Biotechnologische Leckerbissen || Gene für 120-Jährige?

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Die meisten Hundert- jährigen lebten im sozia- listischen Teil des Kaukasus, und ihr Ge- heimnis sei das Kefir- Trinken, lehrte uns eifrige Thälmann-Pioniere die DDR-Illus- trierte Freie Welt. Schlichte Vererbung? Nein, »Anpassung, Lebensweise und Erziehung«, versicherte mein Bio-Lehrer. Die Genetik kam erst nach Ende der Lyssenko-Ära in der Sowjet- union wieder zu Ehren. Nun, selbst älter geworden, interessiert mich eine Studie in der US-Zeitschrift Science von Paola Sebastini und Thomas Perls von der Uni Boston. Die hatten seit 1995 die Genome von 1055 Menschen untersucht, die zwischen 1890 und 1910 geboren wurden, und stellten sie dem Erbgut von 1267 später Geborenen gegenüber. Man verglich dabei in beiden Gruppen das Auftreten von 300000 so genannten SNPs (Single Nucleotide Polymor- phisms ). Das sind »Genschnipsel«, die sich in genau einer Po- sition von der verbreiteten Abfolge der DNA-Nukleotide A, G, C und T unterscheiden. Verkürztes Beispiel: statt AGCTAG nun AGCTTG. Diese winzigen Unterschiede sind derzeit nur mit kostspieligen DNA-Analysen zu entdecken. Aus der großen Menge konnte man 150 SNPs herausfi- schen, die typisch für die Hundertjährigen sind. »Liest« man nun das Genom einer beliebigen Person, lässt sich mit 77-pro- zentiger Wahrscheinlichkeit voraussagen, dass diese 100 Jahre oder älter werden könnte. Diese Signatur betrifft insgesamt mehr als 70 Gene – einige davon wurden bereits zuvor als Langlebigkeitsgene identifiziert. »Es gibt eben nicht nur ein, zwei oder drei Langlebigkeitsgene«, schreibt Perls. »Wie ver- mutet, haben wir es viel mehr mit einem sehr komplexen Phänomen zu tun.« 77 Prozent Genauigkeit sind für ein 31 Gene für 120-Jährige? 14.08.10 R. Renneberg, V. Berkling, Biotechnologische Leckerbissen, DOI 10.1007/978-3-642-37111-0_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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Die meisten Hundert-jährigen lebten im sozia-listischen Teil des Kaukasus, und ihr Ge-heimnis sei das Kefir-Trinken, lehrte uns eifrige Thälmann-Pioniere die DDR-Illus-trierte Freie Welt. Schlichte Vererbung? Nein, »Anpassung, Lebensweise und Erziehung«, versicherte mein Bio-Lehrer. DieGenetik kam erst nach Ende der Lyssenko-Ära in der Sowjet-union wieder zu Ehren.

Nun, selbst älter geworden, interessiert mich eine Studie inder US-Zeitschrift Science von Paola Sebastini und ThomasPerls von der Uni Boston. Die hatten seit 1995 die Genomevon 1055 Menschen untersucht, die zwischen 1890 und1910 geboren wurden, und stellten sie dem Erbgut von 1267später Geborenen gegenüber.

Man verglich dabei in beiden Gruppen das Auftreten von300000 so genannten SNPs (Single Nucleotide Polymor-phisms ). Das sind »Genschnipsel«, die sich in genau einer Po-sition von der verbreiteten Abfolge der DNA-Nukleotide A, G,C und T unterscheiden. Verkürztes Beispiel: statt AGCTAGnun AGCTTG. Diese winzigen Unterschiede sind derzeit nurmit kostspieligen DNA-Analysen zu entdecken.

Aus der großen Menge konnte man 150 SNPs herausfi-schen, die typisch für die Hundertjährigen sind. »Liest« mannun das Genom einer beliebigen Person, lässt sich mit 77-pro-zentiger Wahrscheinlichkeit voraussagen, dass diese 100 Jahreoder älter werden könnte. Diese Signatur betrifft insgesamtmehr als 70 Gene – einige davon wurden bereits zuvor alsLanglebigkeitsgene identifiziert. »Es gibt eben nicht nur ein,zwei oder drei Langlebigkeitsgene«, schreibt Perls. »Wie ver-mutet, haben wir es viel mehr mit einem sehr komplexen Phänomen zu tun.« 77 Prozent Genauigkeit sind für ein

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genetisches Modell erstaunlich präzise. Aber 23 Prozent Irrtum verweisen auch auf Lücken der Erkenntnis.

Die Hundertjährigen ließen sich nach den genetischenMerkmalen in 19 Gruppen einteilen. Einige Gene korrelierten

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mit Langlebigkeit, andere mit einem späteren Einsetzen al-tersbedingter Krankheiten, wie z. B. Demenz. Zusätzlich hat-ten 40 Prozent der »Super-Hundertjährigen« (ab 110) dreigenetische Varianten gemeinsam.

Im Allgemeinen blieben die Hundertjährigen überdurch-schnittlich lange bei guter Gesundheit, erst ab 90 kamen dieüblichen Krankheiten. Dabei wiesen sie durchaus die gleicheVeranlagung für Krankheiten auf wie die Mitglieder der Kon-trollgruppe. »Diesen Personen fehlt nicht die Veranlagung fürKrankheiten, sie haben aber starke Schutz-Varianten«, erklärtPaola Sebastini.

Bekannt ist seit langem, dass spezielle Reparatur-Enzymedie DNA instand halten. Werden diese Enzyme aber alters-schwach, bleiben Fehler unkorrigiert. Die über 100-Jährigenschützt offenbar zusätzlich ein Netzwerk aus mehr als 70Genen, die über das gesamte Genom verstreut sind. Perlsschließt kategorisch aus, dass spezielle Medikamente allenMenschen hundert Jahre Leben sichern könnten. Man könneaber bessere Strategien zur Gesunderhaltung finden.

Die Studie beschränkt sich bisher auf Menschen mit wei-ßer Hautfarbe, geplant ist nun eine Ausweitung. Japaner habenzum Beispiel die höchste Lebenserwartung. Selbst »mein«super-quirliges Hongkong liegt im Moment bei 82 (Männer)und 84 (Frauen) Jahren Lebenserwartung!

85 Prozent der Gruppe »ab Hundert« sind übrigens Frauen,das »starke Geschlecht« ist da schwach vertreten. Gene spie-len eine große Rolle, sagen die Forscher, »... aber auch Fakto-ren wie schnelles Motorradfahren und Rauchen!« Und:»Männer sind bei altersbedingten Krankheiten anfälliger alsFrauen.«

»Keiner der über 100-Jährigen, die ich kenne, ist überge-wichtig«, sagt Thomas Perls. »Und sie sind alle unglaublich nette, fröhliche Menschen.«

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