Blumenberg-Wirklichkeiten in Denen Wir Leben - Nachahmung Der Natur

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Hans Blumenberg Wirklichkeiten in denen vvir leben Aufsätze und' eine Rede Philipp Reclam jun. Stuttgart

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Hans Blumenberg

Wirklichkeitenin denen vvir leben

Aufsätze und' eine Rede

Philipp Reclam jun. Stuttgart

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»Nachahmung der Natur«Zur Vorgeschichte der Ideedes schöpferischen Menschen

Fast zwei Jahrtausende lang schien es, als sei die abschlie-ßende und endgültige Antwort auf die Frage, was derMensch in der Welt und an der WeIt aus seiner Kraft undFertigkeit leisten könne, von ARISTOTELES gegeben worden,als er formulierte, die »Kunst« sei.Nachahmung der Natur,um damit den Begriff zu definieren, mit dem die Griechendas ins Reale wirkende Können des Menschen insgesamterfaßten: den Begriff der tEXVl1. Mit diesem Ausdruckbezeichneten die Griechen mehr als das, was wir heute»Technik« nennen; sie verfügten hier über einen Inbegrifffür alle Fertigkeiten des Menschen, werksetzend und gestal-tend wirksam zu werden, der das »Künstliche« ebenso wiedas »Künstlerische« (worin wir heute so scharf unterschei-den) umfaßt. Nur in diesem weiten Sinne dürfen wir über-setzend den Ausdruck »Kunst« gebrauchen. »Kunst« nunbesteht nach Aristoteles darin, »einerseits zu vollenden,andererseits (das Naturgegebene) nachzuahmen-e.! DieDoppelbestimmung hängt mit der Doppeldeutigkeit desBegriffs von »Natur« als produzierendem Prinzip (naturanaturans) und produzierter Gestalt (natura naturata) engzusammen. Es läßt sich aber leicht sehen, daß in demElement der »Nachahmung« die übergreifende Komponenteliegt: denn das Aufnehmen des von der Natur Liegengelas-senen fügt sich doch der Vorzeichnung der Natur, setzt beider Entelechie des Gegebenen an und vollstreckt sie. 2 DiesesEinspringen der »Kunst« für die Natur geht so weit, daßAristoteles sagen kann: wer ein Haus baut, tut nur genaudas, was die Natur tun würde, wenn sie Häuser sozusagen

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»wachsen« ließe." Natur und »Kunst« sind strukturgleich:die immanenten Wesenszüge der einen Sphäre können fürdie der anderen eingesetzt werden. Es ist also sachlichbegründet, wenn die Tradition die aristotelische Definitionauf die Formel »ars imitatur naturarn« verkürzt hat, wieschon Aristoteles .selbst sie in Gebrauch nimmt."Worin nun aber kann der aktuelle Sinn dessen liegen, daßwir den Voraussetzungen und geschichtlichen Wandlungendieser .Pormel nachgehen sollten? Besteht der Mensch derNeuzeit nicht seit langem darauf, ein »schöpferisches«Wesen zu sein, und hat er nicht der Natur die Konstruktionschroff entgegengestellt? Und seit der PARMIGIANINO 1523sein Selbstbildnis aus dem entstellenden Konvexspiegelmalte - also das Natürliche im Künstlichen nicht sichbewahren und steigern, sondern sich brechen und transfor-mieren ließs -, ist im Kunstwerk die Signatur des schaffen-den Menschen als des um seine Potenz Wissenden immerschärfer artikuliert worden. Als Selbsterprobung und Be-zeugung seiner genuinen Seinsmächtigkeit ist die Kunst demneuzeitlichen Menschen erst zur »cigentlich metaphysischenTätigkeit dieses Lebens-" geworden, und an der Frage nachder Verbindlichkeit der Natur für das Kunstwerk hat sichdas Bewußtsein der Absolutheit dieses Tuns wesentlich kon-densiert. Die Ausmessung des Spielraums der artistischenFreiheit, die Entdeckung der Unendlichkeit des Möglichengegenüber der Endlichkeit des Faktischen, die Lösung desN aturbezuges durch die his to ristische SeIbstvergegenständ-lichung des Kunstprozesses, innerhalb dessen sich Kunstimmer wieder an und aus Kunst generiert? - das sind Grund-vorgänge, die nichts mehr mit der aristotelischen Formel zutun zu haben scheinen. Es -istoft gesagt und gezeigt worden,daß die Welt, in der wir leben, eine Welt bewußter, japathetischer Überbietung, Entmachtung und Entstaltungder Natur, eines tiefen Ungenügens am Gegebenen ist. Magerst ANDRE BRETON für den Surrealismus die »ontologische«Formel gegeben haben, daß das Nichtseiende genauso

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»wirklich« (intense) sei wie das Seiende, so ist doch dies derexakte Ausdruck für die Möglichkeit des modernen Kunst-willens insgesamt, für die terra incognita, deren Unbetreten-heit die Geister anlockt. Das Werk bezieht sich nicht hin-deutend und präsentierend auf ein anderes, ihm vorgehendesSein, sondern es ist originär in seinem Seinsanteil an derWelt des Menschen. »Ein neues Bild ist ein einmaligesEreignis, eine Geburt, die das Weltbild, wie es der Men-schengeist erfaßt, um eine neue Form bereichert. «8 DasNeue zu sehen und hervorzubringen, ist nicht mehr eineSache triebhafter »Neugier« im Sinne der mittelalterlichencuriositas, sondern es ist zum metaphysischen Bedürfnisgeworden: der Mensch sucht das Bild zu bewahrheiten, daser von sich selbst hat. Nicht weil Not erfinderisch macht, ist»Erfindung« der signifikative Akt in der modernen Welt;und nicht, weil unsere Wirklichkeit so mit technischenStrukturen durchsetzt ist, tauchen sie in den Kunstwerkender Zeit abbildlieh auf - hier ist vielmehr die prägende Kraftdes homogenen Impulses zu verspüren, der auf Artikulationeines radikalen Selbstverständnisses des Menschen drängt.Woher aber die Gewalt und Mächtigkeit, mit der diesesSelbstverständnis sich zu verstehen geben will?Eben diese Frage wird man nicht zureichend beantwortenkönnen, wenn man nicht ins Auge .faßt, wogegen sich derneuzeitliche Begriff des Menschen von sich selbst durchzu-setzen hatte. Das vehemente Pathos, mit dem das Attributdes Schöpferischen dem Subjekt hinzugewonnen worden ist,wurde angesichts der überwältigenden Geltung des Axiomsvon der »Nachahmung der Natur« aufgeboten. Diese Aus-einandersetzung ist noch nicht abgeschlossen, währendschon neue Formeln zu triumphieren scheinen. Aber es istnicht nur eine politische Weisheit, daß sich der Besiegte fürden Sieget im Augenblick des Sieges aus dem Feind in eineHypothek verwandelt. Läßt ein Widerstand nach, gegen denalle Kräfte aufgeboten werden mußten, so tragen die mobili-sierten Energien leicht über die erstrebte Position hinaus.

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Ich versuche zunächst, den geschichtlichen Raum genauerzu bestimmen, in dem sich diese Auseinandersetzungabspielt. Ungreifbar, wie die »Anfange« nun einmal beiallem Geschichtlichen sind, ist der terminus a quo, den ichwähle, schon eine Gestalt ausgeprägter Frühreife unseresProblems: ich meine die Figur des Idiota in den drei Dialo-gen des NIKOLAUS VON CUES aus dem Jahre 1450. ZurCharakterisierung dieser Dialogfigur genügt es nicht, dasneue Selbstbewußtsein des »Laien« im 15. Jahrhundert, wiees sich hier reflektiert, soziologisch aus dem Gegensatzgegen den Kleriker herzuleiten. Der Cusaner konfrontiertseinen Idiota sowohl mit dem Philosophen als dem Vertreterder Scholastik wie auch mit dem Rhetor als dem Repräsen-tanten des humanistischen Typus." Sicher ist der cusanische»Laie« mitbestimmt durch den Gegensatz der Mystik undder devotio moderna gegen den Schul- und Bildungshoch-mut der Zeit. Aber die Ironie des Tones, in dem dieserilliteratus den Leuchten der Wissenschaft begegnet, dergleichsam demokratische Stil, in dem er ohne Rücksicht aufdie Ungleichheit der Voraussetzungen mitzureden bean-sprucht, haben doch noch ein anderes Fundament: es deutetsich eine neue Prägung des Menschen an, der sich selbst ausdem heraus versteht und seine Geltung rechtfertigt, was ertut und kann - aus seiner »Leistung«, würden wir sagen.Der historisch keineswegs selbstverständliche Verbund vonLeistung und Selbstbewußtsein ist an dem cusanischenIdiota greifbar, und zwar gerade in der Hinsicht, die unshier beschäftigt.Im zweiten Kapitel des Dialoges De mente führt der »Laie«seinen Gesprächspartnern, dem Philosophen und dem Rhe-tor, vor, was sein eigenes Handwerk, die ihren Mann nurbescheiden nährende und im öffentlichen Kurs so niedrignotierte Löffelschnitzerei, ihm selbst für sein Selbstver-ständnis und seine Selbstwertung bedeutet. Zwar ist auch

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diese »Kunst« Nachahmung, aber nicht Nachahmung derNatur, sondern Nachahmung der ars infinita Gottes selbst,und zwar insofern diese originär, urzeugend, schöpferischist, nicht aber insofern sie faktisch diese Welt geschaffen hat.»Coclear extra mentis nostrae ideam non habet exernplar.«Der Löffel, kein Hochprodukt gerade der Kunst, ist dochetwas absolut Neues, ein in der Natur nicht vorgegebenesEidos, und der schlichte »Laie« ist der Mann, der dashervorbringt: »non enim in hoc imitor figuram cuiuscunquerei naturalis«. Die 'Formen von Löffeln, Töpfen, Tellern, dieder»Laie« herstellt, sind rein technische Formen, und es istvon der Freude über diesen Sachverhalt bis zu seiner Akzen-tuierung am Produkt selbst als Grundzug des modernen»industrial design« kein Sprung mehr nötig. Der Menschblickt nicht mehr.auf die Natur, den Kosmos, um seinenRang im Seienden abzulesen, sondern auf die Dingwelt, diesola humana arte entstanden ist. 10 Wichtig an unserer Stelleist weiter, daß sich der Idiota mit seiner »Leistung« aus-drücklich absetzt gegen das, was Maler und Bildhauerzustande bringen, die doch ihre exemplaria a rebus hernäh-men - »non tarnen ego« (ich aber nicht). Es ist von unschätz-barer signifikativer Bedeutung, daß hier das ganze Pathosdes schöpferisch-originären Menschen und der Bruch mitdem Nachahmungsprinzip beim technischen, nicht beimkünstlerischen .Menschen hervortreten. Diese Differenz wirdhier wohl zum ersten Male positiv betont, und darin liegtwesentlich der Wert des Zeugnisses, wenn man sich gegen-wärtig hält, wie fast ausschließlich sich in der Folge dieBezeugung des Schöpferischen auf bildende Künste undPoesie konzentriert: daß dort der Autor von sich selbst undseiner schaffenden Spontaneität zu sprechen beginnt, gehörtseit dem Ende des Mittelalters geradezu zur Erscheinungs-form der Kunst.Die Geschichte des technischen Geistes dagegen ist überausarm an solchen Selbstzeugnissen ihrer Träger. Das ist nichtnur ein typologisches Phänomen, das den nüchternen Mann

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der Konstruktion charakterisiert. Es ist auch nicht nur einsoziologisches Phänomen der öffentlichen Wertung undAufmerksamkeit, die sich erst mit der Beachtung der artesmechanicae durch die französische Enzyklopädie der geisti-gen Ursprungssphäre des technischen Produkts zuwenden.Es ist vor allem ein Phänomen der »Sprachlosigkeit« derTechnik. Für den Dichter und Künstler war schon in derAntike ein von Kategorien und Metaphern, bis insAnekdotische hinab, bereitgestellt worden, das zumindest inder Negation zu sagen gestattete, wie sich der schöpferischeProzeß neuerdings verstanden wissen wollte. Für die heran-kommende technische WeIt stand keine Sprache zur Verfü-gung' und es versammelten sich hier wohl auch kaum dieMenschen, die sie hätten schaffen können. Das hat schließ-lich zu dem erst heute - da die technische Sphäre erstrangig»gesellschaftsfahig« geworden ist - kraß auffallenden Sach-verhalt geführt, daß die Leute, die das Gesicht unserer Weham stärksten bestimmen, am wenigsten wissen und zu sagenwissen, was sie tun. Autobiographien von großen Erfindernsind - im Gegensatz zur raffiniert gesteigerten Selbstdeutungdes modernen Künstlers - von oft rührender Ohnmacht derSprache dem Phänomen gegenüber, das sie verständlichmachen wollen. Nur ein Beispiel: ORVILLE WRIGHT hat derErfindung der ersten Flugmaschine die typische Stilisierunggegeben, daß die Brüder Wright sechs Jahre vor ihrem erstenFlug in Kitty Hawk ein Buch über Ornithologie in die Handbekommen hätten und ihnen dabei aufgestoßen sei, warumder Vogel eine Fähigkeit besitzen sollte, die der Menschnicht durch maßstabliehe Nachbildung der physischenMechanismen sich aneignen könnte.F' Das ist noch genauder Topos, den LEONARDO DA VINCI vier Jahrhundertezuvor gebraucht hatte12 - er freilich, und selbst nochLILIENTHAI,.13, mit Recht, da sie wirklich eine homomorphe J

'Konstruktion erstrebten. Der Hiatus liegt zwischen Lilien- I

thal und Wright: die Flugmaschine ist gerade dadurch wirk-liche Erfindung, daß sie sich von der alten Traumvorstellung I

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der Nachahmung des Vogelflugs freimacht und das Problemmit einem neuen Prinzip löst. Die Voraussetzung des Explo-sionsmotors (der seinerseits eine wirkliche Erfindung reprä-sentiert) ist dabei noch nicht einmal so wesentlich undcharakteristisch wie die Verwendung der Luftschraube,denn rotierende Elemente sind von reiner Technizität, alsoweder von imitatio noch von perfectio herzuleiten, weil derNatur rotierende Organe fremd sein müssen. Ist es etwa zukühn, wenn man behauptet, daß das Flugzeug so in derImmanenz des technischen Prozesses darinsteht. daß es auchdann zu dem Tage von Kitty Hawk gekommen wäre, hättenie ein Vogel die Lüfte belebt?Aber die Berufung auf den schon vorhandenen und dasFluggeschäft gottgegebenerweise ausübenden Vogel hat garnicht so sehr die Funktion einer genetischen Erklärung. Sieist vielmehr der Ausdruck für das mehr oder wenigerbestimmte Gefühl der Illegitimität dessen, was der Menschda für sich beanprucht. Der Topos der Naturnachahmungist eine Deckung gegenüber dem Unverstandenen dermenschlichen Ursprünglichkeit, die als metaphysischeGewaltsamkeit vermeint ist. Solche Topoi fungieren in unse-rer Welt, wie in modemen Kunstausstellungen die naturali-stischen Titel unter abstrakten Bildern stehen. Das Unfor-mulierbare ist das Unvertretbare. Das Paradies war: für alleseinen Namen zu wissen und durch den Namen sich geheuerzu machen. Wo das 'Aoyov Ötöovat (in seinem Doppelsinn!)versagt, neigen wir dazu, von »Damonie« der Sache zusprechen, wie die vielgebrauchte »Darnonie der Technik«für unsere Thematik belegt. Eine solche Problematik wie dieder modernen Technik ist dadurch gekennzeichnet, daß wirzwar ein »Problem« empfinden, es zu formulieren aber inunausgesetzter Verlegenheit sind. Diese Verlegenheit ebensoll hier auf die Geltung der Formel von der »Kunst« alsNachahmung der Natur zurückgeführt werden, indem ichzu zeigen versuche, daß und weshalb diese Idee unseremetaphysische Tradition derart beherrscht hat, daß für die

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Konzeption des authentischen Menschenwerkes kein Spiel-raum blieb. Das schöpferische SeIhstbewußtsein, das an derGrenze von Mittelalter und Neuzeit aufbrach, fand sichontologisch unartikulierbar: als die Malerei nach ihrer»Theorie- zu suchen begann, assimilierte sie sich die aristo-telische Poetik; der schöpferische »Einfall« metaphorisiertesich als entusiasmo und in den Ausdrücken einer säkulari-sierten illuminatio. Verlegenheit der Artikulation angesichtsdes Übergewichts der metaphysischen imitatio-Traditionund der Renaissancegestus der Rebellion gehören zusam-men. Das ontologisch fraglos Gewordene bildet eine Zoneder Legitimität, in der sich neue Verständnisweisen nurgewaltsam durchsetzen können. Man denke an den »Aus-bruch« des Originalgenies noch im 18. Jahrhundert, der imIdealismus sozusagen systematisch aufgefangen wurde.Erst im historischen Nachhinein sieht man, was der Versuchdes Cusaners hätte bedeuten können, mit der Ironie seineslöffelschnitzenden Idiota die bestürzende Idee vom Men-schen als einem seinsoriginären Wesen so zu formulieren,daß sie .als notwendige Konsequenz und legitime Explika-tion der theologischen Auffassung vom Menschen als demgottgewollten Ebenbild Gottes, als dem (in der Hermetikvorformulierten) alter deus, hervortrat. An seiner geschicht-lichen Wirksamkeit gemessen, ist dieser Versuch, die N eu-zeit gleichsam als immanentes Produkt des Mittelalters her-anzuführen - ein Unternehmen, innerhalb dessen die meta-physische Legitimierung des Attributs des Schöpferischenfür den Menschen nur eine Komponente darstellt -, nichtgelungen. Wir haben den I diota des Cusaners als histori-sches Indiz, nicht als geschichtsbildende Energie zu betrach-ten. Denn das Fazit der neuzeitlichen Geistesgeschichte istder Antagonismus von Konstruktion und Organismus, vonKunst und Natur, von Gestaltungswillen und Gestaltgege-benheit, von Arbeit und Bestand. Das menschliche Schaffensieht seinen Wirkungsraum sich durch das Gegebenebenommen. N IETZSCHE hat auch diesen Sachverhalt am

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schärfsten formuliert, wenn er im Zarathustra sagen läßt,daß »wer ein Schöpfer sein will im Guten und Bösen, dermuß ein Vernichter erst sein und Werte zerbrechen. Alsogehört das höchste Böse zur höchsten Güte: diese aber istdie schöpferische-14. Hier ist der Nihilismus funktional demseinsoriginären Anspruch des Menschen zugeordnet; abersogleich ist zu fragen, ob nicht das, was hier wie ein Seinsge-setz ausgesprochen ist, vielmehr die geschichtliche Situationkennzeichnet, in der der Mensch seine schöpferische Frei-heit durch eine bestimmte (eben die hier näher zu ergrün-dende) metaphysische Tradition verstellt findet. Der Anti-naturalismus des 19. Jahrhunderts ist getragen von diesemGefühl der Beengung der authentischen Produktivität desMenschen durch einen lästigen Bedingungshorizont. Dasneue Pathos der Arbeit richtet sich gegen die Natur: COMTEprägt den Ausdruck »Antinatur«, MARX und ENGELS spre-chen von »Antiphysis«, Die Natur hat nicht nur ihre exem-plarische Verbindlichkeit verloren und ist zum Objekt nivel-liert worden, dessen theoretische und praktische Berneiste-rung seine Bedeutung ausschöpft; sie ist vielmehr so etwaswie die Gegeninstanz des technischen und künstlerischenWillens geworden. Ihre Wirkung auf die emotionelle Emp-fänglichkeit des Menschen erweckt Mißtrauen: das In-sich-Beruhende, Ausreifende, Zu-sieh-Zurückkehrende der Na-tur hat den Charakter der Versuchung für die Eindeutigkeitdes menschlichen Werkwillens angenornrnen.P In unseremJahrhundert hat sich dazu die Erfahrung eingestellt, daß dasnatürliche Material einerseits, die physische Ausstattung desMenschen andererseits auf eine lästige Weise den Anforde-rungen nicht gewachsen sind, die das technische Werk an siestellt. Eine eigentümliche Trägheit enthüllt sich als Qualitätdes Organischen; das Konzept, sie zu überwinden, ist zuerstin der Idee der »organischen Konstruktion- des Arbeitersvon ERNST JÜNGER rücksichtslos entwickelt worden.Das ist, in Andeutungen, der terminus ad quem desgeschichtlichen Prozesses, dessen metaphysischen terminus

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a quo wir hier betrachten wollen. Die metaphysische Exklu-sivität des Naturbegriffes hat, wie sich näherhin zeigen wird,den legitimen Spielraum des authentisch menschlichenWerks eliminiert oder, richtiger: unvorgesehen gelassen; amEnde des gewaltsamen Gegenzuges ist der Natur selbstdurch den absoluten Anspruch des Werkes in Technik undKunst ihr Geltungsbereich bestritten. Und nicht zufällig hatdie Kunst in der Philosophie seit dem Idealismus überalldort, wo man nach dem, was »Sein« ist, glaubt fragen zukönnen, eben den exemplarischen Rang eingenommen, denin der Antike und der von ihr abhängigen Metaphysik dieNatur innehatte.Vielleicht hat sich vor dem Leser unsere These nun so weitpräzisiert, daß ohne Zumutung eines Gedankensprungesformuliert werden kann, das neuzeitliche Pathos der authen-tisch menschlichen Hervorbringung in Kunst und Technikentspringe der Widersetzlichkeit gegen die metaphysische·Tradition der Identität von Sein und Natur und die Bestim-mung des Menschenwerkes als »Nachahmung der Natur«sei die genaue Konsequenz dieser Identität gewesen. Hierwird nun freilich eine gründlichere Untersuchung der histo-rischen Basis unumgätlglich.

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Es lohnt sich, mit einem Blick in das zehnte Buch derplatonischen Politeia zu beginnen. Bekanntlich führt PLATOhier seine Polemik gegen die Dichtung und darstellendeKunst überhaupt, und zwar mit einer Argumentation, dienicht so sehr auf deren negative Wirkungen abgestellt ist, alsvielmehr ihre Herkunft, ihren ontologischen Fundierungs-zusammenhang ins Auge faßt. Daß die Kunst die Naturnachahmt, ist dabei nicht nur eine Feststellung, sondernschon der entscheidende Einwand. Um diesen Einwandbesonders scharf zu profilieren, wählt Plato als Paradigma

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zwei elementare Gebrauchsgegenstände (oxsön), Bett undTisch. Der.Handwerker stellt sie her, derMaler stellt sie nur dar. Der :Handwerker istaber nicht auch der »Erfinder« von Bett und Tisch, dennkein Handwerker bringt deren..Idee als solche hervor. 16 Hierhaben wir eine Definition von Erfindung in der Negationvorausgesetzt: sie ist das Hervorbringen der Idee selbst.Woher aber nimmt der Handwerker die Ideen von Bett undTisch, da er sie doch nicht selbst hervorbringt und auchnicht derartige Grundgestalten in der gegebenen Realitätvorfindet? Die Antwort darauf lautet: es gibt in der Ideen-welt für Tisch und Bett genauso -Ideen wie für die schonvorhandenen Der Handwerker hat diese Ideenals etwas ihm Vorgegebenes im geistigen Blick, wenn ersolche Zeugdinge herstellt; der Maler aber blickt nicht aufdie Idee selbst, sondern auf das ihr schon Nachgebildete.Ihm dies zum Vorwurf zu machen, daraus eine Kritik dernachbildenden Künste abzuleiten, impliziert nun aber not-wendig die Prämisse, daß Nachahmung etwa Negatives ist.Zwar gebraucht Plato derr Ausdruck »Nachahmung« durch-einander und füreinander mit dem der »Teilhabe«, oft fürein und denselben Sachverhalt; aber es ist doch deutlich zuerkennen, daß ein, positives Vorzeichen hat, indemes die Beziehung des realen Dinges zu der Eigentlichkeitseiner Idee betont, während eher die Negativitätder Differenz zwischen Urbild und Abbild, den Defekt desphänomenalen gegenüber dem idealen Sein akzentuiert. 18Nachahmung heißt eben: das Nachgeahmte selbst nichtsein.i" Kunst ist also nur ein Seinsderivat, im Beispiel desabgebildeten technischen Gegenstandes sogar erst »an dritterStelle vom eigentlich Seienden entfernt stehendx'". DerHandwerker mag mit dem Bedürfnis entschuldigt sein, demsein Werk Genüge tun will- womit aber kann der Maler sichrechtfertigen?Diesen negativen Aspekt der Ideenmimesis hat die weitereGeschichte des Platonismus. so verstärkt, daß schließlich

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schon die erste Nachahmung, die Begründung des sichtba-ren Kosmos durch den Weltdemiurgen, ein negatives Vor-zeichen bekommen mußte. Diese neuplatonische Einseitig-keit muß man im Auge behalten, wenn man das Motivverstehen will, das gerade den spätmittelalterlichen Platonis-mus an der Überwindung der Mimesis-Formel für dasKunstwerk so stark beteiligt sein ließ: daß »Nachahmungder Natur« eine die Würde des Menschenwerks infragestel-lende Bestimmung sein könnte, ist von der aristotelischenTradition her (die sie sich vor allem zu eigen gemacht hatte)niemals verstanden worden bzw. auch nur verstehbar ge-worden.Für Plato selbst freilich muß dem mit der Methexis-Vorstel-lung verbundenen positiven Aspekt wohl noch der Vorranggegeben werden. Es läßt sich das leicht verstehen, wenn mandie ursprüngliche Frontstellung der sokratisch-platonischenIdeenlehre gegen die Sophistik bedenkt. In der griechischenSophistik ist der Gedanke der absoluten Serzung, der imVorgegebenen unbegründeten 'ftEOL;, zuerst gedacht wor-den. 2 1 Aber dieser Vorstellung fehlt noch alles, was einmalden Begriff des »Schöpferischen« qualifizieren sollte. Staat,Sprache, Sitte sind hier zwar durch menschliche Setzungentstanden und menschlicher 'tExvll unterworfen, und die»Geschichte« wird zum erstenmal in der sophistischen Rhe-torik als Produkt menschlichen Machens begriffen - aberdieser Leistung kommt doch nichts Auszeichnendes zu,vielmehr ist ihr »technischer« Zug Ausdruck einer Bedürf-tigkeit des Menschen, eines Mangels an natürlicher Mitgift,an vorfindlicher Ordnungsstruktur. Auch fehlte es derSophistik an einem Begriff des geistigen Subjekts, dem einesolche metaphysische »Auszeichnung« hätte zugeschriebenwerden können. »Setzung« ist zwar Kontrastbegriff zu»Natur«, aber gerade dadurch gerät sie in die Nähe derbloßen 'tuXll, in der dieser Gegensatz generell ausgedrücktist. Was mußte geschehen, um der hier zum erstenmalausgebildeten Vorstellung einer absoluten Spontaneität

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menschlichen Handeins ihre metaphysische Dignität zu ver-schaffen? Die Antwort ist im nachhinein leicht zu geben:Die »Setzung« bekommt ihre metaphysische Würde erstdadurch, daß sie als theologischer Begriff, als Attribut desGöttlichen entdeckt wird. Erst die Transplantation einerVorstellung auf den theologischen Nährboden macht sievirulent, um in der Geschichte des menschlichen Selbstver-ständnisses jene Attraktion auszuüben, die - von der mysti-schen Sehnsucht nach der ÖIlOLOOOL; 'frE4J bis zur trotzigenUsurpation göttlicher Attribute in dem, was man die Hybrisder Renaissance hat - den Willen bewegt. Es gehtalso hier gar nicht primär um die Frage, wo die Authentizitätder menschlichen Werksetzung zuerst konzipiert wurde,sondern wo sie zu ihrem einzigartigen metaphysischen Ranggekommen ist, der das Denken einer Epoche auf diese Ideezentrieren konnte. Not hat zwar seit je erfinderischgemacht, wie das Sprichwort sagt, aber sie vermag der Ideeder Erfindung nicht den Glanz zu geben, der zu ruheloserSelbstbestätigung in dieser Qualität treibt.Die sophistische Thesis begründet Schein, nicht Sein, sie hatkeinen Bezug zur Wahrheit: 'tEXVlJ und aAi)ßELu bleibeneinander fremd. In diese Grundlosigkeit des menschlichenTuns Grund zu bringen, Seinsbezug, Verbindlichkeit - daswar das Motiv der Ideenlehre und der ihr korrelaten Mime-sis-Vorstellung. Der Handwerker, der Bett und Tisch her-stellt, macht etwas N eues nur im Hinblick auf die phänome-nale Weit, nicht aber im Hinblick auf den idealen Kosmos,in dem es die Ideen dieser Zeugdinge immer schon gibt.Wenn Plato nun sagt, diese Ideen bedeuteten das Bett bzw.den Tisch EV tU qnJOEL 22, dann ist der spezifisch platonischeUrsinn der Formel von der »Nachahmung der Natur« greif-bar: die Natur nachzuahmen, heißt, die Idee nachzubilden.Wie nun aber weiter? Ist die Idee selbst noch auf einenUrsprung hin befragbar oder ist sie das ursprungslos Abso-lute selbst? Ist die Vorstellung eines schöpferischen Aktes derplatonischen Metaphysik fremd?

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Der Platonismus der Tradition jedenfalls hat diesen Ein-druck erweckt; es wird sich' zeigen, wie es dazu kam. Anunserer Stelle jedoch, im zehnten Buch der Politeia , wirdausdrücklich gesagt, es sei der Gott, der wahrhaft Hervor-bringer des eigentlich seienden Bettes - nicht irgendeines be-liebigen, wie es irgendein beliebiger Handwerker herstellt -sein wollte und es so in der Einheit seiner Natur als »Idee-begründete.V Dreimal kurz hintereinander insistiert Platoauf dieser Aussage, und er nennt den wesenbegründendenGott den Hier ist Schöpfung als Akt der Urzeu-gung von Wesenheit zum erstenmal erfaßt und zum Attribut.der Gottheit gemacht. Man sollte denken, diese Konzeptiondes Schöpfungsbegriffs in seiner Radikalität hätte spätestensin dem .Augenblick erkannt und anerkannt werden müssen,als es darum ging, die biblische Schöpfungsidee mit denMitteln der antiken Metaphysik zu artikulieren und tradi-tionsfähig zu machen. Aber, wie oft genug nachgewiesenworden ist, hat sich in dieser Funktion ein anderes Elementdes platonischen Werkes durchgesetzt: der Demiurgenmy-thos des Timaios. Im Demiurgen wird die Präfiguration desbiblischen Schöpfergottes gesehen werden. Aber derDemiurg ist nicht schöpferisch. Er ist - seiner Handlungs-struktur, nicht seinem metaphysischen Range nach -genauso Handwerker wie der Tischler im zehnten Buch derPoliteia. Der Demiurg des Timaios hat eine kosmologische,keine ontologische Begründungsfunktion : er soll erklären,weshalb es überhaupt neben dem Ideenkosmos noch seinphänomenales Pendant gibt, also eine Verlegenheit der pla-tonischen Philosophie überbrücken, an der dann Aristotelesso nachhaltig Anstoß nahm. Die Funktion des Demiurgenist eine dienstbare, dem absoluten Sein der Ideen unterge-ordnete; nicht auf diesem »Schöpfer«, sondern auf seinemWerkmodellliegt der metaphysische Akzent. Er bringt nurdas eigentlich Seiende (das man sich als zur Selbstrnitteilungdrängend vorstellen muß, wie es die Neuplatoniker getanhaben) zur faßbaren Erscheinung, er übersetzt es in die

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Sinnensprache. Ob das Urbild solcher »Verkündigung-bedarf, ist eine unwichtige Frage, allerdings nur so lange wieder Demiurg nicht selbst der Gott ist, der als Prinzip desGuten gerechtfertigt werden muß. Eben diese Identifizie-rung des Demiurgen mit Gott wird aber schon im erstenvorchristlichen Jahrhundert eingeleitet und beherrscht denchristlichen Platonismus. Daß in der geschichtlichen Rezep-tion der der Politeiakeinen Widerhall findet undstatt dessen der ÖT)J.LLOUQy6S des Timaios die maßgebendeVorstellung wird, bedeutet, daß der Begriff der »Schöp-fung« mit den kategorialen Mitteln des Strukturschemas der»Nachahmung« ausgelegt werden mußte. So wenig es hierschon um das Verständnis menschlicher Spontaneität ging,so wesentlich wurde dieses doch hier uorentschieden, wennman den typischen Prozeß der theologischen Inkubation derbegrifflichen Elemente der Selbsterfassung der Subjektivitätin Rechnung stellt. Die Übertragung der Demiurgenvorstel-lung auf den Gottesbegriff impliziert die entscheidendeSanktion des Prinzips der »Nachahmung der Natur«.Aber noch in einem weiteren Punkt bringt der Timaios einewichtige Modifikation der im zehnten Buch der Politeiadargestellten Position. Aristoteles berichtet uns den - ange-sichts des bisher Dargelegten - erstaunlichen Sachverhalt,daß es nach Ansicht der Akademie für künstliche Dinge, wiedas Haus oder den Ring, keine Ideen gäbe. 24 Wie ist es dazugekommen, daß bei Plato oder in seiner Schule die Ideen dertechnischen Gegenstände wieder aufgegeben worden sind?Vom Timaios her läßt sich das leicht einsehen. Der Demiurgbildet im vorgegebenen Stoff die vorgegebenen Urbildernach; aber er waltet dabei nicht nach Belieben, nicht aus-wählend. Für ihn gilt das Prinzip des optimalen Effekts: dervon ihm verfertigte Kosmos ist das Beste, was überhauptentstehen konnte 'tOOV yEyOVO't{JJv), und derDemiurg wird durch sein Werk als 'tOOV aL'tLwvqualifiziert.P Die Ideenlehre selbst, in ihrer ontologisch-ethischen Doppelfunktion, macht diese Feststellung unum-

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gänglich: die Ideen sind ja nicht nur Vorlagen, wie diesesWerk gemacht werden kann, sondern zugleich verpflich-tende Normen, daß es so gemacht werden soll. Darausfolgert Plato sowohl die Einzigkeit des realen Kosmos alsauch seine Vollständigkeit hinsichtlich des idealenModells.j" Das aber heißt nun: der Demiurg schöpft dasPotential der Ideen aus, das Reale repräsentiert erschöpfenddas Ideale. Alles Mögliche ist schon da, und für' das Weckdes Menschen bleiben keine unverwirklichten Ideen übrig.Diese gravierende Abweichung vom zehnten Buch der Poli-teia macht die Frage nach der Herkunft des menschlichenWerkes zur bleibenden Verlegenheit des Platonismus, Ari-stoteles hat die einzig mögliche Konsequenz gezogen: alleshergestellte »Neue« geht auf schon Daseiendes zurück. DieIdee der vollständigen Entsprechung von Möglichkeit undWirklichkeit läßt nicht zu, daß der Mensch geistig originärwirken kann. Ontologisch bedeutet das: durch das Men-schenwerk kann das Seiende nicht »bereichert« werden,oder anders ausgedrückt: im Werk des Menschen geschiehtessentiell nichts. Das menschliche Gebilde hat keine ihmeigene und eigentliche Wahrheit. Kein Wunder also, daß esder traditionellen Metaphysik nichts zu sagen hatte. 27

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Bei Plato ist bereits die ganze Konzeption angelegt, für dieARISTOTELES die traditionsgängige Formel gefunden hat.Die Ewigkeit der Urbilder wird zur Ewigkeit der realenWelt selbst, und die Vollständigkeit der Entsprechung zwi-schen Ideen und Erscheinungen wird zur Einzigkeit undVollständigkeit des Kosmos im Hinblick auf den Begriff derMöglichkeit. Das Moment der Exemplarität ist mit dieseraristotelischen Transformation geschwächt: warum dieNatur nachgeahmt werden soll, war von Plato her besser zuverstehen, insofern die reale Weit als das schlechthin best-

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fundierte Werk erschien, dem ·gegenüber auf anderes zusinnen unsinnig sein mußte. Hier wird die Stoa wiederansetzen. Was aber bei Aristoteles eindeutiger als bei Platoheraustritt, ist die Notwendigkeit, warum ein Werk immernur Wiederholung der Natur sein kann. Natur ist der Inbe-griff des überhaupt Möglichen. Geist kann gar nicht andersbestimmt werden denn als eine Fähigkeit in bezug auf dasAll des Schon-Seienden. Möglich ist immer nur, was seiner

nach schon wirklich ist: der Kosmos ist das All desWirklichen und des Möglichen zugleich. So ist das imma-nente Gesetz aller Bewegung (in dem weitesten Sinn vonVeränderung, den dieser Begriff bei Aristoteles hat) dieewige Selbstwiederholung des Seins. Diese Grundstrukturübergreift Ding und Geist, :Natur und »Kunst«, sie istletztlich die innere Struktur des absoluten Seienden deraristotelischen Metaphysik: der »unbewegte Beweger« ist diereine geistige Form' der Selbstwiederholung in der

im sich selbst denkenden Denken. Diese in sichverschlossene Selbstgenügsamkeit des Absoluten ist ebenso-wenig nach außen schöpferisch wie nach innen zeugerisch(wie. erstaunlich, daß die christliche Theologie sie dennochzum Modellnahmt). Die Selbstwiederholung des Absolutengeht im Kosmos in die Struktur der »Nachahrnung« über:dieses Prinzip erklärt schon die ungetrübte Kreisform derersten Sphärenbewegung als liebende Assimilation an das reinin sich zurückkehrende Höchste, es spiegelt sich im Kreislaufdes Wassers der Meteorologie'", es ist das Grundgesetz allergenerativen Prozesse, in denen das Zeugende immer nurwieder seine eigene Wesensform produziert. Am allgemein-sten schließlich: Seiendes kommt nur aus Seiendem.j" Die'tEXVll steht in dieser kosmischen Prozeßordnung tief unten:der Produzierende wiederholt ja nicht sich selbst; nur mittel-bar-eeben durch das notwendige Angewiesensein auf »Nach-ahmurig- - ist der technische Akt in die kosmische Grund-struktur zurückgebunden, ist er nicht bloße ßCaoder 'tuXll.So ist auch die »Kunst« noch für den Kosmos »geret-

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tet«, ihm funktional inkorporiert, bezeugt seine Einzigkeitund Vollständigkeit. Im Grunde ist die Theologisierung desKosmos, die erst die Stoa vollziehen wird, hier schon be-schlossen. Wo das Seiende als ganzes absolut ist, kann es»Bereicherung« an Sein nicht geben, selbst durch Gott nicht.Der Wille hat keine Seinsmacht. er kann nur wollen, wasschon ist, kann nur - wie der Gott auch - »in Bewegunghalten«, Die Homogeneität der aristotelischen Lehre vonder Erkenntnis innerhalb dieses Ganzen seiner Metaphysikversteht sich von selbst. 30In der Interpretation der aristotelischen Mimesis ist wieder-holt auf die Bedeutung des dynamischen Naturbegriffs hin-gewiesen worden, der nicht so sehr den gegebenen eideti-schen Gesamtbestand bedeutet, als vielmehr den Inbegriffder generativen Prozesse, die diesen Bestand jederzeit bedin-gen: »the creative force, the productive principle of rheuniverse«, 31 Es ist die klassische Unterscheidung von naturanaturans und natura naturata. Einen entscheidenden onto-logischen Zuwachs gegenüber Plato vermag ich auch dannnicht zu sehen: selbst wenn man, ohne Rücksicht auf dieletzte Gestalt der platonischen Lehre, die Statik der Ideen-welt unterstellt, ist doch in der Funktion des Demiurgen dieinitiierende Dynamik konzentriert. Dies alles - Ideen, Stoff,Demiurg - muß Aristoteles im Naturbegriff unterbringen;das führt zur Mehrdeutigkeit, die auf die Mimesis-Vorstel-lung übergeht. »Nachahmung der Natur- bedeutet so nichtnur Reproduktion eines eidetischen Bestandes, sondernNachvollzug des produktiven Vorganges: »art in generalimitates the method of nature«.32 Ich kann dieser Unter-scheidung für unsere Fragestellung keine entscheidendeBedeutung beimessen, da doch für Aristoteles alle generati-ven Prozesse der Natur durch einen unverrückbaren eideti...sehen Bestand reguliert sind. Die Natur wiederholt sich inihrer Selbstproduktion ewig - was erlaubt, ihr »creativeforce- zuzuschreiben? Hier sind offenkundig Implikationendes modernen, durch die Evolution bestimmten Narurbe-

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griffs herangetragen, die dann konsequent dazu führen, daß.das E3tL'tEJ...ELV in der aristotelischen Definition der »Kunst«überdeutet wird. Inwiefern kann die Natur überhaupt einerVollendung bedürfen? Mangel heißt hier jedenfalls nie soetwas wie eine »Leerstelle«, sondern nur das je faktisch nochnicht errreichte Werdeziel. Wenn Aristoteles sagt, es seiSache des Künstlers, die Naturdinge nachzuahmen, wie siesein sollen'", so bedeutet das nicht den Hinweis auf irgend-eine diesen Gegenständen transzendente Norm, sondern die»Extrapolation« aus dem Werdeprozeß auf das Werdeziel,von der YEvEOt; auf ihr Damit es sich die »Kunst«nicht am jeweilig faktischen Zustand des Seienden genugsein läßt, sondern es auf das darin gestaltend wirksameWerdeziel, die Ev'tEAEXElU, absieht, ist die generative Seitedes Naturbegriffs für die Mimesis wesentlich, aber dies dochnur deshalb, weil nach und trotz der Beseitigung der Ideeneben immer noch so etwas wie»Idealität« benötigt wird, umzu verstehen, was den Menschen in seinem Werk, vor allem:was ihn im Kunstwerk bestimmt. Sollte die Natur einmalihre eidetische Konstanz verlieren, würde auch die aristoteli-sche Lehre von der »Kunsr« ihr Fundament einbüßen: wo istder Natur noch eine Form des Seinsollens abzugewinnen,wenn an Stelle der ewig wiederholten endlichen Ontogenesisdie von Mutation und Selektion induzierte unendliche Phy-logenesis den Begriff der natura naturans bestimmt? DieserHinweis auf Späteres soll nur hier schon andeuten, daßphilosophische Grundvorstellungen nicht beliebige Renais-sancen haben können.Der Kern der aristotelischen Lehre von der 'tEXVlJ ist, daßdem werksetzenden Menschen keine wesentliche Funktionzugeschrieben werden kann. Was man die »Welt des Men-schen« nennen wird, gibt es hier im Grunde nicht. Derwerksetzende und handelnde 'Mensch stellt sich in die Kon-sequenz der physischen Teleologie: er vollbringt, was dieNatur vollbringen würde, ihr - nicht sein - immanentesSollen. 'tEXV'YI und qnJot; sind gleichsinnige Konstitutions-

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prinzipien, das eine bewirkt von außen, was das andere voninnen zustande bringt.i'" Verfertigung ist an die Entspre-chung zu Wachstum gebunden. Das technisch-ästhetischeWerk hat daher auch immer nur einen verweisenden Sinn,keinen ihm seinseigenen Wahrheitsgehalt. Die Möglichkeit,am Kunstwerk etwas nur da Aufgehendes zu erfahren, istnoch ungedacht, das Werk ist noch kein Medium der Selbst-erkenntnis und Selbstbestätigung des Menschen.Im Hellenismus bietet die pseudo-aristotelische Schrift Überden Kosmos eine nicht unbedeutsame Variation der Mimesis-Vorstellung durch ihre Einbeziehung heraklitischer Mo-tive. 35 Die Mimesis wird nicht primär auf den eidetischenBestand der Natur bezogen als vielmehr auf ihre formaleStruktur (wobei man »forrnal« nicht im Sinne der aristote-lisch-scholastischen forma zu verstehen hat). Der Kosmosist, nach HERAKLIT, ein Gefüge aus Gegensätzen, die sichnicht aufheben, so wie eine Polis aus Armen und Reichen,Jungen und Alten, Schwachen und Starken, Schlechten undGuten eine Einheit bildet. Die Natur realisiert sich inGegensätzen, wie dem Männlichen und Weiblichen, demTrockenen und Feuchten, dem Warmen und Kalten. Undeben darin ahmt die »Kunst« die Natur nach, etwa wenn dieMalerei gegensätzliche Farben verwendet, die Musik aushohen und tiefen Tönen Harmonien bildet, die SchreibkunstVokale und Konsonanten zusammenfügt. Hier ist zweifellosdurch die Formalisierung der Mimesis »Spielraum« für dieAuthentizität des Werkes gewonnen, aber die Heterogenei-tät von Musik oder Sprache (Schrift) gegenüber irgendeinemNaturvorgang ist noch nicht gesehen.Die Stoa hat das metaphysische Fundament der Mimesiseindeutig verstärkt, indem sie Vollständigkeit und Vollkom-menheit des Kosmos zu Prädikaten von theologischerDignität erhob. Trotzdem hat sich die Stellung des Men-schen gesteigert durch die universale Fassung -des Teleolo-giegedankens : Die Natur ist auf den Menschen hin angelegt,und das menschliche Werk ist Annahme und Vollzug dieser

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Disposition. Die 'tEXVll erhält geradezu eine religiöse Sank-tion, wenn etwa POSEIDONIOS das Färberhandwerk auf dieSonne zurückführt, die die Farbenpracht des Vogelgefie-ders, der Blumen und Minerale erzeugt und die menschliche»Kunst« gleichsam in ihren Dienst srellr.:" Zwischen Naturund Technik gibt es keine definierbare Grenze mehr, eineeinzige EVEQYELa ist am Werke: »Kunst« ist Natur mitanderen Mitteln. Wie hier durch den christlichen Schöp-fungsbegriff die Schranke zwischen der Natur als Gottes-werk und der »Kunst« als Menschenwerk wieder aufgerich-tet wird, läßt sich gerade am Beispiel des Färberhandwerkssehr hübsch zeigen: bei einigen patristischen Autoren findetsich eine Polemik gegen textile Finessen mit der Begrun-dung, Gott hätte die Schafe farbig geschaffen, wenn er sichfür den Menschen farbige Kleidung gewünscht hätte. TER-TULLIAN weitet das zu einer sehr charakteristischen Polemikgegen die ars aus: »Gott hat an nichts Wohlgefallen, was ernicht selber hervorgebracht hat. Konnte er nicht auch pur-purrote oder stahlblaue Schafe erschaffen? Wenn er es ver-mochte, so hat er es eben nicht gewollt; was Gott aber nichtmachen wollte, das darf man auch nicht machen [... J. Wasnicht von Gott kommt, muß notwendig von dessen Wider-sacher kommen. «37 Hier ist also schon die »Damonie derTechnik« vorgeprägt, indem Natur und »Kunst« in eindualistisches Schema gebracht sind. Dazu bedurfte es freilicherst einer neuen Grundauffassung von der Natur als Willens-ausdruck Gottes und der noch impliziten Voraussetzunganderer als der so gewollt-faktischen Seinsmöglichkeiten.Aber ich habe, um einer besonders charakteristischen Diffe-renz willen, vorgegriffen. Bei Poseidonios bedeutete N ach-ahmung der Natur nur einen äußeren Aspekt der Homoge-neität des einen, durch Natur und Mensch hindurchgehen-den Gesamtprozesses. »Aus der Theorie der Nachahmungwird eine Theorie der Wesensrelation, aus dem Erfindenwird ein Ablesen, ein Urteilen, ein Unterscheiden dessen,was in der Natur geschrieben steht. Vorbild 'wird die Natur

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nicht erst vom Menschen aus, sondern bereits von sich aus,und der Mensch wird zur Erfüllung der Natur nach ihrenwesentlichen, nicht nach ihren zufälligen Möglichkeiten. «38Die »Erfindung« als Auffindung der Naturvorzeichnungwird zum Amt der Weisen, so daß erstmalig die klassischeTheorie unmittelbar in die Werksetzung übergeht und diePhilosophie als Wurzel auch der materiellen Kultur er-scheint. Die Polemik SENECAS gegen Poseidonios richtetsich weniger gegen diese Grundkonzeption als gegen die»Höhenlage«, auf die hier die technischen Fertigkeiten alshöchste Konsequenzen der Natur selbst versetzt werden,wodurch das theoretische Ideal - wie auch bei CICERO -seinen absoluten Rang einbüßt. Mit eben demselben Prinzipder Teleologie argumentiert Seneca genau andersherum: dievollkommen auf den Menschen zentrierte Natur gibt vollesGenügen, macht Technik und Arbeit überflüssig, gibt ihnenden Charakter des Luxus. 39 Es bedarf keiner »Nachahmungder Natur«, weil die Natur für alles Notwendige einsteht. Esgibt keinen legitimen Übergang von der Natur zur »Kunst«.Schon hier sind »Kunst« und Hybris im Grunde eins, gehenaus dem Ungenügen an der natürlich-göttlichen providentiahervor. Der Mensch selbst - seine künstlichen Bedürfnisse,sein Überdruß am facilis actus vitae - treibt die artes hervor:»ad parata nati sumus: nos omnia nobis difficilia faciliumfastidio fecimus [... ]. Sufficit ad id natura, quod poscit. «40Das .Instruktive an diesem Gegensatz ist, daß aus ein unddemselben metaphysischen Prinzip ganz entgegengesetzteFolgerungen gewonnen werden. Während Poseidonios dieIdee der Mimesis aus ihren immanenten Prämissen so über-steigert, daß sie sich beinahe selbst aufhebt durch die Zirkel-vorstellung einer sich selbst nachahmenden Natur, siehtSeneca das authentisch Menschliche des Ungenügens an derteleologischen Vorsorge der Natur, die Unendlichkeit dersich selbst potenzierenden Bedürfnisse, die Lust am Über-flüssigen zum erstenmal- freilich mit negativem Vorzeichen- als Wurzel des technischen Arbeits- und Werkwillens.

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»Nachahrnung« hat hier im Grunde ihren Sinn verloren, dader Antrieb zur »Kunst« gerade im Ausschlagen der Ver-bindlichkeit und in der Bestreitung der Vollständigkeit derNatur gesehen wird. Die negative Einstellung hat hier, wieso .oft, die Sicht für das Wesentliche geschärft.

vDie Geschichte der Zersetzung und Entwurzelung derMimesis- Idee ist aber nicht, wie es das Beispiel der PolemikSenecas gegen Poseidonios vermuten lassen könnte, ein Vor-gang des Aufbrechens ihrer inneren Widersprüchlichkeit; esist vielmehr ein Prozeß, der durch neue, äußere, nämlichtheologische Ideen inauguriert wurde. Freilich ist es nicht;damit getan zu sagen, die biblische Schöpfungslehre habehier ganz neue Voraussetzungen eingebracht; vielmehr wirdsich zeigen, daß dieser Impuls sehr wohl in die bestehendeSeinsauffassung eingefangen werden konnte. Die beidenElemente, die sich als konstitutiv für die Mimesis-Vorstel-lung herausgeschält haben - exemplarische Verbindlichkeitund essentielle Vollständigkeit der Natur -, scheinen .sichzunächst sehr wohl mit dem Schöpfungsbegriff zu vertra-gen. Ja, man muß sagen, daß die Verbindlichkeit der gegebe-nen Natur durch den Gedanken, in ihr manifestiere sich derWille des Schöpfers, verstärkt worden ist, wie das ..Beispielaus Tertullian schon belegt hat. Und zunächst wird gar nichtgesehen, daß diese Begründung der Verbindlichkeit aufeinen Willensakt doch die Notwendigkeit der gegebenenWeIt als der erschöpfenden Realisierung des Möglichen inFrage stellt; so muß Tertullian in unserem Zitat die göttlicheWillensäußerung im natürlichen Sachverhalt so formulieren,daß Gott eben das Nichtgewollte nicht geschaffen habe unddaß er das Nichtgeschaffene nicht wolle. Aber was ist diesesNichtgewollt-Nichtgeschaffene? Eine in der Natur nichtvertretene Seinsmöglichkeit? Diese zwingende Konsequenz

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ist noch nicht ausdenkbar: sie impliziert die Faktizität undUnvollständigkeit der Natur, einen Spielraum des Mögli-chen für das »Künstliche«. Dieses Beispiel vermag zu zei-gen, in welche ontologischen Konsequenzen das Willensmo-ment im Schöpfungsbegriff hineintreibt: die verschärfteBegründung der Verbindlichkeit einer Natur, in der Gottsein Wollen dekretiert, hat zum' unausbleiblichen Korrelatdie Unbestreitbarkeit der nichtgewollten Möglichkeiten, fürdie sich freilich erst eine unfromme und spitzfindige Neu-gierde ausdrücklich interessieren wird.Von diesem Zusammenhang her gesehen ist die oft vorgetra-gene These nicht zutreffend, das christliche, aus dem Schöp-fungsbegriff gespeiste neue Seinsverständnis sei zum ersten-mal von AUGUSTIN geschlossen expliziert worden. Vielmehrwar es gerade dieser Denker, der die immanenten Konse-quenzen des Schöpfungs gedankens in der antiken Ontologieauffing. Es ist freilich richtig, daß er mit der Reduzierungder materia prima auf das absolute nihil die creatio ex nihiloallseitig gegen den Dualismus abgesichert hat. Aber es istfalsch, hier das wirklich wesentliche Problem zu sehen.Entscheidend ist, daß der schöpferische göttliche Geist nunmit dem platonischen mundus intelligibilis identifiziert wird.Idee und demiurgische Potenz sind nun zwar in einerInstanz vereinigt, aber nichts hat sich daran geändert, daßder mundus intelligibilis noch ein Ganzes darstellt - Platost;4>ov vonröv -, das nur integral in den mundus sensibilisumgesetzt werden kann. Hier steht Augustin ganz im Bannder Pedanterie, mit der der Neuplatonismus die Entspre-chungen von physischer und noetischer Welt durchexerzierthatte. 4 1 Der göttliche Willensakt, der die Schöpfung be-schließt, kann sich nur auf die fixierte Totalität des einenIdeenkosmos beziehen; also nur das Daß der Schöpfung,nicht ihr Was ist faktisch geworden. Der Begriff der All-macht ist bei Augustin noch nicht in Berührung gekommenmit dem Begriff der Unendlichkeit. Damit aber bleibt er aufdem Boden der antiken Kongruenz von Sein und Natur

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stehen. Es gibt zum gegebenen Bestand der Schöpfung keineAlternative, auch für den Schöpfer nicht, und nach demSchöpfungsakt kann nichts von essentieller Ursprünglichkeitmehr hervorgebracht werden. Wie sich endliche Welt undunendliche Potenz der Gottesmacht, Seinswirklichkeit undSeinsmöglichkeit zueinander verhalten mochten, das durch-zudenken und zu seinen Konsequenzen zu führen, bliebdem Mittelalter als eines seiner schwierigsten und trächtig-sten Themen aufgegeben.Dieser den antiken Charakter der Ontologie Augustins fest-haltenden These hat (als ich sie in München vortrug) HenryDeku widersprochen, der in einer eigenen subtilen Studie.die Geschichte des possibile logicum bei ..Augustin beginnenläßt,42 also die Geschichte der Herausbildung eines denidealen wie realen Kosmos übergreifenden Bereiches derSeinsmöglichkeit. den wir hier als »Spielraum« schöpferi-scher Ursprünglichkeit überhaupt· betrachten. Deku beruftsich vor allem auf Augustins Traktat De spiritu et littera, wo-sich in der Tat der Begriffsgebrauch von possibilitas konzen-triert. Aber dieser Begriff tritt hier - wie überhaupt beiAugustin - nur im Zusammenhang der pelagianischen Kon-troverse auf, also im Rahmen der Gnadentheologie. Es gehtum die Frage nach der möglichen Sündenlosigkeit des Men-schen, der possibilitas non peccandi, also um die Frage nacheiner möglichen Qualität des menschlichen Handeins, die esaus sich selbst haben kann: einer possibilitas naturalis imUnterschied zu dem nur aus der Gnade entspringendenHeilsstatus. 43 Gott steht also gar nicht als Seinsgrund, son-dern als Heilsgrund in der Betrachtung, ebenso das »Kön-nen« des Menschen nur hinsichtlich seiner Qualität derHeilswürdigkeit. Der Traktat De spiritu et litte ra ist an denTribunen Marcellinus gerichtet, der schon Adressat einerfrüheren Schrift De peccatorum meritis et remissione gewe-sen war, und beantwortet den auf diese frühere Schrift hingemachten Einwand, wie man behaupten könne, daß Sünd-losigkeit dem Menschen prinzipiell bei gutem Willen und

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mit Hilfe der:Gnade erreichbar sei, wenn man doch zugleichzugeben müsse: »nerno tarn perfectae iustitiae in hac vita velfuerit, vel sit, vel futurus sit« - mit anderen Worten: »wieman als möglich behaupten könne, was als wirklich nichtvorkornme.v' Dieser Marcellinus zumindest denkt ganz imHorizont der antiken Ontologie: die Möglichkeit wird nurausgewiesen durch die Wirklichkeit bzw. durch das »eigent-lich Seiende« der Ideen. Die Argumentation ist aufs engsteverwandt der des LUKREZ, der gegen die Schöpfung einwen-det: wie können die Götter Schöpfer der Natur sein, wennes ihnen doch dazu an dem exemplum fehlt, welches erstdie schon wirkliche Natur geben kann: »si non ipsa deditspeciem natura creandi.«45 In der uns nicht überliefertenEinrede des Marcellinus muß eben diese Position bezogenworden sein, wenn Augustin darauf schreiben kann:»Absurdum enim tibi videtur dici, aliquid fieri posse cuiusdesit exemplum. «46 Es wird nun gezeigt, daß die biblischeOffenbarung einen neuen Leitfaden für die apud Deumfacilia bietet, denn hier macht Gott über das ihm Möglicheselbst Mitteilung und das»Wort« tritt an Stelle der »Sache«als ein Beleg eigener Art: die Rede vom Kamel, das durch einNadelöhr gehen, der Glaube, der Berge versetzen kann -»quod tarnen nusquam factum, vel legimus, vel audivi-mus«."? Trotzdem berühren diese theologischen Possibili-tätserwägungen die ontologische Basis der augustinischenMetaphysik nicht, denn überall ist hier nur die Rede von derMöglichkeit Gottes, sein eigenes Schöpfungswerk Menschin seinem ursprünglichen konstitutiven Sein - platonisch: inder Entsprechung zu seiner Idee - unederherzustellen. DerHorizont des ideal präformierten Kosmos wird durch dieFragen nach der Möglichkeit des menschlichen Heils nichterweitert, sondern nur reintegriert. Wenn also festgestelltwird: »omnia possibilia surrt Deo«,48 so enthält dieses omnianoch keinerlei Anzeichen für ein mögliches Mehr im Ver-hältnis zum faktisch Geschaffenen, die Korrelation vonmundus intelligibilis und mundus sensibilis ist vielmehr nur

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durch die Urschuld des Menschen und an ihm defekt gewor-den, und um die Möglichkeit der Restitution dieses Defektsgeht es. Am posse non peccare des Menschen festzuhalten, istdabei ein logisches Erfordernis: denn ohne diese Möglich-keit könnte auch nicht sinnvoll vom posse peccare mehrgesprochen werden. Der Mensch ist eben zu definieren alsein Wesen, das über sein Kongruenzverhältnis zu seiner Ideeselbst verfügt. Aber diese Freiheit ist ganz innerhalb derGrenzen der Idealität gesehen.Nun ist nicht daran zu zweifeln, daß der bereits seit demHellenismus in die Kosmogonie eingeführte und von Augu-stin vollends ·virulent gemachte Faktor des Willens einen»Störbegriff«49 ersten Ranges für die Fortgeltung der anti-ken Ontologie darstellt und einen »ent-necessitierendenEinfluß auf das Wirklichkeitsgewordene«49 ausgeübt hat;doch war es noch nicht Augustin, der sich in seinem Seins-verständnis dadurch so gründlich gestört sah, daß er denvorgegebenen Sichthorizont wirklich irgendwo durchbro-chen hätte. Ich glaube, auch den Grund dafür angeben zukönnen: die Eliminierung der materia prima und der mitdieser notwendig verbundenen Tendenz zum Dualismuswar das sich vordrängende, durch den Manichäismus aktua-lisierte Problem. So glaubt man, ganz dicht an unsererFragestellung zu sein, wenn man Augustin zwischen crea-turn und creabile unterscheiden sieht, um dann aber ent-täuscht festzustellen, daß sich der Ausdruck creabile ebenauf das materielle Substrat bezieht, das er in sein tu fecistieingeschlossen wissen will. 50 Wo von dem die Rede ist, wasnoch nicht ist, aber sein kann, geht es immer um dasaristotelische, mit der Materie identifizierte Seinkönnen alsformale Unbestimmtheit. 51 Die Betonung des Willens imSchöpfungsbegriff hat ihre Grenze in der antignostischenPosition, die die Schöpfung als rationalen Akt zu fassengebietet: »[... ] quis audeat dicere Deum irrationabiliteromnia condidisse?«52 Was aber »rational« hier heißen kann,läßt sich nur nach dem Leitfaden der Entsprechung von

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noetischer und realer Welt, also nach demModell des plato-nischen Demiurgen, auslegen. Damit aber bleiben dieBegriffe der »Allmacht- und der »Unendlichkeit- notwen-dig getrennt, denn das infinitum ist im antiken Verständnismit Rationalität unvereinbar, es ist das hyletische ä:7tELQOV.Unter den .Attributen Gottes taucht die »Unendlichkeit-noch nicht auf. Aber erst wenn die potentia Gottes alspotentia infinita gesehen wird, tritt die logische Nötigungauf, das possibile nicht mehr von der potentia (und den in ihrimplizierten Ideen) her, sondern umgekehrt die potentiavom possibile her zu definieren. 53 Damit erst wird derlogische Umfang des Möglichkeitsbegriffes maßgebend undzugleich der Ideenkosmos für die Frage, was das omnia alsUmfang der omnipotentia bedeute, gleichgültig. Das hat zurFolge: der Begriff der Rationalität wird auf den der Wider-spruchslosigkeit reduziert, während noch bei Augustin derBegriff der ratio nicht von dem der exemplarischen Idee zulösen war, also einen endlich-gegenständlichen Bezug impli-zierte. Jetzt erst kann der für unsere Frage nach dem ontolo-gischen »Spielraurn« des Schöpferischen entscheidendeSchritt Fuß fassen: der als endlich gedachte Kosmos schöpftdas unendliche Universum der Seinsmöglichkeiten - und dasheißt: der Möglichkeiten der göttlichen Allmacht -l}icht ausund kann es nicht ausschöpfen. Er ist notwendig nur einfaktischer Ausschnitt dieses Universums, und es bleibt einSpielraum unverwirklichten Seins - der freilich noch auflange unbefragtes Reservat Gottes sein wird und zu derFrage des Menschen nach seinen eigenen Möglichkeitennoch nicht in Bezug tritt. Aber zum erstenmal wird in derErörterung des Allmachtsbegriffs dieser Spielraum über-haupt ontologisch impliziert und als Hintergrund der Welt-realität mitverstanden. Das ist primär ein eminent religiöserGedanke, insofern nicht nur das Daß der Welt seine Selbst-verständlichkeit verloren hat, sondern auch das Was nun alsein Akt besonderer göttlicher Entscheidung verstanden wer-den kann. Zugleich aber ist hier auch die Basis der philoso-

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phischen Kritik erweitert, auf der eine Fülle allmählichbewußtseinsbildender Fragen entsteht. Die Welt als Faktum- das ist die ontologische Voraussetzung für die Möglichkeitder Erwägung, schließlich für den Antrieb und die Lockung,im Spielraum des Unverwirklichten, durch das Faktischenicht Ausgefüllten, das originär Menschliche zu setzen, dasauthentisch »Neue« zu realisieren, aus dem Angewiesensei_nauf »Nachahrnung der Natur« ins von der Natur Unbetre-tene hinaus vorzustoßen.

VI

Für das Mittelalter freilich lag hier noch nichts Lockendes:alle spekulative Kühnheit wird daran gewendet, den Mög-lichkeiten Gottes, nicht denen des Menschen, bis zumäußersten nachzugehen. Es wird noch eines weiteren ent-scheidenden Motivs bedürfen, damit der Mensch die theolo-gisch entdeckte Inkongruenz von Sein und Natur für sich alsMöglichkeit schöpferischer Originalität erkennen undergreifen konnte.Der initialzündende Kontakt der Begriffe Allmacht undUnendlichkeit scheint im 11. Jahrhundert zustande gekom--men zu sein, als die Theologie durch den Angriff der »Dia-lektiker« vom Schlage des BERENGAR VON TOURS, vor allemgegen die Transsubstantiationslehre, genötigt wird, -denBegriff der göttlichen Allmacht zu systematisieren. Hier istvor allem PETRUS DAMIANI mit seiner Schrift De divinaomnipotentia Iederführend.P" aus deren zwölftem Kapitelich hier nur die charakteristische rhetorische Frage zitiere:»Quid est, quod Deus non valeat nova conditione creare?«Das Sein der Welt bekommt nun jene eigentümliche Zufäl-ligkeit, Widerruflichkeit und hypothetische Ersetzbarkeit,die erst im ausgehenden Mittelalter mit seiner Faktizitäts-angst aus logischen zu emotionalen - das heißt: vom Men-schen auf sich selbst bezogenen - Elementen werden. Ich

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vermag keine Darstellung dieses Transformationsprozesseszu geben. Mir geht es darum, etwas über das Anwachsen derInkongruenz von Sein und Natur und damit über die Rele-vanz des Spielraumes der schöpferischen Ursprünglichkeitauszumachen. Diesen Prozeß darf man sich weder als »orga-nisch« vorstellen noch ihm die eherne Gangart geschichtli-cher Notwendigkeit beilegen, die er aposteriori - und nochdazu im selektiven Präparat, auf das jede derartige Untersu-chung angewiesen ist - an sich zu haben scheint. Es läßt sichleicht sehen, daß die Rolle, die die Scholastik in diesemVorgang der Umbildung der ontologischen Prämissen spielt,wenig ins Konzept einer »geschichtlichen Notwendigkeit«paßt. Daß man sich die Reantikisierung durch die Aristote-lesrezeption auch nicht als zu gewaltsame Reversion denkendarf, ergibt sich schon aus der für Augustin gewonnenenEinsicht, wie stark der Fortbestand antiker Implikationenohnehin war. Um so reizvoller ist es, gerade in der N eubele-bung der antiken Metaphysik durch die Hochscholastik dieoft unscheinbaren, aber signifikanten Verformungen wahr-zunehmen, die belegen, was schon nicht mehr rückgängig zumachen war.Ontologische Voraussetzungen, die bei Augustin in Geltungsahen, ohne daß sie ausdrücklich formuliert zu werdenbrauchten, werden nun nach scholastischer Manier »quae-stionsreif«, Aufschlußreich im Hinblick auf unser Augustin-Ergebnis ist eine Stelle bei 1\LBERTUS MAGNUS, die sichpolemisch gegen den Fons vitae des AVICEBRON (IBN GABI-ROL) mit seiner Identifizierung von metaphysischem Licht-prinzip und Willen richtet: »voluntas non potest esse pri-mum. «55 Die Funktion des göttlichen Willens bezieht sichnur auf die Existenz der Welt, auf den Befehl ut Jiat, nichtaber auf die Jorma operis, den essentiellen Seinsbestand, derauch hier die Selbstverständlichkeit des ideal präformiertenGanzen hat.Noch bei THOMAS VON AQUINO ist diese Position nichtüberschritten. Trotzdem zeigt sich für das Prinzip der

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Nachahmung der Natur eine Lockerung insofern, als nebendieses noch die Idee der Nachahmung Gottes als weitererFundierungszusammenhang tritt. Das gab es formal schonbei Aristoteles, bei dem ja die reine Kreisbewegung derersten Sphäre Nachahmung des unbewegten Bewegers war;aber damit ist auch die Ergiebigkeit dieses Bezugeserschöpft. Deshalb mußte Aristoreles die Genesis z. B. desHauses erklären, daß der Architekt hier etwas zustandebringt, was die Natur ebenso entstehen lassen würde, dasheißt: er muß sich das künstliche Gebilde als Naturproduktvorstellen, um dann diese hypothetische Vorstellung nach-zuahmen. So wurde die universale Geltung der Mimesisgewahrt. Thomas schränkt die Nachahmung der Natur aufdas ein, was die Natur auch tatsächlich hervorbringenkann;s7 gerade das Haus aber ist reines Kunstding: »semperfit ab arte, sicut domus omnis est ab arte«. Natürlich bestehthier noch gar kein Gegensatz, aber der Akzent ist dochanders gelegt. Noch deutlicher wird das im Physikkommen-tar, wo die eingangs zitierte fundamentale Stelle 11,8; 199 a15-17 zur Sprache kommt. Die Thomas vorliegende lateini-sche Version hat: »ars alia quidem perficit quae natura nonpotest operari«, wozu der Kommentar erläutert: »dicit quodars quaedem facit, quae natura non potest Iacere«. 58 Das istradikaler formuliert als es bei Aristoteles gemeint gewesensein kann, der doch immer das schon Angelegte, das schonUnterwegs-Seiende der Natur voraussetzt, wenn er von dervollendenden Arbeit des Menschen spricht. Weshalb aberdie Nachahmung der Natur so erkennbar an Unausweich-lichkeit verloren hat, weshalb die »Kunst« aus dem Natur-zusammenhang heraustreten kann, das ist bei Thomas nichtzur Ausdriicklichkeit gebracht.Wohl aber bei seinem Zeitgenossen BONAVENTURA, der denVersuch, den Schöpfungsbegriff mit Hilfe der aristotelischenBeweger-Metaphysik auszulegen, nicht mitmacht, weil ihmin der Mechanik dieser Konzeption das Moment eines göttli-chen Willens, der sich in seinem Werk mitteilen will, verIo-

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renzugehen droht. »Mitteilung« nämlich bedeutet, daß dieunendliche Macht Gottes sich gerade nicht sozusagen »auto-matisch« exekutiert, sondern sich im Endlich-Faßbarenbeschränkt und vernehmbar macht für ein endlichesWesen. 59 In der Welt bekundet sich ein Ausdruckswille, dernicht alles Mögliche, sondern etwas Bestimmtes zu verstehengeben will: »rnulta, non ornnia« - vieles, nicht alles, holtGott aus dem Schatze seiner Möglichkeiten hervor, um sichdem Geschöpf in seiner Größe zu erweisen.r? Rein gefühls-mäßig interpretierend möchte man sagen, die Differenzzwischen multa und omnia sei hier nur als ein »Rest«verstanden, dem Menschen vielleicht wohlweislich und lie-bevoll vorenthalten, kein Grund jedenfalls, sich als im Seins-'besitz und -zugang verkürzt .zu empfinden. Aber schonWILHELM VON OCKHAM, der die franziskanische Traditionzu ihren Konsequenzen forciert, wird die Formel Bona-venturas umkehren, indem er das multa auf die andere Seitebringt, auf die Seite des Nichtgewollt-Unverwirklichten:»Gott kann vieles schaffen, was er nicht schaffen will. «61Man spürt geradezu, wie hier ein quälendes, bohrendesBewußtsein der Faktizität entspringen muß, die anschwel-lende Frage, weshalb diese und keine andere Welt ins Seingerufen wurde, eine Frage, der nur noch das nackte augusti-nische Quia voluit als Un-Antwort entgegengeschleudertwerden konnte. Die rationale Anstößigkeit weckt dasBewußtsein der Unerträglichkeit dieser Faktizität: unverse-hens verlagert sich der Akzent von dem im Geschaffenenempfundenen göttlichen Willensausdruck auf den im Nicht-geschaffenen implizierten Vorenthaltenheitscharakter. Wirkönnen diesen Prozeß der Umakzentuierung am ehestenablesen an den sorgenden Versuchen, ihm zu begegnen, ihnaufzufangen, ja ihm Positivitat zu geben.Am vielfältigsten spiegelt sich diese Anstrengung wohl imWerk des NIKOLAUS VON CUES. Der Cusaner hat in seinerfrühen Phase den Versuch Leibnizens vorweggenommen,das Nichtgeschaffensein des Ungeschaffenen dadurch zu

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rechtfertigen, daß er die wirkliche Weit als die höchste Formder Realität hinstellt, als Selbstverschwendung des schöpfe-rischen Prinzips, als Deus creatus'", Aber in diesem ver-christlichten Neuplatonismus ist eine immanente Gegenläu-figkeit zweier Elemente der spekulativen Theologie enthal-ten: einerseits erfordert die maximale Fassung des Begriffsder Vollkommenheit von Schöpfer und Werk zu sagen,Vollkommeneres habe nicht gemacht werden können, ande-rerseits erfordert die maximale Fassung des Begriffs dergöttlichen Macht zu sagen, kein wirkliches Werk diesesSchöpfers realisiere je das Äußerste dessen, was er an Größeund Perfektion hätte leisten können. Aus diesem Dilemmaist nicht herauszukommen. In der Schrift De beryllohat derCusaner fast zwei Jahrzehnte später die Schöpfung nach demModell der positiven Rechtssatzung betrachtet, wobei erzweimal das Digesteu-Zitat heranzieht, nach dem der Herr-scherwille Rechtskraft hat. 63 Am Ende seines Denkweges, inder Schrift De ludo globi, hat der Cusaner den Versuchgemacht, seine beiden früheren Positionen zu harmonisie-ren, indem er sie auf eine Verschiedenheit des Aspektszurückführt: von Gott her betrachtet gibt es einen Spielraumder Möglichkeit, von der Welt her betrachtet nicht. 64 Dasberuht auf einer Metaphysizierung des Möglichkeitsbegriffs :Gott hat nicht nur das Mögliche oder aus dem Möglichenverwirklicht, indem er schuf, sondern er hat die Möglichkeitselbst geschaffen: »et fieri posse ipsum factum est«, Das istdeutlich dazu bestimmt, Fragen zu entkräften und auszu-schließen, die sich akut aufdrängten. Versucht Nikolaus vonCues das noch durch eine Metaphysizierung der Logik, sowird es LUTHER durch die Radikalisierung des Ausschließ-lichkeitsanspruches der Theologie tun. Mit deutlicher Wen-dung gegen die Formel Ockhams besteht er darauf, daß»Allmacht« keinen logisch explikablen Sinn außerhalb desSchriftsinns hat und eben nicht jene Macht bedeutet, mit derGott vieles nicht wirkt, was er wirken kann. 6s Die potentiaabsoluta Gottes, deren Unfaßbarkeit noch den jungen Lu-

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ther ängstete wie das späte Mittelalter insgesamt, ist nun alsvon Gott selbst durch das Instrument der Offenbarung aufdie potentia .ordinata beschränkt zu denken; über diesegnädige Selbstbeschränkung Gottes hinauszufragen, nimmtdas Odium des Ausschlagens des Gnadenaktes an. Nurindem man die Frage nach dem unendlichen Spielraum derMöglichkeit nicht stellt, entzieht man sich der -drohendenUngewißheit dessen, was er offen läßt.

VII

Aber die Gewalt der einmal aufgebrochenen Fragen ließ sichnicht eindämmen; wohin sie führen, sehen wir schon beiDESCARTES fast in ganzem Umfang ausgesprochen. Bei ihmwird die Philosophie zur Systematik des Möglichen; von derSeinsmöglichkeit her wird die Seinswirklichkeit nun verstan-den. Darauf beruht die neue Bedeutung der Hypothese, diedem Erkenntniswillen am konstruierbaren maglieben Seins-zusammenhang-Genüge verschafft und demgegenüber dieFrage nach dem faktischen Nexus gleichgültig werden läßt.Dem Willen zur Konstruktion ist es irrelevant, ob zufälligdie Natur nachgeahmt wird oder ob eine dort nicht reali-sierte Lösung Platz greift; das normative Prinzip der Öko-nomie ist eine Idee des menschlichen Geistes für seineLeistungen, nicht für die Produktionen der Natur. DiePrinzipien der möglichen Welten sind so unendlich frucht-bar, daß eine Übereinstimmung der aus ihnen deduziertenhypothetischen Konstruktionen milder wirklichen Welt nurnoch Zufall sein kann. 66 Schon ist bei Descartes erkennbar,wie sich die Idee der Freiheit gerade auf die Unabhängigkeitder rationalen Formel vom faktisch Gegebenen bezieht: amBeispiel einer machina ualde artificiosa demonstriert er dievis ingenii als so originär seinsmächtig, »ut ipsam (sc. machi-nam) nullibi unquam visam per se excogitare potuerit-c"Der Mensch »wahlt« sich seine Welt, wie Gott aus dem

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Möglichen die eine zu schaffende Welt wählte. LEIBNIZ wirdnoch einmal versuchen, diese Welten durch seine prästabi-lierte Harmonie zu verklammern und durch den metaphysi-schen Optimismus den Druck der unendlichen Möglichkei-ten zu balancieren. Als aber dieser bodenlose Optimismusum die Mitte des 18. Jahrhunderts zusammenbricht, tritt dasganze Ärgernis der Tatsache hervor, daß die Seinswirklich-keit im Reich der Seinsmöglichkeit nur ein beliebiger Punkt-wert sein sollte. Welche Rechtfertigung gibt es noch für dasMöglichbleiben des Möglichen? Die Natur wird zum fakti-schen Resultat mechanischer Konstellationen - was kann sienoch der Mimesis durch das Menschenwerk verbindlichmachen und empfehlen? Der Zufälligkeit der natürlichenFormationen tritt nun das Menschenwerk - als ästhetischeswie als technisches - mit seiner Notwendigkeit entgegen.Was von Leibniz' »bester aller möglichen Welten« ontolo-gisch nachhaltig übrigbleibt, ist nicht die »beste Welt«,sondern die Unendlichkeit der möglichen Welten, die ebendann bewußtseinsattraktiv wird, wenn die wirkliche Welt,nicht mehr die ausgewählt-beste glaubhaft repräsentiert.OSKAR WALZEL hat, ohne den metaphysischen Hintergrundzu ahnen, die Verbindungslinie von Leibniz zur Idee desschöpferischen Genies um die Mitte des 18. Jahrhundertsangezeigt.P" Er hat vor allem sichtbar gemacht, wie derVergleich Gottes mit dem schöpferischen Künstler schondas Sich-Vergleichen des Künstlers mit Gott enthält; logischwar hier zwischen Renaissance und Sturm und Drang nichtsmehr hinzuzufügen. Entscheidend wichtig ist aber derUmstand, daß die Dichtung nun in dem Vergleich einesinguläre Bedeutung bekommt. Während der VergleichGottes mit dem Baumeister und bildenden Künstler in dieAntike zurückreicht, wird nun der Dichter zum bevorzug-ten »Schöpfer«, und das nicht zufällig, sondern - wie für unsnun leicht durchsichtig ist - auf Grund der Zersetzung derMimesis-Idee. Noch LEONARDO hatte in seinem Trattatodella Pittura die Gottähnlichkeit des Malers gerade damit

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begründet, daß er in der Nachahmung der Natur ihrenSchöpfer nachahme. Und der Aufstand des Manierismusgegen die Mimesis hatte de facto nur eine ostentative Defor-mation der Natur zuwege gebracht. In der Tradition derPoetik ist die Auflehnung gegen die imitatio primär gegendie Bindung der Stilmittel an den Kanon der Antike gerich-tet, als Bestehen auf der Individualität der Aussageformgegen das System der aristotelischen Poetik und den Cicero-nianismus. 69 Aber schon JULIUS C. SCALIGER definiert inseiner Poetik von 1561 den Unterschied zwischen der Dich-tung und allen anderen Künsten so, daß nur die Tätigkeit desDichters ein condere sei, die aller übrigen Künstler einnarrare, ein Nacherzählen im Unterschied zur Seinssetzungdes Poeten, der als alter deus eine natura altera zu begrün-den vermag."? Diese Idee ist aber noch ohne ontologischesFundament; sie erhält es erst durch Leibniz, der selbst aberkeine Folgerungen aus der Unendlichkeit der möglichenWelten gezogen hat,71 wegen seines metaphysischen Opti-mismus nicht ziehen konnte. Erst die »Schweizer« stelltenzwischen der Vorstellung des schöpferischen Dichters undder Idee der »möglichen Welten« den zündenden Kontakther, der die Bedeutung der Kunst als einer »rnetaphysischenThätigkeit« für die Folgezeit statuierte. JOHANN JAKOBBREITINGERS zweihändige Critische Dichtkunst von 1740 isteine »asthetische Verwertung von Leibnizens Lehre dermöglichen Welten«.72 Der Dichter findet sich in der LageGottes vor der Erschaffung der Welt angesichts der ganzenUnendlichkeit des Möglichen, aus der er wählen darf; darumist - und nun kommt die erstaunlichste Formulierung, dieman sich in unserem Zusammenhang erwünschen könnte!-die Poesie »eine Nachahmung der Schöpfung und der Naturnicht nur in dem Wirklichen, sondern auch in dem Mögli-chen«, So mächtig ist die in der metaphysischen Traditionverwurzelte Urformel von der »Nachahmung der Narur«,daß ihre Sanktion für die Deutung des menschlichen Werkesauch dann nicht entbehrt werden kann, wenn das genaue

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Gegenteil ihrer genuinen Bedeutung gesagt, ja »prokla-miert« werden soll! Noch das unendliche Mögliche nimmthier die.Konsistenz der platonischen Ideen an, wenn irgenddie Rede von der »Nachahmung-snoch einen Sinn behaltensoll. Auch jOHANN JAKOB BODMER spricht in seiner eben-falls 1740 erschienenen Critischen Abhandlung von demWunderbaren in der Poesie fast in den selben Worten davon,daß die Dichtung »die Materie' ihrer Nachahmung allezeit.lieber aus der möglichen als aus der gegenwärtigen Weltnimmt,«.73 An dem Beispiel Miltons wird gezeigt, wie derDichter das Gegebene überschreitet, ja das Nichts darzustel-len vermag gerade dadurch, daß er »durch eine metaphysika-lische Handlung« alles hinauswirft, was die Welt zur Weltmacht, und das Nichts als etwas vorstellt, wodurch er »dieSchöpfung vor der Schöpfung vorausgeholet« hat. Und auchhier wieder die stupende Formulierung, daß die Dichter»nach ihrer Kunst mittelst der Nachahmung Dinge hervor-bringen, die nicht sind«.Das 19. jahrhundert hat die Faktizitätscharaktere der Naturentscheidend- verschärft. Was als Natur vor uns steht, ist dasResultat ungerichterer mechanischer Prozesse, der Konden-sation wirbelnder Urmaterie, des Wechselspiels zufälligstreuender Mutationen mit dem brutalen Faktum des Kamp-fes ums Dasein. Dieses Resultat mag alles sein - nur ästheti-scher Gegenstand wird es nicht sein können. Wie könnte derZufall die überraschende Evidenz des Schönen hervorbrin-gen? So läßt sich das bis dahin Undenkbare verstehen, daßdie Natur häßlich wird, wie es FRANZ MARe berichtet:»Baume, Blumen, Erde, alles zeigte mir in jedem jahr mehrhäßliche, gefühlswidrige Seiten, bis mir erst plötzlich dieHäßlichkeit der Natur, ihre Unreinheit voll zum Bewußt-sein kam.« 74 Den ontologischen Hintergrund genauer ange-sprochen hat der französische Maler RAOUL DUFY, als er aufden Vorwurf, er mache zu kurzen Prozeß mit der Natur,erwiderte: »Die Natur, mein Herr, ist eine Hypothese[... ].«75 Im ästhetischen Naturerlebnis drängt sich nun

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bereits der Vorbehalt der unendlich vielen möglichen Wehenauf, denn wir können seit Descartes naturwissenschaftlichnicht mehr mit Gewißheit sagen, welche dieser Möglichkei-ten in der Natur verwirklicht ist, sondern nur, mit welcherdieser Möglichkeiten wir funktional zurechtkommen. DieseNatur hat nichts mehr gemein mit dem Naturbegriff derAntike; auf den sich die Mimesis-Idee bezieht: das selbstnicht herstellbare Urbild Herstellbaren. Dagegen istHersteIlbarkeit aller Phänomene die Antizipationder experimentellen Naturforschung, und Hypothesen sindEntwürfe von Anweisungen für die Herstellung von Phäno-menen. Die Natur ist folgerichtig zum Inbegriff möglicherProdukte der Technik gewordeQ. Der Rest an exemplari-scher Verbindlichkeit ist damit aus der Natur ausgetrieben.Für den Techniker konnte die Natur mehr und mehr zumbloßen Substrat werden, dessen gegebene Konstitution derVerwirklichung konstruktiver Zwecke eher im Wege stehtals sie fördert. Nur durch die Reduzierung der Natur aufihren nackten Material- und Energiewert wird eine Sphärereiner Konstruktion und Synthese möglich. So ergibt sichder auf den ersten Blick paradoxe Sachverhalt, daß in einemZeitalter höchster Geltung der Wissenschaft von der Naturzugleich deren Gegenstand in seinem Seinsrang für denMenschen nivelliert worden ist.

VIII

Nun erst läßt sich die positive Bedeutung ermessen, dieder Auflösung der Identität von Sein und Natur zukommt.Der Entwertungsprozeß der Natur ist nur deshalb nichtschlechthin ein nihilistischer Vorgang, weil der Glaube mög-lich geworden ist, »daß das Sichtbare im Verhältnis zumWeltganzen nur isoliertes Beispiel ist, und daß andereWahr-heiten latent in der Überzahl sind«,76 und daß diese Welt»nicht die einzige aller Welten« ist. 77 So deutet die Kunst

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nicht mehr auf ein anderes exemplarisches Sein hin, sondernsie ist selbst dieses für die Möglichkeiten des Menschenexemplarische Sein: das Kunstwerk will nicht mehr nuretwas bedeuten, sondern es will etwas sein.Aber ist nicht dieses Sein, das eine der unendlich vielengleichsam neben der Natur liegengebliebenen Möglichkeitenaufnimmt, ebenso faktisch und beliebig wie das der Natur?Um diesen Kern bewegen sich alle Fragen, die durch dieÜberwindung der Mimesis-Bindung aufgeworfen wordensind. Wir stehen wohl noch zu sehr im Auslauf des agonalenProzesses dieser Überwindung, um uns bestimmte Antwor-ten zutrauen zu dürfen. Wir sind auf Hypothesen angewie-sen, wo wir .dern entfliehen wollten, was »nur Hypothese«ist. Aber manches deutet darauf hin, daß die Phase dergewalttätigen Selbstbetonung des Konstruktiven undAuthentischen, des »Werkes« und der »Arbeit«, nur Über-gang war. Die Überwindung der »Nachahmung der Natur-könnte in den Gewinn einer »Vorahmung der Natur« ein-münden. Wäh.rend der Mensch ganz dem hingegebenscheint, sich in der »metaphysischen Thätigkeit« der Kunstseiner originären Potenz zu vergewissern, stellt sich unver-mutet im Geschaffenen eine Ahnung des Immer-schon-Daseienden ein, »als ob es ein Produkt der bloßen Natursei«.78 Ich denke an ein in der Bewußtheit seiner Antriebe soparadigmatisches Lebenswerk wie das von PAUL KLEE, andem sich zeigt, wie im Spielraum des .frei Geschaffenen sichunvermutet Strukturen kristallisieren, in denen sich dasUralte, Immer-Gewesene eines Urgrundes der Natur inneuer Überzeugungskraft zu erkennen gibt. So sind KleesNamengebungen nicht die üblichen Verlegenheiten derAbstrakten, an Assoziationen im Vertrauten zu appellieren,sondern sie sind Akte eines bestürzten Wiedererkennens, indem sich schließlich ankündigen mag, daß nur eine Welt dieSeinsmöglichkeiten gültig realisiert und daß der Weg in dieUnendlichkeit des Möglichen nur die Ausflucht aus derUnfreiheit der Mimesis war. Sind die unendlichen Welten,

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die Leibniz der Ästhetik beschert hat, nur unendliche Spie-gelungen einer Grundfigur des Seins? Wir wissen es nicht,und wir wissen .auch nicht, ob wir es je wissen werden; aberes wird unendlich oft wieder die Probe darauf gemachtwerden. Wäre das aber nicht ein Zirkel, der uns genau dahinzurückführt, wo wir aufgebrochen waren? Die, Anzeicheneines solchen Zirkels schrecken heute viele, die fürchten, alleKühnheiten könnten vergeblich gewesen sein. Aber eben dasist ein Irrtum. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob wirdas Gegebene als das Unausweichliche hinzunehmen habenoder ob wir es als den' Kern von Evidenz im Spielraum derunendlichen Möglichkeit wiederfinden und in freier Einwil-ligung anerkennen können. Das wäre, worum es letztlichging, die »Verwesentlichung des Zufälligen«. 79

Anmerkungen

1 Aristoteles, Physik 11, 8; 199a 15-17: re tEXVIl tcl IlEvbtLtEAEL ä 1) äÖUVOtEL WtEQyaouoituL, ta öt IlLluELtOL.«

2 Vgl. die Formulierung Politik IV,17; 1337 a 1-2: »3täoo yaQtEXVT) xot 3tOLÖELU to 3tQOOAEL3tOV ßOUAEtOL ti}säV03tAT)QO'Üv•«

3 Aristoteles, Physik 11,8; 199a 12-15. Die Natur ist sozusagenautotechnisch. vergleichbar dem Arzt, der sein Können auf sichselbst anwendet (199 b 30-32). Zurückgewiesen wird die Unter-stellung, daß solche Autotechnizität mit einsichtiger Absichtidentisch sei (199 b Aristoteles stellt jene uns (zumindesthypothetisch) unausweichliche Ursituation, in der noch nichtsist oder auch nur etwas von bestimmter Spezifität noch, nicht ist,gar nicht vor. Da alles seiner Spezifität nach immer schon da ist,existiert der Moment, in dem etwas allererst »ausgedacht« undaus der Vorstellung in die Realität überführt werden müßte, fürAristoteles nicht. Das Denken denkt prinzipiell- dem Seiendennur nach.

4 Aristoteles, Physik 11,2; 194 a 21 f. Meteorologie IV,3; 3'81 b 3-7.5 Vgl. Katalog der Ausstellung »Der Triumph des europäischenManierisrnus« (Amsterdam, Rijksmuseum, 1955), Nr. 88.

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6 Friedrich Nietzsche, »Die Geburt der Tragödie aus dem Geisteder Musik. Vorwort an Richard Wagner«, inrF, N., Gesammel-te Werke, Musarion-Ausg., hrsg. von Richard Oehler, MaxOehler und Friedrich Christian Würzbach, Bd . .3, München1920, S. 20.

7 Vgl. Werner Hofmann, »-Manier- und'-Stil. in der Kunst des 20.jahrhunderts«, in: Studium Generale 8 (1955) S. 9. Schon Kanthat das Moment der Nachahmung verschoben auf das fortzeu-gende Verhältnis von Kunst zu Kunst, während die Natur durchdas Medium des »Genies« die letztlich produktive Urinstanz derKunst ist, aber in einem Sinne, der nicht Nachahmung, sondern»Hervorbringung durch Freiheit« impliziert (Kritik der Urteils-kraft, §§43, 46). Genie ist »dem Nachahmungsgeiste gänzlichentgegen zu setzen«; indem es aber als »die Natur im Subjekte-verstanden werden muß, ist hier eine letzte .formale Verbindlich-keit der Natur supponiert, die keinen Erklärungswert mehr hat.Exemplarisch sichtbar ist nur noch der historische Prozeß, indem »das Produkt eines Genies« zum Beispiel wird »der Nach-folge für ein anderes Genie, welches dadurch zum Gefühl seinereigenen Originalität aufgeweckt wird«, so daß Kunst »Schule«macht - »und für diese ist die schöne Kunst sofern Nachahmung,der die Natur durch ein Genie die Regel gab« (ebd., § 49).

8 Henri Matisse, zit, nach: Werner Haftniann, Malerei im 20.Jahrhundert, München 1954, S. 113.

9 Vgl. die Einführung des Verf. zu den »Idiora--Dialogen in:Nikolaus von Cues, Die Kunst der Vermutung, Auswahl aus denSchriften, bes. und eingel. von H. B., Bremen 1957, S. 231 ff.Der hier herangezogene Text ebd., S. 272.

10 Es ist für den »rnittelalterlichen« Aspekt des Cusaners überauscharakteristisch, daß in der hier besprochenen Aussage des Idio-ta noch ein versteckter Bezug auf die Doppeldefinition der»Kunst« bei Aristoteles enthalten ist: »ars mea est magis perfec-toria quam irnitatoria figurarum creatarum et in hoc infinitae artisimilior.« Es wird unterstellt, daß die beiden Teile der aristoteli-schen Definition eine generelle Differenz implizieren (statt einerspezifischen) und daß sie alternativ gelten; da also der Idiota nichteine ars imitatoria für die seine halten kann, bleibt ihm nurübrig, an die ars perfeetoria anzuknüpfen, da ihm eine dritteMöglichkeit terminologisch gar nicht zugänglich ist, obwohl diezuvor gegebene Darstellung dessen, was er tut, überhaupt keinensachlichen Anhalt dafür bietet, daß er etwas von der Natur

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unvollendet Liegengelassenes aufnimmt und »vollendet«, es seidenn. das Material, das er verwendet. Hier- zeigt sich, wie dieGeschichte des menschlichen Geistes durch Definitionen (unddas heißt: durch den Anspruch auf Endgültigkeit) kanalisiertwerden kann.

11 Orville Wright, »How we invented the Airplane«, in: Harper'sMagazine 6 0953).

12 Leonardo da Vinci, Tagebücher und Aufzeichnungen, übers.und hrsg. von Theodor Lücke, Zürich [usw.] 1952, S. 307: »Dumußt die Flügel eines Vogels samt den Brustmuskeln, den Bewe-gern dieser Flügel, anatomisch untersuchen. Und- du mußt dasgleiche auch beim Menschen tun, um darzulegen, welche Mög-lichkeit im Menschen steckt, wenn er sich durch Flügelschlagenin der Luft halten will.« Hier kommt neben der ars imitatoriaauch in unmittelbarem Zusammenhang die ars perfectoria zurGeltung, also der ganze Aristoteles.

13 Otto Lilienthal, Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst,München 21910.

14 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: F. N., Gesam-melte Werke, Bd. 13, 1924, S. 149; ich zitiere nach dem etwasabweichenden Selbstzitat Nietzsches in Eccehomo (ebd., Bd. 21,1928, S. 277).

15 Niemand hätte das greifbarer verbildlichen können als BertoltBrecht, der in einer seiner Geschichten vom Herrn Keuner,betitelt »Herr K. und die Natur«, sagen läßt: »Ich würde gernmitunter aus dem Haus tretend ein paar Bäume sehen [... ].« DerIrrealis ist wie eine versteckte Fußangel in der Quasi-Idylle, diesich nun entfaltet, wo der »besondere Grad von Realität« desNaturgebildes gegenüber der bloßen Relativität des Gebrauchs-gegenstandes gefeiert wird, das »beruhigend Selbständige, vonmir Absehende- der Bäume, ja es wird schließlich die Hoffnungausgesprochen, es möchte an diesen Bäumen etwas Unverwert-bares, nicht Materialhaftes sein. Aber diese scharfsichtige Phäno-menologie eines untergründigen Naturbedürfnisses endet miteinem Ordnungsruf, dessen Stilisierung auf Beiläufigkeit - derNachsatz ist in Klammern gesetzt und beginnt: »Herr K. sagteauch« - nur paideutische Taktik ist: »Es ist nötig für uns, von derNatur einen sparsamen Gebrauch zu machen. Ohne Arbeit inder Natur weilend, gerät man leicht in einen krankhaften Zu-stand, etwas wie Fieber befällt einen.« Ohne Arbeit in der Naturzu weilen, perhorresziert denn auch den Zeitgenossen (nicht nur

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den marxistischer Observanz, wenn es ihn gibt); der moderneArbeitsgarten zeigt das genauso wie die diversen Formen derBegleitung der vorgeblich Naturbedürftigen durch technischesGerät, das den Natureindruck neutralisiert.

16 Plato, Politeia X; 596 B: »oö yaQ 3tOU 'ttlv yE LÖtOV au'tllv'toov ÖllJ.,UouQYoov.«

17 Ebd.: »alla' LÖEOt yt 3tOU REQt 'taü'to 'tCx OXEUl1 [••• [«.18 Aristoteles läßt allerdings nur eine nominale Differenz zu: Meta-

physik I, 6; 987 b 10-13. Für ihn ist aber auch die Ambivalenzdes Sachverhaltes, dem Plato gerecht zu werden hat, nicht mehraktuell.

19 So deutlich bei Demokrit: »ayoitov ElvOL XQEWV ii J!LJ.lEL-cr6ciL.«-(Die Fragmenteder Vorsokratiker, griech.Zdt., hrsg. vonHermann Diels und Walther Kranz, Bd. 1, Berlin 81956, fr. 39.)Selbst in der Ableitung menschlicher Leistungen von tierischenbei Demokrit (Weben, Stopfen, Hausbau,-Gesang: ebd., fr. 154)durch Nachahmung kommt der Vorrang dessen, der etwas vonNatur besitzt, gegenüber der Armut dessen, der es nur über-nimmt, klar heraus.

20 Plato, Politeia'X; 599 A: »'tQL't'tUMEXOV'tO roü OvtOS.«21 Die Einbeziehung der Sophistik geht auf eine Diskussion meiner

These mit Dieter Henrich zurück.22 Plato, PoliteiaX; 597 Be.23 Ebd. 597 D.24 Aristoteles, Metaphysik 1,9; 991 b 6 f. Positiv formuliert: Meta-

physik XII,3; 1070a 18-20.25 Plato, Timaios 29 A.26 Ebd. 30 CD, 31 A. So auch Francis M. Cornford, Plato's

Cosmology,London 1937, S. 40 f.: »The intelligible Living Crea-ture corresponds to it, whole to whole, and part to part.«

27 Der antike Platonismus hat es sich mit dieser Hypothek sauerwerden lassen, wie Willy Theiler (Die VorbereitungdesNeupla-tonismus, Berlin 1930) gezeigt hat. An der Exklusivität der Ideenfür die cpUOEL ÖV'tO wird festgehalten (z. B. Chalcidii Plato Tim-aeus, hrsg. von Johann Wrobe1, Leipzig 1876, 333,8): »ideaesunt exempla naturalium rerurn.« Man hilft sich, wie in aller»Scholastik«, mit nominalen Differenzierungen, denen begriffli-che Deckung fehlt, so mit der schon bei Plato anklingendenUnterscheidung von löta und Das Eidos wird die insWerk gesetzte Idee.

28 Aristoteles, Meteorologie 1,9; 346 b llr347 a 5.

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29 Aristoteles, Metaphysik XII,2; 1069b 19. XII,3; 1070a 8. Vgl.hierzu Hans Blumenberg, »Das Verhältnis von Natur und Tech-nik als philosophisches Problem«, in: Studium Generale 4 (1951)S. 463 f.

30 Samue1 H. Butcher, Aristotle's Theory o[ Poetry and Fine Art,London 41927, S. 126, weist z. B. mit Recht darauf hin, daß manden Ausdruck <paVtao(a bei Aristoteles nicht genau durch»Irnagination« wiedergeben könne, worin »an image-makingpower« bedeutet werde. An der noch direkteren Wiedergabe mit»Phantasie« läßt sich ein ähnlicher differenzierender Bedeu-tungszuwachs entnehmen, um dessen ontologische Möglichkeites uns hier gerade geht. Davon darf man auf Aristoteles nichtszurückfließen lassen. Um so weniger verstehe ich die geheimnis-volle Bemerkung bei Butcher (ebd., S. 127, Anm. 1): »The ideaof a creative power in man which transforms the materialssupplied by the empirical world is not unknown either to Platoor Aristotle, but it is not aseparate faculty or denoted by adistinct name. « Für die Bedeutungsgeschichte von »Phantasie«ist es charakteristisch, wie spät erst originäre Momente zuflie-ßen, und nicht weniger, daß es ein Vertreter der sog. »zweitenSophistik- im 3. Jh. n. ehr. war, der eine neue Definition von

als »creative imagination« (A Greek-English Lexicon,comp. by Henry G. Lidell and Roben Scott, Oxford 1925H.)gab: Philostrat in seiner Apollonius-Vita (Flavii PhilostratiOpera, hrsg. von Carl Ludwig Kayser, 2 Bde., Leipzig 1870/71,VI, 19), wo ausdrücklich die -Phantasie« der »Nachahmung«entgegengestellt wird, und zwar im Hinblick auf das Mehr,das in den Götterstatuen eines Phidias oder Praxiteles enthaltenist, das Mehr an Ungesehenem, Unvorgegebenem:fl€V yaQ 01lf..lLOUQYl10€L ö €ZO€V, <pav'taa(a OE KaL ÖElö€v.«

31 Butcher, Aristotle's Theory of Poetry and Fine Art, S. 116.32 Ebd., S. 117.33 Aristoteles, Poetik XXV; 1460 b 11"35.34 Aristoteles, Metaphy sik XII,3; 1070 a 7 f.: »Tt uev tEXVllaQXfI Ev

CtAAq>, Tt OE aQxi] €v au'tep.«35 Aristoteles, De mundo 5; 396 a 33 - b 22. Es ist sicher falsch,

auch das Mimesis-Element dieses Zusammenhanges schon Hera-klit zuzusprechen, wie es Carl Michaelis (Art. »f..lLf..l€Of..laL«, in:Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, hrsg. vonGerhard Kittel [u. a.], Bd. 4, Stuttgart 1943, S. 662) tut, wohl

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veranlaßt durch das Gesamtzitat 'bei Hermann Diels, Zwei Frag-mente Heraklits, Berlin [1901], 22 B 10.

36 »0'0 (sc. roü frAio'U) rl}v EVEQYELav[... ] (Posei-

donios, in: Diodori Biblia historica, griech.zlat., Bd. 2, Paris1878, 57,7.)

37 Tertullian, De cultu feminarum 1,8 (übers. von HeinrichKellner).

38 Karl Reinhardt, Poseidonios, München 1921, S. 400. Vgl. dieverdichtete Formel für diesen Zusammenhang, bezogen auf dieKunst der Rhetorik, bei Cicero, De ratione ad C. H erennium:»Imitetur ars igitur naturam et, quod ea desiderat, id inveniat,quod ostendit, sequatur« (Opera, Bd. 1, hrsg. von FriedrichMarx, Leipzig 1925, III, 22,37).

39 Seneca, Epistu/ae mora/es ad Lucilium XC,16; »Simplici curaconstant necessaria: in delicias laboratur. Non desiderabis anifi-ces, si sequere naturam. «

40 Ebd. XC,18.41 Z. B. Plotin, Enneaden V,8,3, wo die Weltverdopplung ins

Detail so durchgeführt ist, daß die ursprünglich logische Struk-tur des Ideenreiches zugunsren der Genauigkeit einer Vorlageder physischen Welt völlig verlorengeht. Welt erscheint dadurchnur in dieser einen verbindlichen Gestalt als denkbar. Auch dervon Willy Theiler (Die Vorbereitung des Neuplatonismus, Berlin1930, S. 30) beschriebene Vorgang des rangmäßigen Stellungs-tausches zwischen den Ideen und dem Demiurgen, durch denschon Philo die Ideen als ögyavov dem Schöpfergott mit Hilfeder Logosspekulation subordiniert, hat die absolute Exemplari-tät der Ideen als eines integralen Bestandes nicht berührt.

42 Henry Deku, »PossibileLogicum«, in: PhilosophischesJahrbuch64 (1956) S. 10.

43 Augustinus, De natura et gratia XLIV,52.44 Diese Allgemeinheit der Fragestellung kommt am deutlichsten in

der Formulierung der Retractationes 11,27 heraus: »quomodo[...] posse fieri cuius rei desit exernplum.«

45 Lukrez, De rerum natura V,181-186.46 Augustinus, De spiritu et litte ra 1,1.47 Ebd. XXV,62.48 Ebd. V,7.49 Briefliche Formulierungen von Henry Deku.50 Augustinus, Confessiones XII tI9,28: »Verum est quod non

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solum creatum atque formatum, sed etiam quidquid creabileatque fonnabile est, tu fecisti ex quo sunt ornnia.« (Auf die Stellehat mich Günter Gawlick hingewiesen.)

51 Augustinus, De uera religione X:VIII,36: »Ira omne quod estinquantum est, et ornne quod nondum est inquantum essepotest, ex Deo habet (sc. esse et esse posse).« Der Kontext dieserStelle ist auch im Hinblick auf den oben diskutierten Zusammen-hang von De spiritu et littera insofern aufschlußreich, als hier dertheologische Begriff der salus mit dem des bonum identifiziertund auf dem Boden der antiken Voraussetzungen als integritasnaturae - platonisch: als Entsprechung zu der Idee - ausgelegtwird.

52 Augustinus, De diuersis quaestionibus LXXXIII, q. 46.53 Für die Herleitung des possibile vom posse zitiere ich die oersio

latina von De nature hominis des Nemesius von Emesa (Biblio-tbeca Scriptorum, graec. et rom., hrsg. von Karl Burkhard,Leipzig 1917), Kap. 34: »tria igitur haec sunt ad invicem sehabentia: potens, potestas, possibile, potens quidem essentia,potestas vero a qua habemus posse, possibile autern, quodsecundum potestatern naturn est fieri.«

54 Die Bedeutung dieses Autors für die Geschichte des Möglich-keitsbegriffs ist von August Faust, Der Möglichkeitsgedanke,Bd. 1, Heidelberg 1931, Kap. 2, S. 72-95, dargestellt worden.

55 Albertus Magnus, De causis et processu unioersitatis I tr. 3 c. 4:»Prirnum enim et operi proximum, in' qua primi est potentiaagendi, est illud, quod dat form am operi, et non illud, quodiubet et praecipit opus fieri; lumen autern intellectus universaliteragentis est forma operis opus determinans ad rationem et for-rnam, voluntas autem non est nisi praecipiens ut fiat.«

56 Albertus Magnus, Summa theologica I, q. 9 a. 1 ad 2: »[...] suamsimilitudinem diffundit [sc. divina sapientia] usque ad, ultimarerurn: nihil enirn esse potest quod non procedat a divina sapien-tia per quamdarn imitationem [... ].«

57 Albertus Magnus, Summa contra Gentiles II, 75 ad 3: »In hisautem quae possunt fieri er arte et natura, ars imitatur naturam[... ].«

58 In octo libros Physicorum Aristotelis exposito II, leer, n. 4(hrsg, von Mariani Maggiölo, Turin 1954, S. 126). Um zuzeigen, wie der aristotelische Sinn authentischer getroffen wer-den kann, zitiere ich noch die Übersetzung des Johannes Argy-ropylos (hrsg, von Immanuel Bekker, Berlin 1831, III, 109 b):

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»Nachabmung der Natur« tOt

»atque ars omnino alia perficit, quae natura nequit perficere, aliaimitando naturam facit. «

59 Bonavenrura, Breuiloquium 11,1,1: »universitas machinae mun-dialis producta est in esse ex tempore et de nihilo, ab unoprincipio primo, solo et summo; cuius potentia, licet sit immen-sa, disposuit tarnen omnia in certo pondere, numero et mensu-ra. « In dieser faktischen Bestimmtheit ist ontologisch der »An-reiz«, nachzumessen, nachzuzählen, nachzuwägen, verwurzelt,der den empirischen Weg der Erkenntnis eröffnet.

60 Bonaventura, 11. Sententiarum 1,2,1,1 concI.: »Propter ergoirnrnensitatis manifestationem multa de suis thesauris profert,non omnia, quia effectus nonpotest aequari virtuti ipsius primaecausae.« (Opera theologica selecta, hrsg. von Leonardi M. Bello,Collegium Sancti Bonaventura, Quaracchi t 934 ff., Bd. 2, S.39 f.) Die aristotelisierende Begründung für einen ganz heteroge-nen Sachverhalt ist charakteristisch. Trotzdem war sich Bona-ventura der Differenz zu Aristote1es viel klarer bewußt alsThemas, ja er dachte bereits so »geschichtlich«, daß er Aristote-les dafür loben konnte, daß er in der Frage der Ewigkeit der Weitfolgerichtig und seinen eigenen Prinzipien gemäß gedacht habe.

61 Wilhelm von Ockham, Quodlibeta Septem VI, q. 1: »Deusmulta potest facere quae non vult facere.« (Zit, nach: ReinholdSeeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte. Bd. 3, Nachdr. der 4.Aufl. [Berlin 1930], Darmstadt 1960, S. 715.) Hier wird derZusammenhang unseres Problems mit dem »Nominalismus-Ockhams greifbar: der Realismus der universalia erweist sich alsunvereinbar mit dem strikten Begriff der creatio ex nibilo, Dasuniversale als das im Konkreten beliebig Wiederholte und Wie-derholbare hat nur einen Sinn, solange das Universum desSeinsmöglichen ein endliches Ganzes ist (wie der mundus intelli-gibilis ), dem Existenz gleichsam nur »zugeführt« wird (distinctiorealis). Im Begriff der potentia absoluta ist nun aber ein unendli-ches All des Möglichen impliziert; das macht die Deutung desIndividuellen als »Wiederholung« eines Universellen sinnlos.Schöpfung bedeutet nun für jedes Geschöpf das ex nihilo seineressentia. Nur so wird ausgeschlossen, wie Wilhelm argumen-tiert, daß Gott durch die Erschaffung eines Seienden seinepotentia einschränkt, weil durch die Setzung eines universale imBereich desselben nur noch »Nachahmung«, nicht aber creatiomöglich wäre, denn: »creatio est simpliciter de nihilo, ita quodnihil essentiale vel intrinsecum rei simpliciter praecedat in esse

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reali.« Der Universalienrealismus würde bedeuten, daß ))perconsequens omnia producta post primum producturn non crear-entur, quia non essent de nihilo« (Bonaventura, J. Sententiarum,dist. 2 q. 4 D). Wieviel Raum das Reich des Möglichen schonbietet, zeigt sich daran, daß Wilhelm gegen seinen VorgängerDuns Scotus den Satz, Gott allein besitze schöpferische Potenz,für nicht beweisbar erklärt (Wilhelm, Quodlibeta SeptemVII,23). Dies ist noch nicht die Investitur des Menschen mit demAttribut des Schöpferischen; aber es löst den Begriff potentiellaus seiner exklusiven Theologizität heraus und läßt erwarten,daß er sich als transplantabel erweisen wird.

62 Nikolaus von Cues, De doeta ignorantia II,2: »Quoniarn ipsaforma infinita non est nisi finite recepta, ut omnis creatura sitquasi infinitas finita aut Deus creatus, ut sit eo modo, quo hocme1ius esse possit; ac si dixisset creator: Fiat, et quia Deus fierinon potuit, qui est ipsa aeternitas, hoc factum est, quod fieripotuit Deo similius. «

63 -Quod prineipi placuit legis vigorem habet« (Ulpianus, Digests1,4,1; Nikolaus von Cues, De beryllo XXIX). Das ist ausdrück-lich auf die Unfähigkeit der antiken Metaphysik gemünzt, denSchöpfungsakt auszulegen: »Cur autem sie sit et non aliterconstitutum, propterea non seiret nisi quod demum resolutus p]diceret: Quod principi [... ]« (ebd.: vgl. Kap. XVI). Als bibli-sche Autorität wird Eccl. VIII, 17 zitiert: »Omnium operum Deinulla est ratio« (ebd.).

64 Nikolaus von Cues, De ludo globi I: »[...J perfectiorern etrotundiorem mundum atque etiarn imperfectiorem et minusrotundum potuit facere Deus, licet factus sit ita perfectus, sicutesse potuit.«

65 D. Martin Lutbers Werke, Krit. Gesamtausg., Bd. 18, Weimar1908, S. 718: »Omnipotentiam vero Dei voco non illam potenti-arn, qua rnulta non facit quae potest, sed actualern illam, quapotenter omnia facit in omnibus, quo modo scriptura vocat euroomnipotentem. «

66 Descartes, Principia philosophiae 111,4: »Principia [...] tarn vastaet tarn foecunda, ut multo plura ex iis sequantur, quam in hocmundo aspectabili contineri videarnus.«

67 Ebd. 1,17.68 Oskar Walzei, Das Prornetbeussymbol von Shaftesbury zu

Goetbe, München 21932.69 Vgl. August Buck, Italienische Dicbtungslebren, Tübingen 1952.

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70 Die Stelle ist ausführlich wiedergegeben bei Walzel, Das Prome-tbeussymbol von Shaftesbury zu Goethe, S. 45 f.

71 Ebd., S. 5I.72 Ebd., S. 39; dort auch das folgende Zitat.73 Ebd., S. 43, für dieses und die folgenden Zitate.74 Dieses und weitere Zeugnisse bei Hans Sedlmayr, Verlust der

Mitte, Salzburg 1948, S. 158.75 Zit, in: Geschichte der modernen Malerei. Fauvismus und

Expressionismus, Genf 1950, S. 69H.76 Paul Klee, zit, nach: Werner Haftmann, Paul Klee. Wege bildne-

rischen Denkens, München 1950, S. 71.77 Paul Klee, Über die moderne Kunst, Bem 1945, S: 43.78 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 45.79 Paul Klee, zit, nach: Haftmann. Paul Klee, S. 71.