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Blut, ABstAmmung und fAmilie in j.K. rowlings Harry Potter-reihe Melanie Babenhauserheide 76 interjuli 02 i 2012 Einer der Kunstgriffe J.K. Rowlings ist, dass sie in der Harry Potter-Reihe Res- sentiments und Diskriminierungen nicht an den aus der realen Welt be- kannten Gruppierungen verhandelt, sondern diese anhand verschiedener magischer Wesen und der Frage nach der Abstammung von nicht-magischen Menschen auf einer fiktionalen Ebene – also verfremdet – thematisiert. In der wissenschaftlichen Literatur wurden häufig insbesondere die Nachteile die- ser Herangehensweise herausgestellt (vgl. etwa Gupta 108) oder die Diffe- renz zur Realität weitgehend ignoriert (wie beispielsweise von Anatol 114ff.). Ich möchte diesem Artikel daher eine kurze Darstellung der grundsätzlichen Vorteile dieser verfremdenden Thema- tisierung voranstellen, um deutlich zu machen, dass die Stoßrichtung meiner Analyse weder in der prinzipiellen Problematisierung von Verfremdung noch in der umstandslosen Gleichset- zung gesellschaftlicher und fiktiver Konflikte besteht. Durch die Verhandlung der Pro- blematik auf einer fiktionalen Ebene lässt sich die relative Kontingenz und historische Bedingtheit von Diskrimi- nierung und Verfolgung hervorheben. Gerade die Differenz zur Realität kann die Wirklichkeit transzendieren und Kritik und Erkenntnisse induzieren, weil sie den Leser aus dem Gewohn- ten heraustreten lässt. Eine blanke Ab- bildung und möglichst wirklichkeits- getreue Beschreibung hingegen repro- duziert die Realität lediglich und lässt diese im Medium der Unterhaltungs- literatur angenehmer erscheinen. Bei der Untersuchung der literarischen Verfremdung ist jedoch zu reflektie- ren, wie die Harry Potter-Reihe mit ihren Metaphorisierungen und Alle- gorien ein kritisches Verhältnis zu Dis- kriminierung eröffnet und wie sie Res- sentiments und faschistoides Denken verharmlost, prolongiert oder hofiert. Affirmation und Kritik schließen sich dabei nicht gegenseitig aus, weil die Harry Potter-Reihe diesbezüglich in

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Blut, ABstAmmung und fAmilie in j.K.

rowlings Harry Potter-reihe

Melanie Babenhauserheide

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Einer der Kunstgriffe J.K. Rowlings ist,dass sie in der Harry Potter-Reihe Res-sentiments und Diskriminierungennicht an den aus der realen Welt be-kannten Gruppierungen verhandelt,sondern diese anhand verschiedenermagischer Wesen und der Frage nachder Abstammung von nicht-magischenMenschen auf einer fiktionalen Ebene– also verfremdet – thematisiert. In derwissenschaftlichen Literatur wurdenhäufig insbesondere die Nachteile die-ser Herangehensweise herausgestellt(vgl. etwa Gupta 108) oder die Diffe-renz zur Realität weitgehend ignoriert(wie beispielsweise von Anatol 114ff.).Ich möchte diesem Artikel daher einekurze Darstellung der grundsätzlichenVorteile dieser verfremdenden Thema-tisierung voranstellen, um deutlich zumachen, dass die Stoßrichtung meinerAnalyse weder in der prinzipiellenProblematisierung von Verfremdungnoch in der umstandslosen Gleichset-zung gesellschaftlicher und fiktiverKonflikte besteht.

Durch die Verhandlung der Pro-blematik auf einer fiktionalen Ebenelässt sich die relative Kontingenz undhistorische Bedingtheit von Diskrimi-nierung und Verfolgung hervorheben.Gerade die Differenz zur Realität kanndie Wirklichkeit transzendieren undKritik und Erkenntnisse induzieren,weil sie den Leser aus dem Gewohn-ten heraustreten lässt. Eine blanke Ab-bildung und möglichst wirklichkeits-getreue Beschreibung hingegen repro-duziert die Realität lediglich und lässtdiese im Medium der Unterhaltungs-literatur angenehmer erscheinen. Beider Untersuchung der literarischenVerfremdung ist jedoch zu reflektie-ren, wie die Harry Potter-Reihe mitihren Metaphorisierungen und Alle-gorien ein kritisches Verhältnis zu Dis-kriminierung eröffnet und wie sie Res-sentiments und faschistoides Denkenverharmlost, prolongiert oder hofiert.Affirmation und Kritik schließen sichdabei nicht gegenseitig aus, weil dieHarry Potter-Reihe diesbezüglich in

sich widersprüchlich ist. Im Folgen-den werde ich diese Widersprüchlich-keit an verschiedenen Aspekten derThemenkonstellation „Familie undAbstammung“ aus einer an die Kriti-sche Theorie angelehnten, ideologie-kritischen Perspektive ausführlicheranalysieren. Meine Argumentationversucht dabei, das widersprüchlicheVerhältnis, das die Harry Potter-Reiheinhaltlich zu Familie und der Logikdes Abstammungsprinzips einnimmt,nachzuvollziehen und in Bezug zu set-zen zur politischen Ideologie derBlutsreinheit, die auf den ersten Blickin den Romanen kritisiert wird.

Der Zusammenhang von Ressenti-ments und Diskriminierung auf dereinen und Stolz auf die eigene Ahnen-reihe auf der anderen Seite wird in denRomanen wiederholt thematisiert.Schon als Harry durch Draco zum ers-ten Mal damit konfrontiert wird, dassauch in der Zauberwelt nicht alle Men-schen gleich angesehen sind, argumen-tiert dieser, dass die Zauberbildung für„the old wizarding families“ (Rowling1997, 61) reserviert bleiben sollte, daalle anderen ja anders aufgewachsenseien. Die Erzählung reflektiert damiteine reale Problematik: Die Berufungauf Familie und Abstammung ist bisheute Bestandteil rassistischer und so-zialdarwinistischer Ansichten (vgl.Malik 258f.). Die Darstellung von

Rasse als erweiterter Familie steht inengem Zusammenhang mit demTrend, Ethnie oder Rasse als Grund-lage für Identität aufzufassen und po-sitiv umzuwerten (vgl. Malik 273),damit aber die Einzelnen dem Kollek-tiv einer als authentisch und homogenimaginierten Kultur unterzuordnen.Daher eignet sich der Fokus auf Fami-lie aus werkimmanenten Gründen wieauch im Bezug zu gesellschaftlichenIdeologien besonders, um die Ideolo-gie der Harry Potter-Reihe im Hinblickauf Diskriminierung, Verfolgung undAbstammungslehren zu beleuchten.Im Folgenden zeige ich auf, dass dieWidersprüchlichkeit der Harry Potter-Reihe zu diesem Themenkomplexnicht auflösbar ist,1 dass aber schließ-lich über eine Aufspaltung in gute undschlechte Familien sowohl die in derErzählung entfaltete Kritik an Familienund Abstammungslehren als auch dasHinterfragen von Diskriminierungund Ressentiments unterlaufen wird.

eine frage der herkunft:

familienähnlichkeiten

und Vererbung

Auf den ersten Blick sind es die alsböse markierten Figuren in der HarryPotter-Reihe, die andere Menschenund Wesen über eine faschistoide Blut-und Abstammungslehre beurteilen.Das gilt nicht nur für die Welt der

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Zauberer, in der die Malfoys, die Tod-esser und Voldemort für die Erhaltungvon Reinblütigkeit unter magischenMenschen eintreten, sondern auch inder Muggelwelt: Onkel VernonsSchwester Marge äußert die Ansicht,die Dursleys könnten nichts dafür,dass Harry „mentally subnormal“(Rowling 1999, 25) sei. Vielmehr seidies, wie bei ihren Hunden, eine Frageder Abstammung:

„It’s one of the basic rules of breed-ing,” she said. „You see it all thetime with dogs. If there’s some-thing wrong with the bitch,there’ll be something wrong withthe pup”. (Rowling 1999, 24)

Die Berufung auf genetisch be-dingte Charaktermerkmale beschränktsich jedoch nicht auf die in der Ro-manhandlung als schlecht dargestell-ten Charaktere. Nicht nur Sympathieevozierende Charaktere wie Hagridbeziehen sich ebenfalls auf die Lehredes unterschiedlichen Blutes, auch derErzähler2 selbst greift positiv daraufzurück: So wird sich darüber mokiert,dass Harry angehalten wird, die un-ausstehliche Schwester des OnkelsTante zu nennen, obwohl sie keineBlutsverwandte ist (vgl. Rowling 1999,19). Nun ist diese Äußerung einiger-maßen verwunderlich vor dem Hin-tergrund, dass Harry auch zu seinerengsten Verwandten, Tante Petunia,

nicht gerade eine angenehme ver-wandtschaftliche Beziehung hat.Schließlich gehört es zu den Proble-matiken der Blutsverwandtschaft,dass man sich die Menschen, mitdenen man darüber verbunden ist,nicht aussuchen kann; und diese Pro-blematik scheint ja auch darüber, dassHarry bei seinen ihn verachtendenVerwandten leben muss, thematisiert.Indem aber die überaus große körper-liche und psychische Ähnlichkeit zwi-schen Vernon, Dudley und Margebetont wird –

she was very like Uncle Vernon:large, beefy and purple-faced, sheeven had a moustache, thoughnot as bushy as his3 (Rowling1999, 22)

– wird die Meinung von Marge, dassAbstammung alles bestimme, bestä-tigt. Ihr Fehler scheint weniger darinzu bestehen, dass sie die Abstam-mung für Harrys „Zustand“ verant-wortlich macht, sondern vor allemdarin, dass sie Harry und seine Elternverkennt. Denn Harrys Ähnlichkeitmit seinen Eltern wird von anderenCharakteren immer wieder positivunterstrichen und von Harry freudigaufgenommen. Seine abwesenden El-tern werden als bessere Familie ima-giniert. Während die Ähnlichkeitzwischen Marge und Vernon für eine„schlechte“ Abstammung steht,

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deutet sich in Harrys Ähnlichkeit mitseinen Eltern eine Vorstellung vonguter Herkunft an.

Auch die Charakterisierung vielerFiguren mit Hilfe ihrer Namen drücktaus, dass die Herkunft, repräsentiert inden Familienamen, und das Erbe der El-tern, in Form der von ihnen vergebenenEigennamen, als von immenser Bedeu-tung für die Entwicklung der Indivi-duen betrachtet werden.4 Die einzigenwirklich tragenden Beispiele dafür, dassAbstammung keinen determinieren-dem Einfluss auf die Entwicklung derPerson hat, sind in der Harry Potter-Reihe Harrys Pate, Sirius Black, sowiedessen Cousine und Großcousine undTante Petunia, die unausstehlicheSchwester von Harrys Mutter. Davonabgesehen lässt sich im Großen undGanzen aufgrund der Familienzugehö-rigkeit ermitteln, welche Figur aufwelcher Seite steht.

Nicht einmal das, was einer Ab-stammungslehre am meisten zu wi-dersprechen scheint, die Begabungder Einzelnen, steht dieser wirklichentgegen, denn die Fähigkeit zurMagie ist explizit angeboren, ver-mutlich – wie die Existenz vonSquibs, nicht magisch begabten Kin-dern von Zauberern und Hexen,nahe legt – rezessiv vererbt. So er-klärt es Rowling auch ihren Fans ineinem Interview:

Muggle-borns will have a witch orwizard somewhere on their familytree, in some cases many, many ge-nerations back. The gene re-surfa-ces in some unexpected places.(vgl. www.accioquote.org)

Damit hat die Autorin inner- und au-ßerhalb der Erzählung die restrik-tivste Form der Erklärung gewählt:Magie ist eine Frage der genetischenFestlegung durch Abstammung.

Wie zentral die Herkunft für diepersönliche Entwicklung ist, deutetsich zudem dadurch an, dass die Ein-sortierung in die Schulhäuser in derRegel den familiären Traditionen ent-spricht: So waren alle Weasleys inGryffindor und alle Malfoys in Slythe-rin. Die Ausnahmen (so war Sirius einGryffindor, obgleich seine Familie tra-ditionell zum Hause Slytherin ge-hörte, und die ZwillingsschwesternPadma und Pavarti sind in verschiede-nen Schulhäusern) bestätigen letztlichnur die Regel. Wie Just expliziert, istdie Zuordnung zu verschiedenen Häu-sern zwar auch eine Anlehnung „andas in Großbritannien verbreitete ‚OldBoys Network‘“ (32), da jedoch dieHäuser für bestimmte Eigenschaftenstehen, wird damit subtil der Eindruckerweckt, Charakterzüge seien durchHerkunft determiniert: Beispielsweisesagt Dumbledore in seiner Trauerredeüber den ermordeten Cedric Diggory:

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Cedric was a person who exempli-fied many of the qualities whichdistinguish Hufflepuff house […].He was a good and loyal friend, ahard worker, he valued fair play.(Rowling 2007, 626)

dursleys und Blacks: die

schlechte familie

Der unterschwellige positive Bezugauf Abstammung und familiäre Tra-dition erscheint erstaunlich, wirddoch anfänglich ein düsteres Bild vonFamilie gezeichnet, inklusive derSehnsucht, ihrem einschränkendenund herrschaftsförmigem Zugriff zuentkommen. Dies zeigt sich nicht nurin Bezug auf die Dursleys, auch Si-rius‘ als Portrait konservierte Mutterist Sinnbild für eine schlechte, böseFamilienstruktur:

Mrs Black’s policing of her ownbloodline is typical of the strong-willed woman who – being limi-ted by society to the householdand family affairs – becomes theoverbearing mother who mani-fests power, and expresses thatpower, through control over theone thing that is truly hers: her off-spring. Accordingly, Mrs Black (orwhat is left of her) is representedas trapped in the house, locked in-side her picture frame. (GallardoC./Smith 96)

Das Haus der Blacks hat dieAdresse Number Twelve, GrimmauldPlace, ein Homophon von grim old

place, klingt also schon bei der erstenNennung nach dem düsteren, trost-losen Ort, als der es dann auch be-schrieben wird. Von diesem vergif-teten Ort voller schwarzer Artefakteund ekelerregender Ziergegen-stände versucht die keifende Mutterihr Regiment über den Tod hinausfortzuführen. Die Ahnengeschichtemit dem Familienmotto „Toujourspur“, die außer Sirius alle Mitgliederdes „Noble And Most AncientHouse of Black“ mit Stolz erfüllt hat,stellt sich in gefährlichen Erbstü-cken, Staub, Spinnweben und „asweet rotten smell“ (Rowling 2003,58) als unheimliche Last der Vergan-genheit dar. Die toten Geschlechtersind so präsent, dass Harry beimEintritt den Eindruck hat „as thoughthey had just entered the house of adying person“ (Rowling 2003, 59).Den Lebenden scheint diese Präsenzder Ahnen kaum Raum zum Atmenzu lassen: Einer der Gründe, warumSirius schließlich im Kampf von sei-ner eigenen Cousine getötet wird,ist, dass er es nicht ertragen kann,sich länger in seinem Elternhausaufzuhalten, und sich deshalb demKampf anschließt. Das Erdrückendedes Familienstolzes und die unheim-liche Last der Ahnengeschichte wer-den hier eindrucksvoll metaphorischverdichtet.

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Auch in der Familie Dursley fal-len die nicht erwünschten Anteileder Familiengeschichte aus den fa-miliären Erzählungen. So wie Mrs.Black Sirius und Tonks aus dem Fa-milienstammbaum herausgebrannthat, werden Harrys Eltern durchdie Dursleys verschwiegen. Über-haupt wird bei dern Dursleys keinWert auf die Familiengeschichtegelegt. Harrys Großeltern werdennur in einer Ausnahmesituation er-wähnt, in der das übliche Schwei-gen gebrochen wird. Die Dursleysleben in einem oberflächlichen,spießbürgerlichen Jetzt. WährendMrs. Blacks Portrait die ganze Zeitüber die Abtrünnigen keift, sinddie Dursleys vor allem damit be-schäftigt, ihren Rasen zu pflegenund ihre Küche blank zu putzen,um mögliche Brüche in der reinenNormalität zu überdecken. DieDursleys streben an, möglichst nor-mal zu sein, während die Blackssich abheben und etwas Besseressein wollen. So unterschiedlichdiese beiden schlechten Familienauch dargestellt sind, sie beide bie-ten ihren Sprösslingen keinerleiRaum für Entfaltung, weil jede un-angepasste Äußerung als Verrat ander Familie bestraft wird, so dasssowohl Harry als auch Sirius aufihre Art das Weite suchen.

wahlverwandtschaften

und die gründung der

‚richtigen‘ familie

Nach einer solchen Darstellung der re-pressiven Seiten des Familienlebenswäre zu erwarten, dass die Erzählungbei der Kritik stehen bleibt oder für dieFiguren eine Alternative eröffnet, wiees aus anderen Kulturindustriepro-dukten bekannt ist. In der Folge „Fa-mily“ der Fernsehserie Buffy the Vam-pire Slayer, die auf den ersten Blickviele inhaltliche und narrative Ähn-lichkeiten zur Harry Potter-Reihe auf-weist (vgl. Willcox 66ff.), wird, als diekonservative Familie der lesbischenHexe Tara diese gegen ihren Willenzurück in ihren Heimatort mitnehmenwill, gegen den Vorrang der Abstam-mung eine Lanze für ‚Wahlverwandt-schaften‘ gebrochen. Buffy und ihreCrew stellen sich der Herkunftsfamiliein den Weg.

This is insane. You people have noright to interfere with Tara’s af-fairs. We are her blood kin! Whothe hell are you?

schleudert der misogyne Vater TarasFreundInnen entgegen, worauf Buffyantwortet: „We are family“ (Buffy36:16–36:29). Ein nicht so radikal aus-formulierter oder feministisch inspi-rierter, aber doch vergleichbarer An-satz findet sich in der Harry Potter-Reihe darin, dass Harry die Schule als

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wahres Zuhause empfindet und dasser in den Schulferien vor allem damitbeschäftigt ist, seine FreundInnen zuvermissen: Ron und Hermione, fernerauch Dumbledore und der nicht ver-wandte Pate Sirius (ab Ende des drit-ten Bands) sowie Rons Eltern erschei-nen als Harrys zentralste Beziehun-gen. Allerdings wird dieser Ansatz,freundschaftliche Bindungen überBlutsbande zu stellen, tendenziell da-durch unterlaufen, dass die engstenFreundschaften in eine wirkliche Fa-milie überführt und durch verwandt-schaftliche Beziehungen besiegelt wer-den: Während Harrys nicht verwandteVaterfiguren, Dumbledore, Sirius undLupin, am Ende tot sind, haben imEpilog nicht nur Hermione und Roneine kleine Familie, auch Harry wirddurch die gemeinsame Elternschaftmit Ginny Mitglied von Rons Familie.

Interessant ist auch die Rezeptiondes Epilogs: Von einer Hochzeit zwi-schen Ginny und Harry bzw. Hermioneund Ron ist keine Rede, es wird ledig-lich deutlich, dass beide Pärchen offen-bar fest zusammen sind und Kinderhaben. Rons Scherz gegenüber seinerTochter – „If you’re not in Gryffindor,we’ll disinherit you“ (Rowling 2007,604) – lässt höchstens vage eine eheli-che Verbindung vermuten. Dennochwird offenbar die Vorstellung einerEhe in dieser Kleinfamilienidylle

heraufbeschworen, was sich unter an-derem darin äußert, dass unter Rezi-pienten weitgehend unhinterfragtdavon ausgegangen wird, dass es sichum eheliche Verbindungen handelt:Das deutsche Harry Potter Wiki-Lexi-kon gibt ebenso wie der deutsche undder englische Wikipedia-Eintrag an,dass die Paare verheiratet seien.5 DieTatsache, dass ohne expliziten Hinweisim Text von einer ehelichen Verbindungder Paare ausgegangen wird, lässtdurchaus interessante Rückschlüsse aufdie gesellschaftlich hegemoniale Stel-lung von Ehe zu. Zugleich sagt es aberauch einiges über die Harry Potter-Reihe, die mit der Hochzeit der unkon-ventionellen Tonks mit Remus Lupinsowie der Hochzeit von Bill und Fleur,

who is transformed from Triwi-zard Tournament competitor anddangerously captivating beauty toBill Weasley’s doting wife and hou-semaker (Gallardo C./Smith 92),

sicherlich die Vorlage für diese Inter-pretation geliefert hat.

Mit diesen Familiengründungenrückt die wirkliche Familie als wahreFamilie ins Zentrum des Glücks. Eswirkt, als könnten die engstenFreundschaften nur für Sicherheitbürgen, wenn sie in familiale Struktu-ren überführt werden: Harrys TochterLily beispielweise wünscht sich, dassder verwaiste Teddy Lupin, der sich

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etwa viermal die Woche bei ihrer Fa-milie aufhält, ihre Cousine heiratenmöge: „‚Teddy would really be part ofthe family then!‘“ (Rowling 2007, 605,Hervorhebung im Original). Da amEnde der Romane außer einer losenVerbindung zu Neville keine weiterenBeziehungen der Hauptfiguren offen-bleiben, wird die familiäre Beziehungzu dem, was zählt. Andere Freund-schaften scheinen kaum denkbar: AlsRon und Hermione darüber diskutie-ren, ob ihre Tochter Rose sich eventu-ell mit Dracos Sohn Scorpius anfreun-den könne, warnt Ron:

Don’t get too friendly with himthough, Rosie. Granddad Weasleywould never forgive you if youmarried a pure-blood. (Rowling2007, 605, Hervorhebung im Ori-ginal)

Wenn auch scherzhaft gemeint, wirdhierin einmal mehr das Bild, dassfreundschaftliche Absichten, wenn sieallzu ernsthaft sind, in die Gründungeiner Familie münden, unterstrichenund noch dazu in Verbindung ge-bracht mit den Abstammungsvorlie-ben der Familie, wenn auch hier in aufden Kopf gestellter Form zu der fa-schistischen Vorstellung der Blutsrein-heit. Diese Umdrehung ist nicht ganzernst zu nehmen, denn Rosies Großva-ters Begeisterung für Muggel wird imGroßen und Ganzen als infantiler

Spleen dargestellt und Ron und Ginnyhaben ihm auch nicht den Gefallengetan, einen Muggel in der Familie be-grüßen zu dürfen, sondern eine Hexebeziehungsweise einen Zauberer alsLebenspartner auserkoren.

die liebe und das fremde

Der Scherz Rons, Rosie solle ihremGroßvater zuliebe einen Muggel heira-ten, lässt nach zwei Seiten keinen Aus-weg aus der Sippenlogik: Einen frem-den Muggel zu heiraten, wäre das, wasder Vererbungslehre der Familie (na-mentlich des Großvaters Arthur) ent-spräche, also bereits eingemeindet indie familiäre Tradition, während eineLiaison von Rosie und Scorpius eherRomeo-und-Julia-Qualität und damitProtest gegenüber den herkömmlichenFamiliengeschichten innehätte. Zu-gleich hieße eine solche Verbindung,sowohl innerhalb der Bluts-Logik derFamilie Malfoy als auch innerhalb der‚Ich-heirate-meine-Schulfreunde-die-ich-seit-der-Kindheit-kenne‘-Logik derBuch-Reihe zu verweilen. Dass aberdie Blutsideologie und die Frage, werwen heiratet, durch die scherzhafteAndeutung, dass nur eine Heirat mitjemand Fremdem der Idee der Bluts-reinheit entgegensteht, miteinanderverbunden werden, ergibt tatsächlichSinn: Das Hinausgehen über Blut und

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Boden ist historisch unweigerlichdaran geknüpft, dass die Liebe zu einerLiebe zum Fremden werden konnte,wie Pohrt in seinem Aufsatz über Liebeund Geld bei Balzac ausgeführt hat:

Wo vorher in Gestalt von Nach-barskindern sich ein Acker mitdem angrenzenden zusammentat,um seine zukünftigen Bebauer zuzeugen, da herrscht im Verhältnisder Geschlechter nun nicht mehrder natürliche, überkommeneGang der Dinge, sondern die sub-jektive Willkür des anmaßendenEinzelnen: sein Wille, nicht mit derNächstbesten vorliebzunehmen,sondern die auserwählte schöneFremde zu besitzen. [...] Die Lustim Stande der Sehnsucht und desVerlangens – oder die Liebe – istdaher von Anbeginn über Romeound Julia bis hin zur Dirne ein Pro-test gegen Sippe, Blut, Boden undFamilie als Repräsentanten jenesauf „Bluturenge, Natur- und Herr-schafts- und Knechtschaftsverhält-nissen gegründeten nur lokalenZusammenhangs“, von dem Marxspricht. (10)

In der Harry Potter-Reihe hingegenwird von den ProtagonistInnen dasFremde (etwa in Gestalt Victor Krums)links liegen gelassen, mit den Nächst-besten vorlieb genommen, die Bezie-hungen zur Familie institutionalisiertund all dies schließlich als Happy Endverkauft. „All was well“ lautet derletzte Satz und das, obwohl die alten

Hierarchien und Rivalitäten weiter be-stehen. Das alles Gutmachende scheintzu sein, dass der Held das Kämpfenaufgegeben und sich ins Private zu-rückgezogen hat. Das Entkommen ausdem Leid, das die Familie Dursley fürHarry bereitgehalten hat, führt – der-weil ja die 19 Jahre zwischen demletzten Kapitel und dem Epilog über-sprungen werden – direkt in die rich-tige Familie. Und diese lebt nichteinmal von der Liebe zum Fremden,die aus dem Gewohnten heraustritt.Stattdessen wird eine Liebe idealisiert,die sich auf die Vertrautesten richtet.

dichotomisierung von

familie

Gegen den bedrückenden Charakterder Familien Dursley und Black wirdalso ein Bild der idealisierten Familiegehalten. An Dumbledore wird dieFlucht aus der Enge der Familie sogarals etwas Schreckliches gezeichnet,denn die Ambitionen des jungen, be-gabten Zauberers, und sein Wunsch,im Leben etwas Anderes zu tun, alssich um die Angehörigen zu küm-mern, tragen direkt zum tragischenTod seiner kleinen Schwester bei. DerWeg aus bedrückenden Familienver-hältnissen scheint nur zum Glück zuführen, wenn er am Ende in die Grün-dung einer neuen Familie mündet.Dabei wird die Dialektik von Familie

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in der bürgerlichen Gesellschaft ingute und schlechte Aspekte ausei-nander gerissen. Die Widersprüch-lichkeit der Familie besteht darin,dass es sich um eine „vom Natural-verband sich herleitende und inihrer Binnenstruktur nicht durchden Äquivalententausch regulierteInstitution“ handelt (Adorno 1998a,14), die doch von gesellschaftlichenPrinzipien wie Tausch und Konkur-renz eingeholt wird, was sich, wieAdorno zeigt, in der Form der „muf-figen Interessensgemeinschaft“(Adorno 1997, 40) und spätestens inScheidungskriegen (vgl. Adorno1997, 29ff.) offenbart. Familie ist inihrer anachronistisch wirkendenund an Naturverhältnisse angelehn-ten Irrationalität gleichzeitig funk-tional und dysfunktional (vgl.Adorno 1998b, 305). Zugleich findetsich ein Widerspruch im Span-nungsverhältnis von konkretenMacht- und Herrschaftsverhältnis-sen, denen die Einzelnen im Schutz-raum des Privaten ausgeliefert sind,und der Gewährung von „Nachsicht,Duldung, Zuflucht für Eigenheiten“(Adorno 1997, 30). Diese Widersprüch-lichkeit wird in der Harry Potter-Reihe dichotom aufgespalten und aufdie idealisierten und dämonisiertenFamilien verteilt.

nachkommen als lösung

für die Angst vor der ei-

genen sterblichkeit

Dabei kommt der Nachkommenschaftauch die Funktion zu, die Lösung fürdie Problematik zu bieten, die der fa-schistischen Herrschaft Voldemortszugrunde liegt: die Angst vor dem Todund der Wunsch nach Verewigung.Während Horkruxe, Einhornblut unddie Heiligtümer des Todes allesamtkein gutes Mittel zum Erlangen vonUnsterblichkeit darstellen, haben dieNachkommen der ProtagonistInnennicht nur die Namen der Verstorbenenvererbt bekommen. Vererbung ist viel-mehr die heimliche Protagonistin desEpilogs: Es wird betont, dass HarrysSohn Albus die Augen von HarrysMutter hat, Ron bestätigt Rose, siehabe die Klugheit ihrer Mutter Her-mione geerbt, Ginny attestiert demkleinen James, er sei genau wie Ron,und Dracos Sohn Scorpius „resembledDraco as much as Albus resembledHarry“ (Rowling 2007, 605). Die Kin-der sind eine Art Verlängerung deselterlichen oder familiären Körpersund der geistigen Fähigkeiten undMarotten ihrer Erzeuger, Verwandtenund Vorfahren. Sie garantieren, dassein Teil ihrer Eltern über den Tod hi-naus lebt. Diese Auflösung der Fragenach dem Umgang mit der eigenenSterblichkeit hat, wie im Falle von

Hermione und Rose, insofern etwasfür sich, als sich in den Kindern überErziehung, Identifikationsmechanis-men und Erinnerungen tatsächlichElemente der Eltern erhalten können.Diese Erhaltung jedoch rein als eineFrage der Vererbung darzustellen, ne-giert literarisch individuelle Entwick-lung in der Festschreibung auf einbiologisches Prinzip. Die Bedeutungvon Roses Intelligenz liegt in derÜbernahme und Wiederholung derKlugheit ihrer Mutter und scheintkeine eigene Geschichte zu haben:Rose ist durch die mütterlichen Genedeterminiert. Unter den ökonomi-schen Bedingungen und Herrschafts-formen der bürgerlichen Gesellschaftsind die Entwicklungsmöglichkeitenfür die Individuen tatsächlich gesell-schaftlich beschränkt:

Für die Freien, Gleichen, Einzel-nen heißt Subjektsein unter denBedingungen der eigenen objekti-ven Austauschbarkeit zur Indivi-duation gezwungen zu sein, wäh-rend Individualität verwehrtbleibt. (Kirchhoff 112)

Gesellschaft selbst nimmt dabei dieZüge eines Naturverhältnisses an (vgl.Horkheimer/Adorno 36ff.). Naturali-sierungen wie die Vererbungsidee imEpilog spiegeln diese Problematikwider und hypostasieren sie zugleich.Die Entindividualisierung Roses wird

hier nicht – wie noch wenigstensansatzweise in Harrys Auseinander-setzung mit Marge – als fragwürdigdargestellt, sondern affirmiert.

family Values und ge-

meinschaft gegen den

Zerstörer der familien

Was in der oben zitierten Szene ausBuffy the Vampire Slayer die Gutenauszeichnet, nämlich ihre Bereitschaft,Freundschaften über die Herkunftsfa-milie zu stellen, markiert in der HarryPotter-Reihe den Bösewicht: NachdemVoldemort sich magisch einen neuenKörper zugelegt hat, erzählt er Harrydavon, wie sein leiblicher Vater ihn undseine Mutter im Stich gelassen und erselbst sich schließlich über den Vatererhoben und ihn aus Rache ermordethat, und schließt mit den Worten:

„Listen to me, reliving my familyhistory ...” he said quietly. „Why, Iam growing quite sentimental ....But look, Harry! My true family re-turns ...“ (Rowling 2000, 561, Her-vorhebung im Original)

Die Todesser als wahre Familie sindfür die LeserInnen ziemlich fragloseine Horrorvorstellung von Familie,denn Voldemort foltert und straft seineAnhängerInnen wahllos, die Bezie-hungen scheinen eher von Angst undMachtgier gekennzeichnet als von Zu-neigung. Voldemorts Abwendung von

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der eigenen Familie scheint auch einezentrale Ursache dessen zu sein, wasin der Harry Potter-Reihe immer wie-der als hervorstechende Eigenschaftseiner Gewaltherrschaft dargestelltwird: Dass er Familien auseinander-reißt. An einer Stelle, an der diese Vor-stellung thematisiert wird, dient sie alsKitt zwischen gegensätzlichen Impul-sen des Protagonisten (und sicherlichauch vieler LeserInnen): NachdemHarry in Dumbledores Erinnerungenan eine Gerichtsverhandlung einge-taucht ist, schwankt er zwischen zweiImpulsen: erstens die schlimmste Strafefür die Todesser zu wünschen, die dieEltern seines Freundes Neville so langegefoltert haben, bis diese den Verstandverloren. Zugleich hat er zweitens Mit-gefühl mit zumindest einem der Verur-teilten, dem seinen Vater anflehendenneunzehnjährigen Crouch Junior, derangeblich ein Jahr nach seiner Inhaftie-rung gestorben ist. Die Lösung diesesKonfliktes sieht schließlich so aus:

It was Voldemort […], it all cameback to Voldemort ... He was theone who had torn these familiesapart, who had ruined these lives.(Rowling 2000, 528)

Während vorher noch suggeriert wird,dass sich Crouch Junior möglicher-weise den Todessern angeschlossenhat, weil sein eigener Vater nichtgenug für ihn da war, wird hier nun

Voldemort zu dem familienzerstören-den Prinzip. Das destruktive Elementfindet sich nicht mehr innerhalb derFamilie, etwa im lieblosen Vater, son-dern außerhalb der Familie. Immerwieder wird der Schluss nahegelegt,das Zerstören von (familiären) Bin-dungen sei das Wesen von VoldemortsHerrschaft, weshalb auch Dumble-dore Zusammenhalt fordert:

I say to you all, once again – in thelight of Voldemort’s return, we areonly as strong as we are united, asweak as we are divided. Lord Vol-demort’s gift for spreading discordand enmity is very great. We canfight it only by showing an equallystrong bond of friendship andtrust. […] Some of you, in this hall,have already suffered directly atthe hands of Lord Voldemort.Many of your families have beentorn asunder. (Rowling 2000, 627)

Genau die Vorstellung jedoch, dassEinheit und Gemeinschaft die bestenMittel gegen den zersetzenden Faschis-mus seien, ist mit Vorsicht zu genießen– besonders vor dem Hintergrund,dass Voldemort oft nicht zu Unrecht alseine Art magischer Hitler gelesen wird(vgl. etwa Blake 79, Goldstein 73, Jung102 ff.). Die Vorstellung, dass eine fa-schistische Herrschaft trennt, statt Ver-bindungen herzustellen, während Ge-meinschaft das ist, was dagegenhaltenkann, ist eine postnazistische Ideologie,

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die gerade im Entstehungszeitraumder Harry Potter-Reihe an internationa-ler Bedeutung gewonnen hat und sichnicht zuletzt im Erfolg deutscher Filmeüber den Nationalsozialismus manifes-tiert, in denen dem gemeinschaftszer-störenden Werk der Nazis die gute,über die Familie oder Kameradschaftvermittelte Volksgemeinschaft entge-gengehalten wird.6 Dass der National-sozialismus Familien auseinanderge-rissen hat, trifft zwar auf seine Opferzu, jedoch nur bedingt auf seine An-hängerInnen. Zwar gab es diese Ten-denz insofern, als nicht wenige Elternihre Kinder begeistert in den Kriegschickten bzw. ziehen ließen, zum Teileigene Familienangehörige denunziertwurden und Euthanasie-Morde sowieProjekte wie Lebensborn und Napoladie Bevölkerungspolitik und Volkser-ziehung zugunsten einer genetischenVolksgesundheit aus dem Rahmen derFamilie lösten, jedoch war gleichzeitigder Nationalsozialismus vornehmlichdadurch bestimmt, Einheit zu stiften,besonders natürlich die der Volksge-meinschaft. Als Keimzelle hierfürwaren durchaus die deutschen Fami-lien gedacht, wie etwa die von Hitlereingeführte Verleihung des Ehrenkreu-zes der Deutschen Mutter anzeigt. Hierverkennt die in der Harry Potter-Reiheimmer wieder auftauchende Vorstel-lung, Faschismus sei nur trennend und

zersetzend, Gemeinschaft und fami-liäre Werte hingegen das, was dagegenwirkt, nicht nur einige grundsätzlichePrinzipien des Nationalsozialismus, anden Voldemorts Herrschaft angelehntist, sondern bietet ein Gegenrezept, dasselbst Elemente faschistischen Denkensinnehat: Gleichzeitig erscheint nämlichVoldemort als Stammhalter einer ver-dorbenen Familie. Voldemorts Vorfah-ren, allen voran sein Namensgeber undGroßvater Marvolo und sein OnkelMorfin, sind zerrüttete Gestalten. IhreCharaktereigenschaften sind im We-sentlichen Jähzorn, Gewalttätigkeitund Borniertheit. Körperlich werdensie als tierähnlich und degeneriert dar-gestellt; Morfin beispielsweise schielt.Sie tragen zerlumpte Kleidung und ge-baren sich als unfähig zu höflicher oderauch nur verständlicher Kommunika-tion. Dies alles wird als Folge von In-zucht dargestellt. Damit werden diebeiden Motive verbunden: Die unterder Hand stattfindende Bestätigung fürVererbungslogik und Sippen-Emphase,in der das Fremde als Anziehendes kei-nen Platz mehr hat, und die Vorstel-lung, faschistische Herrschaft sei dasantagonistische Prinzip zu Gemein-schaft, Bindung und Familie, werdenverschweißt, indem der faschistischeFamilienzerstörer selber aus einer ge-störten Familie mit schlechtem Erbgutkommt.

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„Bad blood“: die Bedeu-

tung der Blutsver-

wandtschaft

In die gleiche Kerbe schlägt Hagridschon früher, indem er über die Mal-foy-Familie urteilt:

Rotten ter the core, the whole fa-mily, everyone knows that. NoMalfoy’s worth listening ter. Badblood, that’s what it is ... (Rowling1998, 51)

Dem schlechten Blut wird in der HarryPotter-Reihe unter der Hand die guteBlutslinie der idyllischen Familie, diealles Fremde ausschließt (wie im Fallevon Ron, Hermione, Harry und Ginny)oder domestiziert (wie im Falle vonFleur), entgegenhalten. Gestützt wirddie mehr oder weniger unterschwel-lige Ideologie, dass Blut dicker sei alsWasser, auch von einigen InterviewsRowlings. Beispielsweise antwortet sieauf die Frage, warum Zauberstäbe ver-erbt werden können, obgleich sie diepassenden Magier wählen, wie folgt:

As established by Ollivander, awizard can use almost any wand,it is simply that a wand that choo-ses him/her will work best. Wherethere is a family connection, awand will work a little better thana wand chosen at random, I think.(www.accioquote.org)

Die Bedeutung der Blutsverwandt-schaft wird auch innerhalb der Harry

Potter-Reihe an vielen verschiedenenStellen unterstrichen. Als beispiels-weise Voldemort sich etwas von Har-rys Blut einverleibt, wird ihm auch dermagische Schutz übertragen, den die-ses Blut durch die Liebe und das Opfervon Harrys Mutter erhalten hat. Daaber gerade Diskriminierung und Res-sentiments in der Harry Potter-Reihe ander Frage der Blutes, an den Katego-rien „Pureblood“, „Mudblood“ und„Halfblood“, und an der Frage der Fa-milienzugehörigkeit verhandelt wer-den, entsteht hier ein anderer Eindruckvon deren Bedeutung, als es der mani-feste Impetus der Kritik an diesen Ka-tegorien will, denn Blutszugehörigkeitund Abstammung werden als Bezugs-größe über die Familie affirmiert.Damit wird der Impetus der Reihe,sich gegen die Rassen- und Vererbungs-logik Voldemorts und der Todesser zuwenden, gleichsam untergraben.

Melanie Babenhauserheide(*1976) ist Diplom-Sozial-pädagogin und arbeitet alsLehrkraft für besondereAufgaben an der Fakultätfür Erziehungswissenschaft der Universi-tät Bielefeld. Sie promoviert an der Uni-versität Frankfurt zur Ideologie der HarryPotter-Reihe aus der Perspektive der Kri-tischen Theorie Adornos.

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Anmerkungen

1 Nicht wenige wissenschaftliche Auseinandersetzungen lesen die Harry Potter-Reihe ent-

weder als kritisch-emanzipatorisch oder als konservativ, reaktionär und rassistisch und

übergehen dabei die jeweiligen Widersprüche: Howard z.B. betrachtet die Harry Potter-

Reihe in ihrem Aufsatz „‚Slaves no more’: The Harry Potter Series as Postcolonial Slave

Narrative“ als relativ gelungene moralische Erzählung gegen Sklaverei, während Anatol

sie aus postkolonialer Perspektive ausschließlich problematisiert.2 In der Harry Potter-Reihe findet sich eine Mischung aus auktorialer und personaler Er-

zählperspektive.3 Beachtlich ist dabei auch der Seitenhieb auf eine Maskulisierung von Frauen. 4 Sogar in Fällen, in denen diese Art der Charakterisierung von der Erzählung selbst unter-

miniert wird: Remus Lupins Name spielt darauf an, dass er ein Werwolf ist, dabei hat er diesen

Namen natürlich schon getragen, ehe er von einem Werwolf gebissen und angesteckt wurde. 5 (vgl. http://www.harrypotterwiki.de/wiki/Epilog:_Neunzehn_Jahre_später, http://en. wi-

kipedia.org/wiki/Harry_Potter_and_the_Deathly_Hallows#Epilogue und http://de.wiki-

pedia.org/wiki/Harry_Potter_und_die_Heiligt%C3%BCmer_des_Todes#Epilog 30.05.2012)6 Ebbrecht beispielsweise analysiert, wie in Der Untergang die Nazis, allen voran Magda

Goebbels, als böse Eltern dargestellt werden, während Traudl Jung das Gegenbild dazu

darstellt und zugleich das neue Deutschland repräsentiert (vgl. 184ff.). Wie Sonja Witte

zeigt, trachtet die in Das Wunder von Bern zentrale Vorstellung der guten, nationalen Ge-

meinschaft danach, „den Gegensatz von einzelnem und Kollektiv in einer Ganzheit auf-

zuheben, in der jedeR am anderen Teil hat und trotzdem ganz ‚er selbst‘ sein kann“ (2007,

229), was die Deutschen aus konfliktuösem Chaos und mangelndem Gemeinschaftssinn,

die dem Naziregime wie der Niederlage zugeschrieben werden, erlöst (vgl. Witte 2010,

83). Denn die alte Garde der unter den Nazis Aktiven „repräsentiert eine patriarchale

Autorität, die spaltet und nicht verbindet“ (Witte 2010, 86) und die geneigt ist, Familien

zu zerstören. Das Auseinandergerissene wird schließlich durch die „Großfamilie

Deutschland-einig-Siegerland“ (Witte 2010, 96) und einen neuen, postnazistischen Na-

tionalismus geheilt. Auch in Sophie Scholl von 2004 hält die Protagonistin den bösen Nazis

die gute Gemeinschaft vor, die eigentlich Frieden wolle (vgl. Winter 62) und in Napola:

Elite für den Führer steht die gute Kameradschaft den perversen Nazis gegenüber (vgl.

Winter 64). Dabei werden im Wesentlichen Feindbilder der Nazis übernommen, nur mit

dem Unterschied, dass in diesen Filmen die Nazis selber diejenigen sind, die sie reprä-

sentieren, denn sie sind feige und unkameradschaftlich, dekadent, maßlos und zerset-

zend. Die Nazis gelten als die Falschen, um Gemeinschaft zu stiften. „Und während diese

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‚Nazis‘ sublim mit den [...] JüdInnen assoziert werden, überlebte die ambivalenzfreie und

stereotype ‚deutsche Weiblichkeit und Männlichkeit‘ mit ihrer kameradschaftlich-müt-

terlichen Selbstlosigkeit im Dienste der Gemeinschaft, abgetrennt von der völkischen Ge-

dankenwelt, der sie enstammte, nicht nur den Untergang des NS, sondern wird in den

besprochenen Filmen als einzig angemessen-aufrichtiges Verhalten zum Hort des Wi-

derstands verklärt“ (Winter 66).

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