Birgit Recki Technik Und Moral Bei Hans Blumenberg

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    Birgit Recki

    Technik und Moral bei Hans Blumenberg*

    Die Technik gehrt im Werk Hans Blumenbergs zu den Gegenstndeneines konstanten theoretischen Interesses.1 Dabei zeigt sich schonfrh, dass Blumenberg weder der Dmonisierung noch auch der Mora-lisierung der Technik Vorschub zu leisten gedenkt. Als zu grundlegendstellt sich ihm epistemologisch, handlungstheoretisch und anthropo-logisch der Status der technischen Rationalitt dar,2 als dass von auenhinzutretende Normativitt gegen sie etwas ausrichten knnte. Im Fol-genden ist zu zeigen, wie Blumenberg die Technik als den Terminus aquo eben der menschlichen Freiheit zu fassen sucht, als deren Termi-nus ad quem er die Moral begreift. Erkennbar ist es die Gleich-ursprnglichkeit von Technik und Moral als Instanzen der mensch-lichen Freiheit, auf deren Basis Blumenberg selbst dort, wo sich ihmdie Verselbstndigung der technischen Entwicklungsdynamik als Pro-blem darstellt, die Lsung in nichts anderem zu sehen vermag, als in

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    * Dieser Aufsatz wurde whrend meines Forschungsaufenthaltes als Senior Fellow amAlfried KruppWissenschaftskolleg Greifswald erarbeitet. Ich danke der Stiftung fr diegrozgige Untersttzung meines Forschungsprojektes Die instrumentelle Dimensionder Freiheit. Technik als anthropologisches Radikal.1 Hans Blumenberg, Das Verhltnis von Natur und Technik als philosophisches Pro-blem, Studium Generale 4 (1951), 461467; derselbe, Technik und Wahrheit, in: Actesdu XI. Congrs International de Philosophie, Bruxelles 20.26. Aot 1953, Vol. II:Epistmologie, Amsterdam/Louvain: North Holland Publishing Company 1953,S. 113120; derselbe, Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der Idee des schp-ferischen Menschen, Studium Generale 10 (1957), 266283 (auch in: derselbe, Wirk-lichkeiten in denen wir leben, Stuttgart: Reclam 1981, S. 55103); derselbe, Lebensweltund Technisierung unter Aspekten der Phnomenologie, Filosofia 14 (1963), 855884(auch in: derselbe,Wirklichkeiten in denen wir leben, S. 754; im Folgenden zitiert nachdieser Ausgabe).2 Zur vermeintlichen Inkonsistenz zwischen einem ontologisch-historischen und einemanthropologischen Strang in Blumenbergs Technikphilosophie siehe die These von de-ren Vereinbarkeit bei Tim-Florian Goslar,Das Konzept der Technik in den frhen Schrif-ten Hans Blumenbergs. Anthropologie und Metaphorologie im Kontext einer Geistes-geschichte der Technik, Magisterarbeit, Kiel: Christian-Albrechts-Universitt 2011.

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    der gleichermaen problem- und selbstreflexiven Vergewisserung die-ser Freiheit als Autonomie.3

    1. Der Begriff der Technik

    Es ist Husserls Abhandlung ber Die Krisis der europischen Wissen-schaften und die transzendentale Phnomenologie (1937), welcherBlumenberg einen Begriff der Technik abgewinnt, der diese nicht alsBereich instrumentell eingesetzter Dinge (wie Werkzeuge, Gerte,Maschinen) fasst, sondern radikal als Prozess der Habitualisierungvon Kompetenz: Die Technik ist primr nicht ein Reich bestimmter,aus menschlicher Aktivitt hervorgegangener Gegenstnde; sie ist inihrer Ursprnglichkeit ein Zustand des menschlichen Weltverhltnis-ses selbst,4 so kommentiert Blumenberg zustimmend Husserls Ana-lyse. Die Pointe dieser Entgegensetzung liegt nicht etwa darin, dasshier von vornherein von dem Hervorgehen aus menschlichen Aktivi-tten ein von ihnen unabhngiges Geschick abgesetzt wrde,5 son-dern, wie die Bestimmung der Technik als ein Reich von Mechanis-men6 zeigt, in der Unterscheidung zwischen Gegenstnden und

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    3 Die folgende Darstellung bezieht einige teils handgeschriebene Manuskripte aus demNachlass ein: 1. ein unverffentlichtes handschriftliches Manuskript, berschrieben mitAutomation Juni 56 (10 Bltter) und 2. ein unverffentlichtes handschriftliches Ma-nuskript Einfhrung in die Ethik/Ethische Grundhaltungen / Die vier Kardinaltugen-den, vom Archiv datiert ca. 19571958 (15 Bltter) laut Auskunft aus dem deut-schen Literaturarchiv Marbach vom 5. November 2010 Texte aus dem Konvolut derVortrge, die Hans Blumenberg in Bargteheide vor den Beamten der OberpostdirektionHamburg hielt; 3. ein Typoskript Atommoral. Ein Gegenstck zur Atomstrategie(9 Seiten), das Hans Blumenberg im Juni 1946 bei der Freiburger Zeitschrift Gegenwartzur Verffentlichung eingereicht hat, im Folgenden nach dem Original zitiert (siehe diePublikation in Helga Raulff (Hg.), Strahlungen. Atom und Literatur (Marbacher Ma-gazin; 123/12), Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 2008, S. 125136). Ich danke Dorit Krusche dafr, dass sie mich auf die genannten Texte aufmerksam undsie mir zugnglich gemacht hat. Bettina Blumenberg und dem Deutschen Literatur-archivMarbach danke ich fr die Erlaubnis der Publikation von Paraphrasen und Zitatenaus den Texten.4 Blumenberg, Lebenswelt und Technisierung (wie Anm. 1), S. 32.5 Vgl. Martin Heidegger, Die Frage nach der Technik; siehe Florian Grosser, Und wiederein Knig. Zur Heidegger-Rezeption in der frhen Bundesrepublik, Flandziu. Halbjah-resbltter fr Literatur der Moderne NF 4, 1 (2012), 211223.6 Blumenberg, Lebenswelt und Technisierung (wie Anm. 1), S. 50.

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    Mechanismen. Es sind diese Mechanismen, fr die Husserl den Aus-druck Technisierung prgt. Er soll die Verselbstndigung des instru-mentellen Procedere von der ursprnglichen Folie sachhaltigen theo-retischen Wissens bezeichnen; einen Abstraktionsvorgang, durch denein Verfahren, das in einem konkreten Fall der Problemlsung seinenUrsprung hat, als Methode abgezogen und fr die generalisierte, nichtan spezifisches Wissen gebundene Anwendung zugerstet wird. Hus-serls Beispiel ist die Abstraktion der Gegenstandskonstruktion durchdie Einfhrung ablsbarer Rechenverfahren in die Geometrie. Schonin seinem ersten Aufsatz zur Technik hatte Blumenberg in der Des-cartes gewidmeten Paraphrase im Geiste Husserls herausgestellt: DieTechnik kann nur deshalb angewandte Wissenschaft sein, weil schondiese Wissenschaft aus einem technischen Seinsverstndnis undWahrheitsbegriff entspringt,7 und deutlicher: Technik ist also nichterst ein Derivat der Wissenschaft, sondern sie ist Aktualisierung einesWesensmomentes der wissenschaftlichen Wahrheit selbst.8 Drei Jah-re spter heit es ausfhrlicher: Formalisierung als Ideal der Reduk-tion. Geometrie ! Arithmetik ! Algebra ! formale Logik[.] Wasman formalisieren kann, kann man mechanisieren; was man mechani-sieren kann, kann man automatisieren. Die Technik schlummert ind[er] Theorie.9 Und im spteren, ausdrcklich Husserl gewidmetenAufsatz fasst er dann, weiterhin in Abgrenzung gegen eine Theorie,welche Technik als Modus der Anwendung wissenschaftlicher Er-kenntnisse und insofern als abknftig vorstellt, diese Einsicht in diemarkante Formulierung, da die Technisierung ein Vorgang ist, dersich an dem theoretischen Substrat selbst abspielt.10 Diese Insistenzauf der Gleichursprnglichkeit vonWissenschaft und Technik, die frei-lich nicht im Widerspruch stehen muss zu der Einsicht, dass die derartim theoretischen Prozess entspringende Technik sich im Zuge ihrerEntwicklung gegen die Wissenschaft verselbstndigen kann, enthlteinen Beitrag zu einer Theorie der Technik. Die Relevanz der berle-gungen fr den Begriff der Technik liegt in der dabei gewonnenen Auf-fassung von Technisierung als Funktionalisierung der Abstraktion

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    7 Blumenberg, Technik und Wahrheit (wie Anm. 1), S. 116.8 Ebd., S. 117.9 Hans Blumenberg, Ms. Automation Juni 56, aus dem Marbacher Nachlass (wieAnm. 3).10 Blumenberg, Lebenswelt und Technisierung (wie Anm. 1), S. 31.

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    durch Formalisierung: Verselbstndigung des Verfahrens zur Methode,die ihren Ursprungskontext nicht mehr mit reflektiert.

    Fr Husserl liegt darin eine Einbue an Redlichkeit in derWissen-schaft; ihr will er das philosophische Verfahren der Phnomenologie alszurckholende Reflexion auf die Erkenntnisursprnge entgegenset-zen.11 Bemerkenswert ist da Blumenbergs Einspruch: Er stimmt Hus-serl zwar ausdrcklich zu in der Auffassung, dass Technisierung eineim Schoe des theoretischen Gesamtprozesses entspringende Trans-formation sei; deren generelle Einschtzung als Unredlichkeit odergar als Abweg in der Selbstverwirklichung der Bewutseinsintentio-nalitt dagegen weist er ebenso ausdrcklich zurck12 mit dem anHusserls Bewusstseinsanalyse geschulten Argument, der menschlicheIntellekt sei auf der untersten elementaren Stufe seiner Leistungen[] stets schon in derjenigen Formalisierung begriffen,13 die alsdie handlichste, dienstbarste Art [der] Funktionalisierung des einmalGeleisteten [] auch potentiell schon Technisierung sei.14 Dermenschliche Intellekt hat nach Blumenberg in der Gegenstandsbil-dung, przise: in der phnomenologisch beschriebenen regelmigenErgnzung von Leerstellen bei der Gegenstandskonstitution, eine ge-nuine Tendenz zu derjenigen Technisierung, die Husserl als Verselb-stndigung der Methode in der Wissenschaft beschreibt, so dass derenEinschtzung als pathologisch ihren elementaren Status verfehlte. In-sofern Technisierung qua Methode als Element der Konstitution vonGegenstndlichkeit begriffen werden muss, kann sie mit Blumenberggerade nicht als pathologisches Phnomen, ja: sie kann nicht einmalals vermeidbar beurteilt werden.

    Bei der Analyse, dass die Technisierung sich an dem theoreti-schen Substrat selbst abspiele, macht Blumenberg in Lebensweltund Technisierung somit keineswegs Halt. In konsequenter Fortfh-rung seiner zunchst auf Wissenschaft als prototechnische Konstrukti-

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    11 Schon die zitierte Reflexion auf Formalisierung als Ideal der Reduktion lsst denKontext der Auseinandersetzung mit diesem Programm Husserls erkennen, denn vierZeilen spter heit es Husserl: Verstand Vernunft. Aufgabe d[er] Philosophie: denVerstand zur Vernunft zu bringen. Wir sollen wissen, was wir tun. (Ms. AutomationJuni 56 [wie Anm. 3]); siehe dazu die ausfhrliche berlegung in Blumenberg, Lebens-welt und Technisierung (wie Anm. 1), S. 34 f.12 Ebd., S. 40.13 Ebd., S. 43.14 Ebd., S. 41.

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    on des Gegenstandes bezogenen Einschtzung besteht die phnomeno-logische Auslegung der Technik, die er in Husserls Krisis-Abhandlungangelegt sieht, nicht in der eingehenden Analyse technischer Leistun-gen und Phnomene, sondern in der Rckfhrung von Technik aufTechnisierung als einer aus der Intentionalitt des Bewusstseins ent-springenden Tendenz: Technik als Formalisierung stellt sich ihm alseine apriorische Tendenz schon des Bewusstseinsvollzuges dar. Im Aus-gang von Husserls Begriff der Technisierung geht er damit erkennbarber Husserl hinaus, indem er in Anspielung auf die Bewusstseinsana-lyse dessen Diagnose eines Sndenfalls der Wissenschaft in der Tech-nisierung bestreitet und Technik als Technisierung im Argument ihrerUnumgnglichkeit rehabilitiert.

    Aus dieser Argumentation ist eine dreifache Konsequenz zu zie-hen: Erstens ergibt sich die die bliche anthropologische Methodenoch fundierende bewusstseinstheoretische These: Der Mensch istvon Grund auf ein technisches Wesen. Zweitens folgt daraus, dass eszur Technik keine Alternative gibt: Nicht erst bestimmte wissenschaft-liche Entscheidungen, zu denen man sich auch (wenngleich mit einigerMhe) vorstellen knnte, dass bei bewusster Reflexion an ihrer Stelleandere Operationen htten vollzogen werden knnen, sondern bereitsder Bewusstseinsvollzug als solcher bringt die Technisierung auf denWeg. Drittens erfhrt die Bestreitung der Anwendungsthese (Technikentsteht in der Anwendung von wissenschaftlichen Erkenntnissen) imVergleich mit Husserls Analyse eine radikale Verschrfung: Nicht erstim theoretischen Prozess der Wissenschaft, schon im Bewusstseins-vollzug ist Technisierung angelegt.

    2. Die Technik und die Techniken Zur Entgrenzung des Technikbegriffs

    Die Auseinandersetzung mit der Technisierungsthese der Husserl-schen Krisis-Abhandlung bildet den systematischen Ausgangspunkteines entgrenzten und vielfltig diversifizierten Begriffs von Technik,seiner Anwendung auf alle mglichen methodisch betriebenen instru-mentellen Veranstaltungen des Menschen im Interesse seiner Daseins-bewltigung und Selbststeigerung, fr die es schon in BlumenbergsArbeiten eine Flle von Beispielen gibt (1); und damit zu einem offe-nen, nicht von vornherein durch moralische Vorgaben bornierten Blick

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    auf Wesen und Effekte der Technik (2). Ganz im Gegensatz zumMain-stream moralisierender Technikkritik wird sich umgekehrt sogar zei-gen, dass nach Blumenbergs Einschtzung der technische Fortschritt zueiner Verfeinerung moralischer Standards fhren kann; der unvorein-genommene Blick vermag den technischen Fortschritt als Bedingungder Mglichkeit verschrften moralischen Problembewusstseins zu er-kennen.15

    Ad (1) Blumenbergs Kritik hat auch eine historische Dimensionvon vermutlich geschichtsphilosophischer Relevanz. Wo er HusserlsAnalyse der neuzeitlichen Ablsung der rechnerischen Methode vonden geometrischen Figuren durch den Hinweis konterkariert, dass be-reits die von Platon kritisierte sophistische Rhetorik wie auch seine denSophisten kritisch entgegengesetzte Dialektik solche Methodenabs-traktionen darstellten,16 da weist er in der Sache darauf hin, dass dieTechnisierung als Verselbstndigung von Methode nicht erst in derNeuzeit, sondern bereits in der klassischen Antike in die Welt gekom-men ist. Die Beispiele Rhetorik und Dialektik sind zunchst auf derWissenschaft vergleichbare komplexe intellektuelle Leistungen bezo-gen. Zugleich lassen sie mit einem Schlage die Extension des abstrak-tenMethodenbegriffs von Technik erkennen: Der Begriff ist freigesetztfr eine unabsehbare Bandbreite konkreter Anwendungen. Wo derartdie Rhetorik als eine verbale Technik der manipulativen Meinungs-mache zu begreifen ist, die Dialektik als Technik der diskursivenWahr-heitsfindung, da darf extrapoliert werden: Mit gleicher Berechtigungwre die Logik als Technik der regelkonformen Gedankenfgung zufassen, mit Sicherheit darf (um ein auf Blumenberg abgezwecktes Bei-spiel zu nehmen) die Metaphorik als Technik der Steigerung von Auf-merksamkeit und der expressiven Veranschaulichung von Gedankenbegriffen werden17 und die Kritik als Technik der konstruktiven Kor-rektur.

    Ausgehend von diesem entgrenzten Begriff wird aber berhaupterst die Anwendung des Technikbegriffes auf alle mglichen metho-dischen Veranstaltungen im Interesse menschlicher Daseinsbewlti-

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    15 Siehe Abschnitt 7.16 Dazu passt auch die Variante, dass ihm die durch reines Machtstreben bestimmtenSophisten Techniker d[er] Politik sind (Ms. Einfhrung in die Ethik [wie Anm. 3],S. 4).17 Siehe Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Bonn: Bouvier 1960.

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    gung und Selbststeigerung einsichtig, fr die der Sprachgebrauch 1001signifikante Beispiele enthlt. Nicht allein die penetrante Beliebtheiterkalteter Metaphern wie Workshop und tool bzw. tool set legtberedtes Zeugnis ab fr ein technisches Selbstverstndnis auch in Ar-beitszusammenhngen, die weniger durch handfesten Werkzeug-gebrauch als durch diskursive Intellektualitt geprgt sind. Sie knnendarber hinaus den Blick auf jenen rein strukturellen Begriff von Tech-nik lenken, der von der Bindung an Werkzeug, Maschine und tech-nologischem Groaggregat losgelst, sondern vielmehr verfahrens-pragmatisch und prozessorientiert ist den Begriff einer Technik, diegleichermaen therisch wie verleiblicht zu denken ist. Wir knnenHflichkeit und Diplomatie als Techniken der Lebenskunst begreifen,Komplimente als Technik der Beziehungspflege, Ironie als Technik er-kenntnisfrdernder Verfremdung und Polemik als agonale Techniksachlichen Prgnanzgewinns. Wir kennen Konzentrationstechnik alsInbegriff der Verfahren, die es einem ermglichen, aufmerksam beider Sache zu bleiben, Mnemotechnik als Inbegriff der Verfahren, wieman sich etwas merken und es bei Bedarf erinnern kann; Didaktik alsdie komplementre Technik, Lernenden das Lernen zu erleichtern undes gnstigen Falls in ihre eigene reflexive Verfgung zu bringen. Erstrecht wissen wir, was gemeint ist, wenn davon die Rede ist, dass einDirigent, ein Snger, eine Dressurreiterin oder ein Fuballspieler anihrer Technik arbeiten. Und vollends gelufig ist die Rede von Atem-technik wie von autogenem Training als Techniken der Selbstberuhi-gung.

    In diesen wie in vielen hnlichen Prgungen ist etwas anderesbezeichnet, als was der alltgliche Sprachgebrauch berwiegend unterdem Ausdruck Technik fasst. Nicht aber ist ein anderer Begriff derTechnik gemeint. Was haben die hochtechnologischen Gerte, Aggre-gate, Systeme von der Kitchen Aid ber das Notebook bis zum Produk-tionsroboter und zum Kernkraftreaktor mit den Werkzeugen hand-werklicher Arbeit und was haben sie mit den technischen Mittelnder suggestiven Sprache, des folgerechten Denkens, mit den sport-lichen oder therapeutischen Techniken der Selbstdisziplinierung ge-meinsam? Die Technik, die wir in allen diesen Fllen meinen, ist dieinstrumentelle Effektivierung und Organisation zur Realisierung vonHandlungszielen und damit zur Bewltigung der Probleme, auf die dasHandeln stets bezogen ist. Es sind die methodisch organisierten undspezialisierten Verfahren der Problembewltigung durch artifizielle

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    Arrangements in einem jeweiligen Arbeitsbereich, was im einen wieim anderen Fall als Technik bezeichnet wird. Sie verdinglichen sichzum einen in handgreiflichen Hilfsmitteln, d.h. in Werkzeugen, In-strumenten und Apparaten, zum anderen aber in dauerhaften Prakti-ken und dem ihnen korrespondierenden Habitus. Verdinglichung undHabitualisierung bezeichnen die Dimensionen der instrumentellenVerobjektivierung, die derart im Begriff der Technik gefasst ist, undauf beide trifft das Husserl-Blumenbergsche Merkmal der Funktiona-lisierung durch Formalisierung zu das Merkmal der Verselbstndi-gung der Methode.

    Es ist im Grunde erst dieser Begriff von Technik, der die Einsichtin deren Unhintergehbarkeit vermittelt einer Unhintergehbarkeit,die nicht in irgendeinem Sndenfall beim bergang vom WerkzeugzurMaschine oder von der Mechanisierung zur elektronischen Vernet-zung begrndet ist, die vielmehr in etwas liegt, das man als mensch-liche Natur ansprechen darf. Durch seine phnomenologische Interpre-tation von Technik als Technisierung verschafft Blumenberg seinemvon Anfang vertretenen, in der Beschreibung des Menschen ratifizier-ten anthropologischen Konzept von Technik eine belastbare bewusst-seinstheoretische Grundlegung. Schon 1953 hatte es geheien:

    Der Mensch ist ein technisches Wesen; die technische Realitt ist das qui-valent eines Mangels seiner natrlichen Ausstattung. Die moderne Technikist daher nicht eine einzigartige Erscheinung der menschlichen Geschichte,sondern nur das ins Bewutsein gerckte, willentlich ergriffene Durchvoll-ziehen einer im Wesen des Menschen verwurzelten Notwendigkeit.18

    Und es sieht nur so aus, als nhme Blumenberg im nchsten Atemzugediese in eigener Person behauptete These wieder zurck, indem erihren anthropologischen Ansatz vor dem Phnomen der Technik alsunzureichend empfindet. Denn das Phnomen der Technik gemeintist deren augenscheinliche Verselbstndigung zu einer Eigendynamik,die sich in ihren Sachzwngen ber den Menschen hinwegzusetzendroht hat fr Blumenberg keineswegs das letzte Wort; er begreift esseinerseits wiederum als der Reflexion ebenso zugnglich wie bedrf-tig. Blumenberg denkt nicht daran, im Begriff einer Technik als Ge-schick vor dem Fetisch Technik zu kapitulieren.

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    18 Blumenberg, Natur und Technik (wie Anm. 1), S. 461.

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    Die Rede von der Autonomie und Dmonie der Technik, von ihrer unent-rinnbaren Perfektion, bereitet vor und rechtfertigt die unmittelbar drohendeKapitulation vor einer vermeintlichen Notwendigkeit. Sie verfestigt das re-signierte Gengen an der Aporie [] und schneidet den eigentlich philoso-phischen Weg ab, der von der Aporie zur Problemstellung fhrt.19

    Zur Erluterung ist hier nur zu ergnzen, dass nach Blumenbergs Ver-stndnis eine Problemstellung stets den Anspruch auf Lsung impli-ziert. Weit entfernt also davon, den anthropologischen Ansatz zu ver-abschieden, qualifiziert ihn Blumenberg in solchen berlegungen alsdurchlssig fr die kritische Reflexion.

    Ebenso grundlegend, wenn auch nicht lnger epistemologisch,sondern existentiell-pragmatisch, wird er spter in der Beschreibungdes Menschen seinen anthropologischen Ansatz bekrftigen, indem erdie Technik im von Paul Alsberg20 adoptierten Theorem der Krper-ausschaltung durch actio per distans als Element der Konstitutiondes Menschen begreift. Blumenbergs bewusstseinsphilosophisch undanthropologisch dimensionierte Theorie der Technik enthlt so einefundamentale Rehabilitierung der instrumentellen Vernunft.21

    3. Das Problem der Technik

    So sehr es einleuchten mag, mit Blumenberg die Technisierung als einetranszendentale Bedingung der Mglichkeit von Gegenstndlichkeitund auf dieser bewusstseinstheoretischen Grundlage die Technik alsanthropologisches Radikal zu begreifen, so nahe liegend daraufhin derSchritt von der Entgrenzung des Technikkonzepts zu einem Begriff vonKultur als eines Systems vernetzter Techniken ist so gro drfte derWiderstand gegen die daraus abzuleitende Konsequenz einer Suspen-sion pauschaler Moralisierung des technischen Fortschritts sein. Weni-

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    19 Ebd.20 Paul Alsberg, Das Menschheitsrtsel. Versuch einer prinzipiellen Lsung, Dresden:Sibyllen-Verlag 1922.21 Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen. Aus dem Nachla herausgegebenvon Manfred Sommer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006; siehe dazu Birgit Recki,Auch eine Rehabilitierung der instrumentellen Vernunft: Hans Blumenberg ber Tech-nik und die kulturelle Natur des Menschen, in: Michael Moxter (Hg.), Erinnerung andas Humane. Beitrge zur phnomenologischen Anthropologie Hans Blumenbergs,Tbingen: Mohr Siebeck 2011, S. 3961.

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    ges ist dem von den Furien der Beschleunigung gehetzten Zeitgenossender Moderne so sehr ans Herz gewachsen wie die Kritik an der destruk-tiven Verselbstndigung technischer Rationalitt zum Sachzwang ei-gendynamischer Effektivierungslogik. Blumenberg hat sich auch die-ser Selbstverstndlichkeit im Selbstverstndnis der Epoche mitbewhrtem Eigensinn angenommen:

    Wir mssen doch nicht alles machen, was wir knnen. Nein, wirmssen es nicht. Aber? Aber wir werden es machen. Und weshalb? Weil wir nicht ertragen, wenn der kleinste Zweifel bleibt, ob wir es

    wirklich knnen.22

    So reflektiert Hans Blumenberg auf das Problem der Technik: die He-rausforderung durchMachbarkeit. Die Bezeichnung des kleinen Textesals Soliloquium mag zwar prezis anmuten. Fr die Frage nach dersachlichen Position, die hier bezogen wird, ist sie jedoch hchst bedeut-sam, da sie eine Identifikation des Autorsubjekts mit beiden, mindes-tens aber dessen Verstndnis fr beide diskursiv ins Verhltnis gesetzteSeiten der Reflexion anzeigt. Die Frage danach, welche von den hier insGesprch gebrachten Instanzen wohl nach der Anlage des Textes Rechthaben solle, erbrigt sich: Zweifelsreserve (Wir mssen doch nicht)und Begrndung fr die Unweigerlichkeit, mit der gleichwohl dasMachbare gemacht werden wird, gehren als die Reflexionsperspekti-ven integral zu der Einstellung des Wir, die damit umschrieben ist; esist somit das kollektive Wir der Menschheit, das in dieser arbeitstei-ligen Gegenberstellung der Standpunkte eines im Selbstgesprch be-griffenen Sprechers virtuell vollstndig reprsentiert ist. Die These, diein dieser reflektierten Position enthalten ist, ist just die anthropologi-sche, die Blumenberg von Anfang an vertritt und in seiner Beschrei-bung des Menschen auch narrativ prgnant machen wird: DerMensch ist das auf Technik beruhende Wesen. Zu den Techniken, diedieser Inbegriff einschliet, gehrt demnach auch die Kritik, die sichjederzeit reflexiv, dabei aber stets von innen her auf die eigene tech-nische Verfassung beziehen lsst.

    Es mag daraufhin so aussehen, als erbrigte sich fr Blumenberg

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    22 Hans Blumenberg, Alles ber Futurologie. Ein Soliloquium, in: derselbe, Ein mgli-ches Selbstverstndnis. Aus dem Nachla, Stuttgart: Reclam 1997, S. 29.

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    eine moralische Bewertung der Technik in demMae, in dem ihre Mo-tive nur grndlich genug verstanden werden. Dem Programm des ein-dringlichen Verstehens jedenfalls ist es geschuldet, dass er eine Erkl-rung selbst fr denjenigen Aspekt der technologischen Perfektibilittzu geben beansprucht, der gewhnlich in seiner Hypertrophie als Feti-schisierung beargwhnt wird: Jene vielfach beklagte Verselbstndigungtechnischer Standards, zu der die Einbindung der Technik in die Kulturfhrt, die unter anderem sie mglich gemacht hat, ist nur auf den ers-ten Blick eine bloe geistlose Eigendynamik. Blumenberg gibt sich an-gesichts des technischen Fortschritts nicht zufrieden mit der Anwen-dung der stoischen Alternative, ans Rad des Schicksals gebunden knneder Mensch nur whlen, ob er mitlaufen wolle oder sich mitschleifenlasse. Was als Mangel der Technik erscheint, erweist sich als ein Man-gel an Technik.23 Dieser programmatische Bescheid in den Notizenvon 1956 enthlt in nuce Blumenbergs Einspruch gegen die These vonder Verselbstndigung der Technik. Ausdrcklich spricht er vomSchein der Versklavung durch die Technik24 und setzt systematischdarauf, den Verfgungsanspruch desMenschen ber seine Verhltnissenicht voreilig preiszugeben, ihn vielmehr auch selbstreflexiv auf denEigen-Sinn der eigenen Produkte konsequent zur Geltung zu bringen.

    Den nmlichen Geist atmet auch die scharfsinnige Diagnose jenervermeintlichen Eigendynamik, in der er geltend macht, dass technischeRekorde zu reprsentativen Surrogaten werden fr die Herausforde-rung durch eine Hrte des Daseins, von der die Kultur den Menschenentlastet hat. In wenigen Strichen macht er hier sichtbar, wie die vielenZeitgenossen vorschwebende Irrationalitt des Fortschritts als Rationa-litt der Selbstherausforderung und des Leistungstrainings zu deutenwre:

    Es ist Unfug zu glauben, der Mensch htte den technisch mglich geworde-nen Flug zum Mond genauso gut unterlassen knnen; genauso wie es Unfugist zu meinen, er wrde jemals auf einen der erreichbaren sportlichen Rekor-de verzichten, welches auch immer der Preis dafr sein wrde. Der Menschmacht vom Prinzip der Distanz auch sich selbst gegenber Gebrauch, indemer seine Belastbarkeit experimentell objektiviert.25

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    23 Ms. Automation 1956 (wie Anm. 3), S. 5; die hier kursiv gegebenen Wrter sind imhandgeschriebenen Original unterstrichen.24 Ebd.25 Blumenberg, Beschreibung des Menschen (wie Anm. 21), S. 591.

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    In Lebenswelt und Technisierung ist Blumenberg bemht, die Kon-sequenz einer Dmonisierung der Technik von Husserls Intentionenauszuschlieen. Was an Reflexionen wie der hier zitierten deutlichwird, ist die Tatsache, dass von Anfang an ihm selber eine solche D-monisierung fern liegt. Hinzuzufgen ist hier nur die Explikation desSelbstverstndlichen, das in solchen Bestimmungen vorausgesetzt ist:Eine kultivierte Menschheit muss es im Projekt der Entlastung weitgebracht haben, um sich solche Surrogate der Belastung leisten zuknnen. Die Kultur macht beides mglich.

    Doch das ist nicht alles. Blumenbergs eigenwillige Deutung istsystematisch dazu angetan, den eigentlichen Fetisch der Technik zuentzaubern, der gerade in der These von ihrer schicksalhaften Verselb-stndigung wirkt. Die perhorreszierte Eigendynamik der Technik wirdhier transparent im Blick auf das im Selbstverhltnis der vermeintlichenteigneten Subjekte liegende Motiv des technischen Fortschritts. Esliegt in der Sachlichkeit der Ansprche an die eigene Leistung: Wo eineSteigerung mglich ist, da wird sie im Interesse am Standing in derSache und dem mit ihm verbundenen objektiven Anspruch per se alsHerausforderung akzeptiert.

    Ist es einer Einsicht wie dieser geschuldet, dass Blumenberg dermoralischen Problematisierung der Technik vergleichsweise wenig Be-achtung schenkt? Wohl weist er in seinem Aufsatz ber Technik undWahrheit mit Rekurs auf Kant auf die Differenz und damit auf diemgliche Diskrepanz zwischen technischer und moralischer Rationa-litt hin:

    Kant hat seinen Begriff der praktischen Vernunft, der sich auf das Prinzip derFreiheit grndet, sorgfltig abgegrenzt gegen den Begriff einer nur tech-nischen Vernunft, die auf dem Prinzip der Kausalitt als Einsicht in Zweck-Mittel-Zusammenhnge beruht. Aber gerade diese Unterscheidung zwischendem kategorischen Imperativ der praktischen Vernunft und dem hypo-thetischen Imperativ der technischen Vernunft ist durch das 19. Jahrhundertum ihre Wirkung gebracht worden.26

    Doch es wird nicht deutlich, ob er darin einen Verlust oder im Gegen-teil sogar einen Gewinn sieht. Das mgliche Problem ist jedenfallsohne jeden Nachdruck exponiert; Blumenberg legt hier offensichtlichkeinen Wert darauf, das moralische Problem der technischen Machbar-keit zu dramatisieren oder auch nur stark zur Geltung zu bringen, und

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    26 Blumenberg, Technik und Wahrheit (wie Anm. 1), S. 118.

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    er wird auf das damit markierte Spannungsverhltnis spter nicht wie-der zurckkommen. Er selbst spricht im nmlichen Zusammenhang, indem er die Kantische Unterscheidung von praktischer und technischerVernunft vindiziert, ausdrcklich von einer technischen Bestimmungder Freiheit:

    Die technische Bestimmung der Freiheit erschpft sich nicht darin, den Men-schen als ein Wesen zu begreifen, das technische Gebilde hervorbringt, son-dern als ein Wesen, das sich selbst technisch verwirklicht, dessen Wahrheitim Grunde technisch ist. [] Der Mensch verdankt sich wesentlich sichselbst, er ist autotechnisch ; er hat nicht nur Arbeit, er ist auch Arbeit.27

    Mit seiner offenkundigen Absicht, auch die technische Vernunft demPrinzip der Freiheit zuzuordnen, knnte sich Blumenberg systematischauf Kants gleichermaen naturteleologische und kulturphilosophischeErweiterung des Freiheitskonzepts in der dritten Kritik sttzen.28

    4. Atommoral Blumenbergs exemplarischeEthik der Autonomie

    Ein Grund fr den spteren Verzicht auf systematische Wiederaufnah-me des ethischen Problems drfte gerade darin zu sehen sein, dass erdas Problem zum Zeitpunkt seiner auffllig gelassenen Exposition be-reits durchdacht und zu einer gltigen Konsequenz gebracht hatte.Denn Blumenberg hat sich der moralischen Beurteilung des tech-nischen Fortschritts gestellt. Schon frh uert er sich dazu und skiz-ziert am extremen Fall der nuklearen Kriegsfhrung im Umriss seineethische Position.

    Fr Blumenberg ist es die apokalyptische Urauffhrung des

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    Birgit Recki

    27 Ebd., S. 119.28 Die teleologische Reflexion auf eine zweckmige Natur durch die spekulative An-nahme eines Zwecke setzenden Willens (und damit eines Freiheitspotentials) in derNatur fhrt in der dritten Kritik zu einer naturalistischen Erweiterung des Freiheits-konzepts. Im Zuge des gleichen Gedankens, in dem Kant konsequent von einer Technikder Natur in ihren Produkten spricht (Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft [1790],Akademie-Ausgabe Bd. V, S. 246), nimmt er zugleich mit der ethischen Zuspitzung desFreiheitsbegriffs auf moralische Autonomie eine kulturphilosophische Erweiterung vor(83). Siehe dazu meinen Beitrag: Die Realitt der Freiheit, in: Gunnar Hindrichs,Axel Honneth (Hgg.), Freiheit. Stuttgarter Hegel-Kongress 2011, Band 1: Geist undGeschichte, Frankfurt am Main: Klostermann 2013, S. 241257.

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    Atomkrieges ber Hiroshima im Hochsommer 1945, die sowohl andas Wirklichkeitsverstndnis wie an die Moralphilosophie mit einerungeahnten Herausforderung herantritt. Desiderat wre eine Atom-moral, fr die er in diesem Text den philosophischen Rahmen abste-cken will.29

    An der Bestimmung der Moralphilosophie, die er in diesem Zu-sammenhang trifft, fllt vor allem auf, dass er keinen methodischenSubjektivismus der moralischen Werte und Normen vertritt, sonderneinen dialektischen Ansatz: Gegenstand der Moralphilosophie ist derMensch in seiner handelnden Auseinandersetzung mit der Wirklich-keit der Welt; ihr Ziel ist die Gewinnung der Normen und Richtwertedieses Handelns von der Struktur der Wirklichkeit her. Das richtigeHandeln, so knpft er hier in Heideggerscher Manier einen semanti-schen Knoten, ist das an dieser Wirklichkeit gerichtete, das aus unver-stellter und unverflschter Einsicht in die Sachverhalte bestimmteHandeln.30 Betont wird so Problemorientierung und mit ihr die Sach-haltigkeit der Moral. Das Sachproblem der Energiegewinnung durchAtomspaltung errtert Blumenberg sodann unter der Metapher derphysikalischen Unterwelt31 , die sich bei den Vorgngen im Atom-inneren in widerspenstiger Weise geltend mache. Es geht mit anderenWorten um das Problem der Verselbstndigung von Technik gegen denVerfgungsanspruch ihrer menschlichen Urheber, um eine Auto-nomie der technischen Gebilde. Ursprnglich ist das technische Pro-dukt, so fhrt er aus, im weitesten Sinne Werkzeug seiner [des Men-schen] Hand. Doch im Zuge einer wachsenden Differenzierung undAufspaltung der Planungs- und Fertigungsprozesse, bei der die volleEinsicht in und der volle Zugriff auf den gesamten Zusammenhangverloren geht, tritt es aus dem Dienstverhltnis heraus und stellt um-gekehrt den Menschen als Techniker, Unternehmer und Arbeiter inseinen Dienst; ja, es diktiert der ganzen menschlichen Gesellschaft Be-drfnisse und Zwecke auf, die ganz und gar nicht mehr vorgegebensind. Hier nun liegen die tieferen Grnde fr die Rede von der Dmo-nie der Technik32 , die sich fr Blumenberg in der Kernspaltung mitihrem unaufhebbarenWiderstand gegen Objektivierung und Form33

    Hans Blumenberg beobachtet A 77

    Technik und Moral bei Hans Blumenberg

    29 Hans Blumenberg, Ts. Atommoral (wie Anm. 3), S. 1.30 Ebd., S. 2.31 Ebd., S. 3.32 Ebd., S. 4.33 Ebd., S. 3.

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    sachhaltig exemplifiziert und die wir indes nicht ohne weiteres mit-machen wollen. Denn erst indem sich das technische Gebilde der Lei-denschaft und Verfhrbarkeit des Menschen anbietet, gewinnt es soetwas wie Dmonie aber es ist die Dmonie seines Erzeugers34 .

    Schon hier also vollzieht Blumenberg auf engstem Raum die kri-tische Kehrtwende, die in seiner ersten technikphilosophischen Publi-kation auffllt: Die Rede von der Autonomie und Dmonie der Tech-nik leiste der Kapitulation vor einer vermeintlichen NotwendigkeitVorschub.35 Fr ihn ist die Dmonie der Technik keine ausgemachteSache, sondern im Sinne ihrer Zurckfhrung auf die Dmonie ihresErzeugers eine Metapher fr eine Problemstellung mit offenem Aus-gang. So spricht er im Folgenden von einer Zweideutigkeit, einer Un-sicherheit. Zwar ergeht an die Moralphilosophie die Anforderung, esin neuer Weise und Tragweite mit dem Sinn von Verantwortung auf-zunehmen36 , doch scheint es ihm zumindest nicht von vornhereinausgeschlossen, dass dies auch gelingen kann.

    Paradoxerweise ist es gerade die in der Atomspaltung sich zeigen-de Autonomie der technischen Gebilde, die als Vergleichsmastabfr die Potenzierung einer ambivalenten menschlichen Macht die Ideeder Omnipotentia nahelegt. Whrend bei Gott diese Allmacht unab-trennbar und aus innerer Notwendigkeit verbunden sei mit Weisheitund Gte, wre diese Verbindung beim Menschen zufllig und lose.Blumenberg ahndet geradezu eine Entsprechung von Creatio ex nihi-lo auf der Seite Gottes und Destructio in nihilum auf der Seite desMenschen [e]s sei denn, da dem allgemeinen Fortschritt auch eineethische Perfektion gleichlaufen oder folgen knnte. Die entscheiden-de Frage lautet daraufhin: In welchem Verhltnis steht das Ma u-erer Macht zu der Aussicht humanistischer und moralischer Fak-toren, ihren Gebrauch wirksam zu beeinflussen? Die Antwort kannnicht zweifelhaft sein.37

    Sicher aber kann sie auch nicht sein, diese Antwort, denn Blumen-berg gibt sie nur auf indirekteWeise, indem er das Problembewusstseinder moralischen Diskrepanz an die einschlgige Instanz der besagtenhumanistischen und moralischen Faktoren verweist an die Kultur

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    Birgit Recki

    34 Ebd., S. 4.35 Blumenberg, Natur und Technik (wie Anm. 1), S. 461.36 Blumenberg, Ts. Atommoral (wie Anm. 3), S. 3.37 Ebd., S. 5.

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    als einen Inbegriff des weltbezogenen Handelns von und in mensch-lichen Gemeinschaften. Der ihr inhrente Anspruch auf sinnvollesHandeln steht unter dem Paradigma derjenigen Herrschaft, die indem Gottesauftrag der Genesis macht euch die Erde untertan undherrschet! ihre volle Prgnanz gefunden hat. Es ist ein positiver Be-griff von Herrschaft, den Blumenberg hier als die Vollzugsform allerKultur gibt:

    Herrschaft weiterhin gilt hier als etwas anderes als ein Niederhalten, Unter-drcken, Ausschalten, Nicht-zur-Geltung-kommen lassen; Herrschaft voll-zieht sich vomMenschen her in der geistigen Durchdringung und Erhellung,in der Einsichtnahme in die Grnde und Bedingungen, aber auch in derknstlerischen Entdeckung der Symbolgehalte der Weltwirklichkeit.38

    Woher auch immer dieser Herrschaftsbegriff inspiriert ist er kongru-iert erkennbar mit dem Begriff der Vernunft. Seine Pointe hat er darin,dass sein Gebiet, die Natur, nicht allein die uere Welt, sondern auchdie menschliche Natur umfasse. Blumenberg spricht von der aus demKulturbegriff als normativ entwickelte[n] Gestalt von Naturbeherr-schung. Und er fragt sich, ob diese normativ verstandene Herrschaftim Bereich der Atomtechnik berhaupt zu verwirklichen sei. Jedenfallstut in der Krise der ethischen Kraft der Menschheit, die durch dieberfhrung der elementaren Energie in die technische Realitt in-diziert ist, die Aufstellung eines umfassenden normativen Horizontsnot.39

    Blumenberg lsst keinen Zweifel daran, dass er mit der Grund-legung der postulierten Normativitt im Kulturbegriff transzendenteBezge der erst noch zu leistenden Moral gerade ausschlieen will. Ersetzt fr die Bewltigung dermenschlichen Probleme einer Neubestim-mung der Verantwortung im technischen Zeitalter ausschlielich aufdie Zustndigkeit des Menschen. Die Alternative einer theologischenBesinnung auf die Moral der Atomtechnik bleibt hypothetisch: Nurwenn es nicht gelingt, dem Humanen in der (umfnglich auch die eige-ne verfhrbare Triebnatur umfassenden)Naturbeherrschung seine nor-mative Geltung neu zu gewinnen, sieht sich die Menschheit zur ber-schreitung der Grenze, das heit zur Preisgabe ihrer Freiheit in der

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    Technik und Moral bei Hans Blumenberg

    38 Ebd., S. 7.39 Ebd., S. 8.

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    Unterwerfung unter ein gttliches Gebot, einen absoluten Anspruchund ein verheienes Gericht gentigt.40

    Es ist nichts anderes als die Forderung nach einer radikalen Er-neuerung einer Ethik der Autonomie, in die Blumenbergs Auseinan-dersetzung mit der apokalyptischen Urauffhrung des Atomkriegesmndet.

    5. Grundlegung zu einer Ethik der Autonomie.Eine Skizze

    Durchweg hat sich Blumenberg zurckhaltend, ja: abstinent gezeigt inder Positionierung der philosophischen Ethik. Eine Monographie zurFrage der Lebensfhrung und der Moralitt sucht man in seinem rei-chen Werk vergebens, und auch von einer moralphilosophischenGrundlegung in monographischem Ausma ist im Werk Hans Blu-menbergs nichts bekannt. Gleichwohl lassen sich die membra disiectaeiner Ethik der Autonomie in seinen Schriften nicht als episodischePhnomene abtun. Auch wenn es sich dabei um einen kurzen Texthandelt, so ist doch davon auszugehen, dass der frhe Entwurf zu einerEinfhrung in die Ethik aus der Zeit von 1957/58 in dem Mae deneigenen Ansatz und die Position des Autors prsentiert, wie dies vonEinfhrungen in ein systematisches Gebiet seitens akademischer Leh-rer generell gilt.

    Vom Fehlen einer objektiven Norm des Menschen geht Blumen-berg in dieser Skizze aus. An die Stelle einer nicht lnger tragfhigentheologischen Bestimmung des Menschen als Gottes Ebenbild ist ausdem Kontext der modernenWissenschaften und des modernen Berufs-lebens mit seinem Funktions- und Rollenverstndnis keine angemes-sene Bestimmung des Menschen getreten. In dieser Situation ist dieEthik die philos[ophische] Lehre v[on] e[inem] verbindl[ichen] Men-schenbild. Sie soll Handlungen & Entscheidungen so formen helfen,dass sie von allen als gut anerkannt werden knnen.41 Um diesenVerbindlichkeitsanspruch zu qualifizieren, setzt Blumenberg beim Tu-gendbegriff an: Das Verstndnis von Tugend, an das er im Rekurs aufSokrates, Platon, Aristoteles, Cicero und Thomas erinnert, erflle den

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    Birgit Recki

    40 Ebd., S. 9.41 Hans Blumenberg, Ms. Einfhrung in die Ethik (wie Anm. 3), S. 2.

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    Anspruch auf ein reflektiertes Selbstverstndnis des Menschen, das inder Kritik an der Instrumentalisierung des Menschen durch bloe so-ziale und politische Techniken der Menschenfhrung (wie bei den So-phisten) und zugleich in der Selbstkritik gewonnen sei. Ethik ist dieLehre von den Maszstben der Selbstkritik, die uns zur Lebensformwerden soll.42

    Ausfhrlich dekliniert Blumenberg die Tugend(en) durch anhanddes Aristotelischen mesotes-Schemas sowie der Rechtslehre Thomasvon Aquins.43 Er errtert das (Miss-)Verhltnis von Rechtsnormenund ethischen Normen und markiert kritisch das Problem zunehmen-der Wichtigkeit des Staates. In einer Situation, die durch Risiko-flucht und Sicherungshypertrophie auf der einen Seite,44 durchGeltungstrieb, Geltungssucht aufgrund fehlender T.[ugend] d.[er]inneren Ordnung45 charakterisiert ist, betont er die Unverzichtbar-keit der Selbstbestimmung.

    Die Frage nach der aktuellen Bedeutung der Lehre v[on] d[er]Tugend, in die seine in anschaulichen Beobachtungen konkret zuge-spitzten Paraphrasen des gegenwrtigen gesellschaftlichen Lebens46

    schlielich mnden, beantwortet Blumenberg in zwei Schritten. Zumeinen ist es ihm wichtig, dass diese Lehre ein Gegengewicht schaffegegen den mit einer deterministischen Prsupposition einhergehendenCharakterbegriff der Psychologie. Unverkennbar macht sich hier imEinspruch gegen einen Determinismus die fr jedes ethische Denkenkonstitutive Insistenz auf Willensfreiheit geltend. Die zweite Antwortbringt es unmissverstndlich auf den grundstzlichen Begriff: DieTugendlehre begreift das Problem d[es] Menschen als das seiner in-neren Form. Menschliches Verhalten ist nicht Reaktionsverhalten.

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    Technik und Moral bei Hans Blumenberg

    42 Ebd., S. 3a.43 Im ausdrcklichen Rekurs auf Max Schelers Zur Rehabilitierung der Tugend (1915)heit es: T. ist der Begriff, die Norm die das menschl[iche] Leben des Alltags men-schenwrdig machen will die innere Form, die wir uns selbst geben. (Ms. Einfh-rung in die Ethik [wie Anm. 3], S. 9a).44 Blumenberg, Ms. Einfhrung in die Ethik (wie Anm. 3), S. 10.45 Ebd., S. 11; kursivierte Wrter sind im Original unterstrichen.46 Blumenberg verweist auf das Versagen von Vorgesetzten und auf das allgemeinePrestigedenken: Zeitalter d[er] Abzeichen : das Auto, die Besetzung d[es] Vorzim-mers. [Wieviel Fenster hat das Dienstzimmer e[ines] Staatssekretrs, e[ines] Ministeri-aldirektors etc.?] Hemmungsloser Konsum, ausgesetzt der Reklame, die unausgesetztden Prestigedrang anspricht. (Ebd., S. 11).

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    Die Ethik lehrt uns, selbst zu bestimmen, was wir sein wollen: Auto-nomie.47

    Das letzte Wort in dieser ethischen Skizze hat die Autonomie.Bemerkenswert daran ist die Selbstndigkeit des Zugriffs. Zwar istdem jungen Blumenberg die Kantische Konzeption gelufig: Kant:wir mssen so handeln, dass unser Grundsatz des Handelns fr jeder-mann zum Gesetz erhoben werden kann (Kategor.[ischer] Impera-tiv),48 und er versteht es, sie in wenigen Strichen als diejenige Formder Selbstkritik kenntlich zu machen, durch die sich der Handelnde zurglaubwrdigen Autoritt seines als Partner ernst genommenen so-zialen Gegenbers macht. Und doch entwickelt er die Frage nach denMastben der Selbstkritik, die den handelnden Menschen zur Selbst-bestimmung befhigen, er entwickelt den Begriff der Autonomie, aufden es ihm ankommt, nicht auf dem konventionell nahe liegendenWegeiner ausfhrlichen Darstellung der Kantischen Ethik der Autonomie,sondern auf dem Umweg ber eine Rehabilitierung des Tugend-begriffs. Darin liegt zugleich die unkonventionelle Behandlung des ge-whlten Kronzeugen Aristoteles. Als Kern seiner Tugendkonzeptionerkennt Blumenberg ganz anders als seine spteren Kollegen, die sichangewhnen sollten, die Rede von zwei Wegen in der Ethik auf dievermeintliche Alternative zwischen Aristoteles und Kant zu beziehen gerade den Gedanken der Selbstbestimmung. Ihm ist Aristoteles mitseiner auf abwgender Klugheit beruhenden Tugendorientierung we-der der in systematischer Alternative zu einem deontologischen Pro-gramm profilierte Eudmonist noch (jedenfalls nicht in erster Linie)der Stammvater aller situationsgerechten Realisten, und auch nichtder Traditionalist und Konventionalist der Sittlichkeit, sondern derDenker einer auf Freiheit beruhenden Autonomie.

    6. Die Strenge der moralischen Verantwortung

    Dass Blumenberg auch in seinem spteren Werk am ethischen Grund-gedanken der Autonomie festgehalten hat, lassen einige im Nachlasswie im verffentlichten Werk versprengte Reflexionen von groerPrgnanz und Eindringlichkeit erkennen, denen prima facie eines zu

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    Birgit Recki

    47 Ebd., S. 12.48 Ebd., S. 3.

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    entnehmen ist: Die im Essay ber Atommoral tragende Reflexionauf Kultur wre missverstanden, wenn man sie als Hinweis auf eindas handelnde Individuum entlastendes Gerst deuten wollte. Es istBlumenbergs Vorstellung von individueller Verantwortung, die dieserkennen lsst: Sie zeigt eine kaum steigerungsfhige Extension undStrenge. Das Schweigen zur Ethik, die gelegentliche Verweigerung so-gar von ethischer Position ist hier zumindest konterkariert durch ent-schiedene Positionierungen, denen die Anleitung zur Extrapolationunschwer zu entnehmen ist.

    Die Miniatur ber die Frage Ob man sagen darf: Ich habeAngst! gehrt in diese Rubrik.49 Sie dokumentiert ein ins Hypertro-phe gesteigertes Verantwortungsbewusstsein. In der ersten Personspricht der Autor hier, und mit Bezug auf die Titelfrage besteht erdarauf, da dies zu sagen unzulssig, ja unsittlich ist. Die Erlute-rung gibt er mit Rekurs auf die absolute Verlegenheit, in die manden Anderen durch diesen Sprechakt bringe, in welchem sich ein per-formativer Widerspruch artikuliere: Ich tue so, als erwartete ich vomAnderen eine angemessene Antwort, dabei kann es eine solche nichtgeben, so dass ich ihm mit meiner Frage gerade radikal das Wort ent-ziehe. Das ist es, was Blumenberg die absolute Verlegenheit nennt.Spiele nicht mit den Tiefen des Andern! Auf diesen Imperativ vonWittgenstein bezieht Blumenberg seine berlegung. Doch htte esebenso nahe gelegen, sie auf die Einsicht des Marc Aurel zu beziehen:Wenn man wissentlich Unmgliches verlangt, gibt es keinen gutenAusweg mehr. Nach dieser Einsicht jedenfalls ist Blumenbergs Refle-xion gemodelt. Die Voraussetzung, an der sie hngt: Dass alles, wasman sagt, im Modus vlliger Bewusstseinshelle der Selbstreflexion ge-sagt wre. Ist das realistisch? Ist es angemessen? Das kann man fragen.Festzuhalten ist: Hier spricht ein Rationalist, der offenbar das Sprechenzwischen Menschen allein nach dem Modell diskursiver Bezugnahmesich zu denken gewillt ist. Dass die angemessene Antwort des Andereneine affektiv-empathische Antwort sein knnte, die nicht argumenta-tive Entgegnung wre, fllt gnzlich aus dem Blick; vollends die Geste,die den Anderen der Anteilnahme und des Verstehens versichernknnte. Und mehr noch: Hier spricht ein Moralist einer der die Ver-antwortung ins Absolute steigert.

    In denselben Zusammenhang gehrt auch bereits die Reflexion

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    Technik und Moral bei Hans Blumenberg

    49 Blumenberg, Ein mgliches Selbstverstndnis (wie Anm. 22), S. 2126.

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    auf Rilkes Zeilen in der Ersten Duineser Elegie Wer, wenn ich schriee,hrte mich denn aus der Engel Ordnungen? Blumenberg legt hierWert auf die Feststellung, dass diese Konjunktivverschachtelungzwei Antworten zulasse: Gem der intuitiv selbstverstndlichen Vo-raussetzung der Kommunikabilitt menschlichen Ausdrucksverhaltenskann die Konsequenz aus der Annahme, nicht gehrt zu werden, wohlnur sein, dass man sich dann das Schreien auch sparen knne: Warumdann noch schreien? Doch Blumenberg kontert sogleich mit der kom-plementren Frage: Warum dann nicht schreien?50 Whrend die ers-te Position die existentielle Vergeblichkeit der Mhe des Ausdrucksver-haltens angesichts eines tauben kosmischen Auditoriums artikuliert,akzentuiert die zweite an derselben Annahme des Resonanzmangelsdie Unbedenklichkeit des eigenen hemmungslosen Tuns: Wo ich nichtgehrt werde, also auch niemand stre oder beunruhige, da darf ichmich ruhig gehen lassen und nach Herzenslust schreien. Und ber-haupt nur da darf ich mich gehen lassen so wre der Aussagesinn aufder Folie der zuvor zitierten Reflexion zu przisieren. Hier (in der Ne-gation) ist es wieder, das gleiche Postulat der Selbstdisziplin aus hchst-gradiger Verantwortung fr das, was man tut und damit bewirkt. Nichtdavon geht der Autor aus, dass derMensch in seiner Qual das Recht aufderen Artikulation habe, sondern davon, dass es hier eine Pflicht zurRcksichtnahme gebe: Ich darf den Anderen nicht damit behelligen(und notwendig berfordern), dass ich leide.

    Sucht man die ethische Intuition, die sich in dieser erhabenenIdiosynkrasie ausspricht, prziser zu fassen, so zeigt sich das Pathosder Distanz, das sich auf den ersten Blick hier ausspricht, als Ausdruckeiner extremen Betonung von Verantwortung selbst um den Preis derVereinsamung des Handelnden, als deren Komplement sich der An-spruch auf Autonomie in kaum steigerungsfhiger Form bekrftigtfindet.

    7. Technik als Agens der Normativitt

    Reartikulation und Nutzanwendung dieser moralphilosophischen Per-spektive finden sich in ganz unerwarteter Weise im Kapitel berTrostbedrfnis und Untrstlichkeit des Menschen in der Beschrei-

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    50 Hans Blumenberg,Matthuspassion, Frankfurt am Main: Insel 1988, S. 72.

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    bung des Menschen. Wie ernst es Hans Blumenberg mit dem von PaulAlsberg aufgenommenen Gedanken ist, der Mensch sei das werkzeug-geschaffene Lebewesen, zeigt hier seine Reflexion auf die Auswirkungder modernen Techniken der Empfngnisverhtung, eine berlegung,die gleichsam mit einem Bein in der Metaphysik und mit dem anderenin der Moralphilosophie steht. Hans Jonas hatte 1979 in Das PrinzipVerantwortung eine Reihe von gestaffelten Pflichten behauptet: 1. dieprliminaren Pflichten, zu denen die Wissensbeschaffung ber die pro-blematischen Folgen des technologischen Handelns ebenso gehrt wiedas, was Jonas im Begriff einer Heuristik der Furcht zusammenfasst(Kultivierung eines der Gefahr und Bedrohung angemessenen Ge-fhls), 2. die materialen Pflichten zur Bedchtigkeit, der Bewahrungund Schonung, der Wachsamkeit ber die Anfnge, 3. auch einePflicht, die auf einer anderen Ebene zu liegen scheint: die unbedingtePflicht der Menschheit zum Dasein.51 Zu ihr gehrt, folgt man Jonas,auch eine Fortpflanzungspflicht die Pflicht des Menschen, ein Kindzu zeugen. Blumenberg, der diese Position bei der Niederschrift seinesManuskriptes kaum kennen konnte, hat nicht eine solche mit Blick aufdie Bevlkerungsexplosion im Weltmastab absurde Pflicht im Sinn,sondern die Ansprche des Individuums auf Akzeptanz, wenn er in derBeschreibung des Menschen geradezu den Anti-Jonas formuliert:Seitdem die ungewollte Erzeugung von Nachkommenschaft zuverls-sig und mit zumutbaren Mitteln ausgeschlossen werden kann, gibt esein Menschenrecht darauf, nicht ungewollt zu existieren.52

    Bemerkenswert ist die Ambiguitt des Bezuges in der Zuschrei-bung nicht ungewollt, die sich aus dem Kontext des Gedankens alsabsichtsvoll erschlieen lsst: Es geht, wie der Ausgang vomWillen derErzeuger von Nachkommenschaft in der Formulierung die unge-wollte Erzeugung von Nachkommenschaft erkennen lsst, zunchstdarum, von den eigenen Eltern gewollt zu sein; zugleich aber in derFormulierung vom Menschenrecht darauf, nicht ungewollt zu existie-ren,53 ebenso sehr um den Willen des Kindes, zu existieren. Der Kon-text, in dem Blumenberg sein Postulat situiert, lsst den inneren Zu-

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    Technik und Moral bei Hans Blumenberg

    51 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, hierS. 36; 91f.; 80.52 Blumenberg, Beschreibung des Menschen (wie Anm. 21), S. 649.53 So auch in der Matthuspassion, wo Blumenberg vom wichtigsten Befund fr jedeExistenz: Ob sie denn gewollt sei, spricht (Blumenberg, Matthuspassion [wieAnm. 50], S. 132).

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    sammenhang der beiden Willensbezge deutlich werden: Es geht umdie anthropologische Feststellung der Kontingenz menschlichen Da-seins, in deren Zusammenhang dem Autor die Antwort des Thales aufdie Frage nach dem Grund seiner Kinderlosigkeit: aus Liebe zu denKindern,54 ebenso signifikant wird wie die Reflexion Kants in derMetaphysik der Sitten ber die Pflicht der Eltern, diejenigen, die sie,ohne ihre Einwilligung eingeholt zu haben, ins Leben gesetzt htten,mit allen nur denkbaren Mitteln mit den Hrten dieses Lebens zu ver-shnen. In diesem Gedanken ist angedeutet, wie derWille der Erzeugerund derWille der Kinder zusammenhngen: Indem die Eltern alles tun,um die Kinder mit der prima facie nicht gewollten Existenz zu ver-shnen, verschaffen sie ihnen die Gewissheit, gewollt zu sein, und mo-difizieren ihrenWillen eben darin so, dass sie der Entscheidung, bei dersie nicht gefragt werden konnten, im Nachhinein zustimmen knnen.Das Bewusstsein, gewollt zu sein, fungiert bei einem trostbedrftigenund trstungsfhigen Wesen als genuiner Grund der Bejahung seinerExistenz.

    Seit Kant, so Blumenberg, der dessen Einsicht offenbar rckhalt-los zustimmt, habe sich die Pflichtenlage der Eltern durch die Mg-lichkeiten der modernen Empfngnisverhtung verschrft.55 Dieneugeschaffene Freiheit der Entscheidung fr andere, zuvor nicht Be-fragbare, hat eine ganze moralische Dimension erffnet.56

    Darin zeigt sich allerdings eine ganz andere als die bliche Rich-tung der Technikfolgenabschtzung, ein ganz anderer Zugang zur mo-ralischen Fragestellung angesichts technischen Handelns, als wir es ge-whnt sind. An solchen Stellen einer Schubumkehr des kritischenGedankens ist zu erkennen, wie ernst es Blumenberg meint mit derprogrammatischen Forderung, philosophisches Denken htte in allemzunchst die Selbstverstndlichkeiten des Denkens und der Orientie-rung zu brechen. Nicht die Technik als solche wird hier der moralischenFrage der Zumutbarkeit und der Rechtfertigung unterzogen; es wirdvielmehr darauf aufmerksam gemacht, dass technische Errungenschaf-ten auch eine Verschrfung und Verfeinerung moralischer Ansprchemit sich bringen knnen: Technische Fortschritte sind es, die eine luxu-rierende oder zumindest komfortablere Situation schaffen, in der es

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    Birgit Recki

    54 Blumenberg, Beschreibung des Menschen (wie Anm. 21), S. 648.55 Ebd., S. 649.56 Ebd., S. 650.

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    mglich ist, menschliche Bedrfnisse undWnsche, sei es nachhaltigerals bisher, sei es erstmals, zu befriedigen, so dass der Hinweis auf derenmangelnden Realismus zur Ausflucht wird. Technik wird mit anderenWorten sichtbar als Agens des normativen Bewusstseins und als Vehi-kel individueller Autonomie.

    Hans Blumenberg beobachtet A 87

    Technik und Moral bei Hans Blumenberg