BLUES, ROCK UND GEORG HEYM Schwarzbrenner · Bei seinen Bandkollegen Christoph Keisers (Schlagzeug)...

2
38 bluesnews Schwarzbrenner BLUES, ROCK UND GEORG HEYM Auf geht es in die nächs- te Runde, die bluesnews- Abonnent(inn)en wählten ihre vier Lieblingssongs von der Compilation „bluesnews Col- lection Vol. 6“, die der De- zember-Ausgabe beilag. Nach Schwarzbrenner werden The Bluesgangsters (Juli-Heft), die Crazy Hambones und Harp Mitch & The Bluescasters mit einem Feature vorgestellt. Die nächste CD in unserer kleinen Reihe ist auch in Vorbereitung, Infos dazu gibt es unter www. bluesnews.de. Von Michael Seiz Anlässlich eines Ver- wandtenbesuchs in Ostberlin im Februar 1980 machte Wolfgang Becker das, was so manch anderer West-Besucher in jenen Tagen ebenfalls zu tun pegte: Er betrat die Buchhandlung am Alexanderplatz, um den ihm verbliebenen Restbetrag an zwangsum- getauschten Mark der DDR in Bücher zu in- vestieren. Bei dieser Gelegenheit erstand der erklärte Lyrikfan ein DDR-Reclam-Bändchen mit Gedichten des Autors Georg Heym (vgl. Infokasten) – mit damals noch ungeahnten Konsequenzen für sein musikalisches Schaf- fen, wie sich rund fünfzehn Jahre danach herausstellen sollte. Anlässlich des hunderts- ten Todestages des frühexpressionistischen Dichters am 16. Januar dieses Jahres legte der in Ratingen lebende Gitarrist und Sänger mit seinem Trio Schwarzbrenner jetzt das Doppelalbum „Heymkehr“ vor (siehe Rezen- sion in dieser bluesnews-Ausgabe). „Mitte der Neunzigerjahre wollte ich unbe- dingt Musik mit deutschen Texten machen“, erzählt Wolfgang Becker im Gespräch mit bluesnews, „und da el mir wieder dieses Büchlein mit Heym-Gedichten in die Hände, das ich damals in Berlin gekauft hatte, weil mich die Sprachkraft und die Metaphorik dieses Dichters sofort angesprochen hat- ten.“ Zu jener Zeit spielte Becker in einer Düsseldorfer Bluesband, deren Repertoire sich nicht wesentlich von dem unterschied, was andere Bands auch im Angebot hatten, „die üblichen Genreklassiker eben und natürlich mit den englischsprachigen Originaltexten.“ Bei seinen Bandkollegen Christoph Keisers (Schlagzeug) und Rolf Menzen (Bass) stieß Be- cker mit seiner Idee, Heym-Texte mit bluesbasierten Songstrukturen zu etwas ganz Neuem zusammenzuführen, auf offene Ohren und so wurde 1995 das Projekt Schwarzbrenner aus der Taufe gehoben. Praktischerweise arbeitete Beckers jüngerer Bruder Jörn, der inzwischen sein eigenes Tonstudio betreibt, bereits damals als Produzent in Bremen und so war der Weg zur ersten CD nicht weit. In einer Bremer Kneipe war es im Übrigen auch, dass man sich auf Vorschlag von Christoph Keisers auf den Bandnamen Schwarzbrenner verständigte, Bezug nehmend auf eine nicht nur in der niederrheinischen Heimat von Keisers verbreitete Tradition der – je nach Sichtweise – illegalen oder, so Becker, „autarken“ Herstellung von Hochprozen- tigem, wie sie im „Moonshining“ auch im Herkunftsland des Blues ihre Entsprechung hat. Als „Schlüsselerlebnis“ seiner musikalischen Sozialisation bezeichnet Wolfgang Becker je- nen Moment in seinem Leben, als er Anfang der Siebzigerjahre zum ersten Mal bewusst die Musik der Allman Brothers hörte. „Da wurde mir klar, dass Text und Instrumentalpassagen für einen guten Song einfach zusammengehören und gleich wichtig sind“, ein Aspekt, der gerade bei der Vertonung literarischer Texte von Bedeutung sei, da hier schnell die Ge- fahr einer zu großen „Textlastigkeit“ drohe, der es durch „ein instrumentales Gegenge- wicht“ vorzubeugen gelte. Musikalisch aktiv war der Autodidakt zunächst in einer Bre- mer Schülerband, bis er zum Zwecke des Studiums der Psychologie ins hessische Marburg wegzog. „In den Achtzigern habe ich dann eigentlich nur mehr für mich Musik gemacht, wobei der Blues keine allzu große Rolle spielte.“ Erst Robben Fords 1988er- Album „Talk To Your Daughter“ habe ihn sich schließlich wieder dem Genre annä- hern lassen. „Über meine Frau gab es dann einen Kontakt zu einer Bluesband im Raum Düsseldorf – wir wohnten berufsbedingt in- zwischen in Ratingen – und da bin ich dann Georg Heym (30.10.1887–16.1.1912) Georg Heym gilt als ein „bedeutender Vertreter des Ex- pressionismus“, der in seinen Gedichten „dämonisch-apoka- lyptische Visionen der kommenden Kulturkatastrophen“ gestaltete; außer als Lyriker betätigte Heym sich auch als Dramatiker und Erzähler. (Quelle: Der Brockhaus multimedial 2007 premium. Mannheim, 2007) SZENE DEUTSCHLAND bn69.indd 38 bn69.indd 38 13.03.2012 06:47:47 13.03.2012 06:47:47

Transcript of BLUES, ROCK UND GEORG HEYM Schwarzbrenner · Bei seinen Bandkollegen Christoph Keisers (Schlagzeug)...

Page 1: BLUES, ROCK UND GEORG HEYM Schwarzbrenner · Bei seinen Bandkollegen Christoph Keisers (Schlagzeug) und Rolf Menzen (Bass) stieß Be-cker mit seiner Idee, ... Musik der Allman Brothers

38 bluesnews

SchwarzbrennerBLUES, ROCK UND GEORG HEYM

Auf geht es in die nächs-te Runde, die bluesnews-Abonnent(inn)en wählten ihre vier Lieblingssongs von der Compilation „bluesnews Col-lection Vol. 6“, die der De-zember-Ausgabe beilag. Nach Schwarzbrenner werden The Bluesgangsters (Juli-Heft), die Crazy Hambones und Harp Mitch & The Bluescasters mit einem Feature vorgestellt. Die nächste CD in unserer kleinen Reihe ist auch in Vorbereitung, Infos dazu gibt es unter www.bluesnews.de.

Von Michael Seiz ● Anlässlich eines Ver-wandtenbesuchs in Ostberlin im Februar 1980 machte Wolfgang Becker das, was so manch anderer West-Besucher in jenen Tagen ebenfalls zu tun pfl egte: Er betrat die Buchhandlung am Alexanderplatz, um den ihm verbliebenen Restbetrag an zwangsum-getauschten Mark der DDR in Bücher zu in-vestieren. Bei dieser Gelegenheit erstand der erklärte Lyrikfan ein DDR-Reclam-Bändchen mit Gedichten des Autors Georg Heym (vgl. Infokasten) – mit damals noch ungeahnten Konsequenzen für sein musikalisches Schaf-fen, wie sich rund fünfzehn Jahre danach herausstellen sollte. Anlässlich des hunderts-ten Todestages des frühexpressionistischen Dichters am 16. Januar dieses Jahres legte der in Ratingen lebende Gitarrist und Sänger mit seinem Trio Schwarzbrenner jetzt das Doppelalbum „Heymkehr“ vor (siehe Rezen-sion in dieser bluesnews-Ausgabe).

„Mitte der Neunzigerjahre wollte ich unbe-dingt Musik mit deutschen Texten machen“, erzählt Wolfgang Becker im Gespräch mit bluesnews, „und da fi el mir wieder dieses Büchlein mit Heym-Gedichten in die Hände, das ich damals in Berlin gekauft hatte, weil mich die Sprachkraft und die Metaphorik dieses Dichters sofort angesprochen hat-ten.“ Zu jener Zeit spielte Becker in einer Düsseldorfer Bluesband, deren Repertoire sich nicht wesentlich von dem unterschied, was andere Bands auch im Angebot hatten,

„die üblichen Genreklassiker eben und natürlich mit den englischsprachigen Originaltexten.“ Bei seinen Bandkollegen Christoph Keisers (Schlagzeug) und Rolf Menzen (Bass) stieß Be-cker mit seiner Idee, Heym-Texte mit bluesbasierten Songstrukturen zu etwas ganz Neuem zusammenzuführen, auf offene Ohren und so wurde 1995 das Projekt Schwarzbrenner aus der Taufe gehoben. Praktischerweise arbeitete Beckers jüngerer Bruder Jörn, der inzwischen sein eigenes Tonstudio betreibt, bereits damals als Produzent in Bremen und so war der Weg zur ersten CD nicht weit. In einer Bremer Kneipe war es im Übrigen auch, dass man sich auf Vorschlag von Christoph Keisers auf den Bandnamen Schwarzbrenner verständigte, Bezug nehmend auf eine nicht nur in der niederrheinischen Heimat von Keisers verbreitete Tradition der – je nach Sichtweise – illegalen oder, so Becker, „autarken“ Herstellung von Hochprozen-tigem, wie sie im „Moonshining“ auch im Herkunftsland des Blues ihre Entsprechung hat.

Als „Schlüsselerlebnis“ seiner musikalischen Sozialisation bezeichnet Wolfgang Becker je-nen Moment in seinem Leben, als er Anfang der Siebzigerjahre zum ersten Mal bewusst die Musik der Allman Brothers hörte. „Da wurde mir klar, dass Text und Instrumentalpassagen für einen guten Song einfach zusammengehören und gleich wichtig sind“, ein Aspekt, der gerade bei der Vertonung literarischer Texte von Bedeutung sei, da hier schnell die Ge-fahr einer zu großen „Textlastigkeit“ drohe, der es durch „ein instrumentales Gegenge-wicht“ vorzubeugen gelte. Musikalisch aktiv war der Autodidakt zunächst in einer Bre-mer Schülerband, bis er zum Zwecke des Studiums der Psychologie ins hessische Marburg wegzog. „In den Achtzigern habe ich dann eigentlich nur mehr für mich Musik gemacht, wobei der Blues keine allzu große Rolle spielte.“ Erst Robben Fords 1988er-Album „Talk To Your Daughter“ habe ihn sich schließlich wieder dem Genre annä-hern lassen. „Über meine Frau gab es dann einen Kontakt zu einer Bluesband im Raum Düsseldorf – wir wohnten berufsbedingt in-zwischen in Ratingen – und da bin ich dann

Georg Heym(30.10.1887–16.1.1912)

Georg Heym gilt als ein „bedeutender Vertreter des Ex-pressionismus“, der in seinen Gedichten „dämonisch-apoka-lyptische Visionen der kommenden Kulturkatastrophen“ gestaltete; außer als Lyriker betätigte Heym sich auch als Dramatiker und Erzähler. (Quelle: Der Brockhaus multimedial 2007 premium. Mannheim, 2007)

SZENE DEUTSCHLAND

bn69.indd 38bn69.indd 38 13.03.2012 06:47:4713.03.2012 06:47:47

Page 2: BLUES, ROCK UND GEORG HEYM Schwarzbrenner · Bei seinen Bandkollegen Christoph Keisers (Schlagzeug) und Rolf Menzen (Bass) stieß Be-cker mit seiner Idee, ... Musik der Allman Brothers

bluesnews 39

eingestiegen und habe dort erst Rolf und dann Chris kennen und als Musikerkollegen schätzen gelernt.“

Bald nach der Gründung von Schwarzbren-ner zeigte sich, dass regelmäßige Livegigs und die berufl ichen bzw. familiären Verpfl ich-tungen der drei Musiker nur schwer unter einen Hut zu bringen waren. Also beschloss man, die musikalischen Aktivitäten zunächst auf eine beständige Erweiterung des Re-pertoires und das Einspielen von CDs unter der bewährten Produzentenschaft von Jörn Becker zu konzentrieren. Und so folgten auf das 1997er-Debütalbum „Morgenschim-mer“ im Laufe der Jahre die Produktionen „Sturmzeiten“ (2000), „Himmelfahrt“ (2001), „Nord-West“ (2003), „Odyssee“ (2006) so-wie 2010 neben der Compilation „Stadt am Abend“, die Becker als die „musikalische Visitenkarte“ der Band bezeichnet, zusätz-lich die Maxi-Single „Rhein-Ruhr/Nieder-rhein“, eine „Schwarzbrenner-Hommage an die Gegenden, die unser Zuhause sind“, wie es dazu auf der Band-Homepage heißt, sprich an die Heimat von Christoph Keisers („Niederrhein“) und Rolf Menzen („Rhein-Ruhr“). Ergänzt werden diese beiden Songs auf dem aktuellen Album – im Sinne einer „bandbiografi schen Trilogie“ – durch den Track „Bremen“, mit dem man jener Stadt seine Reverenz erweist, in der Wolfgang und Jörn Becker, der auf „Heymkehr“ im Übrigen auch als Gitarrist zu hören ist, aufgewach-sen sind. Allen drei Titeln ist dabei gemein, dass Wolfgang Becker hier nicht nur wie bei sämtlichen Schwarzbrenner-Songs als Kom-ponist für die Musik verantwortlich zeichnet, sondern auch die Texte verfasst hat.

Seit 2009 bemüht sich Schwarzbrenner wie-der verstärkt um Liveauftritte. Neben Gigs im Trioformat spielten Wolfgang Becker und Christoph Keisers dabei im September 2011 auch erstmals zwei Unplugged-Konzerte

als Duo mit akustischer Gitarre und Cajón, und das in jener Stadt, in der Beckers Be-geisterung für Georg Heym vor über dreißig Jahren ihren Anfang genommen hatte und in der sein literarisches Idol Georg Heym am 16. Januar 1912 im Alter von nur 24 Jahren beim Schlittschuhlaufen auf der Havel töd-lich verunglückte, als er einem im Eis einge-brochenen Freund zur Hilfe kommen wollte. Und noch eine Premiere gilt es zu vermel-den. So fi ndet sich für die Lyrics der beiden Titel „Westwärts“ und „Blau des Himmels“ auf „Heymkehr“ erstmals der Autorenver-merk „Text: Georg Heym/Wolfgang Becker“, sprich sie stellen eine Montage von Heym-Originalzitaten und Becker’schen Worten dar. „Themen, die Heym meines Erachtens gut anreißt, aber letztlich nicht zu Ende führt, habe ich bei diesen Songs um Gedanken er-gänzt, die mir beim Lesen gekommen sind, ein für mich neuer Umgang mit seinem Werk, der aber durchaus ein Modell für eine nächs-te CD darstellen könnte.“

Dass Schwarzbrenner dabei fast schon in doppelter Hinsicht ein Nischenprojekt ist, darüber ist sich Wolfgang Becker völlig im Klaren. Aber das hält die Band nicht davon ab, den einmal eingeschlagenen Weg fortzu-setzen. Denn: „Zum einen soll man wissen, dass es uns gibt“, sagt Becker zur Begrün-dung und verweist nicht ohne Stolz darauf, dass man inzwischen auch in der Literatur- bzw. Lyrikszene auf das Schwarzbrenner-Projekt aufmerksam geworden sei. „Und zum anderen sind da einige Leute, die un-sere Musik wirklich lieben. Und schon für die lohnt es sich allemal weiterzumachen.“ ■

Aktuelle CDHeymkehr(WOBE Music)www.Schwarzbrenner.de

SZENE DEUTSCHLAND

bn69.indd 39bn69.indd 39 13.03.2012 06:47:4813.03.2012 06:47:48