Blumenthal-Barby · Der asymmetrische Blick · 2016. 5. 18. · Herstellung: Ferdinand Schöningh...

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  • Blumenthal-Barby · Der asymmetrische Blick

  • Martin Blumenthal-Barby

    Der asymmetrische Blick

    Film und Überwachung

    Aus dem Englischen von Jens Hagestedt

    Wilhelm Fink

  • Umschlagabbildung:Harun Farocki: Erkennen und Verfolgen (2003)

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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    Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, MünchenHerstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

    E-Book ISBN 978-3-8467-5935-6ISBN der Printausgabe 978-3-7705-5935-0

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  • Inhalt

    Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

    Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

    1 Schönheit, die »nicht berechnet« ist: Farockis Gegen-Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

    2 »Kinematographie der Apparate«: Farockis Auge/Maschine-Trilogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

    3 Der komplizenhafte Blick: Hanekes Das weiße Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

    4 Der überwachende Blick: Hanekes Kino der Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

    5 Kampf der Blicke: Langs Dr . Mabuse, der Spieler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

    6 »Böse Augen«: Langs cineastische Diabologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

    Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

    Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

    Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

  • Danksagung

    Die Anfänge dieses Buches gehen zurück auf einen einjährigen Aufent-halt am Stanford Humanities Center, wo ich als External Faculty Fel-low mit Kollegen aus verschiedenen Disziplinen Gespräche über das Projekt führen konnte. Namentlich bedanken möchte ich mich bei Malcom Turvey, Amir Eshel, Russell Berman, Adrian Daub und Peggy Phelan, die an verschiedenen Stellen Gedankenanstöße geliefert haben. Des Weiteren bin ich den Organisatoren der jährlich stattfindenden World Picture Conference zu Dank verpflichtet, insbesondere Brian Pri-ce und John David Rhodes, die mir nicht nur wiederholt ein Forum für die Präsentation meiner Gedanken boten, sondern in persönlichen Gesprächen und Mail-Korrespondenzen auch unschätzbar wertvolles Feedback gaben. Für inhaltliche Resonanz und Unterstützung in viel weiterem Sinne bin ich meinen Kollegen an der Rice University, beson-ders Uwe Steiner, Christian J. Emden, Astrid Oesmann und Klaus Weissenberger verbunden. Nur weil sie mir immer wieder den Rücken freigehalten und ein harmonisches Umfeld mit Gelegenheit für die zum Lesen und Schreiben notwendige Solitude geschaffen haben, konnte die vorliegende Arbeit entstehen. Am meisten bin ich meiner Frau Jenny Blumenthal-Barby zu Dank verpflichtet, die nicht nur die mit dem Schreiben eines Buches verbundenen Anstrengungen mit Nachsicht und Geduld hinnahm, sondern auch viele der Gedanken aus der Perspektive einer Philosophin hinterfragte oder mir weiterzu-denken half.

    Die Drucklegung dieses Bandes wurde großzügig unterstützt von der School of Humanities sowie vom Department of German Studies der Rice University.

  • Einleitung

    Wir leben in einer Zeit der Überwachung. Überwachung scheint allge-genwärtig, als technologisches Phänomen und als gesellschaftliche Pra-xis. Einige der zentralen Unterscheidungen des modernen Lebens, et-wa die zwischen privat und öffentlich, Individuum und Kollektiv, Mensch und Maschine oder Realität und Fiktion, sind mit Fragen der Überwachung untrennbar verbunden, und man kann ohne Übertrei-bung sagen, dass Überwachung zu einem beherrschenden Faktor der Moderne geworden ist. Martin Heidegger vertrat 1938 in einem Vor-trag die These, dass wir in der »Zeit des Weltbildes« leben, womit er nicht »ein Bild von der Welt« meinte, sondern »die Welt als Bild begrif-fen«. Diese Neigung, die Welt als Bild zu begreifen, dient Heidegger zufolge »der Selbstsicherung des Menschen als Subjectum«, dem »Sich-einrichten in der Welt als dem Bild«. Daher sagt Heidegger: »Wo es zum Weltbild kommt, vollzieht sich eine wesentliche Entscheidung über das Seiende im Ganzen.«1 Es scheint angebracht, in Analogie zu Heideggers These, dass wir in der »Zeit des Weltbildes« leben, die kor-respondierende These zu entfalten, dass wir in einer Zeit der Überwa-chung leben.

    I

    Natürlich haben viele kritische Denker der letzten Jahrzehnte die wachsende Präsenz von Überwachung registriert und Überwachung im Rahmen ihrer Studien unter verschiedenen Namen und aus ver-schiedenen Perspektiven reflektiert. Einige ihrer Theoreme haben sich als besonders wirkmächtig erwiesen und die Surveillance Studies ge-prägt – sei es auch mitunter auf reduktionistische Weise. Wir wollen im Folgenden die wichtigsten dieser theoretischen Positionen skizzie-ren, um ihre terminologische Spannbreite auszumessen und um einige ihrer Metaphern und Begrifflichkeiten zu beleuchten – Metaphern und Begrifflichkeiten, die auch in diesem Buch zum Tragen kommen werden.

  • 10 EinlEitung

    Zunächst aber zu einem der wegweisenden Quellentexte in Sachen Überwachung: zur Bibel. Zu erwähnen sind hier vor allem Stellen, die Gottes alles sehenden und alles wissenden Blick charakterisieren. »[V]nd ist keine Creatur fur jm vnsichtbar/ Es ist aber alles blos vnd entdeckt fur seinen augen«,2 lautet ein Vers aus dem Brief an die Heb-räer (4, 13), der in der Bibel zahlreiche Entsprechungen hat. Wir wer-den uns in diesem Buch immer wieder mit diesem aller Überwa-chungstheorie zugrunde liegenden Text befassen, manchmal direkt, manchmal anhand seiner säkularen Manifestation, das heißt anhand dessen, was Friedrich Schiller in seinem »Lied von der Glocke« mit ei-ner berühmt gewordenen Formulierung als das wachsame »Auge des Gesetzes« bezeichnet hat.3 Doch auch wenn man historisch nicht so weit ausholt, stößt man rasch auf Vertreter verschiedener akademischer Disziplinen, die sich mit Überwachung und verwandten Phänome- nen beschäftigt haben. Ein bekanntes Beispiel, wenn wir im frühen 20. Jahrhundert einsetzen, ist Max Weber, dessen Überlegungen zur Bürokratie einen zentralen Bestandteil der Kontrollmechanismen mo-derner Gesellschaften beleuchten. Weber sah, wie sehr das bürokrati-sche Dokumentationswesen, hier verstanden als »karteibasierte Über-wachung«,4 moderne Gesellschaften durchzieht und steuert, und wie er folgreich das zugrunde liegende Prinzip der Rationalisierung ist, wenn es auf »Entmenschlichung« basiert:

    Die Bürokratie in ihrer Vollentwicklung steht in einem spezifischen Sinn auch unter dem Prinzip des »sine ira ac studio«. Ihre spezifische, dem Kapitalismus willkommene, Eigenart entwickelt sie um so voll-kommener, je mehr sie sich »entmenschlicht«, je vollkommener, heißt das hier, ihr die spezifische Eigenschaft, welche ihr als Tugend nachge-rühmt wird: die Ausschaltung von Liebe, Hass und allen rein persönli-chen, überhaupt aller [sic] irrationalen, dem Kalkül sich entziehenden, Empfindungselementen aus der Erledigung der Amtsgeschäfte gelingt.5

    Zwar erzählt schon die Bibel, am prominentesten im 4. Buch Mose (1-4, 26), von einem Zensus und damit von einem Fall von Überwa-chung; auf den Begriff gebracht aber hat erst Max Weber die alles durchdringende Macht bürokratischer Kontrollmechanismen. In ganz anderer Hinsicht fruchtbar für das Thema Überwachung ist Webers Zeitgenosse Georg Simmel, insbesondere mit seinen Überle-gungen zur Funktion des Blickes und zur Bedeutung des »gegenseiti-gen Sich-Anblickens« der Menschen.6 Simmels Analysen geben indi-rekt Aufschluss über das bedeutungsschwere Missverhältnis, die radika-le, in diesem Buch wie ein Leitmotiv wiederkehrende Asymmetrie, die

  • 11EINLEITUNG

    für die meisten Formen von Überwachung charakteristisch ist. Wäh-rend Überwachung in der Regel ein gewisses Ungleichgewicht impli-ziert: die asymmetrische Situation eines Sehens, ohne gesehen zu wer-den,7 legt Simmel dar, wie sehr der menschliche Blick auf Interrelatio-nalität »zwischen Auge und Auge«8 ausgerichtet ist beziehungsweise, abstrakt formuliert, welch empfindliche Störung Überwachung für ei-ne natürliche Ökonomie zwischenmenschlicher Wahrnehmung dar-stellt. »Die höchst lebendige Wechselwirkung […], in die der Blick von Auge in Auge die Menschen verwebt, […] stirbt in dem Augenblick, in dem die Unmittelbarkeit der Funktion nachlässt.« »[I]m Unterschiede gegen das […] Beobachten des Andern«, so Simmel ausdrücklich, ist der »Blick von Auge in Auge« eine »Wechselbeziehung«, und zwar eine besonders enge. Denn: »In dem Blick, der den andern in sich auf-nimmt, offenbart man sich selbst. […] Man kann nicht durch das Au-ge nehmen, ohne zugleich zu geben.« Aufgrund dieser dem menschli-chen Blickkontakt eingeschriebenen Interrelationalität sieht Simmel im Blicktausch die »vollkommenste Gegenseitigkeit im ganzen Bereich menschlicher Beziehungen«.9 Wie schmerzlich verwundbar die von Simmel so emphatisch behaup-tete Gegenseitigkeit ist, hat Jean Paul Sartre in Das Sein und das Nichts (1943) anhand einer Beschreibung der Erfahrung gezeigt, die ein beim Spionieren durch ein Schlüsselloch ertappter Voyeur macht.10 Ausge-hend von der Frage »Was bedeutet für mich: gesehen werden?« bittet Sartre den Leser, sich vorzustellen, er, Sartre, sei zum Voyeur geworden, genauer »aus Eifersucht, aus Neugier, aus Verdorbenheit so weit gekom-men, [s]ein Ohr an eine Tür zu legen, durch ein Schlüsselloch zu gu-cken«: »Ich bin allein und auf der Ebene des nicht-thetischen Bewusst-seins von mir«, was bedeutet, »dass es kein Ich gibt, das mein Bewusst-sein bewohnt. [… M]ein Bewusstsein klebt an meinen Handlungen; es ist meine Handlungen […].« Das ändert sich plötzlich. Sartre schreibt:

    Jetzt habe ich Schritte im Flur gehört: man sieht mich. Was soll das hei-ßen? Das heißt, dass ich in meinem Sein plötzlich getroffen bin und dass wesentliche Modifikationen in meinen Strukturen erscheinen – Modi-fikationen, die ich durch das reflexive Cogito erfassen und begrifflich fixieren kann. […] Das bedeutet, dass ich mit einem Schlag Bewusstsein von mir habe, […] insofern ich meinen Grund außerhalb von mir habe. [… D]ie Scham […] enthüll[t] mir den Blick des Andern und mich selbst am Ziel dieses Blicks […].11

    Die skizzierte Szene in ihren Einzelheiten zu erläutern, würde an dieser Stelle zu weit führen.12 Sie ist, so viel wird aus den ihr folgenden Aus-

  • 12 EinlEitung

    führungen deutlich, von Hegels Herr-und-Knecht-Dialektik inspiriert. Der Voyeur, der vermeintliche »Herr«, wird seiner selbst plötzlich als jemandes bewusst, der nicht nur sieht, sondern auch gesehen wird, wo-raufhin er seine Person auf der Basis dieses reflexiven Selbstverständnis-ses konstituiert und in eine »knechtische« Abhängigkeit vom Anderen beziehungsweise von dessen Blicken gerät. Nicht zuletzt vor dem Hin-tergrund von Simmels Analyse der symmetrischen Beziehung zwischen dem Sehen und dem Gesehenwerden finden sich bei Sartre Aspekte, die für das Thema Überwachung relevant sind13 (und in der einen oder anderen Form in den nachfolgenden Kapiteln in Erscheinung treten werden): zunächst die (in ihrer Asymmetrie) antagonistische Beziehung zwischen Betrachter und Betrachtetem, Überwacher und Überwach-tem;14 des Weiteren die Unterscheidung zwischen Blick und Auge,15 wobei ein Blick kurioserweise gerade dann als besonders machtvoll er-fahren werden kann, wenn das Auge beziehungsweise die Person, von der der Blick ausgeht, nicht gesehen wird;16 schließlich die Bedeutung des Blickes für die Konstituierung von Personalität, sein Einfluss auf die mentale Verfassung einer Person und seine Rolle bei der Entste-hung von »Scham«.17 Einen für das Thema Überwachung besonders zentralen Text hat Michel Foucault 1975 mit seiner Studie Überwachen und Strafen vor-gelegt, wobei konkret an seine Theorie des Panopticons zu denken ist. Foucault war diesem Modell in den Briefen des englischen Utilitaristen Jeremy Bentham begegnet, weshalb wir es hier kurz rekapitulieren soll-ten. Bentham entwickelte die Architektur des Panopticons vor allem im Hinblick auf die Funktionsweise eines Gefängnisses, hielt sie aber für übertragbar auf andere Bereiche der Gesellschaft, etwa auf Schulen, Krankenhäuser und Manufakturen. Das am Beispiel des Gefängnisses illustrierte Modell basierte auf der Idee einer asymmetrischen Ökono-mie der Blicke, eines den Kern aller Überwachung, wie sie in der vor-liegenden Studie verstanden wird, ausmachenden »[S]ehen[s], ohne selbst gesehen zu werden«.18 Das Gefängnis war kreisförmig angelegt, mit einer turmhohen »Aufseher-Loge«19 in der Mitte, die den Blick in die peripher angeordneten Zellen erlaubte. Dank der architektonisch bedingten Lenkung des Lichts und der Blicke konnte der Aufseher je-den Gefangenen, kein Gefangener aber ihn sehen. Und obwohl völlig klar war, dass der Aufseher nie alle Gefangenen gleichzeitig im Blick haben konnte, fühlten sich diese doch ständig überwacht. Der »viel-leicht wichtigste Punkt« ist, so Bentham, »den zu kontrollierenden Per-sonen immer den Eindruck zu vermitteln, dass sie tatsächlich kontrol-liert werden oder dass dies zumindest mit großer Wahrscheinlichkeit

  • 13EINLEITUNG

    der Fall ist«: »Je größer die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Person zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich überwacht wird, desto stärker wird die Überzeugung dieser Person sein – umso intensi-ver wird ihr Gefühl sein, […] dass dem wirklich so sei.«20 Während Benthams Idee darin bestand, eine architektonische Konfiguration in eine psychologische Konditionierung zu übersetzen,21 greift Foucault, der besonders in den Kapiteln 3 und 6 des vorliegenden Buches prä-sent sein wird, knapp zweihundert Jahre später die Funktionsweise des Panopticons auf, um dieses auf der Grundlage einer abstrahierenden und entgrenzenden Lesart zum paradigmatischem Modell sogenannter »Disziplinargesellschaften« zu erklären, wie sie im 18. und vor allem 19. Jahrhundert zunehmend anzutreffen sind. »Eine Disziplinargesell-schaft formiert sich also in der Bewegung, die von den geschlossenen Disziplinen, einer Art gesellschaftlicher ›Quarantäne‹, zum endlos ver-allgemeinerungsfähigen Mechanismus des ›Panoptismus‹ führt.«22 Es geht Foucault weniger um eine besondere architektonische Konfigura-tion als um die »verallgemeinerungsfähige« Dynamik,23 die Benthams Gefängnismodell und dessen asymmetrische Ökonomie der Blicke (»sehen, ohne selbst gesehen zu werden«) zu generieren schien,24 um einen (unten in Kapitel 4 fundamental in Frage gestellten) Mechanis-mus, der auf vermeintlicher Beobachtung durch die Aufseher und auf der daraus resultierenden Aneignung der geforderten Verhaltensregeln durch die Gefangenen basiert. Es geht Foucault, mit anderen Worten, um die Dynamik, nach der Körper zu »gelehrigen Körpern«25 geformt werden, und zwar weder durch punitive Gewaltanwendung noch durch tatsächliche Überwachung, sondern durch die Wirkkraft der In-ternalisierung, das heißt durch das effektive Erwecken des Anscheins von Überwachung und die daraus folgende Konditionierung von Menschen.26 Foucaults Konzeption des »Panoptismus« ist aufgrund ih-rer durchschlagenden explikatorischen Kraft das Modell, das die Sur-veillance Studies am nachhaltigsten geprägt hat, wenn auch infolge seiner mitunter monopolartig erscheinenden Stellung nicht immer zu ihrem Besten. Von den zahlreichen Autoren, die Antworten auf Foucaults theoreti-sche Provokationen gesucht und diese zur Grundlage eigener Überle-gungen gemacht haben, soll hier Gilles Deleuze, der vielleicht promi-nenteste unter ihnen, kurz erörtert werden (nicht zuletzt im Hinblick auf die Rolle, die ihm in Kapitel 1 zukommt).27 In einem ebenso kur-zen wie dichten Essay mit dem Titel »Postskriptum über die Kontroll-gesellschaften« diagnostiziert Deleuze einen Wandel fort von den »Dis-ziplinargesellschaften«, die Foucault auf den Begriff gebracht hatte, hin

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    zu sogenannten »Kontrollgesellschaften«. Er erinnert daran, dass Fou-cault Disziplinargesellschaften historisch in der Zeit vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert verortet und dass ihr zentrales Merkmal »große Einschließungsmilieus« sind: »Das Individuum wechselt immer wieder von einem geschlossenen Milieu zum nächsten über, jedes mit eigenen Gesetzen: zuerst die Familie, dann die Schule […], dann die Kaserne […], dann die Fabrik, von Zeit zu Zeit die Klinik, möglicherweise das Gefängnis, das Einschließungsmilieu schlechthin.«28 Deleuze erkennt die explikatorische Kraft von Foucaults Analyse natürlich an, nimmt aber eine »Krise aller Einschließungsmilieus«29 in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wahr, die er weitgehend auf die zunehmende Computerisierung des modernen Lebens und das damit einhergehen-de Aufkommen dessen zurückführt, was er als »Kontrollgesellschaften« bezeichnet. »In den Disziplinargesellschaften«, so Deleuze,

    hörte man nie auf anzufangen (von der Schule in die Kaserne, von der Kaserne in die Fabrik), während man in den Kontrollgesellschaften nie mit irgend etwas fertig wird: Unternehmen, Weiterbildung, Dienstleis-tung sind metastabile und koexistierende Zustände ein und derselben Modulation, die einem universellen Verzerrer gleicht.30

    Die Implikationen, die diese »Kontrollgesellschaften« für die Definiti-on des »Menschen« haben, sind fundamental, wie im 1. Kapitel deut-lich werden wird. An einer der begrifflich klarsten Stellen des Essays unterscheidet Deleuze die (räumlich und zeitlich) fixierende Einschlie-ßung von der viel schwerer fassbaren (aber nicht minder allgegenwärti-gen) Kontrolle: Jene bezeichnet er als »Gussform«, diese als »Modulati-on«, ein Begriff, der auf die sich rasch verändernde, immer im Fluss befindliche Logik von Kontrollgesellschaften verweist.31 Die von Deleuze beschriebene »neue Herrschaftsform«32 erinnert, wie er selbst erkannte, an Paul Virilios Annäherung an die Themen Überwachung und Kontrolle,33 die ihren emphatischsten Ausdruck in Virilios Buch Die Sehmaschine (1988) gefunden hat. Virilio (der im 2. Kapitel eine zentrale Rolle spielen wird) befasst sich darin mit Ma-schinen, die durch algorithmische Verarbeitung von Bilddaten Ereig-nisse analysieren und interpretieren, was einer »Automatisierung der Wahrnehmung« oder einem »künstlichen Sehen« gleichkommt.34 Die-se Sehmaschinen finden zwar primär bei militärischen Operationen und in der industriellen Produktion Verwendung, infiltrieren aber in Form von sogenannten intelligenten Überwachungskameras zuneh-mend auch den Alltag.35 Virilio schreibt:

  • 15EINLEITUNG

    Daher dieser plötzliche Großeinsatz von Direktaufnahmegeräten in der Stadt, im Betrieb und bei den Privatleuten. Diese Teleüberwachung in Echtzeit, die unermüdlich auf etwas Unerwartetes, Unvorbereitetes lau-ert, auf etwas, das sich hier oder dort unvermutet ereignen könnte, an dem einen oder anderen Tag, in den Banken, den Supermärkten oder auf den Sportplätzen, wo die Videokamera seit kurzem die Rolle des Schiedsrichters übernimmt.36

    Sehmaschinen, so Virilio, sind Teil einer »Industrialisierung der Vor-beugung, der Voraussicht, einer Art von panischer Antizipation«, die »jede Überraschung, jede[n] Zufall, jedes unvorhergesehene Eindrin-gen« ausschließen will, das heißt all das, was im Rahmen der über-wachten Systeme als systemfremd zu werten ist.37 Kontrolle wird hier scheinbar »weich« und unmerklich ausgeübt, stellt sich in Anbetracht der massiven Ausbreitung solcher Überwachungssysteme aber als nicht minder wirksam dar als jene eingeschlossenen Systeme, die Foucault für disziplinäre Gesellschaften diagnostizierte. Weitaus seltener als etwa Foucault wird in den Surveillance Studies Jacques Lacan diskutiert; dennoch sei hier zumindest kurz auf sein Werk verwiesen, vor allem auf seine einflussreiche Theorie des Blickes. Natürlich setzt Lacan sich explizit mit der Voyeurismusszene aus Sart-res Das Sein und das Nichts auseinander: »Der Blick, wie ihn Sartre auf-fasst, ist der Blick, von dem ich überrascht werde […]. Sowie ich unter dem Blick bin, schreibt Sartre, sehe ich das Auge nicht mehr, das auf mich blickt; wenn ich das Auge sehe, ist der Blick nicht mehr. […] Dieser Blick, dem ich begegne […] ist zwar nicht gesehener Blick, aber doch Blick, den ich auf dem Feld des Andern imaginiere.« Während diese Ausführungen mit dem oben Gesagten übereinzustimmen schei-nen, hebt Lacan nun hervor:

    Wenn Sie auf Sartres Text zurückgehen, werden Sie sehen, dass er, weit davon entfernt, im Auftreten des Blicks etwas auf das Sehorgan Bezügli-ches zu erkennen, sich auf ein plötzliches Blätterrascheln bezieht, das zu hören ist, wenn ich auf der Jagd bin, auf das Geräusch von Schritten auf einem Gang, und in welchem Moment? – gerade da, wo er selbst sich präsentierte als einer, der durch ein Schlüsselloch späht.38

    Der Blick, der den Voyeur überrascht, wird laut Lacan zwar »nicht ge-sehen«, interessan terweise aber dennoch wahrgenommen, und zwar infolge eines Geräuschs. Er bezieht sich nicht auf das »Sehorgan«, son-dern wird aufgrund geräuschhafter Stimuli erfahren.39 Während La-cans Überlegungen zum Blick sich zumindest indirekt für eine Theorie der Überwachung fruchtbar machen ließen (einen möglichen Ansatz-

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    punkt hierfür böten seine Ausführungen über das »Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«40), hat Slavoj Žižek, der vielleicht einfluss-reichste »Lacanianer« der letzten Jahrzehnte, sich explizit mit dem The-ma Überwachung auseinandergesetzt. In einem Essay mit dem Titel »Big Brother, or, the Triumph of the Gaze over the Eye« hat Žižek über die enorme Popularität des heutigen Reality-TV nachgedacht und eine »tragikomische Umkehrung der Bentham-Orwellschen Vorstellung von der Panopticon-Gesellschaft« festgestellt, die in den Menschen das Gefühl auslöste, ständig beobachtet zu werden und »sich nirgends vor dem allgegenwärtigen Blick der Macht verstecken zu können«. Dage-gen mache heutzutage anscheinend »die Möglichkeit Angst, dem Blick des Andern NICHT ständig ausgesetzt zu sein«; das Subjekt scheine ein Bedürfnis nach »dem Blick der Kamera als einer Art ontologischer Garantie seines Seins« zu haben.41 Was sich hier zeigt, ist eine seltsame Ablösung des Benthamschen Antagonismus zwischen einem mächti-gen Beobachter und einem machtlosen Beobachteten durch einen Be-obachteten, der sich im Besitz von Macht wähnt, ja sein Gefühl, über-haupt zu sein, aus der Tatsache zieht, dass er dem Blick eines Andern ausgesetzt ist. Neben diesen Autoren, die in der kritischen Literatur zum Thema Überwachung teils mehr, teils weniger Berücksichtigung finden und in den folgenden Kapiteln teils mehr, teils weniger in Erscheinung treten werden, lassen sich Namen nennen, die in den Surveillance Studies bis-her kaum oder noch gar nicht beachtet wurden, obgleich sie für das Thema Überwachung sehr fruchtbar sein können. Ein Beispiel dafür ist Hans Blumenberg, dessen Buch Schiffbruch mit Zuschauer (1979) eine »Daseinsmetapher« erkundet, die zunächst von jemandem han-delt, der »vom festen Ufer her die Seenot des Anderen auf dem vom Sturm aufgewühlten Meer [betrachtet]«.42 Blumenberg schreibt, das Ereignis könne den Zuschauer in der Weise gefangen nehmen, dass er – mit Goethe – »des fernen Anblicks der verworrenen Trümmermas-se genießt«.43 In einem Parforceritt durch die westliche Literatur- und Philosophiegeschichte von der Antike bis ins 20. Jahrhundert möchte Blumenberg aber zeigen, dass wir im Allgemeinen nicht der »Selbst-sucht«44 anheimfallen, wenn wir die Not von Menschen miterleben, die Schiffbruch erleiden und ertrinken, sondern dass wir uns dessen bewusst werden, wie sehr wir die Tatsache, dass wir als bloße Be- o bachter »sicher«45 und »ungefährdet«46 sind, dem »Glück«47 verdan-ken. Und doch ist der Blick vom Festland auf die in der »Sphäre der Unberechenbarkeit, Gesetzlosigkeit«, des »Bösen« und der »Willkür der Gewalten«48 um ihr Leben kämpfenden Schiffbrüchigen (das heißt

  • 17EINLEITUNG

    in der Lebenswirklichkeit Strauchelnden) nie ganz frei von der »bren-nenden« Schaulust, die so oft auch von Menschen empfunden wird, die einen Akt der Überwachung durchführen.49 Auch Niklas Luhmann gehört zu den Autoren, deren Werk in die Überwachungsdebatte bisher erstaunlich wenig einbezogen wurde. Ei-ner der Schlüsselbegriffe von Luhmanns einflussreicher Systemtheorie ist zweifellos der der »Beobachtung«. Er wird von Luhmann »hochabs-trakt und unabhängig von […] der spezifischen Operationsweise be-nutzt, die das Durchführen von Beobachtungen ermöglicht«. Jenseits der visuellen Konnotation des Begriffes gelte daher: »Beobachten heißt einfach […] Unterscheiden und Bezeichnen.«50 Natürlich wirft der Akt der Beobachtung die Frage auf, wer den Beobachter beobachtet, weshalb Luhmann einen Begriff der Beobachtung zweiter Ordnung einführt. Charakteristisch ist für einen Beobachter zweiter Ordnung, dass er »sich bei der Bezeichnung seines Gegenstandes auf einen Beob-achter erster Ordnung bezieht, also ein Beobachten als Beobachten un-terscheidet und bezeichnet«.51 Beobachtung zweiter Ordnung kann aber neben der Beobachtung anderer Beobachter auch die Beobach-tung der eigenen Person beim Beobachten sein, also eine Form der Selbstbeobachtung.52 Hier nun ist Luhmanns Anliegen relevant für unsere Diskussion. Man kann »beginnen zu ahnen«, schreibt er,

    dass es einen Zusammenhang geben könnte zwischen der Ermöglichung von Selbst- und Fremdbeobachtungen zweiter Ordnung. Wenn man andere als Beobachter sieht, warum dann nicht auch sich selber? […] Individuen sind Selbstbeobachter. Sie individualisieren sich dadurch, dass sie ihr eigenes Beobachten beob achten. Sie sind in der heutigen Gesellschaft nicht mehr durch (mehr oder weniger gutes) Geborensein definiert, nicht durch Herkunft und auch nicht durch Merkmale, die sie von allen anderen Individuen unterscheiden. […] Man sagt mit Simmel […] oder Sartre, dass sie erst durch die Blicke der anderen eine Identität erhalten; aber dies doch nur, wenn sie beobachten, dass sie beobachtet werden.53

    Für unsere Zwecke ist Luhmanns These von Bedeutung, dass Iden-titätsbildung zwar auf »die Blicke der anderen« angewiesen sei, wie Simmel und Sartre es behauptet hatten, dass sie »aber dies doch nur« sei unter der Voraussetzung der Selbstbeobachtung oder, so könnte man sagen, der Selbstüberwachung des Individuums. Nicht nur mit seinen expliziten Bezugnahmen auf Simmel und Sartre sowie seiner Nähe zu Foucault und Blumenberg erweitert Luhmann die Reihe der Theoretiker, deren Arbeit sich als ergiebig für das Thema der Überwa-chung erweist.

  • 18 EinlEitung

    II

    Mit einigen dieser Theoretiker werden wir im vorliegenden Buch in Dialog treten. Nun stellt sich Überwachung häufig als visuelles Phäno-men dar. Insofern ist es kein Zufall, dass sich besonders differenzierte Analysen desselben in Werken der visuellen, insbesondere der Film-kunst finden, wobei Überwachung nicht nur in Filmen eine Rolle spielt, die von ihr handeln, sondern – und das ist eine der Grundthesen dieser Studie – sich auf oft subtile Art fast überall manifestiert. Das vorliegende Buch interpretiert Filme, die Überwachung auf so verschiedenen Gebieten wie dem städtischen Leben, der militärischen Kriegsführung und der Erziehungspraxis (auch der religiösen) behan-deln. Was die Filme, um die es geht, für eine Sondierung des Themas Überwachung so geeignet macht, ist aber nicht ihr vordergründiges thematisches Befasstsein damit. Tatsächlich ließe sich für jeden Film, der in diesem Buch behandelt wird, ein anderer Film desselben Autors finden, der das Thema Überwachung unmittelbarer, nachdrücklicher in Angriff nimmt, ja mehr darüber zu sagen hat. Statt Harun Farockis Installationen Gegen-Musik und Auge/Maschine (Kapitel 1 und 2) könn-te man sein Werk Ich glaubte Gefangene zu sehen interpretieren, das sich mit der Verwendung von Überwachungskameras in Gefängnissen be-fasst. Statt Michael Hanekes Film Das weiße Band (Kapitel 3 und 4) könnte man Caché betrachten, und statt Fritz Langs Klassiker Dr . Ma-buse, der Spieler (Kapitel 5 und 6) Die 1000 Augen des Dr . Mabuse. All diese denkbaren Alternativen gehen das Thema Überwachung ent-schlossen an. Aber auch wenn Überwachung nicht im Zentrum der in diesem Buch analysierten Filme steht, tritt sie doch immer wieder in Erscheinung, und zwar mit einer Insistenz, die die Frage nahelegt, wie viel von dieser ihrer Allgegenwart auf einer Affinität zum filmischen Medium und zum cineastischen Zuschauen beruht. Ja, es drängt sich die Frage auf, inwieweit der mutmaßlich voyeuristische Akt der Film-betrachtung aus dem Dunkel heraus, der keinen Gegenblick zulässt, eine asymmetrische Situation von Überwachung schafft, deren Dyna-mik in der einen oder anderen Weise immer die eines Sehens ohne Ge-sehenwerden ist. Aber bevor wir eine Art theoretisches Modell auf die radikal verschie-denen Filme anwenden, halten wir inne und umreißen kurz, mit was für Filmen wir es zu tun haben, welche Fragen sie aufwerfen und wie sie die Behandlung dieser Fragen inszenieren. Farockis Gegen-Musik (2004), ei-ne 23 Minuten lange Installation, die in Kapitel 1 diskutiert wird, ist auf den ersten Blick ein Stadtfilm in der Tradition von Walter Ruttmanns

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    Berlin – Die Sinfonie der Großstadt (1927) und Dziga Vertovs Der Mann mit der Kamera (1929). Doch im Unterschied zu diesen Klassikern der Stadtsinfoniefilme aus dem frühen 20. Jahrhundert, die Farocki wieder-holt zitiert, besteht seine Installation weniger aus Bildern, die er selbst von einer Stadt, in seinem Fall dem französischen Lille, aufgenommen hat, als aus solchen, die bereits als integraler Bestandteil der Stadt exis-tierten: Farocki erzählt seinen Stadtfilm anhand von Bildern, die von Überwachungskameras aufgenommen und von ihm lediglich montiert wurden. Die Art der Montage aber und die durch sie induzierte Rezep-tionsweise machen das Besondere des Films aus. Denn Farocki doku-mentiert zwar ein modernes Stadtleben, das zu seiner Regulierung zu-nehmend auf automatisierten Überwachungssystemen und auf der Aus-schließung des menschlichen Beobachters basiert, doch scheint insbeson-dere seine komplexe Split-Screen-Ästhetik auf die Einbindung menschli-cher, der Reflexion fähiger Beobachter zu vertrauen. Während das Kern-stück von Gegen-Musik aus sogenannten operativen Bildern besteht, die nicht von Menschen, sondern von mit automatischer Erkennungssoft-ware ausgerüsteten Computern »gesehen« werden sollen, vertraut Faro-ckis Technik der »weichen Montage« auf menschliche Rezipienten, auf ihren kreativen Beitrag und auf ihre Bereitschaft, sich Gedanken über seine Arbeit zu machen. Farocki nimmt gleichsam performativ eben je-ner Dynamik die Spitze, die er beschreibt: Die konstatierte Abschaffung der Augenarbeit durch automatisierte Überwachungssysteme wird durch Farockis Montagekunst und die durch sie provozierte Rezeptions-form mit ihrer Angewiesenheit auf das menschliche Auge, auf fantasie-begabte (statt automatisierte) Interpreten, untergraben. Kapitel 1 analysiert, auf der Grundlage einer Interpretation von Fa-rockis Gegen-Musik, die Unterschiede zwischen filmischen und Über-wachungsbildern. Diese theoretische Betrachtung wird in Kapitel 2 vor dem Hintergrund von Überwachungstechnologien, wie sie im militäri-schen Bereich zum Einsatz kommen, konkretisiert und weiterentwi-ckelt. Das Kapitel erörtert Farockis in den Jahren 2001 bis 2003 ent-standene Auge/Maschine-Trilogie, die jene Form von Überwachung be-handelt, die im Golfkrieg von 1991 Teil der zum Einsatz gekommenen »intelligenten« Waffensysteme war. Farocki interessiert sich vor allem für die diesen Waffen zugrunde liegende Bildverarbeitung, für ihre Ver-wendung operativer Überwachungsbilder, die von Maschinen erzeugt und von Maschinen interpretiert werden, also weder auf menschliche Produzenten noch auf menschliche Rezipienten angewiesen sind. Faro-cki setzt sich mit diesen Bildern ausein ander, indem er sie mit konven-tionelleren Formen von Bildlichkeit, darunter Animationsfilmen für

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    Lehrzwecke, Propaganda- und Werbefilmen konfrontiert. Was ope-rative Überwachungsbilder davon unterscheidet, ist, so Farocki, dass es sich um »Bilder ohne Betrachter«54 handelt, also um Bilder, die nicht den Zweck haben, Menschen zu unterhalten, zu informieren oder durch ihre Schönheit zu begeistern. Sie seien nicht als repräsentierende Einheiten relevant, sondern ausschließlich im Hinblick auf ihre opera-tive Dienlichkeit, auf die Aufgabe, die sie als Teile eines algorithmisch determinierten Bilderkennungsprozesses verrichten. Operative Über-wachungsbilder brauchen sich strenggenommen nicht einmal als Bil-der zu materialisieren. Ihre ganze Relevanz liegt in den »Daten« oder »Informationen«, die verschlüsselt in ihnen enthalten sind. Insofern zeugen sie von der schwindenden Bedeutung des Menschen als Produ-zenten und Rezipienten von Bildern. Die im 2. Kapitel aufgeworfene Frage lautet, wie Farocki mit diesen Bildern arbeitet und wie er sie zu ästhetischen Artefakten macht, ob-gleich sie nicht dazu bestimmt waren, von Menschen gesehen zu wer-den. Welchen Mehrwert kann Farockis Installation generieren ange-sichts der Tatsache, dass der größte Teil seines Materials »gefundenes Filmmaterial« ist, das sich einer Befragung durch menschliche Betrach-ter denkbar weit zu entziehen scheint? Das Kapitel wird Auge/Maschine mit Farockis vielleicht bekanntestem Film Bilder der Welt und Inschrift des Krieges (1989) kontrastieren und einen Katalog der ästhetischen Strategien zusammenstellen, die das Spezifische der Auge/Maschine-In-stallation ausmachen und Farocki eine Stimme als Filmemacher geben, die die Bilder ihm zu verweigern scheinen. Das Kapitel wird gleichzei-tig unseren Status als Betrachter erörtern und der Frage nachgehen, wie wir vermeiden können, zu Komplizen der bildlichen Logik des Krieges zu werden, die Farocki thematisiert. Konsequenz dessen – die alles, wo-rum es in dieser Installation zu gehen scheint, in Frage und auf den Kopf stellt – wird die Wiederkehr des Betrachters, ein Insistieren auf dem Menschen als Interpreten sein. Ein ähnlich seltsames Zusammenspiel von Thema und Darstellung wird sich durch die Kapitel 3 und 4 hindurchziehen, die Michael Ha- nekes Film Das weiße Band (2009) ausloten. Die Art dieses Zusammen- spiels wird aber eine ganz andere sein, vor allem im Hinblick auf das Thema Überwachung. Sie wird zu einer ganz anderen »Inszenierung« oder »Performance« von Überwachung führen, wobei letztere sich in allen Kapiteln des Buches weniger als »Thema« darstellt, das aus der Perspektive eines unbeteiligten Betrachters zu »behandeln« wäre, denn als Erfahrung, die wir als Zuschauer machen, manchmal erleiden und jedenfalls durcharbeiten müssen. Auf den ersten Blick handelt Das wei-

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    ße Band von Kindern, die heimlich ruchlose Untaten verüben, um da-durch die deutsche Dorfgemeinschaft, in der sie Anfang des 20. Jahr-hunderts aufwachsen, zu terrorisieren. Doch während der Film übli-cherweise als sozialpsychologische Analyse der Umstände interpretiert worden ist, die den Aufstieg des Faschismus in Deutschland ermög-lichten, problematisieren die beiden Haneke gewidmeten Kapitel des Buches unsere, der Betrachter des Films, überwachende Position und unser schuldhaftes Verstricktsein in die einschlägigen ethischen Fragen. Im Kontext des totalitären Subtextes, auf den der Film Bezug nimmt, aber auch konkret im Kontext der vom Film erzählten mysteriösen Ge-schichte stellen sich kritische Fragen wie: Was bedeutet es zu überwa-chen, zu sehen und zu wissen? Und was bedeutet es zu behaupten, nicht gesehen und nicht gewusst zu haben, machtlos gewesen zu sein angesichts von Verbrechen, die angeblich außerhalb des eigenen Ein-flussbereichs geschehen sind, jenseits der Sphäre, in der man hätte han-deln und eingreifen können? Welche Form von Schuld liegt in Akten der Überwachung, wie sie Hanekes Kinder, aber ebenso und vielleicht sogar in erster Linie wir als Hanekes Zuschauer durchführen? Haneke unternimmt große Anstrengungen, um uns zu zwingen, unsere Komplizenschaft bei seinem Spektakel der Gewalt zu erken-nen – das heißt zu erkennen, wie sehr wir auf Grausamkeiten warten wie die, die die Kinder des Pfarrers, die Söhne des Verwalters, des Ba-rons und der Hebamme über sich ergehen lassen müssen, oder wie das Töten des Sittichs, an dem der Pastor so hing. Wir sind an derlei Dar-stellung von Gewalt gewöhnt, ja wir empfinden ein bedenkliches Ver-langen nach ihr, Haneke aber evoziert Gewalt nur immer wieder, ohne sie in ihren drastischen Details auszubuchstabieren. Die Haltung kom-plizenhaften Zuschauens wird meist durch Geschehnisse abseits der Kamera und durch formale Techniken wie die Verwendung besonders langer Einstellungen, das Abfotografieren menschenleerer Schauplätze und befremdliche Montageeffekte erschüttert, eine Ästhetik, die uns nötigt, unser Einverständnis mit dem, was die Kamera zeigt oder eben nicht zeigt, zu hinterfragen. Immer wieder erinnert Haneke uns an die Unschuld, die wir durch unsere Komplizenschaft beim Anschauen sei-nes Films und durch unser Verleugnen dieser Komplizenschaft verlie-ren. Ob es der Sinn seines filmischen Schauspiels ist, eben diese Erfah-rung zu vermitteln, die Erfahrung, wie leicht man schuldig wird, nur weil man da ist, Voyeur ist, und wie schnell man Gefahr läuft, diese Schuld zu verleugnen? Während Kapitel 3 und 4 Überwachung vor dem Hintergrund der Frage nach dem Göttlichen untersuchen, betrachten die letzten beiden

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    Kapitel Überwachung unter häufiger Bezugnahme auf die Vorstellung des Teuflischen. Sie greifen Fritz Langs Stummfilmklassiker Dr . Mabu-se, der Spieler (1923) auf, den Siegfried Kracauer als Widerspiegelung einer »Gesellschaft unter einem tyrannischen Regime«55 interpretiert hat. Im Kontext einer sozialgeschichtlich inspirierten Suche nach ei-nem Feind, der für das Elend der Nachkriegszeit verantwortlich ge-macht werden konnte, bemühen sich die beiden Kapitel, den offen-kundigen politischen Konflikt zwischen der Ordnung des Verbrechens und der Ordnung des Staates als säkularen Oberflächendiskurs zu le-sen, der an einen untergründigen religiösen, um den Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen dem Göttlichen und dem Teuflischen sich drehenden Diskurs gebunden ist. Was, wenn Langs bewegte Bilder nicht nur die gesellschaftliche Misere und die wirtschaftlichen Turbu-lenzen jener Epoche erhellten, sondern außerdem noch eine andere – eng mit ihr verknüpfte, aber anders konfigurierte – Geschichte erzähl-ten? Was, wenn dem Film jenseits der Thematik politischer, ökonomi-scher und sozialer Verantwortung ein essenziell theologisches, ja anth-ropologisches Interesse zugrunde läge? Wenn Dr . Mabuse, der Spieler als Film über die Gesellschaft der Weimarer Republik auf der Suche nach einem Feind zu interpretieren und »Feind« hier als politische Ka-tegorie mit entschieden religiösen Untertönen zu verstehen, die politi-sche Frage also zu einer Frage politischer Theologie zu erweitern wäre? In Bezug auf diese Fragen nehmen die beiden Kapitel Langs Film ge-nau unter die Lupe, wobei sie in den Brennpunkt rücken, was Mabuses diverse Auftritte gemein haben: seinen seltsam eindringlichen und überwachenden Blick. Mabuse macht von seinem destruktiven Blick mit großer Bestimmtheit Gebrauch, bleibt selbst aber unbestimmbar; er verursacht unübersehbares Leid, ist selbst aber unsichtbar. Dieses heimtückische Paradoxon ist die Grundlage seiner Macht. Auffällig ist, dass die Überwachungslogik von Mabuses sehendem, aber ungesehenem Blick auf einer performativen Ebene uns immer wieder einbezieht, und zwar dergestalt, dass unsere Zuschauerperspek-tive mit Mabuses Perspektive verschmilzt. Immer wieder scheint der Akt der Überwachung, statt nur behauptet zu werden, durch Verschie-bung von der thematischen Ebene auf die Ebene der Form oder Struk-tur inszeniert. Überwachung ist immer wieder nicht nur Thema, son-dern die Form des (cineastischen) Zuschauens. Unser eigenes Sehen (wie Mabuse in den »Folies Bergères« mit dem Opernglas Hull in Au-genschein nimmt), unser eigenes Beobachten (wie Cara Carozza in Hulls Villa von Wenk im Gespräch mit dem Hausherrn bespitzelt), unser eigenes Observieren (Carozzas beim Horchen an der Wand des

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    »Excelsior«) und unser eigenes Zeugesein (wie Georg im Frauengefäng-nis von Wenk und Carozza ausspioniert), das heißt unser eigenes In-volviertsein als Betrachter von Langs filmischem Schauspiel bringt uns in eine ähnliche Position wie jene, die in dem Film beobachten und horchen. Ironischerweise forciert Lang systematisch Momente der Identifikation mit ihnen – durch seine beredten Arrangements von Schuss und Gegenschuss sowie durch seine Irisblenden. Immer wieder werden wir in eine dubiose Dynamik von auditiver und visueller Über-wachung verwickelt, in die Position dessen versetzt, der hört und sieht, was vielleicht nicht gehört und gesehen werden soll. Diese allegorische oder selbstreflexive Geste von Dr . Mabuse, der Spieler wird überaus deutlich, wenn Lang die Effizienz der Überwachung darstellt, ist im Grunde aber allgegenwärtig in seinem Film. Alle im vorliegenden Buch betrachteten Filme sind geeignet, einen Aspekt von Überwachung zu erhellen – und doch ist keiner von ihnen auf den ersten Blick ein Film über das Problem der Überwachung. Ge-gen-Musik ist strenggenommen ein Stadtfilm in der Tradition von Ruttmann und Vertov. Auge/Maschine ist eine Installation, die sich mit den zivilen und vor allem militärischen Anwendungen autonom arbei-tender Maschinen auseinandersetzt. Das weiße Band ist ein Film über eine deutsche Dorfgemeinde am Vorabend des Ersten Weltkriegs und, im weiteren Sinne, über die Entstehung fundamentalistischer Gewalt-formen. Dr . Mabuse, der Spieler schließlich ist ein Film über das gesell-schaftliche Chaos in den frühen Jahren der Weimarer Republik. Trotz dieser Verschiedenheit der thematischen Schwerpunkte drängt sich Überwachung als epistemische Größe immer wieder auf, und zwar in einer Weise, die uns Zuschauer unablässig einbezieht. Wenn es so et-was wie einen gemeinsamen Nenner für die in diesem Buch vorgeleg-ten Interpretationen gibt, dann ist es die Tatsache, dass »Überwachung« sich immer wieder darstellt nicht als Thema, das von einer sicheren Betrachterposition aus zu erörtern wäre, sondern als Erfahrung, die wir selbst machen, als Geschehen, mit dem wir uns befassen müssen. Statt als bloßer metonymischer Vertreter oder Platzhalter für das Anschauen von Filmen zu dienen, präsentiert sich Überwachung immer wieder als die Inszenierung diegetischer Momente und der entsprechenden Posi-tionierung des Zuschauers. Immer wieder stellt sich die Frage, wie die Haltung des Zuschauers konkret formiert wird durch die verhandelten Aspekte von Überwachung – sei es mittels der Split-Screen-Ästhetik der »weichen Montage« (bei Farocki), sei es durch Geschehnisse abseits der Kamera und lange Einstellungen (bei Haneke), sei es durch Arran-gements von Schuss und Gegenschuss sowie durch Irisblenden (bei