abstimmungsverhalten der Wähler ausfiel, die ei-gentlich wegen einer der anderen Abstimmungen gekommen waren. Im Gegensatz zu den Wählern mit von vornherein gefes-tigten Positionen zum Jagdgesetz, die wohl kaum von der Ge-genseite «bekehrt» werden konnten, waren Wähler, die dem Thema grundsätzlich eher neutral gegenüberstanden und vor-rangig wegen einer anderen Abstimmung gekommen waren, im Vorfeld der Abstimmung durchaus offen dafür, von der einen oder anderen Seite überzeugt zu werden, die entsprechende Antwort auf den Stimmzettel zu schreiben. Es kann vermutet werden, dass die Gegner des neuen Jagdgesetzes, dank deutlich grösserer finanzieller Aufwendungen und entsprechender me-dialer Präsenz, hierbei mehr Erfolge verbuchen konnten als die

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    Unterstützer des Gesetzes, ob aber tatsächlich dieser Aspekt das Zünglein an der Waage war, bleibt eben nur eine Vermutung.

    Gespaltenes LandEbenso spannend wie die Hintergründe der Volksabstimmung sind auch ihre Ergebnisse. Bei einer derart knappen Entschei-dung drängt sich zunächst die Vermutung auf, die Schweizer seien hier zu eben fast gleichen Teilen anderer Ansicht und eine zufällige Befragung von Passanten auf der Strasse käme beinahe einem Münzwurf gleich. Dem ist aber nicht so, je nachdem, wo man nämlich die Passanten zur Befragung suchen würde, er-hielte man teilweise deutlich verschiedene Ergebnisse.

    Im Kanton Basel-Stadt etwa sprachen sich nur 36,1% für das neue Jagdgesetz aus, in Appenzell Innerrhoden dagegen ganze 70,8% – diese beiden Extremwerte zeigen deutlich, mit welch grosser Schwankungsbreite die Bevölkerung der einzelnen Kan-tone das Gesetz befürwortete oder ablehnte. Insgesamt spra-chen sich 15 Kantone mehrheitlich für das neue Jagdgesetz aus, während es in den elf anderen Kantonen mehrheitlich abgelehnt wurde. Dabei erreichten die Ja-Stimmen in vier Kantonen sogar eine Zweidrittelmehrheit, die Siege der Gegenseite fielen etwas weniger eindeutig aus. Eine Mehrheit der Stände und eindeuti-gere Zahlen in den gewonnenen Kantonen scheinen im Grossen und Ganzen zunächst für das neue Jagdgesetz zu sprechen, was allerdings schnell durch die starken Grössenunterschiede der Kantone zu widerlegen ist. Während das Jagdgesetz nämlich in den vier grössten Kantonen abgelehnt wurde, gehören zu sei-nen Befürwortern die sechs kleinsten. Im Kanton Zürich stimm-ten insgesamt über 550 000 Wähler über das Jagdgesetz ab, in Appenzell Innerrhoden nicht einmal sieben Tausend.

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  • «Die Nachfrage nach frischen, landwirtschaftlichen Produkten boomt in den Städten – das Verständnis für natürliche Zusammen-hänge endet aber oft schon am Ende des Marktplatzes.»

    Betrachtet man die Abstimmungsergebnisse der Kantone auf ei-ner Karte, zeigt sich auch räumlich die Spaltung des Landes hin-sichtlich seiner Meinung zum Jagdgesetz. Im Süden und Osten der Schweiz wäre das neue Jagdgesetz mehrheitlich willkom-men gewesen, im Norden und Westen wurde es mehrheitlich abgelehnt, nur der Kanton Freiburg fällt als Exklave der Befür-worter leicht aus dem Bild.

    Stadt und Land, Berg und TalGleicht man die Karte der Abstimmungsergebnisse mit anderen Karten der Schweiz ab, erkennt man schnell eine hohe Überein-stimmung mit topographischen Karten. Die alpinen Regionen stimmen dabei ziemlich gut mit denen überein, in denen das neue Jagdgesetz Anklang gefunden hätte, während die niedri-geren Lagen hauptsächlich von Gegnern des Jagdgesetzes be-wohnt werden. Dieser Zusammenhang passt auch gut mit den Inhalten des Jagdgesetzes zusammen, über welches abgestimmt wurde. Die Kernthematik einer vereinfachten Regulierung der Wolfsbestände spricht insbesondere Viehhalter im Bereich der Almwirtschaft an, aber auch allgemein vor allem diejenigen Menschen, für die der Wolf mittlerweile ein realer und oft kriti-scher Bestandteil ihres Umfelds geworden ist. Für Stadtbewoh-ner, die weder Vieh halten noch sonst irgendwie mit Wölfen zu tun haben, besitzt deren Bestandesregulation freilich einen viel geringeren Stellenwert. Es bietet sich also auch an, analog zur bereits betrachteten Bevölkerungsanzahl, auch auf die Bevöl-kerungsdichte zu achten, die noch besser zeigt, welche Regi-onen eher städtisch oder eher ländlich geprägt sind. Das Bild,

    das sich zeigt, ist sehr ähnlich, die vier am dichtesten besiedel-ten Kantone gehören wieder zu den Gegnern des Jagdgesetzes, während es neun der zehn letzten Plätze befürwortet haben.

    Betrachtet man stellvertretend für die Schweiz einmal ihren flä-chenmässig grössten Kanton Bern, der sich sowohl über niedri-gere dicht besiedelte Lagen als auch alpine Bereiche erstreckt, zeigt sich dasselbe Ergebnis wie bereits auf Bundesebene. Fünf der zehn Bezirke im Kanton Bern haben das neue Jagdgesetz abgelehnt, fünf haben dafür gestimmt. Die niedriger gelegenen und dichter besiedelten Bezirke vom Berner Jura bis zum Thu-nersee mit den Städten Bern, Biel und Thun stimmten mehr-heitlich dagegen. Die dünner besiedelten Bezirke im Süden und Osten waren anderer Ansicht, wurden aber überstimmt, da sie weniger Bevölkerung und damit Stimmberechtigte besitzen. Durch die Detailansicht zeigt sich ausserdem, dass der Kanton Freiburg eigentlich doch mit den anderen Kantonen pro-Jagd-gesetz verbunden wäre.

    Versucht man denselben Zusammenhang auch in den Kanto-nen zu finden, die für das neue Jagdgesetz gestimmt haben, wird man zum Beispiel in Graubünden fündig, dem am dünns-ten besiedelten Kanton der Schweiz. Zwar wurde in jeder ein-

    Bild untenLandwirtschaftliches Idyll – Mythos oder Realität?

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  • Betrachtet man den flächen mässig grössten Kanton Bern, der sich sowohl über niedrigere dicht besiedelte Lagen als auch alpine Bereiche erstreckt, zeigt sich dasselbe Ergebnis wie auf Bundesebene.

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    zelnen Gemeinde des Kantons mehrheitlich für das Jagdgesetz gestimmt, allerdings erzielte die Hauptstadt Chur mit lediglich 55,4% Ja-Stimmen eines der niedrigsten Resultate im ganzen Kanton, wo Spitzenwerte bis 89% vorkamen. Der Trend grösse-rer Städte, eher gegen die Gesetzesrevision zu stimmen, lässt sich also auch hier erkennen.

    Kein EinzelfallDie Volksabstimmung über das Jagdgesetz war allerdings kei-neswegs die erste politische Entscheidung, bei der Stadt- und Landbevölkerung unterschiedliche Ansichten zu Umweltthe-men äusserten. Ein ziemlich radikales Beispiel hierfür wäre die Abschaffung der privaten Jagd im Kanton Genf 1974. Der Kan-ton Genf besitzt mit etwa 1770 Einwohnern pro Quadratkilo-meter die zweithöchste Bevölkerungsdichte aller Kantone und ist sehr stark urban geprägt, was eine günstige Ausgangslage für derartige Entscheidungen bietet. Im Kanton Zürich, der mit «nur» noch 880 Einwohnern pro Quadratkilometer den dritten Platz der Bevölkerungsdichte belegt, wurde zwar auch deutlich gegen das Jagdgesetz gestimmt, eine «Abschaffung» der Jagd nach Genfer Vorbild 2018 allerdings noch abgelehnt. Es bleibt abzuwarten, ob für den Kanton Basel-Stadt, den mit Abstand am dichtest besiedelten Kanton, dessen Namen ja bereits auf sei-nen städtischen Charakter verweist, in näherer Zukunft derar-tige jagdpolitische Entscheidungen anstehen werden, die Situ-ation wäre hierfür geradezu prädestiniert. In der Vergangenheit konnten ähnliche Angriffe auf die Jagd erfolgreich abgewehrt werden: 2013 hat der Grosse Rat des Kantons Basel-Stadt ei-nen entsprechenden Vorstoss aus dem Grünen Bündnis mit 41 zu 31 Stimmen abgelehnt. Die private Jagd hätte demnach in Basel-Stadt verboten und durch staatliche Wildhüter nach Gen-fer Modell ersetzt werden sollen.

    Aber auch ausserhalb der Schweiz gibt es ähnliche Fälle zu be-richten, obwohl Volksabstimmungen dort über weniger poli-tische Tradition verfügen. Aus meiner Heimat ist als Muster-beispiel das Volksbegehren «Artenvielfalt & Naturschönheit in Bayern» von 2019 anzuführen, besser bekannt unter sei-nem Kampfnamen «Rettet die Bienen». Es war das bisher er-

    Lediglich zehn der 2212 Gemeinden in der Schweiz haben über 50 000 Einwohner, allerdings lebt bereits ein Viertel der Bevölkerung in den 31 grössten Gemeinden.

    Die Abstimmungsresultate zeigen deutliche Unterschiede zwischen dem Mittelland und den Bergkantonen, wo die Revision des Jagdgesetzes begrüsst worden wäre (grün). Im Kanton Thurgau ergab sich ein glattes Unentschieden.

    «Die Volksabstimmung über das Jagdgesetz war keineswegs die erste politische Entscheidung, bei der Stadt- und Landbevölkerung unterschiedliche Ansichten zu Umweltthemen äusserten»

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  • folgreichste Volksbegehren in Bayern überhaupt – 18,3% der Bürger unterstützten den Antrag um ein neues Umweltgeset-zespaket, 10% wären für eine Berücksichtigung ausreichend ge-wesen. Betrachtet man die Verteilung der Abstimmungsergeb-nisse, zeigt sich auch hier ein starker Zusammenhang mit der Bevölkerungsdichte. Während in den Grossstädten München, Nürnberg und Augsburg die Anteile der Befürworter schon recht hoch ausfi elen, von der hohen Gesamtbevölkerung dieser Städte jedoch etwas relativiert wurden, wurden Spitzenwerte vor al-lem in den Landkreisen direkt um die Grossstädte erreicht. Die wenigste Unterstützung erreichte das Volksbegehren in den eher strukturschwachen und dünn besiedelten Bezirken Nie-derbayern und Oberpfalz im Osten Bayerns. Da Bayern entge-gen der Klischees nur zu einem kleinen Bruchteil wirklich alpin ist, spielt die Höhenlage der Regionen hier keine Rolle. Auch hinsichtlich der Unterstützer und Gegner des Volksbegehrens zeigen sich klare Parallelen. Umwelt- und Naturschutzverbände zusammen mit «grünen» Parteien auf der einen Seite, Interes-senverbände der Landwirtschaft und der Jagd zusammen mit deren eher konservativer politischer Vertretung auf der ande-ren Seite. Wer sich die Punkte des Gesetzespakets näher an-sieht, stellt fest, dass die grosse Mehrheit davon sich mit der umweltfreundlicheren Nutzung landwirtschaftlicher Flächen befasst, während der Durchschnittsbürger damit nichts zu tun hat, wird in die Tätigkeit der Landwirte stark eingegriff en. Bei-spielhafte Punkte wie spätere Mahdtermine auf einem Teil des Grünlandes und unbewirtschaftete Randstreifen um Gewässer sind ökologisch sicherlich sinnvoll und würden so auch bei der Jägerschaft grossen Anklang fi nden, kritisiert wird hier vor al-lem, dass mit den Stimmen der vielen Städter über den Kopf der wenigen Landwirte hinweg entschieden wird. Fünf Meter Ab-stand zu jedem einzelnen Wassergraben in der Flur können ei-nem Landwirt leicht einmal mehr Fläche aus der Nutzung neh-men, als ein Städter überhaupt besitzt.

    Der Weg zurück zur Natur ist meist nicht besonders naturnah und oft rücksichtslos.

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  • Schlagwort UrbanisierungDer Kern der Problematik bei politischen Entscheidungen im The-menbereich der Umwelt ist also, dass diejenigen, die abstimmen, nicht immer auch diejenigen sind, die vom Ergebnis der Abstim-mung schlussendlich auch betroffen sind. Der Schutz unserer Umwelt geht uns alle etwas an und es sollte auch jeder seinen Teil hierzu beitragen, es führt allerdings verständlicherweise zu Unmut, wenn ein Teil der Bevölkerung einem anderen hierfür rechtliche Vorschriften auferlegt, die sie selbst nicht betreffen. Dies wird immer der Fall sein, sobald über Themen entschieden wird, welche die Landbevölkerung betreffen, denn diese nimmt anteilsmässig zur Stadtbevölkerung immer stärker ab.

    Unter dem Schlagwort Urbanisierung (von lat. Urbs = die Stadt) wer-den verschiedene Phä-nomene der Verstäd-terung beschrieben. Diese reichen von rein demographischer Ur-banisierung, bei der die Bevölkerung in den Städten stärker anwächst als auf dem Land, bis hin zu sozialer und struktureller Urbanisierung, die be-schreiben, wie die Bevölkerung allgemein immer städtischer wird. Denn nicht jeder, der auf dem Land lebt, arbeitet auch dort und hat sogar noch etwas mit Landnutzung und Umwelt zu tun – viel wahrscheinlicher ist es, dass auch ein grosser Teil der Landbe-völkerung auf die eine oder andere Weise verstädtert ist. Als Ein-wohner eines Dorfes mit einer dreistelligen Bevölkerungsanzahl würde ich mich zwar eindeutig als Landmenschen bezeichnen, die nächste Stadt mit mehr als 100 000 Einwohnern kann ich jedoch dank guter Autobahnanbindung innerhalb von 30 Minuten errei-chen. Bei derartig guter Vernetzung ist es nicht verwunderlich, dass die Mehrzahl der Menschen auf dem Land trotzdem mittler-weile eher unter dem Einfluss der Städte leben. Dieser Prozess wird sich auf langfristige Sicht auch nicht mehr ändern lassen, daher ist es wichtig ihn in zukünftigen Plänen mit zu bedenken.

    Die Schweiz verfügt hierbei sogar noch über eine relativ gute Ausgangslage, da es dort kaum wirkliche Grossstädte gibt, de-ren Bevölkerung jenseits aller Belange des Umlandes lebt. Le-diglich zehn der 2212 Gemeinden in der Schweiz haben über 50 000 Einwohner, allerdings lebt bereits ein Viertel der Be-

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    Verklärte Natur- und Landwirtschafts-Romantik beim Hotel Adler in der Altstadt von Zürich; dabei verschliesst sich auch die traditionelle Landwirtschaft neuen Entwicklungen der Digitalisierung keineswegs.

    «Die Fraktion der Landbewohner und Landnutzer, darunter auch die Jägerschaft, muss es schaffen, auch in den Städten präsent zu sein. »

    völkerung in den 31 grössten Gemeinden. In den Nachbarlän-dern ist die Bevölkerung deutlich zentraler auf die Grossstädte konzentriert, was die Spaltung zwischen Stadt und Land wei-ter vorantreibt. Österreich verteilt eine nur leicht höhere Be-völkerung als die Schweiz auf der doppelten Landesfläche, al-lerdings leben bereits über 21% aller Österreicher allein in der Hauptstadt Wien und 19 der 94 Bezirke beherbergen bereits mehr als die Hälfte der Bevölkerung. In Bayern verteilt sich die Bevölkerung von 13,1 Mio. Einwohnern auf 191 Landkreise und Städte, wobei die drei grössten Städte zusammen mit ih-ren umgebenden Landkreisen bereits fast ein Viertel der Be-völkerung beheimaten. Insgesamt hat die Schweiz damit zwar eine höhere Bevölkerungsdichte und Urbanisierung als die bei-den Vergleichsregionen, ist aber trotz der eindeutig erkennba-ren Teilung in eine urbane und eine alpine Hälfte noch deutlich gleichmässiger gestaltet.

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  • Eine Entwicklung hin zu noch grösserer Spaltung scheint wahr-scheinlich, weshalb das politische Agieren an die sich verän-dernden Umstände angepasst werden sollte, solange es noch nicht zu spät ist. Der Dialog zwischen den beiden Seiten muss gestärkt werden, solange man sich noch nicht völlig entfremdet hat, um Verständnis für die eigenen Beweggründe bei der Ge-genseite erreichen zu können. Andererseits darf man die poli-tische Bühne auch nicht nur seinen Gegnern überlassen, insbe-sondere dort, wo es viele Stimmen zu holen gibt. Die Fraktion der Landbewohner und Landnutzer, darunter auch die Jäger-schaft, muss es schaffen, auch in den Städten präsent zu sein. Dabei kann man sich ganz neidlos auch einige politische Win-kelzüge von der Gegenseite abschauen, die hinsichtlich Infor-mationsverbreitung und Meinungsbildung schlichtweg besser aufgestellt ist. Ein Beispiel dafür wäre die geschickt manipula-tive Benennung, sogenanntes «Framing» (vgl. dazu den entspre-chenden Beitrag in der Oktoberausgabe 10/2020 des «Schwei-zer Jäger»), bei dem aus dem neuen Jagdgesetz ein «missratenes Abschussgesetz» wird oder «Bienen gerettet» statt Landwirte bevormundet werden. Damit kann unter anderem auch der Ein-fluss auf die neutralen Teile der Bevölkerung erhöht werden, deren Überzeugung den Sieg an der Wahlurne bedeuten kann. Einfach abzuwarten, bis die Wolfspopulation samt ihrer Prob-lematiken auch die Innenstädte von Basel, Genf und Zürich er-reicht hat, ist sicherlich keine effiziente Strategie, um ein Um-denken der Stadtbevölkerung zu erreichen.

    Stadt-Land-Graben ersetzt RöstigrabenDie Städte in der ganzen Schweiz gleichen sich in ihrem Ab-stimmungsverhalten zunehmend an. Der Röstigraben dage-gen hat an Bedeutung verloren. Das zeigt zeigte eine Un-tersuchung der ETH Lausanne bereits im 2016. Die Städte sollten ihre Interessen verstärkt gemeinsam vertreten.

    Die politischen Unterschiede zwischen der Deutsch- und der Westschweiz sind in den vergangenen Jahren zuneh-mend eingeebnet worden. Dagegen öffnete sich bei den Abstimmungen ein Graben zwischen Stadt und Land. Das zeigt laut einer Mitteilung der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) eine Untersuchung des kana-dischen Doktoranden Shin Alexandre Koseki, der am Chô-ros-Laboratorium tätig ist. Koseki hat dabei das Abstim-mungsverhalten der Gemeinden in den vergangenen 30 Jahren unter die Lupe genommen.

    «Faktor Sprache verschwindet»Laut Koseki hätte es noch in den 80er-Jahren grosse re-gionale und sprachregionale Unterschiede in der gesam-ten Schweiz gegeben. In den 90er-Jahren hätte sich die politische Landschaft aber verändert, die Deutschschwei-zer Städte hätten sich in ihrem Abstimmungsverhalten an-geglichen. Dasselbe sei in der Westschweiz geschehen. Dort hätten Städte wie Landgemeinden zunehmend ähn-lich gestimmt. Nach dem Jahr 2000 dagegen hätte sich das Abstimmungsverhalten der Landgemeinden über die Sprachgrenzen hinweg angeglichen. Heute fänden sich die Deutschschweizer Städte, die Westschweiz und Teile Graubündens zunehmend im gleichen Boot, der Rest der Deutschschweiz mit ihren Agglomerations- und Landge-meinden in einem anderen. Das Tessin dagegen sei unbe-rechenbar geworden.

    Mehr Mobilität und VernetzungKoseki erklärt die Angleichung unter anderem mit den Pendlerströmen und der sinkenden emotionalen Distanz zu Bern. «Menschen in grossen Städten teilen die gleichen Interessen und sogar die gleichen Werte», wird Koseki zi-tiert. Jacques Lévy, Chef des Chôros-Laboratoriums, geht noch einen Schritt weiter. «Man kann für den Raum zwi-schen Genf und St.Gallen von einer ‚Megalopolis‘ gleich-gesinnter Städter sprechen», wird er zitiert.

    So zeigte sich von 2003 bis 2014 ein grünes Band der Zu-stimmung von Genf bis St. Gallen. Für Koseki ist das Aus-druck eines neuen sozialen und politischen Kontextes: «Es gibt mehr Mobilität und Vernetzung. Man tauscht mehr und mehr aus, was zu einer Übereinstimmung der kulturellen und politischen Präferenzen führt.»

    Quelle: punkt4info, SchweizerBauer, Tagesanzeiger

    Markus Richard Deissler(26) ist in bayerisch Schwaben zuhause und hat seinen Jagdschein im Jahr 2014 erlangt. Er studierte 2013–16 Biologie in Ulm, anschlies-send Wildtierökologie & Wildtiermanagement in Wien.

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