Bob Der Streuner - Bowen James

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James Bowen

Bob, derStreunerDie Katze, die meinLeben veränderte

Aus dem Englischen von

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Ursula Mensah

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Lübbe Digital

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG

erschienenen Werkes

Lübbe Digital in der Bastei Lübbe GmbH& Co. KG

Für die Originalausgabe:Copyright © 2012 by James Bowen

Originalausgabe:»A Street Cat Named Bob«

Originalverlag: Hodder & Stoughton LtdDieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur:ILA Intercontinental Literary Agency

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Für die deutschsprachige Lizenzausgabe:Copyright © 2013 by Bastei Lübbe GmbH

& Co. KG, KölnTitelfoto: © Hayley Chamberlain

Umschlaggestaltung: Gisela KullowatzDatenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-8387-2498-0

Sie finden uns im Internet unter www.luebbe.de

Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de

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1Weggefährten

Das Glück liegt auf derStraße«, sagt ein Sprichwort.

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»Man muss es nur aufheben.Aber die meisten Menschengehen achtlos daranvorüber.«

Viele Jahre war ich aucheiner von diesen Achtlosen.Immer wieder wurde mir diesprichwörtliche zweite Chancegeboten, mein Leben zuändern, aber ich habe siejedes Mal ungenutztverstreichen lassen. Bis zumFrühjahr 2007.

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Damals habe ich Bobkennengelernt. Und wenn ichheute darüber nachdenke,sehe ich, dass unsereBegegnung auch seine zweiteChance war.

Es war an einem düsterenDonnerstagabend im März.London hatte den Winter nochnicht ganz abgeschüttelt.Manche Tage waren klirrendkalt, besonders wenn derWind von der Themse

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herüberwehte. An diesemAbend lag sogar ein Hauchvon Frost in der Luft. Deshalbkam ich früher als sonst nachHause, in meine erst vorKurzem neu bezogeneSozialwohnung in Tottenham,einem Stadtteil im nördlichenLondon. MeinenLebensunterhalt verdiente ichmir damals in der Innenstadt –als Straßenmusiker in CoventGarden, dem angesagten

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Künstler- und Partyviertel imZentrum von London mit denvielen Pubs, Restaurants undBühnen.

Wie immer hatte ich meineschwarze Gitarrentasche undden Rucksack geschultert. Andiesem Abend war Bellemitgekommen, meine besteFreundin. Vor vielen Jahrenwaren wir mal ein Paargewesen, aber inzwischen

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war unsere Beziehungwirklich rein platonisch. Wirhatten vor, uns beim Take-Away neben meinemMietshaus ein billiges Curryzu holen. Damit wollten wir esuns vor meinem kleinenSchwarz-Weiß-Fernseher,den ich im Second-Hand-Laden in der Nachbarschafterstanden hatte, gemütlichmachen.

Der Aufzug in meinem

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Mietshaus war mal wiederaußer Betrieb, und dieBeleuchtung imEingangsbereich war auchkaputt. Wir mussten denmühsamen Weg durchsTreppenhaus in den fünftenStock in Kauf nehmen. Als wiruns durch den Flur RichtungTreppenaufgang vortasteten,bemerkte ich trotz derDunkelheit, wie in einigerEntfernung vor uns ein

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Augenpaar aufblitzte.»Wir werden beobachtet«,

flüsterte ich Belle zu. Einkläglicher Ton folgte meinerBemerkung. Das klang doch… wie eine Katze in Not!

Vorsichtig tappte ich mich ander Wand entlang auf dieimmer wieder aufleuchtendenKatzenaugen zu. Und dannwäre ich fast über die Katzegestolpert. Sie hocktezusammengekauert auf der

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Fußmatte vor einerNachbarswohnung undblinzelte mich überrascht an.Eine ziemlich zerrupfte roteKatze.

Ich bin mit Katzenaufgewachsen und hatteschon immer eine großeSchwäche für diese stolzenTiere. Die meisten rotenKatzen sind komischerweisemännlich, also nahm ich an,

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einen Kater vor mir zu haben.Rund um die Wohnanlage

war er mir noch nieaufgefallen. Wäre er hierschon einmal aufgetaucht,hätte ich das sicher nichtvergessen. Er hatte eine ganzbesondere Ausstrahlung, daserkannte ich trotz derschlechten Lichtverhältnissesofort.

Er war weder scheu nochverschreckt, sondern strotzte

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eher vor Selbstbewusstsein.Nur seine Körperhaltungverriet ein gewissesMisstrauen. Für ihn war ichwohl so etwas wie einEindringling in sein Revier.Seine großen Augenmusterten mich neugierig, undich konnte fast dieFragezeichen darin lesen:»Wer bist du und was willst duhier?«

Ich beugte mich seinem

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Willen und ging in die Hocke,um ihn höflich zu begrüßen.

»Hallo, mein Freund. Ichsehe dich heute zum erstenMal. Wohnst du hier?«

Er blieb zurückhaltend undsah mich weiter prüfend an,als wollte er meine Absichtenerraten.

Ich streckte die Hand aus,um ihm den Nacken zukraulen. Es war einFreundschaftsangebot, aber

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auch der Versuch, nacheinem Halsband odersonstigen Erkennungszeichenzu tasten. Sehen konnte ich jakaum etwas, aber auch meineHand fand keinerleiAnhaltspunkte. Ein Streuneralso. Davon gab es in Londonleider mehr als genug.

Er genoss die Liebkosung.Zum Dank erhob er sichmajestätisch und strich mir

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sanft um die Beine. Ich nutztedie Gelegenheit und ließmeine Hand über seinenRücken bis zurSchwanzspitze gleiten. SeinFell fühlte sich stumpf undspröde an. Es war dünn,stellenweise spürte ich nackteHaut. Außerdem konnte ichjede Rippe und jedenWirbelknochen spüren. Derbraucht dringend eine guteMahlzeit, dachte ich. Und so

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stürmisch, wie er michumschmeichelte, fehlte ihmauch eine große Portion Liebeund Aufmerksamkeit.

»Der arme Kerl! Ich glaube,es ist ein Streuner. Er hat keinHalsband und ist unglaublichdünn«, informierte ich Belle,die geduldig amTreppenaufgang auf michwartete. Sie kannte michziemlich gut und somit auchmeine Schwäche für

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Samtpfoten. Unbeeindrucktwies sie mich zurecht: »Nein,James, du kannst ihn nichtmitnehmen!« Sie deutete aufdie Wohnungstür hinter demKater. »Ich glaube nicht, dasser nur zufällig hierhereinspaziert ist und sich aufdiese Matte gesetzt hat.Bestimmt gehört erirgendwelchen Nachbarn. Erwartet nur darauf, dass sienach Hause kommen.«

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Sie war eben dieVernünftigere von uns beiden.Man kann eine Katze nichteinfach mitnehmen, auchwenn alles darauf hindeutet,dass sie kein Zuhause hat.Ich war selbst gerade erst hiereingezogen und noch garnicht wirklich angekommen.Sollte die Katze tatsächlichden Nachbarn gehören,wären diese zu Recht sauer,

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wenn ihr Stubentiger plötzlichverschwunden wäre.Außerdem konnte ich inmeinem Leben gerade keinezusätzliche Verantwortungbrauchen. Ich, eingescheiterter Musiker aufDrogenentzug, der in einerSozialwohnung von der Handin den Mund lebte. Es warschwer genug, für mich selbstzu sorgen.

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Als ich am nächsten Morgendie Treppe herunterkam, warder rote Kater immer noch da.Es sah aus, als hätte er sichin den letzten zwölf Stundennicht von der Stelle gerührt.

Wieder ging ich in die Hockeund streichelte ihn. Seinlautes Schnurren zeigte mir,wie sehr er die Berührunggenoss. Ganzhundertprozentig traute er mirzwar immer noch nicht über

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den Weg, aber mir schien, erfand mich ganz akzeptabel.

Bei Tageslicht konnte ich mirden kleinen Felltiger genaueransehen: Markantgeschnittener Katerkopf undganz ungewöhnlichegelbgrüne Augen, derenAusdruckskraft durch seinhellrotes Fell noch zusätzlichbetont wurde. Aber auchSchrammen im Gesicht undan den Beinen, die von einem

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Kampf oder Unfall stammenkonnten. Sein wunderschöngezeichneter Pelz in diversenRot- bis Beigetönen wartatsächlich stumpf und dünn,teilweise nicht mehrvorhanden. Er tat mir wirklichleid, aber ich zwang mich,vernünftig zu bleiben. Ichhatte genug Probleme.Schweren Herzens nahm ichden Bus nach Covent Garden,

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um mir dort mit meiner Musikein paar Pfund zu verdienen.

Erst gegen zehn Uhr abendswar ich wieder zurück inTottenham. Ich konnte nichtnach oben gehen, ohne nachdem roten Kater zu sehen,aber er war verschwunden.Ich war enttäuscht underleichtert zugleich. Er war mirschon mehr ans Herzgewachsen, als ich dachte.Aber ich tröstete mich mit

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dem Gedanken, dass Katerund Besitzer wieder glücklichvereint waren.

Als ich am Samstag gegenMittag die Treppenhinunterkam, schnürte es mirden Magen zusammen, denner war wieder da. Aber ichkonnte meine Augen nichtlänger verschließen: Er warein rotes Häufchen Elend. Ersah hilfsbedürftiger und

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zerzauster aus denn je. Under zitterte, bestimmt vorHunger und Kälte.

»Da bist du ja wieder«,begrüßte ich ihn und kraultesein zerrupftes Fell. »Siehstaber gar nicht gut aus heute!«

Ich musste endlich etwastun.

Entschlossen klopfte ich andie Wohnungstür hinter demKater. Ich wollte seineBesitzer finden und zur Rede

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stellen. Niemand darf seinHaustier so behandeln. DerKater brauchte Wasser undFutter – und wahrscheinlichauch einen Tierarzt.

Der Kerl, der mir die Türöffnete, war unrasiert, trug einFeinripp-Muscleshirt undJogginghosen. Er sah aus, alshätte ich ihn geweckt. Dabeiwar es schon Mittag!

»Entschuldigen Sie bitte die

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Störung. Ist das Ihre Katze?«,fragte ich. Zuerst starrte ermich an, als wäre ich nichtganz richtig im Kopf. »WelcheKatze?«, knarzte er, bevor ernach unten sah und den Katerauf seiner Fußmatteentdeckte. Der hatte sichinzwischen wiederzusammengerollt, als gingeihn das alles gar nichts an.»Nein!«, antwortete derNachbar dann mit einem

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lapidaren Schulterzucken.»der gehört mir nicht!«

»Er ist schon seit Tagenhier«, teilte ich ihm mit, aberMr. Feinripp blieb soteilnahmslos wie der Kater aufder Matte.

»Echt? Der hat wohl Essengerochen oder so was. Also,wie gesagt: Is’ nicht meiner!«Sprach’s und schlug mir dieTür vor der Nase zu.

Die Würfel waren gefallen.

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»Okay, mein Freund, dannkommst du jetzt mit mir«,informierte ich das matteBündel auf vier Pfoten. Ichöffnete meinen Rucksack undkramte tief unten nach derPackung mit demTrockenfutter. Das hatte ichimmer dabei, weil mir alsStraßenmusiker immer vieleKatzen und Hundebegegneten, die sich über einLeckerchen freuten.

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Verheißungsvoll schüttelteich die Schachtel vor seinerNase. Der Kater sprang sofortauf und lief hinter mir her. Erwar ein bisschen wackelig aufden Beinen. Außerdembemühte er sich, eineHinterpfote nicht zu belasten.Wir kamen nur langsamvoran. Der Weg bis zu meinerWohnung im fünften Stockwar beschwerlich für den

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geschwächten Kämpfer. Aberer war zu stolz oder auch zumisstrauisch, um sich von mirtragen zu lassen.

Meine vier Wände warendamals noch ziemlichbescheiden eingerichtet.Außer dem Fernseher gab esnur eine gebrauchte,ausziehbare Couch, eineMatratze in der Ecke deskleinen Schlafzimmers und inder Küchenzeile einen

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altersschwachenKühlschrank, eine Mikrowelle,Wasserkocher und Toaster.Keinen Herd. Meinepersönlichen Dingebeschränkten sich auf meineBücher, Videokassetten undein paar kuriose Staubfänger.Man könnte mich mit einerElster vergleichen, weil ichgern Dinge mit nach Hausenehme, die andere Leutewegwerfen. Meine letzten

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Errungenschaften waren einekaputte Parkuhr und eineramponierteSchaufensterpuppe mitCowboyhut, die meine kahlenZimmerecken schmückten.Meine Freunde interessiertensich immer sehr für dieKuriositäten in meiner Bude,aber der Kater fand aufseinem ersten Rundgang nurdie Küche interessant.

Ich holte die Milch aus dem

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Kühlschrank, goss etwasdavon in eine Untertasse mithohem Rand und mischteetwas Wasser darunter, daKatzen – entgegen derallgemeinen Meinung – Milchnicht gut vertragen. Bereitsnach wenigen Sekunden hatteer alles aufgeschleckt.

Ich hatte noch etwasThunfisch im Kühlschrank.Den vermischte ich mit dem

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Trockenfutter aus meinemRucksack und gab dem Katereine volle Schüssel. Auchdiese Portion war sofortverschlungen. Der Armemusste kurz vor demVerhungern sein!

Nach dem kalten,ungemütlichen Flur war meinebescheidene Wohnungscheinbar die reinste Fünf-Sterne-Luxusunterkunft fürihn. Er zeigte keinerlei

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Unbehagen in der neuenUmgebung. Hoch erhobenenSchwanzes steuerte er nachseinem exquisiten Mahlzielstrebig auf die Heizung imWohnzimmer zu. Dort rollte ersich zufrieden zusammen undschloss sogar die Augen.

Ich setzte mich zu ihm aufden Boden, um mir seinHinkebein anzusehen. AmOberschenkel seiner rechtenHinterpfote klaffte eine tiefe

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Bisswunde. Vielleicht voneinem Kampf mit einem Hundoder Fuchs. Jedenfalls sahdie Verletzung aus, als hätteer versucht, sich mit Gewaltloszureißen. Auch dieSchrammen und Kratzersprachen für einen Kampf aufLeben und Tod.

Die Wunde musste dringendgereinigt werden. Dazu stellteich ihn in die Badewanne,besprühte die Wunde mit

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alkoholfreiem Wundspray undschmierte Vaseline auf seineSchrammen. Die meistenKatzen wären bei dieserBehandlung ausgerastet.Diese hier hieltmucksmäuschenstill. KeinJammern, kein Klagen, keinMaunzprotest und keineempört aufgestellten Haare.Er versuchte auch nicht, michzu kratzen oder sich aus dem

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Staub zu machen. Was für eintapferer kleiner Krieger!

Den Rest des Tagesverbrachte ein zufriedenzusammengerolltes rotesFellknäuel unter meinerHeizung. Ich hatte ihm eineDecke hingelegt, als mir klarwurde, dass dies wohl derauserwählte Lieblingsplatzwar. KurzfristigeEnergieschübezwischendurch nutzte er zur

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Erkundung der neuenUmgebung. Er nahm seinneues Zuhause in Besitz,sprang überall hoch undkratzte genüsslich an allem,was Widerstand bot.Besonders dieSchaufensterpuppe hatte esihm angetan. Es machte mirnichts aus. Schließlich hatteich keine teurenDesignermöbel. Ich gönnteihm seinen Spaß.

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Offenbar steckte eine Mengeaufgestauter Energien in demkleinen Kerl, die er loswerdenmusste. Bei einer dieserAnwandlungen sprang erplötzlich zu mir auf die Couchund ging mit den Pfoten aufmich los. Es war eineAufforderung zum Spiel, aberer war so übermütig, dass ermir im Eifer des Gefechts dieHand zerkratzte. »Okay, meinFreund, jetzt ist Schluss mit

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lustig«, schimpfte ich, klaubteihn von meinem Schoß undsetzte ihn zurück auf denFußboden. Junge,unkastrierte Kater könnensehr ungestüm sein. Unddieser hier steckte scheinbarschon mitten in der Pubertät.Jedenfalls benahm er sich wieein wilder kleinerStraßenrowdy und hattewenig gemein mit einem

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Samtpfötchen.Den Abend verbrachte ich

vor dem Fernseher, der Katersichtlich zufrieden unter derHeizung. Er bewegte sich erstwieder, als ich ins Bett ging.Er folgte mir und kuscheltesich am Fußende meinerMatratze wieselbstverständlich auf meineBettdecke. Sein leisesSchnurren in der Dunkelheitweckte in mir ein längst

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vergessenes Gefühl vonGeborgenheit. Ich war nichtmehr allein – zum ersten Malseit langer Zeit.

Am Sonntag stand ichziemlich früh auf. Ich wollteversuchen, auf einemSpaziergang durch dieNachbarschaft seine Besitzerausfindig zu machen.Vielleicht hatten diese jabereits Aushänge mit einer

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Vermisstenanzeige verteilt.Kopierte Hilferufe hingendamals überall. AnStraßenlaternen, anLitfaßsäulen und sogar anBushaltestellen batenTierbesitzer um Mithilfe beider Suche nach ihrenvermissten Lieblingen. Ichfragte mich schon, ob eine»Cat-Napping«-Bande ihrUnwesen trieb, weil so vieleStubentiger vermisst wurden.

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Den Kater nahm ich mit, nurfür den Fall, dass ich seinenBesitzer gleich fand. ZurSicherheit hatte ich ihm ausSchuhbändern ein Halsbandund eine Leine gebastelt. Aufdem Weg durch dasTreppenhaus wich er nichtvon meiner Seite, doch sobaldwir im Hof waren, zog erungestüm an dem ihnbehindernden Band. Wollte er

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weg oder nur in Ruhe seinGeschäft verrichten? Ich ließihn frei. Er humpelte auf denRasen und verschwand hinterein paar Büschen. Aber nurlange genug, um sich zuerleichtern, dann war erwieder da und schlüpfte ohneMurren zurück in dasprovisorische Geschirr.

Dieses Vertrauen wollte undwürde ich keinesfallsenttäuschen. In diesem

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Moment gelobte ich, für ihn dazu sein, solange er michbrauchte.

Meine erste Anlaufstelle wardie Nachbarin auf deranderen Straßenseite. Siewar als Katzenmutterbekannt, denn sie fütterte alleStreuner aus derNachbarschaft und ließ sie,wenn nötig, auch kastrieren.Als sie mir die Tür öffnete,zählte ich hinter ihr im Haus

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mindestens fünf Katzen. Wieviele noch bei ihr wohnten,wollte ich gar nicht wissen.Angeblich kannte jede Katzeaus der Umgebung ihrenGarten, weil es dort immerFutter gab. Keine Ahnung, wiesie sich das leisten konnte.

Auch sie erlag sofort demCharme meines Begleitersund versuchte, ihn mit einemLeckerbissen anzulocken. Siewar wirklich sehr freundlich,

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konnte uns aber nichtweiterhelfen. Auch sie hatteden roten Kater nie zuvor inunserer Gegend gesehen.

»Ich wette, er kommt auseinem anderen Stadtteil undwurde hier ausgesetzt«,mutmaßte sie und versprach,sich zu melden, falls dochnoch ein verzweifelterKatzenbesitzer bei ihrauftauchen sollte. Mittlerweile

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hielt ich das für sehrunwahrscheinlich. Tottenhamwar nicht sein Revier. Es gabnoch eine Möglichkeit, meineVermutung zu bestätigen: Ichnahm dem abgemagertenGarfield-Verschnitt die Leineab. Sollte er zielstrebigweglaufen, hätte ich eineneue Spur. Aber er fühlte sichsichtlich unbehaglich undblieb neben mir stehen. Seinfragender Blick war

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herzerweichend: »Du willstmich doch jetzt nichtloswerden? Wo soll ich dennhin?« Da hatte ich meineAntwort.

Aber die Suche wollte ichnoch nicht abbrechen. In dennächsten paar Stundendurchkämmten wir dieumliegenden Straßen, und ichsprach Passanten an. Immerdieselbe Frage: »Haben Siediesen Kater schon mal

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gesehen? Kennen Sie seinenBesitzer?« Immer dieselbenteilnahmslosen Blicke,manchmal sogar ein»aufwendiges«Schulterzucken.

Rotpelzchen wich mir nichtvon der Seite – bis auf eineweitere Pipi-Pause, für die erkurzzeitig von der Bildflächeverschwand. Beim Laufen inder frischen Luft kriegt manden Kopf frei, heißt es. Mir

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hingegen schwirrte der Kopfvor lauter Fragen: Wo kommter her? Wie hat er gelebt,bevor er auf der Fußmatte inunserem Hausflur landete?

Ich ließ meiner Fantasiefreien Lauf: Wie dieKatzenmutter von gegenüberkonnte ich mir gut vorstellen,dass er früher in einer Familiegelebt hatte. Er war so einwunderschönes Tier, hätte als

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Weihnachts- oderGeburtstagsgeschenk sicherjedes Kind begeistert. Aberrote Kater haben mehrTemperament als ihreArtgenossen, besonders diejungen, unkastrierten, wie ichgestern selbst hatte erlebendürfen. Sie sind vieldominanter und wilder. Ichvermutete also, je verrückterund unbändiger er sich beimHeranwachsen benahm,

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desto lästiger wurde er seinerFamilie.

Ich hörte förmlich die Elternstöhnen: »Jetzt reicht’s!« Aberanstatt ihn im Tierheim oderbei der RSPCA, dembekanntestenTierschutzverein Englands,abzugeben, haben sie ihneinfach ins Auto verfrachtet,sind mit ihm herumgefahrenund haben ihn irgendwoausgesetzt.

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Katzen haben zwar einenstark ausgeprägtenOrientierungssinn, aberbestimmt wurde erwohlweislich weit weg von zuHause »entsorgt«, damit ernicht mehr zurückfand.Vielleicht war er aber auchnicht glücklich bei seiner Ex-Familie gewesen und hatteselbst beschlossen,loszuziehen und sich einennetteren Dosenöffner zu

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suchen. Katzen tun dasmanchmal.

Er könnte auch einer altenDame gehört haben, dieverstorben war.

Nichts davon musstestimmen. Da er sein Geschäftnur im Freien verrichtete, wares auch gut möglich, dass ernoch nie in einer Familiegelebt hatte. Dagegen sprachallerdings seine Zutraulichkeit.

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Er mochte Menschen, schienjeden in Frage kommendenVersorger zu umschmeicheln,so wie er es mit mir getanhatte.

Ein wichtiger Hinweis aufeinen Teil seinerVergangenheit war für michdie schlimme Bisswunde amBein. Die Wunde eitertebereits, war also ein paarTage alt. Sie brachte mich aufeine weitere Idee zu seinem

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Vorleben:In London hat es schon

immer viele Straßenkatzengegeben, Streuner, die durchNebenstraßen und Hinterhöfestreiften und von den Abfällenund Almosen fremderMenschen lebten. Schon vorfünf- oder sechshundertJahren waren die GreshamStreet im Zentrum vonLondon, Clerkenwell Greenund Drury Lane bekannt als

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Katzenreviere. Es muss dortnur so gewimmelt haben vonverwilderten Rudeln.

Auch heute noch sindLondons Streuner einunerwünschter Ballast indieser Stadt, ausgemustertund weggeworfen von einerübersättigten undrespektlosenWohlstandsgesellschaft. Siestreunen ziellos umher undkämpfen täglich ums nackte

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Überleben. Viele von ihnensind misshandelte,gebrochene Kreaturen. Warmein verwundeter Kämpfereiner von ihnen? Vielleichthatte er einenSeelenverwandten gesuchtund in mir gefunden.

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2Auf dem Weg der

Genesung

Ich halte mich für einen

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Katzenkenner, denn ich binmit diesen Haustierenaufgewachsen. Nebenmehreren Siamkatzen hattenwir auch einmal einewunderschöneSchildpattkatze. Unsereflauschigen Familienmitgliederhaben mir viele schöneErinnerungen hinterlassen.Aber es gibt auch eine sehrtraurige Geschichte, die sichin mein Gedächtnis

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eingebrannt hat.Ich bin in England und

Australien groß geworden,und zu diesem Zeitpunktlebten wir gerade in Cragie,einem Ort in Westaustralien.Meine Mutter brachte einesTages ein süßes, weißesKatzenbaby mit ganz dichtem,flauschigem Fell nach Hause.Ich glaube, sie hatte sie voneinem Bauern aus derUmgebung. Auf jeden Fall war

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das kleine Wollknäuel totalverwahrlost.

Bevor die Kleine zu unskam, war sie noch nie voneinem Tierarzt untersuchtworden. Das arme Ding warvoller Flöhe, aber wir habenes leider nicht gleich bemerkt.Ihr dichtes Fell wurde ihr zumVerhängnis. Die Flöhenisteten so tief im Unterfell,dass sie lange unbemerktblieben. Diese Parasiten

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saugen anderen das Lebenaus, um selbst zu überleben.Und genau das geschah beiunserem Kätzchen. Als wirendlich kapierten, wieschlecht es ihr ging, war esbereits zu spät. Meine Mutterbrachte die Kleine noch zumTierarzt, aber der schütteltenur noch den Kopf. DasKatzenkind war bereits demTod geweiht. Es hatte alle

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möglichen Infektionen undKrankheiten. Es war nur zweiWochen bei uns, bis es starb.Ich war damals fünf odersechs Jahre alt und konntediese Tragödie gar nicht rechtverkraften, genauso wenigwie meine Mutter.

Ich musste oft an diesesarme Kätzchen denken, vorallem, wenn mir eine weißeKatze über den Weg lief. Aberan diesem Wochenende ging

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sie mir gar nicht mehr ausdem Sinn. Schuld daran warder zerzauste kleine Kämpfer,den ich bei mir aufgenommenhatte. Das schäbige, stumpfeFell des Katers machte mirAngst. Er sollte nicht soerbärmlich enden wie dasweiße Katzenkind aus meinenKindertagen. Ich durfte dasnicht zulassen und wollte aufkeinen Fall sein Lebenriskieren.

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Am Sonntagabend standmein Entschluss fest: DerKater musste zum Tierarzt.Meine laienhafteErstversorgung würde seineBeinverletzung nicht heilen.Und wie sollte ich beurteilen,welche anderen Krankheitener noch mit sichherumschleppte? Ich durftedas nicht länger aufschieben.Gleich am nächsten Morgenwollte ich mit ihm zur

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nächs tge legenen RSPCA-Tierambulanz. Die war, so vielich wusste, in der Nähe vonFinsbury Park.

Ich hatte mir extra denWecker gestellt. Mein kleinerSchützling bekam zumFrühstück wieder eine PortionTrockenfutter vermischt mitThunfisch. Draußen grauteein trüber Morgen, aber heutewar das keine Ausrede, um zu

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Hause zu bleiben.Mit seinem verletzten Bein

würde der Kater die neunzigMinuten Fußmarsch bis zurTierambulanz nichtdurchhalten. Ich wollte ihntragen, fand aber nur einegrüne Recyclingkiste für denTransport. Ideal war das nicht.Auch der Kater war nichtbegeistert von meinerNotlösung, diesem Tragekorbfür Arme. Er wollte nicht

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stillsitzen, steckte immerwieder seine Vorderpfotenüber den Rand der Kiste undversuchte, hinauszuspringen.Katzenterror vom Feinsten.»Na, dann komm, ich trag’dich«, gab ich nach und nahmihn auf den freien Arm. Denanderen brauchte ich zumTragen der grünen Kiste. Erkletterte auf meine Schulterhoch und ließ sich dort nieder,während ich das leere

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Recycling-Monster denganzen langen Weg bis zurRSPCA-Ambulanz schleppendurfte.

Im Warteraum der Praxiswar die Hölle los. Es warbrechend voll. Fast nurHunde, deren Besitzergenauso aggressiv auftratenwie ihre Tiere. Die meistendieser Jungs waren unterzwanzig, mit abstoßendenTattoos und kahl geschorenen

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Köpfen im Skinhead-Stil.Siebzig Prozent derwartenden Hunde warenStaffordshire Bullterrier, derenVerletzungen mit hoherWahrscheinlichkeit ausKämpfen mit Artgenossenstammten. Ich tippte aufillegale Volksbelustigung füreine verrohte Meutegelangweilter Zeitgenossen.Es heißt, Großbritannien sei

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eine Nation vonTierliebhabern. Davon warhier leider nicht viel zuspüren. Es ist unfassbar, wiemanche Leute mit ihrenTieren umgehen.

Der Kater saß abwechselndauf meinem Schoß und aufmeiner Schulter. Er warziemlich unruhig. KeinWunder, denn die Hundebellten und knurrten wütend inunsere Richtung. Manche

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bedrohten ihn mithochgezogenen Lefzen. Nurmit beträchtlichemKraftaufwand gelang es ihrenBesitzern, sie zurückzuhalten.Sie hätten ihn wohl amliebsten zerfleischt.

Ein Hund nach dem anderenwurde in denBehandlungsraum geholt.Jedes Mal, wenn dieSprechstundenhilfeauftauchte und jemand

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anderen aufrief, waren wirenttäuscht. Letztendlichvergingen viereinhalbStunden, bis wir endlich ander Reihe waren. Als meinName aufgerufen wurde, wares eine Erlösung für unsbeide: »Mr. Bowen, Sie sinddran.«

Ein Tierarzt in mittlerenJahren erwartete uns. Er hatteden gelangweiltenGesichtsausdruck eines

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abgebrühten Mannes, der vielSchlimmes gesehen hatte.Vielleicht lag es an deraggressiven Stimmung imWartezimmer, die ich so langehatte ertragen müssen, aberer war mir sofortunsympathisch.

»Also, was ist dasProblem?«, fragte er dannauch ziemlich schroff.

Ich wusste, der Mann macht

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nur seinen Job, aber ich hätteam liebsten geantwortet: »Ja,wenn ich das wüsste, wäreich nicht hier!« Aber ichverkniff mir die Antwort.

Stattdessen erzählte ich ihm,wie ich die Katze im Hausflurauf dem Weg zu meinerWohnung gefunden hatte, undzeigte ihm die Wunde amHinterbein des Katers.

»Okay, mal sehen …«,nuschelte er.

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Nach kurzer Untersuchungbekam mein Findling eineSpritze mit Diazepam gegendie Schmerzen. Und einRezept für Amoxicillin, einAntibiotikum, das er zweiWochen einnehmen sollte.

»Wenn sich sein Zustand invierzehn Tagen nichtgebessert hat, kommen Siebitte wieder«, sagte derTierarzt. Nur widerwillig undauf meine ausdrückliche Bitte

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hin durchkämmte er noch kurzdas Fell nach Flöhen. ZumGlück fand er keine.

»Trotzdem sollten Sie ihmvorbeugend Tabletten gegenetwaigen Flohbefall geben.Besonders junge Katzen sindda sehr anfällig«, belehrte ermich. Als ob ich das nichtwüsste! Wieder verkniff ichmir die Antwort. Ich sah zu,wie er auch für diesesMedikament ein Rezept

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ausstellte.Immerhin kam er noch selbst

auf die Idee, den Kater nacheinem Mikrochip abzusuchen.Leider ohne Erfolg. Also dochein Straßenkater?

»Sie sollten ihm so bald wiemöglich einen Chipeinpflanzen lassen«, riet ermir »… und er gehörtkastriert.« Damit drückte ermir ein Informationsblatt für

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ein kostenfreiesKastrationsprogramm fürStreuner in die Hand. Ichnickte zustimmend unddachte dabei an die wildenTemperamentsausbrüchemeines neuen Mitbewohners,die meine Möbel ziemlichstrapazierten. Lächelndstimmte ich zu und hoffte, eswürde ihn interessieren,warum. Aber da kam nichts.Er war bereits damit

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beschäftigt, seine Notizen inden Computer zu hacken unddie Rezepte auszudrucken.Wir waren hier nur Teil einesFließbandprozesses, undscheinbar war es Zeit, unsaus der Tür zu schubsen, umfür den nächsten PatientenPlatz zu machen. Der Tierarztkonnte nichts dafür. Es wardas System.

Und dieses System hatteuns schon nach wenigen

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Minuten wieder ausgespuckt.Der Kater und ich verließenerleichtert die Praxis, und ichlöste die Rezepte gleich in derApotheke nebenan ein. DieApothekerin in dem weißenKittel war etwas freundlicherals der Tierarzt.

»Das ist aber ein hübscherKerl«, bemerkte sie mit Blickauf den Kater. »Meine Mutterhatte auch mal so einenRoten. Er war der beste

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Kamerad, den sie je hatte.Und eine sehr starkePersönlichkeit. Er saß immerzu ihren Füßen und ließ dieWelt an sich vorüberziehen.Wenn eine Bombe neben ihmexplodiert wäre, er wäre ihrnicht von der Seitegewichen.« Dabei tippte sieZahlen in ihre Kasse undlegte mir die Rechnung aufden Tresen.

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»Das wären dannzweiundzwanzig Pfund, meinLieber«, zwitscherte sie. MeinHerzschlag setzte kurz aus.

»Zweiundzwanzig Pfund! Soviel?«, stammelte ich. Zudiesem Zeitpunkt belief sichmein gesamtes Barvermögengerade mal auf 30 Pfund.

»Leider ja«, antwortete dieApothekerin lächelnd, abermit unerbittlichem Blick.

Ich übergab ihr meine 30

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Pfund und strich dasWechselgeld ein. Ich hattegerade eine kompletteTageseinnahme fürKatzenmedizin ausgegeben.Aber was blieb mir übrig? Ichkonnte meinen neuen Freunddoch nicht im Stich lassen!

»Sieht aus, als müssten wirzwei die nächsten vierzehnTage miteinanderauskommen!«, informierte ichden Kater auf meiner

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Schulter, als wir aus derApotheke traten und uns aufden langen Weg zurück nachTottenham machten.

Es war ein Versprechen. Inden nächsten zwei Wochenwürde ich den Kater aufkeinen Fall freilassen. Nicht,bevor seine medizinischeVersorgung abgeschlossenwar. Außer mir würdeniemand dafür sorgen, dass

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er regelmäßig seine Tablettennahm. Der Tierarzt hattewegen der Infektionsgefahrauch Freigänge ab sofortverboten.

Zum ersten Mal in meinemLeben wurde ich gebraucht.Es gab jemanden, um den ichmich kümmern musste.Verwundert stellte ich fest,dass mich die neueVerantwortung beflügelte. Fürihn zu sorgen, gab meinem

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Leben endlich einen Sinn.Am Nachmittag stürmte ich

die nächstgelegeneZoohandlung und kaufteKatzenfutter für die nächstenbeiden Wochen. Der Tierarzthatte mir eine Probe vonwissenschaftlich erprobtem,hochwertigem Trockenfuttermitgegeben. Meineigenwilliger Schützling hattees für gut befunden. Alsokaufte ich einen großen Sack

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davon und eine PaletteNassfutter. Neun Pfundkostete mich dieserGroßeinkauf für die Katz.Danach war ich total pleite.

An diesem Abend musstemein schnurrender Patientallein zu Hause bleiben. Ichfuhr mit meiner Gitarre nachCovent Garden, um Geld zuverdienen. Ab jetzt hatte ichzwei Mäuler zu stopfen.

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In den darauf folgendenTagen wurde Rotpelzchenaufgepäppelt. Dabei lernte ichihn besser kennen und fandendlich auch einenpassenden Namen für ihn:Bob. Die Idee hatte ich, alsich mir eine DVD meiner altenLieblingsserie Twin Peaksansah. Darin kommt einer vor,der heißt Bob, der Killer. Er istziemlich durchgeknallt undspielt einen Mann mit zwei

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Gesichtern, so eine Art Jekyllund Hyde. Zeitweise ist erganz normal, dann wiedertotal verrückt undunberechenbar. Der Katererinnerte mich sehr an diesenBob. Die meiste Zeit gab erdas glückliche, zufriedeneSchmusekätzchen. Aber voneiner Sekunde zur anderen,völlig unerwartet, drehte erkomplett durch. In diesenverrückten fünf Minuten

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schoss er wie einblutrünstiger, etwas zu kleingeratener Tiger durch meinApartment und bearbeitete mitweit aufgerissenen Augen,angelegten Ohren undKampfmaunzen gnadenlosmeine gesamte kargeEinrichtung.

Ich unterhielt mich mitmeiner Freundin Belle überdiese seltsamen

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Anwandlungen meinesMitbewohners, als es mir wieSchuppen von den Augen fiel:»Er hat viel gemeinsam mitBob, dem Killer aus TwinPeaks«, teilte ich ihr mit. Ausihrem verständnislosen Blickschloss ich, dass sie die Serienicht kannte. Auch egal!Hauptsache, ich wusste,warum Bob der perfekteName für meinen rotenPflegekater war.

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Inzwischen war ichüberzeugt, dass Bob noch niemit Menschen unter einemDach gelebt hatte. Denn erverweigerte stur und standhaftdas Katzenklo. Sobald dieNatur rief, stand er an derWohnungstür und jammerteso lange, bis ich ihn nachunten trug, damit er sich inder Grünanlage rund umunser Haus erleichternkonnte. Wenn ich ihn vor der

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Haustür absetzte, raste er loszu den Büschen, erledigtesein Geschäft und scharrtedanach endlos lange in derErde herum. Es schien ihmungemein wichtig, jeglichenauch noch so kleinen Beweisseiner Tat bis auf das letzteDüftchen vollends zubeseitigen.

Als ich ihn eines Morgenswieder einmal bei diesemRitual beobachtete, kam mir

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die Idee, er könnte beiZirkusleuten oder Travellerngelebt haben. Fahrendes Volkkam oft nach Tottenham.Ganz in der Nähe unseresMietshauses gab es ein StückLand, auf dem immerirgendwelche Gruppencampierten. Vielleicht gehörteer zu einer dieser Familien.Vielleicht war er nurversehentlich zurückgelassen

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worden, als sie weiterzogen.Das würde erklären, warum erMenschen zwar mochte, aberder für Salonlöwenselbstverständliche Feinschlifffehlte.

Bob wurde immeranhänglicher, und auch ichwollte ihn nicht mehr missen.Sein anfängliches Misstrauenschwand zusehends. Er fühltesich deutlich sicherer undwurde immer zutraulicher.

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Trotzdem blieb er wild undungestüm. Böse konnte ichihm deswegen nicht sein,denn schließlich war er jungund unkastriert.

Schnell fanden wir einenRhythmus für unserengemeinsamen Tagesablauf.Am Vormittag ließ ich Boballein zu Hause und fuhr nachCovent Garden. Dort machteich so lange Musik, bis ichgenug Geld für unsere

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Tagesration an Esseneingespielt hatte. Wenn ichnach Hause kam, stand Bobschon wartend an derWohnungstür. Dann folgte ermir zum Sofa, und wir sahengemeinsam fern. Mir wurdelangsam klar, was für einkluger Junge er war. Erbewies mir täglich aufs Neue,dass er immer verstand, wasich ihm mitteilen wollte.

Immer wenn ich einladend

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mit der Hand auf das Sofaschlug, sprang er hoch undlegte sich neben mich. Wennich ankündigte: »Es ist Zeit fürdeine Tabletten!«, wusste ergenau, was auf ihn zukam.Seine Antwort war jedes Malein verzweifelter Blick, dersagte: »Muss das sein?« Aberer wehrte sich nie, wenn ichdie Pille in sein Maul schobund ihm dann die Kehle

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kraulte, bis er sie geschluckthatte. Die meisten Katzenwürden bei dem Versuch,ihnen etwas Unangenehmeszu verabreichen, kratzen,beißen, fauchen und sichwehren. Aber Bob blieb sogarbei dieser Tortur sanft undverständnisvoll.

Schon damals wurde mirklar, dass Bob etwas ganzBesonderes war. So einaußergewöhnliches

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Katzenwesen war mir nochnie begegnet.

Aber er hatte auch seineMacken. So wusste er zumBeispiel genau, dass seinFutter in der Küche verstecktwar. In regelmäßigenAbständen polterten Töpfeund Pfannen in der Küche zuBoden, weil Kater Nimmersattnach mehr Nahrung suchte.Küchenmöbel undKühlschrank waren bereits

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gezeichnet von besessenenKratzattacken auf dasunschuldige Mobiliar, weil erhinter jedem Schranktürchenetwas Leckeres zum Naschenvermutete.

Zu seiner Verteidigung seijedoch gesagt, dass er auf einstrenges »Nein« immer sofortreagierte. Sobald meintadelndes »Nein! Gehst du daweg!« an sein Ohr drang,schlich er sichtlich zerknirscht

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davon. Ein helles Köpfcheneben. Dieses gute Benehmenwarf bei mir weitere Fragenüber seine Herkunft auf. Einverwilderter Straßenkaterwürde doch nicht auf dasKommando eines Menschenhören, oder?

Wir hatten viel Spaßmiteinander, aber ich mussteaufpassen, dass unsereBindung nicht zu eng wurde.

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Denn früher oder späterwürde er seine Freiheitzurückfordern. Er war ebenkein Stubentiger, für den dieEroberung der Kuscheldeckeseines Besitzers derHöhepunkt des Tages war.

In der kurzen Zeit, die mirals sein Beschützer zurVerfügung stand, wollte ichmeiner verantwortungsvollenRolle gerecht werden. Dazugehörte auch, ihn auf seine

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Rückkehr auf die Straßevorzubereiten. Und so füllteich eines Morgens endlich dasFormular der RSPCA-Ambulanz aus, um ihn für daskostenloseKastrationsprogrammanzumelden. Ich schickte esper Post ab und war ziemlicherstaunt, als ich bereits nachzwei Tagen einAntwortschreiben imBriefkasten hatte. Es war ein

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Gutschein für dieunangenehme, aber wichtigeOperation.

Jeden Morgen gingen wirnoch vor dem Frühstück nachunten, damit Bob pinkelnkonnte. Sein Kistchenverstaubte weiterhinungenutzt in einer Eckemeiner Wohnung. Hochnäsigmachte er nach wie vor einengroßen Bogen um das

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seltsame Ding.Eines Tages verschwand er

wieder in den Büschen, dieunser Mietshaus vomnächsten trennten. Das warsein bevorzugter Platz, seinFreiluftkatzenklo. Angeblichmarkieren Katzen so ihrRevier, das habe ich mal ineinem wissenschaftlichenArtikel über Katzen gelesen.

Sein Geschäft war schnell

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erledigt, die Aufräum- undVerscharr-Aktion dauerte, wieüblich, viel länger. DieSauberkeit undOrdnungsliebe von Katzen hatmich schon immer fasziniert.Warum ist ihnen das sowichtig?

Als Bob endlich mit seinemWerk zufrieden war,schlenderte er gemütlich überdie Wiese auf mich zu. Aberplötzlich erstarrte er zur

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Salzsäule. Sämtliche Muskelnwaren angespannt, und erfixierte mit starrem Blicketwas für mich Unsichtbaresim Gras. Ich wollte ihm schonentgegengehen, umherauszufinden, was ihn sostörte. Aber noch bevor icheinen Fuß vor den anderensetzen konnte, gingRotpelzchen ab wie eineRakete.

Alles ging so schnell, dass

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ich ihm mit den Augen kaumfolgen konnte. Mitblitzschnellem Pfotenschlaggrapschte Bob nach etwas fürmich Unsichtbarem im Gras.Erst als er es hochwarf, sahich, was es war. Eine kleinegraue Maus, keine fünfZentimeter lang. Das kleineDing hatte tatsächlichversucht, unbemerkt an Bobvorbeizuhuschen. Aber eshatte keine Chance. Bob hatte

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sich mit Lichtgeschwindigkeitund hundertprozentigerTreffsicherheit auf dasMäuschen gestürzt. Jetzt wares zwischen seinen Zähnengefangen – kein schönerAnblick. Ich sah nur die hilfloszappelnden Beinchen,während Bob in aller Ruheden Körper der Maus inseinem Maul so zurechtlegte,dass er sie zerbeißen konnte.

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Das Unvermeidliche warschnell vorbei. Als sich dasarme Tier nicht mehr wehrte,legte Bob die tote Mauszurück ins Gras.

Ich wusste, was alsnächstes kommen würde,aber ich wollte nicht, dass erdie Maus verspeiste. Mäusesind berüchtigt als Überträgervon Krankheiten. Ich knietenieder, um ihm seine Beutewegzunehmen. Das fand er

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leider gar nicht witzig. Er gabein Geräusch von sich, dasich noch nie zuvor von ihmgehört hatte: eine Mischungaus Knurren und Fauchen.Verwundert hielt ich inne.Mehr Zeit brauchte er nicht,um sich seine Trophäe mit derPfote wieder zu angeln.

»Nein, Bob«, schimpfte ich.»Gib sofort die Maus her!«Aber diesmal wollte er nichthören. Wie kam ich dazu, ihm

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seine Beute abzuluchsen?Sein stolzer undherausfordernder Blick fragteverständnislos: »Warum sollteich?«

So kamen wir nicht weiter.Ich musste ihm einen Tauschanbieten. Hektischdurchwühlte ich meineManteltaschen nach einemLeckerchen und wurde zumGlück fündig. »Nimm das hier,Bob! Das schmeckt bestimmt

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viel besser«, lockte ich.Aber mein

Bestechungsversuch kamnicht an, der Gegenwert waroffenbar nicht attraktiv genug.Es folgte ein Kräftemessenmit den Augen. Ich durfte indieser Situation nicht blinzeln,das wäre in derKatzensprache einerUnterwerfunggleichgekommen. Irgendwann

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gab er nach und spuckte dieMaus aus. Sofort schnappteich sie an der Schwanzspitze,brachte sie außer Reichweitemeines kleinen Killers undentsorgte sie in der Mülltonneneben unserem Wohnhaus.

Durch den kleinenZwischenfall fiel mir wiederein, warum mich Katzenschon immer so faszinierthaben: Sie sind Raubtiere.Die meisten Katzenbesitzer

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wollen sich ihr süßes kleinesKatzenkind zwar nicht alsMassenmörder vorstellen,aber genau das sind sie,wenn man sie nur lässt. Invielen Ländern, wie auch inAustralien, gibt es einenächtliche Ausgangssperrefür Katzen, weil sie nachtsgerne jagen und in der Vogel-und Nagerwelt ihres Revierswahre Gemetzel anrichtenund ganze Arten-

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Generationen auslöschenkönnen.

Bob, der Killerkater, hattegerade seinem Namen alleEhre gemacht. SeineVorstellung als kaltblütiger,blitzschnell zuschlagenderRäuber war beeindruckendgewesen. Er wusste genau,was er wann und wie zu tunhatte.

Und schon wieder grübelteich: Wie und wo hatte er

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gelebt, bevor er im Flurmeines Mietshausesaufgetaucht war? Wovonhatte er sich ernährt? Wiehatte er überlebt? Musste ersein Futter täglich jagen underlegen wie heute? Hatte er jein einer Familie gelebt odermusste er sich von demernähren, was die Naturhergab? Was hatte ihngeprägt, ihn zu dem werden

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lassen, der er war? Ich hättees so gern erfahren. Sicherhätte mein Freund Bob, derStraßenkater, die eine oderandere interessanteGeschichte erzählen können.

Auch in diesem Punkt hattenBob und ich etwasgemeinsam. Als ichobdachlos war, wollten vieleLeute von mir wissen, wasmich in diese auswegloseSituation getrieben hatte.

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Manche fragten ausberuflichen Gründen. Ich habemeine Geschichte Dutzendenvon Streetworkern,Psychologen und sogarPolizisten erzählt. Sie allewollten wissen, warum ich aufder Straße gelandet war. Aberes gab auch einige Passantenund Zufallsbekanntschaften,die mich aus reiner Neugierausquetschen wollten.

Ist es wirklich so spannend,

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zu hören, warum jemanddurch das gesellschaftlicheRaster gefallen ist? Ist es dieunterschwellige Angst vor derTatsache, dass ein solcherAbsturz jeden treffen kann?Ich glaube, solcheLebensgeschichten machenden Zuhörer zufriedener mitseiner eigenen Situation. Siekönnen dann aufatmen undsich mit dem Gedankentrösten: »Ich dachte immer,

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mir geht es schlecht, aberjetzt weiß ich, es könnteschlimmer sein – zumBeispiel, wenn ich so einarmer Penner wäre.«

Wen man auch fragt, warumer oder sie in dieObdachlosigkeit abgerutschtist, man wird immer sehrpersönliche Berichte hören.Aber es gibt immer Parallelen.In den meisten Fällen spielen

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Alkohol und Drogen einegroße Rolle. Oft begann derWeg auf die Straße auch weitin der Kindheit und in derFamilie.

Wie bei mir.Meine Kindheit war sehr

unbeständig, denn sie fandauf zwei Kontinenten statt.Mal lebten wir in England, malin Australien. Aber auch imjeweiligen Land blieben wirnie lange an einem Ort. Wir

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sind ständig umgezogen.Geboren wurde ich in Surreyim Süden von England. Alsich drei Jahre alt war, zog ichmit meiner Mutter nachMelbourne in Australien.Meine Eltern waren zu dieserZeit bereits geschieden. MeinVater blieb in Surrey, meineMutter hatte ausExistenzangst einen Job alsVertreterin für Rank-Xerox-Kopierer in Melbourne

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angenommen. Sie war richtiggut in ihrem Job und gehörtebald zu den Top-Verkäufernder Firma.

Trotzdem blieb sie rastlos.Bereits nach zwei Jahrenzogen wir von Melbournenach Westaustralien. Dortblieben wir drei oder vierJahre. Finanziell ging es unsimmer gut in Australien. Wirwohnten immer in großenBungalows. Alle hatten einen

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Garten mit viel Platz zumSpielen und vielenSportmöglichkeiten für einenJungen meines Alters. ImUmland gab es viel zuentdecken, und ich liebte diewilde Landschaft Australiens.Nur Freunde hatte ich keine.

Weil wir so oft umzogen, fieles mir extrem schwer, mich indie ständig neuenKlassengemeinschaften

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einzufügen. Noch bevor ich inAustralien heimisch werdenkonnte, zogen wir zurücknach Sussex, in einen Ort inder Nähe von Horsham.Damals war ich neun. Ich warfroh, wieder in England zusein, und habe mich dortwirklich wohlgefühlt, das weißich noch genau. Mit zwölfhatte ich mich gut eingelebt,aber gerade da zogen wirwieder zurück nach

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Westaustralien.Wir blieben in einem Nest

namens Quinn’s Rockhängen. Und dort fingenmeine Probleme an.

Wegen der vielen Jobsmeiner Mutter blieben wir nielänger als zwei Jahre aneinem Ort. Ständig kaufte undverkaufte sie Häuser, ständigzogen wir um. Einbeständiges Zuhause kannteich nicht, und ich konnte nie

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einen Heimatort benennen.Wir führten ein sehr unstetesLeben.

Ich bin kein Psychiater, aberich war im Laufe der Jahre beivielen in Behandlung.Deshalb bin ich davonüberzeugt, dass sich dieständigen Ortswechselnegativ auf meineEntwicklung ausgewirkthaben. Es war mir schlichtunmöglich, soziale Kontakte

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zu knüpfen. Nicht einmaldurch die Schule fand ichFreunde. Versucht habe iches durchaus, aber ich warwohl zu bemüht. Erreichthabe ich leider das Gegenteil.Ich wurde an sämtlichenSchulen gemobbt. Und inQuinn’s Rock waren dieKinder besonders grausam.

Durch meinen britischenAkzent und meinen Wunsch,

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es allen recht zu machen, warich der Dorfjugend ein Dornim Auge. Und ich war leichteBeute. Eines Tages hattenmeine Mitschülerbeschlossen, mich zusteinigen. Im wahrsten Sinnedes Wortes. Der Name derStadt kam nicht von ungefähr:Überall lagenKalksteinbrocken herum. Andiesem Tag wurden sie fürmich zu schmerzhaften

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Geschossen. Blind vor Wutund in Todesangst lief ichdurch ein Spalier vonkreischenden Mitschülern, diemich mit Steinenbombardierten. Danach durfteich wegen einer schwerenGehirnerschütterung ein paarTage zu Hause bleiben. Derseelische Schaden hatniemanden interessiert.

Das Mobbing in der Schulewar aber nicht mein einziges

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Problem. Zu Hause gab esinzwischen einen Stiefvater,den ich nicht ausstehenkonnte. Er hieß Nick und warin meinen Augen ein Weichei.Ich nannte ihn nur »Nick, thePrick«, was ziemlich unter derGürtellinie war. Meine Mutterhatte ihn in Horshamkennengelernt, als sie eineWeile bei der Polizeigearbeitet hatte. Zu meinemLeidwesen war er mit nach

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Australien gekommen.Unser Nomadenleben

konnte auch er nichtverhindern. Es lag an denständig neuenGeschäftsideen meinerMutter, die meist sogarerfolgreich waren. Zuerstproduzierte sie Schulungs-Videos für die Telemarketing-Branche. Das lief eine Weileziemlich gut. Dann gab sie ein

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Frauenmagazin heraus, dasnicht so erfolgreich war. Malging es uns finanziell sehr gut,manchmal waren wir auchpleite. Aber nie für lange,denn sie war eine gewiefteUnternehmerin.

Mit sechzehn schmiss ichdie Schule. Ich hatte dasMobbing meiner Mitschülereinfach satt. Meinen StiefvaterNick strafte ich nur noch mitVerachtung. Ich war stolz

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darauf, dass ich aufniemanden mehr hörte.

Ich wurde zum Taugenichts,zum jungen Wilden, der nurnoch machte, was er wollte.Ich kam spät oder gar nichtnach Hause, widersetzte michsämtlichen Regeln meinerMutter und auch sonst jederAutorität, egal, von wem sieausging. Als Teenager hatteich nur ein Talent: mich inSchwierigkeiten zu bringen.

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Leider habe ich das bis heutenicht ganz abgelegt.

Es war nur eine Frage derZeit, bis Drogen ins Spielkamen. Zuerst habe ichKlebstoff geschnüffelt. Nur so,um dem grauen Alltag zuentfliehen. Süchtig wurde ichdavon nicht, ich wollte es nurausprobieren. Aber es war derAnfang eines bösen Weges.In meinem jugendlichenLeichtsinn hätte ich das

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allerdings niemandemgeglaubt. Als nächstes habeich Gras geraucht und Toluolgeschnüffelt, ein industriellesLösungsmittel, wie man es inNagellackentferner, Klebstoffund Benzin findet. Ich war ineine Spirale geraten, dieabwärts führte, und selbstwenn ich gewollt hätte, gab eskein Zurück mehr. Eins führtezum anderen, und alles

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zusammen war der Versuch,meine unbändige Wut zubetäuben. Denn inzwischenhatte ich erkannt, dass ichdurch das unstete Leben, dieständige Abwesenheit meinerMutter und die zahlreichenKindermädchen einigewichtige Erfahrungen undChancen verpasst hatte.

Zeig mir einenSiebenjährigen und ich zeigedir den Mann, der später aus

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ihm wird, sagt ein englischesSprichwort. Ich glaube nicht,dass man mir mit siebenschon meine Zukunftangesehen hat. Mit siebzehnallerdings schon: Ich war aufdem besten Weg in dieSelbstzerstörung.

Meine Mutter hat allesversucht, mich von denDrogen fernzuhalten. Sie sah,was das Zeug mit mir machte,und sie hatte Angst vor den

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langfristigen Folgen einerAbhängigkeit; schließlichhatte ich mich bereitsverändert. Sie tat alles, wasMütter so tun. Siedurchsuchte meine Taschen,um mir das Zeugwegzunehmen, und sieversuchte, mich in meinZimmer einzusperren. Aberdie Türschlösser in unseremHaus hatten Drehknöpfe, undich hatte schnell heraus, dass

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sie mit Hilfe einerSicherheitsnadel ganz leichtzu knacken waren. Der Knopfsprang einfach heraus, undich war frei. Meine Mutterhatte keine Macht mehr übermich. Weder sie noch sonstjemand konnte mirVorschriften machen. Wirhaben uns nur nochgestritten. Unser seitgeraumer Zeit schlechtes

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Verhältnis wurde jetztunerträglich.

Irgendwann hat sie michzum Psychiater geschleift.Der hat sich dann so richtigan mir ausgetobt. DieDiagnose reichte vonSchizophrenie über manisch-depressiv bis hin zu ADHS:Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom.

Für mich war nur derPsychiater verrückt, genau

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wie seine Einschätzungmeiner Person. TotalerSchwachsinn! Ich war dochnur ein verwirrter Teenager.Und natürlich war ichüberzeugt davon, alles besserzu wissen. Heute verstehe ichdie Angst meiner Mutter. Siefühlte sich hilflos undmachtlos, und sie bangte ummeine Zukunft. Aber für dieGefühle anderer Menschenwar ich damals blind. Mir war

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alles egal, und niemand kaman mich heran.

Das Verhältnis zwischenmeiner Mutter und mir war sobelastet, dass ichvorübergehend in einechristliche Wohngemeinschaftfür Jugendliche zog. Auchdort konnte mich keiner dazubewegen, etwas Sinnvolles zutun. Herumlungern, mich mitDrogen zudröhnen undGitarre spielen: das war mein

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Leben. Wenn auch nichtunbedingt in dieserReihenfolge.

Kurz nach meinemachtzehnten Geburtstagbeschloss ich, nach Londonzurückzukehren. Ich wollte beimeiner Halbschwesterwohnen, der Tochter meinesVaters aus einer anderenEhe. Von da an ging es nurnoch abwärts.

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Wobei sich meine Abreisedurchaus wie der Start inswahre Leben anfühlte, in dieWelt der Erwachsenen. Dieseerwartungsvolle Anspannungkennt bestimmt jederTeenager, der endlich von zuHause ausziehen darf. MeineMutter brachte mich mit demAuto zum Flughafen. Als siean einer roten Ampel in derNähe meines Abflug-Terminals hielt, gab ich ihr

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einen flüchtigen Kuss auf dieWange, sprang aus demWagen und winkte ihr kurz zu.Wir dachten beide, es wärenur ein Abschied für sechsMonate. So war es vereinbart.Ich würde anfangs bei meinerHalbschwester wohnen undversuchen, meinen großenTraum zu verwirklichen: eineKarriere als Musiker. Abermein Plan ging nicht auf.

Zuerst kam ich, wie

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besprochen, bei meinerHalbschwester unter, die imSüden von London wohnte.Mein Schwager war nichtbegeistert von mir als neuemMitbewohner. Ich war immernoch der aufmüpfigeTeenager, sah aus wie einGoth, benahm michunmöglich und leistete auchkeinen finanziellen Beitragzum Lebensunterhalt in

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meiner Gastfamilie.In Australien war ich als

Handyverkäufer in der IT-Branche tätig gewesen, aberin England fand ich keinenguten Job. Kurz nach meinerAnkunft durfte ich mich alsKellner in einer Barversuchen, aber da passte ichnicht wirklich hinein. Über dieWeihnachtsfeiertage 1997schuftete ich als Vertretungfür alle Mitarbeiter, die frei

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haben wollten. Kaum warendie Feiertage um, wurde ichentlassen. Das war schonschlimm genug, aber der Chefbeschuldigte mich in einemBrief ans Arbeitsamt auchnoch, selbst gekündigt zuhaben. Das hatte zur Folge,dass ich kein Anrecht aufArbeitslosengeld hatte, wasmir als geborenem Engländersonst zugestanden hätte.

Nach diesem Rauswurf war

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ich im Haus meinesSchwagers gar nicht mehrwillkommen; er und meineHalbschwester setzten micheinfach vor die Tür. Ich hattezwar noch Kontakt zu meinemVater, aber alsÜbergangslösung für meinWohnungsproblem kam ernicht in Frage. Obwohl wir unsein paar Mal getroffen hatten,waren wir uns fremd. Ichkonnte mir nicht vorstellen,

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mit ihm unter einem Dach zuwohnen. Also zog ich voneinem Bekannten zumnächsten. Ich schlief aufSofas, Matratzen undFußböden. MeinenSchlafsack hatte ich immerdabei und zog wie einNomade durch fremdeWohnungen und Häuser. Alsmir zuletzt auch die Fußbödenvon Bekannten ausgingen,

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blieben mir nur noch dieStraßen von London. Ich hattenicht bemerkt, dass ich michbereits im Sturzflug befand.Erst als ich auf der Straßeaufschlug, stand ichfassungslos vor den Scherbenmeiner Träume.

Das Leben auf der Straßeraubt dir deine Würde, deinePersönlichkeit und …eigentlich alles. Du existierst

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nicht mehr, für nichts undniemanden. Als Obdachloserbist du unsichtbar für deineMitmenschen. Das fand icham schlimmsten. Niemand willetwas mit einem Penner zutun haben. Wenn du auf derStraße landest, hast dukeinen einzigen Freund mehrauf der Welt. Trotzdem habeich es in dieser Zeit einmalgeschafft, einen Job alsKüchenhilfe zu ergattern. Sie

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waren zufrieden mit meinerArbeit, aber als herauskam,dass ich keine Adresseangeben konnte, wurde ichgefeuert. Als Obdachloserkannst du dich auch nichtwehren.

Meine letzte Rettung wäredie Rückkehr nach Australiengewesen; immerhin hatte ichein Rückflugticket. Aber zweiWochen vor dem Abflug verlorich meinen Pass. Ich hatte

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keine Papiere mehr und keinGeld für neue. Damit hattesich meine Hoffnung auf eineRückkehr zu meiner Familie inAustralien in Luft aufgelöst.Sie verschwand in den grauenNebelschwaden Londons,genau wie ich.

An die Zeit danach erinnereich mich nur nochschemenhaft. Ich habe mich

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mit Alkohol und Drogenbetäubt und irgendwie mitKleinkriminalität über Wassergehalten. Heroin wurde meinvermeintlicher Lebensretter.

Zuerst nahm ich es, umnachts auf der Straßeschlafen zu können. Esvertrieb die Einsamkeit unddie Kälte. Es nahm mich mitan einen besseren Ort. Aberleider hat es mir auch dieSeele geraubt. 1998 war ich

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süchtig. Wahrscheinlich binich mehrmals nur knapp demTod entronnen, aber um dieWahrheit zu sagen, ich warimmer so weggetreten, dassmir selbst das nichtaufgefallen wäre.

In all diesen schrecklichenTagen, Wochen und Monatenhabe ich nie daran gedacht,mich bei meiner Familie zumelden oder sie gar um Hilfezu bitten. Ich war

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verschwunden, und eskümmerte mich einen Dreck.Jegliche Energie, die ich nochaufbringen konnte, steckte ichin den täglichen Kampf umsnackte Überleben. Heutekann ich nachvollziehen, wasich meiner Familie durch meinVerschwinden angetan habe.Meine Mutter wäre fastdurchgedreht. Sie hatte michals vermisst gemeldet.

Einen kleinen Eindruck von

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dem Schmerz, den ich meinerFamilie zugefügt hatte, bekamich, als ich etwa neun Monatenach meinem Verschwindenbei meinem Vater anrief. Seitmeiner Ankunft in London warein Jahr vergangen, und eswar kurz vor Weihnachten.Seine Frau – meineStiefmutter – war am Apparat.Zuerst wollte er gar nicht mitmir reden und ließ mich

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minutenlang warten. Als ersich so weit gefangen hatte,dass er den Hörer in die Handnehmen konnte, schleuderteer mir seine ganzeaufgestaute Wut entgegen:»Wo warst du denn,verdammt noch mal? Wir sindalle ganz krank vor Sorge!«,brüllte er ins Telefon. Ichversuchte ihn mitfadenscheinigen Ausreden zuberuhigen, aber er schnauzte

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mich weiter an.So erfuhr ich von den

verzweifelten Anrufen meinerMutter, die von ihm wissenwollte, wo ich abgebliebenwar, und damit wurde mir klar,was ich angerichtet hatte.Denn meine Mutter hatte seitder Scheidung eigentlichkeinen Kontakt mehr zumeinem Vater. Fünf Minutenwütete er so weiter undknallte mir endlose Vorwürfe

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um die Ohren. Damals habeich nicht einmal begriffen,dass sein Ausbruch eineMischung aus Wut undErleichterung war. Er hattemich für tot gehalten, und ingewisser Weise war ich das jaauch gewesen.

Nach etwa einem Jahr aufder Straße sammelte micheine Hilfsorganisation fürObdachlose auf. Sie schobenmich von einer Notunterkunft

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in die nächste. Eine davonhieß »Connections« und lagin der Nähe der St. Martin’sLane. Als Obdachloser warich oft an diesem Hausvorbeigegangen, wenn ichnachts auf dem Marktnebenan untergekrochen war.

Schließlich wurde meinName auf eine Notfalllistegesetzt. Auf diese Weisesollte ich schneller an eine

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freie Sozialwohnung kommen.Aber bis ich tatsächlich einebekam, dauerte es fast zehnJahre, die ich in zahllosenheruntergekommenenHerbergen undFrühstückspensionenverbrachte, auf engstemRaum mit Heroin- undCracksüchtigen, die allesstahlen, was nichtfestgenagelt war. Irgendwannhatte ich nichts mehr außer

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der Kleidung, die ich am Leibtrug. Daraus habe ich gelernt,meine wichtigstenHabseligkeiten nachts immeram Körper zu verstecken. Esgab nur noch einen einzigenklaren Gedanken in dieserZeit: Überleben!

Die Verzweiflung über meineschier aussichtslose Situationzerrte mich immer tiefer inden Drogensumpf. Mitfünfundzwanzig war ich so am

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Ende, dass mir eineEntziehungskuraufgezwungen wurde. Nachetwa zwei Monaten wurde ichaus der Klinik entlassen undan ein ambulantesDrogenrehabilitationszentrumweitergereicht. Für eine Weilewaren der tägliche Gang zurApotheke und die Busfahrtzwei Mal im Monat zurDrogenambulanz in Camdenmein Lebensinhalt. Ich

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funktionierte wie aufKnopfdruck, stand morgensauf und erledigte meineTermine wie einferngesteuerter Roboter. DieTage verstrichen wie inTrance; ich stand weiterhinkomplett neben mir.

In der Drogenambulanzwurde ichpsychotherapeutisch betreut.Endlos redete ich über meine

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Sucht. Wie alles angefangenhatte – und wie ich endlichdavon loskommen würde.

Gründe und Ausreden fürDrogensucht gibt es viele,aber ich weiß genau, wasmich da hineingezogen hat.Es war die verdammteEinsamkeit. Heroin betäubtdas hässliche Gefühl vonIsolation. Es ließ michvergessen, dass ich in diesemLand weder Familie noch

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Freunde hatte. Ich fühlte michso allein. Auch wenn das fürandere seltsam undunglaubwürdig klingen mag,aber das Heroin war meineinziger Freund.

Allerdings war mir auchbewusst, dass es michumbringen würde. Deshalbhabe ich mich letztendlich aufdie Langzeittherapie mitMethadon eingelassen. Es istdie Ersatzdroge, die

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Morphium- und Heroin-Abhängigen den Entzugermöglicht. Nach meinemTherapieplan sollte ich bis2007 auch so weit sein, dassich das Methadon absetzenkönnte.

Ein wichtiger Schritt in dieneue Unabhängigkeit war derEinzug in meine erste eigeneWohnung. Sie lag in einemunauffälligen Mietshaus inTottenham, in dem ganz

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normale Singles und Familienwohnten. Ich war sicher, hierwürde ich es endlich schaffen,mein Leben in dem Griff zubekommen.

Ich wollte unbedingt einenTeil meinesLebensunterhaltes selbstaufbringen und fing an, inCovent Garden Straßenmusikzu machen. Viel brachte daszwar nicht ein, aber es reichte

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für meinen Bedarf anLebensmitteln sowie für Gasund Strom. Vor allem aberwar es eine tägliche Aufgabefür mich, die es zu bewältigengalt. Mein selbst geschaffenerJob half mir, auf dem rechtenWeg zu bleiben.

Es war meine letzte Chance,die Kurve zu kriegen. Diesmalmusste es klappen. Wäre icheine Katze gewesen, dannhätte ich bereits acht Leben

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verbraucht.

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3Die Kastration

Die Medikamente wirktenWunder, und Bob blühte

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förmlich auf. Nach etwa zehnTagen war seineBeinverletzung so gut wieverheilt, sein stumpfes,sprödes Fell war dichter undsamtweich geworden. Erselbst wirkte rundumglücklicher. Seine Augenstrahlten keck in diesemsatten Gelbgrün, wie ich esnoch nie bei einer Katzegesehen hatte.

Er war so gut wie gesund,

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und der beste Beweis dafürwaren seine wildenSpielattacken. Zwar hatte erseine verrückten fünf Minutenvon Anfang an mehrmalstäglich ausgelebt, aber in denletzten beiden Tagen war ernur noch wild und übermütig.Ich hätte das nicht für möglichgehalten. Es gab Momente,da sprang und rannte er durchdie Wohnung wie ein Irrer.Dabei hieb er seine

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ausgefahrenen Krallen inalles, was ihm unterkam.Auch ich wurde nichtverschont.

Meine Second-Hand-Möbelhatten allesamt schon unterseinem Übermut gelitten.Überall Kratzspuren; meineHände und Arme sahenähnlich mitgenommen aus.Aber ich nahm es ihm nichtübel, denn für ihn war allesnur ein Spiel ohne böse

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Absicht.Bevorzugtes Opfer seiner

Überfälle war die Küche. Erattackierte die Schranktürenwie ein Berserker,angetrieben von der Giernach verbotenenLeckerbissen. Mir blieb nichtsanderes übrig, als ein paarbillige Kindersicherungen ausPlastik zu kaufen, um seineEinbrüche zu unterbinden.

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Sein Spieltrieb warunersättlich. Ich durfte nichtsherumliegen lassen, das ihmauch nur im Entferntesten zurUnterhaltung dienen konnte.Schuhe, Kleidung – alles warinnerhalb von Sekundenzerkratzt oder gar zerfetzt.

Natürlich wusste ich, was mitihm los war. Ich durfte dieAnzeichen nicht längerignorieren: junger Kater mitüberschäumendem

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Testosteronspiegel. Derkleine Schnitt war überfällig.Zwei Tage vor Beendigungseiner Tablettenkur rief ich dieAbbey-Tierklinik in derDalston Lane an, um einenTermin für ihn zu vereinbaren.

Die Vor- und Nachteiledieses Eingriffes waren mirbekannt. Es tat mir wirklichleid für Bob, aber aus meinerSicht der Dinge überwogeneindeutig die Vorteile. Dürfte

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er seine Männlichkeitbehalten, würde er von seinenHormonen gesteuert und wievon Sinnen weite Streckenzurücklegen, nur umempfängnisbereite Weibchenzu suchen. Er würde für Tageoder gar Wochenverschwinden. DieWahrscheinlichkeit, in diesemAusnahmezustand überfahrenzu werden oder sich

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blutrünstige Kämpfe mitanderen Katern zu liefern, warhoch. Die Verletzung, die wirgerade auskurierten, warmöglicherweise auch auseinem solchenPaarungsdrang entstanden.Männliche Streunerverteidigen ihr Revier bis aufdie letzte Kralle. Siemarkieren ihr Gebiet miteinem für uns übel riechendenSekret, das Fremdkatzen

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vertreiben soll. Bob könnte inseinem jugendlichenLeichtsinn ein solches Revierbetreten und dafür Prügelbezogen haben. Vielleicht warich übervorsichtig, aber Bobkonnte sich auf einer dieserausgedehnten Streunertourenauch ansteckendeKrankheiten wie FeLV, dieKatzenleukose, oder FIV, dasKatzen-HIV holen. Ein letzter,aber nicht unwichtiger Punkt,

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falls Bob bei mir bleibensollte: Er wäre ein ruhigeres,viel ausgeglicheneresHaustier. Seine Anfälle vonKatzen-Irrsinn würdenverschwinden und mich undmeine Möbel schonen.

Es gab nur einen Punkt, dergegen die Kastration sprach:Es war ganz einfach eineunangenehme Operation.

Kein Grund, länger darübernachzudenken.

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Ich rief die Tierklinik an undsprach mit einer nettenMitarbeiterin. Nachdem ich ihrmeine finanzielle Lage erklärthatte, wollte ich wissen, ob wirdort auch das kostenfreieKastrationsprogramm inAnspruch nehmen konnten.»Solange er einen Impfpassvon einem Tierarzt vorweisenkann, können wir dasjederzeit machen«, bestätigte

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sie mir. Den Impfpass hatteich bei unserem letztenBesuch in der RSPCA-Ambulanz bekommen.

Jetzt machte ich mir nurnoch Sorgen wegen derMedikamente, die er nocheinnahm. Aber auch dieAntibiotika waren keinProblem. Sie gab uns einenTermin für den übernächstenTag. »Am besten bringen Sieihn gleich morgens vorbei.

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Wenn alles gut geht, könnenSie ihn abends wiederabholen«, erklärte sie mirnoch.

Am Operationstag stand ichfrüh auf, weil ich Bob bisspätestens zehn Uhr abliefernsollte. Zum ersten Mal seitunserem Besuch in derHöllenpraxis am FinsburyPark musste ich mit demKater eine längere Streckezurücklegen. Seit damals

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waren nur die kurzen Gassi-Gänge vor dem Haus erlaubtgewesen, um die Heilungseiner Bisswunde nicht zugefährden.

Ich verfrachtete ihn also, wiebei unserem letztenTierarztbesuch, wieder in dieungeliebte grüneRecyclingbox aus Plastik. DasWetter war scheußlich andiesem Tag, also legte ichden Deckel der Box lose oben

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drauf, sodass er noch Luftbekam. Natürlich fühlte er sichin diesem provisorischenTragekorb genauso wenigwohl wie beim letzten Mal.Andauernd verschob er denDeckel und streckte neugierigden Kopf heraus, als hätte erAngst, irgendetwas zuverpassen.

Die Abbey-Tierklinik liegtmitten auf der Dalston Lane,

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einer Einkaufsmeile,eingezwängt zwischen einemZeitungskiosk und einerArztpraxis. Wir waren frühdran für Bobs Termin, aberauch hier war der Warteraumbereits voll: das üblicheChaos von Tieren undHaltern. Hunde, dieungeduldig an ihren Leinenzogen und die Katzen in ihrenschicken Tragekörbenanknurrten. Unter all den

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Salonlöwen undSamtpfötchen fiel Bob inseiner ärmlichen Plastikboxganz schön aus demRahmen. Die Hunde hattenihn sofort zum kollektivenFeind auserkoren. Auch hierwar wieder eine stattlicheAnzahl von Bullterriernvertreten, deren Besitzer michstark an Neandertalererinnerten. Die meistenKatzen wären in dieser

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Situation ausgerissen, abernicht Bob. Auf meinerSchulter fühlte er sich sicher,da war er der König.

Eine jungeOperationsschwester riefmeinen Namen auf. Sie hatteeinen Fragebogen dabei undführte uns in einenNebenraum. Dort wurden wirroutiniert befragt undinformiert.

»Diese Operation kann nicht

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rückgängig gemacht werden.Sind Sie sicher, dass Sie mitBob auch in Zukunft nichtzüchten wollen?«

»Ganz sicher«, bestätigteich lächelnd und kraulte Bobzwischen den Ohren.

Die nächste Frage konnteich leider nicht beantworten.

»Wie alt ist er?«»Oh, das weiß ich nicht«,

antwortete ich und schob eine

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Kurzfassung seinerGeschichte hinterher.

»Hm, lassen Sie mich malsehen.« Sie erklärte mir, dassman bei unkastrierten Katzendas Alter noch ganz gutfeststellen kann. »Katzen undKater werden mit etwa sechsMonaten geschlechtsreif.Wenn sie in diesem Alternoch nicht kastriert sind,können sich die typischenkörperlichen Merkmale ihrer

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Rasse noch ausprägen. Diemännlichen Tiere bekommenden imposanten, rundenKater-Kopf. Sie werden vorallem an den Backen voller.Ihre Haut wird dicker, und siewerden viel größer als Kater,die schon früh unters Messerkommen. Er hier ist noch nichtganz ausgewachsen, ichschätze, er ist etwa neun oderzehn Monate alt«, informiertesie mich.

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Als sie mir die OP-Formulareaushändigte, machte sie michdarauf aufmerksam, dass esein minimales Risiko fürKomplikationen gäbe, auf dassie mich hinweisen müsse.»Wir werden ihn vorher aufjeden Fall gründlichuntersuchen, gegebenenfallsmachen wir auch einenBluttest, bevor wir mit derOperation beginnen«, erklärtesie mir. »Falls es ein Problem

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geben sollte, werden wir sieanrufen.« Mein verschämtes»Okay« schnürte mir fast dieKehle zu. Ich hatte keinGuthaben auf meinem Handy;sie würden mich im Ernstfallnicht erreichen können.

Aber sie redete bereitsweiter und erklärte mir dieOperation: »Es ist einRoutineeingriff unterVollnarkose. Durch zwei

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kleine Schnitte in denHodensack werden die Hodenentfernt.«

»Autsch, Bob!«, entfuhr esmir. Unwillkürlich drückte ichihn etwas näher an mich undkraulte ihn aufmunternd unterdem Kinn.

»Wenn alles gut geht,können Sie Bob in sechsStunden wieder abholen«,informierte sie mich und sahauf ihre Uhr. »So um halb

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fünf, geht das?«»Ja, klar!«, nickte ich

zustimmend. »Vielen Dankund bis dann!«,verabschiedete ich mich vonihr. Bob bekam noch eineletzte beruhigendeUmarmung. »Bis bald, meinGroßer!«

Dann stand ich draußen. DerHimmel war bewölkt und grau.Es sah nach Regen aus.

Um in die Innenstadt zu

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fahren, reichte die Zeit nichtaus. Bis ich alles ausgepacktund ein paar Songs gesungenhätte, wäre es Zeit, wiederumzukehren. Also entschiedich mich, mein Glück an dernächsten U-Bahn-Station zuversuchen. Dalston Kingslandwar nicht gerade der besteStandort, aber ein paar Pfundwürde ich schon verdienen.Außerdem konnte ich mirdamit die lange Wartezeit

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verkürzen. Gleich neben derHaltestelle war ein netterSchuster. Bei ihm würde ichUnterschlupf finden, falls esregnen sollte.

Ich versuchte, mich aufmeine Musik zu konzentrierenund die Gedanken an Bobauszublenden. Ich wollte nichtdaran denken, wie er auf demOperationstisch lag. Da erzumindest vorübergehend auf

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der Straße gelebt hatte,könnte er alle möglichenKrankheiten haben. Ichkannte so viele Geschichtenvon Katzen und Hunden, diefür kleinere Eingriffe betäubtworden waren und nicht mehraufgewacht sind. Ich tat meinMöglichstes, keineHorrorszenarien in meinemKopf zuzulassen. Dieschwarzen Wolken amHimmel waren dabei nicht

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gerade hilfreich.Die Zeit verging sehr, sehr

langsam an diesem Tag. Alses endlich Viertel nach vierwar, packte ich schnell meineGitarre ein und machte michauf den Rückweg. Die letztenMeter zur Klinik legte ich imLaufschritt zurück.

Die gleiche Tierarzthelferin,die mich morgens befragthatte, stand an der Rezeptionund unterhielt sich mit einer

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Kollegin. Sie begrüßte michmit einem freundlichenLächeln.

»Und? Wie geht es ihm? Hater alles gut überstanden?«,keuchte ich, noch ganz außerAtem von meinem Sprint.

»Es geht ihm gut, keineSorge!«, beruhigte sie mich.»Sobald Sie wieder Luftkriegen, bringe ich Sie zuihm.«

In dem Moment konnte ich

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gar nicht auf ihren Scherzeingehen, denn irgendetwasschnürte mir die Kehle zu.Seit Jahren war ich nicht mehrso besorgt gewesen wieheute. Zum Glück führte michdie nette Assistentin ohneweitere Umschweife in einender Beobachtungsräume derKlinik. Bob lag noch völligweggetreten in einemsauberen, warmen Käfig.

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»Hallo Bob, wie geht’s dirdenn?«, sprach ich ihn an.

Keine Reaktion. Ich setztemich auf einen Stuhl undwartete. Der Geruch desfrisch operierten Katers raubtemir fast den Atem.

Es dauerte noch eine Weile,bis er den Kopf heben konnteund mich erkannte. Er kamnur langsam zu sich.Irgendwann richtete er sichschwankend auf und tappte

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mit seinen Krallen kraftlosgegen die Gitterstäbe desKäfigs, als wollte er sagen:»Lass mich hier raus!«

Während die Assistentin ihnnochmals gründlichuntersuchte, unterschrieb ichseine Entlassungspapiere. Sieüberprüfte, ob er schon fitgenug war, um die Klinik zuverlassen.

Sie war wirklich nett undsehr hilfsbereit, ganz anders

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als die Mitarbeiter in derTierambulanz. Sie zeigte mirdie Mini-Schnitte an BobsHinterteil. »Die beiden Stellenwerden noch ein paar Tagegeschwollen sein, aber das istganz normal«, versicherte siemir. »Bitte sehen Sie hin undwieder nach, ob alles schöntrocken bleibt und verheilt.Sollte Sekret austreten oderIhnen sonst etwas

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Ungewöhnliches auffallen,bitte anrufen oder gleich mitihm herkommen. Aber daswird nicht passieren, er ist einganz robuster Junge.«

»Wie lange wird es dauern,bis er sich ganz erholt hat?«,wollte ich wissen.

»Es kann schon ein paarTage dauern, bis er wiederganz der Alte ist. Das hängtvon seiner Konstitution ab.Manche Katzen sind gleich

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wieder fit, andere sind einpaar Tage völlig apathisch.Aber nach achtundvierzigStunden haben sich diemeisten wieder berappelt«,spulte sie gut gelaunt ihren oftwiederholten Text ab.»Wahrscheinlich wird ermorgen noch nicht vielfressen, aber länger lässt derAppetit meist nicht auf sichwarten. Sollte er aberschläfrig und träge bleiben,

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bringen Sie ihn bitte wiederher. Es kommt zwar seltenvor, aber manchmal könnennach der OperationInfektionen auftreten.« Siewar wirklich sehr fürsorglich.

Ich holte die Recycling-Kistehervor und wollte Bobhineinheben, aber sie batmich, noch einen Moment zuwarten. Sie verließ den Raumund kehrte mit einemwunderschönen,

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himmelblauen Tragekorbzurück. »Oh, der gehört unsnicht!«, wehrte ich ab.

»Den können Sie gernemitnehmen, wir haben soviele davon. Es reicht, wennSie ihn irgendwannzurückbringen, wenn Sie inder Gegend sind.«

»Ehrlich?«, fragte ichverblüfft. War er vergessenworden? Oder hatte jemand

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seine Katze hierhergebracht,aber nicht mehr mit nachHause nehmen können?Lieber nicht darübernachdenken.

Die Operation hatte Bobsehr geschwächt. Auf demRückweg lag er matt undteilnahmslos in seinem Korb.Zu Hause angekommen,wankte er, obwohl ihm seineBeine noch nicht wirklichgehorchen wollten,

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ungeschickt zur Heizung undließ sich dort schwerfällig aufseinen Lieblingsplatzplumpsen. Bis zum nächstenMorgen rührte er sich nichtmehr vom Fleck. Er hieltseinen Genesungsschlaf.

Am nächsten Tag ging ichnicht zur Arbeit. Der Tierarzthatte empfohlen, ihn dienächsten vierundzwanzig bisachtundvierzig Stunden nichtallein zu lassen, für den Fall,

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dass Nebenwirkungen odersonstige Problemeauftauchten. Besonders auflänger anhaltendeBenommenheit sollte ichachten, das wäre einschlechtes Zeichen. Es warFreitag, und eigentlichbrauchten wir noch einbisschen Geld für denWochenend-Einkauf. Aber ichhätte es mir nie verziehen,wenn in meiner Abwesenheit

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etwas passiert wäre. Alsoblieb ich zu Hause und spielteBob-Sitter rund um die Uhr.

Zum Glück gab es keineKomplikationen. Schon amnächsten Morgen wirkte eretwas munterer als amVortag, er fraß sogar ein paarHappen, wenn auch ganzlangsam und ohne rechtenAppetit. Wie es dieTierarzthelferin vorhergesagt

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hatte, fiel er nicht über seinFutter her wie sonst.Langsam, fast bedächtigkaute er an seinemLieblingsfutter herum undschaffte immerhin die Hälfteseiner normalen Portion. Daswar doch ein gutes Zeichen.Danach machte er einenvorsichtigen, etwas steifwirkenden Spaziergang durchdie Wohnung. Von Spaß undÜbermut war er noch

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meilenweit entfernt.Nach dem Wochenende

ging es ihm aber schonwieder prächtig. Nur drei Tagenach der OP war er wiedergenauso verfressen wiezuvor. Nur noch gelegentlichspürte er einen kurzenSchmerz. Dann blinzelte erüberrascht oder hielt kurz ineiner Bewegung inne, aberdas war kein Grund zurBesorgnis.

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Er würde weiterhin seineverrückten fünf Minuten unddie wilden Spielattackenausleben. Aber ich war sicher,ich hatte das Richtige getan.

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4Freifahrschein

Die zwei Wochen waren um,und ich musste mich mit dem

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Gedanken anfreunden, Bobfreizulassen. Schwach undverletzt war er von der Straßein unser Mietshaus geflüchtet,aber jetzt war er wieder starkund gesund. Er hatte auchganz schön zugenommen.Bestimmt hatte er schonSehnsucht nach seinem altenLeben. Und nach seinerFreiheit.

Als er keine Tabletten mehrbrauchte und auch die

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Kastration gut überstandenwar, wartete ich noch zweiTage. Am dritten Morgennahm ich Bob mit nachdraußen. Ich führte ihn vorbeian seinem Freiluft-Kistchenbis zur Umzäunung unseresInnenhofes. Vor dem Tordrehte ich ihn mit demGesicht zur Straße.

Aber anstatt freudigloszulaufen, blieb er wieangewurzelt stehen und

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bewegte sich nicht vom Fleck.Seine Körperhaltung drücktepures Unbehagen aus. Derverdatterte Blick, den er mirzuwarf, war fast anklagend:»Was willst du von mir?«

»Du kannst gehen! Geh nur!Geh!«, ermunterte ich ihn undwedelte aufmunternd miterhobenen Armen Richtung»Freiheit«.

Aber Bob reagierte nicht.Einen Moment lang starrten

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wir uns ratlos an. Dann drehtesich Bob um und zockeltegemächlich zurück auf dieWiese vor unserem Haus. Ichbeobachtete ihn, wie er sichüber die Grünfläche zu seinenBüschen trollte. Dort grub erganz entspannt ein Loch,verrichtete sein Geschäftchenund deckte dann alles,penibel wie immer, mit Erdezu. Dann tänzelte er

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geschmeidigen Schrittes zumir zurück.

Zufrieden underwartungsvoll studierte ermeine Reaktion, als wollte ersagen: »Okay, ich habegetan, was du wolltest. Undjetzt?«

In dem Moment dämmertees mir. »Du willst also nochbleiben«, übersetzte ich seinBenehmen. Ein warmesGefühl von Freude

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durchflutete mich. Ich warerleichtert, denn ich hatte ihnwirklich gern um mich. Bobhatte so viel Charme undAusstrahlung! Dabei war mirklar, dass ich es eigentlichnicht zulassen durfte. Es warschwierig genug, für michselbst zu sorgen. Ich warimmer noch mitten imDrogenentzug, und das würdesich in nächster Zeit auchnicht ändern. Wie sollte ich

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mich dauerhaft um eine Katzekümmern? Auch wenn sienoch so intelligent undselbstbestimmt war wie Bob –es war für uns beide keinefaire Lösung.

Schweren Herzens nahm ichmir vor, ihn langsam zuvertreiben. Ab sofort durfte ernicht mehr zu Hause bleiben,wenn ich morgens zur Arbeitfuhr. Ich nahm ihn mit auf dieGrünfläche vor unserem Haus

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und überließ ihn dort sichselbst. Ich musste hartbleiben – aus Liebe zu ihm.

Aber das neue Spiel passteihm gar nicht. Beim erstenMal warf er mir einenvernichtenden Blick zu:»Verräter!«, sollte das wohlheißen. Als ich mit meinerGitarre über der Schulterloszog, verfolgte er mich. Wieein Geheimagent huschte er

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auf dem Bürgersteig hinter mirvon einem Versteck zumnächsten. Er wollte nichtgesehen werden, tauchte aufund ab, pendelte inZickzacklinien hin und her,aber sein leuchtend rotes Fellmachte ihm einen Strichdurch die Rechnung.

Jedes Mal, wenn ich ihnentdeckte, blieb ich stehenund ruderte abweisend mitden Armen, um ihn zur

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Umkehr zu bewegen. Ergehorchte kurzzeitig, abernicht, ohne mein ohnehinschon schlechtes Gewissenmit seinen vorwurfsvollenBlicken noch mehr zuschüren. Irgendwann gab erauf und war wirklichverschwunden.

Als ich nach etwa sechsStunden wiederkam, warteteer schon vor demHauseingang auf mich. Mein

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Verstand verbot mir, ihnmitzunehmen, aber mein Herzsetzte sich durch. MeinWunsch, ihn bei mir zu haben,war zu stark. Es tat einfachgut, ihn nachts als friedlichesPelzknäuel am Fußendemeines Bettes zu spüren.

In den darauffolgendenTagen wurde dieses Spiel zurneuen Gewohnheit. JedenMorgen setzte ich ihn vor dieTür, und jeden Abend, wenn

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ich vom Musikmachenzurückkam, wartete er bereitsauf mich. Entweder hielt ersich in einer Seitengasse kurzvor dem Haus auf oder –wenn er tagsüber Einlassgefunden hatte – er saß aufder Fußmatte vor meinerWohnungstür. Offensichtlichwollte Bob nicht zurück in seinaltes Leben.

Ich musste härtere

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Geschütze auffahren und ihnnachts draußen lassen. Amersten Abend trieb er sichgerade bei den Mülleimernherum. Es war ziemlich albernvon mir, zu glauben, ichkönnte ins Haus gelangen,ohne von ihm entdeckt zuwerden. Er war eine Katze! Erhatte mehr Sensoren in einemseiner Schnurrbarthaare alsich im ganzen Körper. Kaumhatte ich ultra-leise die

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Haustür geöffnet, da hatte ersich auch schon an mir vorbeiins Haus gequetscht. Ich bliebhart und ließ ihn auf dem Flurzurück. Aber als ich amnächsten Morgen meineWohnungstür öffnete, war erimmer noch da. Er hatte aufder Fußmatte geschlafen.

Schon bald hatte er auchdieses Spiel voll im Griff.Wann immer ich ausging, warBob da, entweder im Hausflur

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oder draußen vor dem Haus.Irgendwie schaffte er es jedenAbend, ins Haus zu gelangen.

Es dauerte nicht lange, biser der Meinung war, dieseSchlacht gewonnen zu haben.Und ich hatte das nächsteProblem am Hals: Bob fingan, mir bis zur Hauptstraßenachzulaufen.

Beim ersten Mal kam er nurbis zur Kreuzung mit undkehrte um, als ich ihn

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verscheuchte. Am nächstenTag verfolgte er mich bis zuder stark befahrenen Straße,die zur Tottenham High Roadführte. Dort hielt der Bus nachCovent Garden.

Wieder einmal hatte er esgeschafft, mich in eineZwickmühle zu bringen.Einerseits bewunderte ichseine Hartnäckigkeit undunerschütterliche Ausdauer.

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Aber ich war auch stinksauer,weil er sich einfach nichtabschütteln ließ.

Jeden Tag verfolgte er michein Stück weiter. Er wurdeimmer dreister. Ich hoffte,dass er eines Tages, wennich ihn abgehängt hätte,einfach weiterlaufen würde,um ein neues und besseresZuhause zu finden. Aberjeden Abend, wenn ichheimkam, wartete er schon

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auf mich.So konnte es nicht

weitergehen. Aber was sollteich tun? Während ich nochdarüber nachdachte, setzteBob sich durch.

Wie jeden Tag machte ichmich morgens fertig für dieArbeit. Ich packte meineschwarze Akustik-Gitarre mitden roten Ornamenten amRand in ihre Tasche,

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schulterte sie zusammen mitmeinem Rucksack und nahmden Lift nach unten. Bob saßin einer Seitenstraße undbegrüßte mich sofort. Mit vielAufwand verbot ich ihm dieVerfolgung. »Bleib hier, dukannst nicht mitkommen!«,schärfte ich ihm ein.

Wie ein geprügelter Hundschlich er davon. Auf demWeg zum Bus sah ich michimmer wieder um, konnte

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aber weit und breit keine Spureines rotenSchwanzspitzchensentdecken. Ich hoffte, es hätteendlich klick gemacht inseinem kleinen Katzenhirn.

Um zur Busstation zugelangen, musste ich dieTottenham High Roadüberqueren, eine derbefahrenstenHauptverkehrsstraßen im

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Norden von London. Wieimmer wälzten sichSchlangen von ungeduldigenAutos, Lkws und Motorräderndurch den morgendlichenBerufsverkehr. Ich stand amStraßenrand und hieltangestrengt Ausschau nacheiner Lücke, die ich nutzenkonnte, um auf die andereSeite zu gelangen. Der Buswar schon zu sehen. Er quältesich mühsam zwischen den

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schnittigen, flinken Autosvorwärts. Plötzlich fühlte icheine nur zu vertraute Reibungan meinen Beinen. Mein Blickwanderte ungläubig nachunten. Es war Bob!Erschrocken erkannte ich,dass er genauso konzentriertwie ich nach einerVerkehrslücke suchte, umdiese Todeszone für Katzenzu durchqueren. »Verdammt,was machst du denn hier?«,

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brüllte ich gegen den Verkehran. Sein verächtlicher Blicksprach Bände. Wie konnte ichnur so dumm fragen.

Er ignorierte mich, festentschlossen, es mir gleich zutun und diese Straße zuüberqueren. Dazu trippelte ervorsichtig noch weiter an denRand des sicherenBürgersteiges und spähte mitArgusaugen insVerkehrsgewühl. Er war »auf

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dem Sprung«. Das konnte ichnun wirklich nicht zulassen.Diese Straße zu überquerenwar nur etwas für Katzen mitSelbstmordgelüsten. Alsopackte ich ihn und setzte ihnmir auf die Schulter, wo ersich seit jeher sicher undwohlfühlte. Sofort kuschelte ersich zufrieden in meineHalsbeuge, während ich michinnerlich fluchend durch die

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Blechlawine auf die andereStraßenseite schlängelte.

»Okay, Bob, bis hierher undnicht weiter!«, beschwor ichihn, während ich ihn vonmeiner Schulter holte. Ichsetzte ihn auf den Gehwegund jagte ihn fort. Beleidigtverschwand er in derMenschenmenge. Er war jetztziemlich weit weg von meinerWohnung. Vielleicht habe ichihn heute zum letzten Mal

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gesehen, dachte ich noch.Dann kam der Bus, und ich

stieg vorne ein. Es war einerdieser alten rotenDoppeldecker, bei denen manauch hinten aufspringen kann.Ich lief durch den Bus bis zurletzten Reihe, verstautemeine Gitarre im Gepäcknetzund wollte mich geradehinsetzen, als ich ganz kurzetwas Rotes aufblitzen sah.Noch bevor ich Luft holen

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konnte, war Bob auf denfreien Sitz neben mirgesprungen und hatte sichwie selbstverständlich dortausgestreckt.

Fassungslos starrte ich ihnan und blickte dabei derWahrheit ins Auge: DieseKatze werde ich nie wiederlos. Als hätte Bob eine Sperrein meinem Kopf gelöst, konnteich mir endlich eingestehen,dass er aus meinem Leben

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nicht mehr wegzudenken war.Ich klopfte mit der Hand

einladend auf meinenOberschenkel, und Bobkletterte sofort auf meinenSchoß. Als die Schaffnerinkam, lächelte sie zuerst Boban und dann auch mich. Siewar eine fröhliche Frau ausder Karibik.

»Ist das Ihre Katze?«, fragtesie, während sie Bob

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streichelte.»Ich glaube, ja«, erwiderte

ich und konnte mir einGrinsen nicht verkneifen.

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5Im Mittelpunkt

In der nächstenDreiviertelstunde drückte sich

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Bob das Näschen amBusfenster platt undbeobachtete fasziniert, wieBusse, Fahrräder, Lastwagenund Fußgänger an unsvorbeiflogen. Bestimmt einungewöhnliches Schauspielfür eine Katze, aber Bob bliebcool wie immer.

Nur das hysterischeSirenengeheul von Polizei,Feuerwehr oderKrankenwagen war ihm

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unheimlich. Wenn ein solcherWagen dem Bus und damitauch den empfindlichenOhren des Katers zu nahekam, riss er sich schleunigstvom Fenster los und drücktesich so lange schutzsuchendan mich, bis der lauteStörenfried imVerkehrsgewühl wiederuntergetaucht war. Für einenLondoner Straßenkater warBobs Benehmen allerdings

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merkwürdig. Er musste dieaufdringlichen Geräuscheunserer Notdienste dochlängst gewöhnt sein. Undschon grübelte ich wiederdarüber nach, wie dieserseltsame Kater vor unsererBegegnung wohl gelebthaben könnte.

»Keine Angst, Bob!«,flüsterte ich und streichelteihm beruhigend über denRücken. »So klingt es immer

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im Zentrum von London.Daran musst du dichgewöhnen.«

Es war schon seltsam.Dieser Straßenkater war mirnichts schuldig. Ich hatte allesversucht, ihm dasklarzumachen. In den letztenWochen hätte er jederzeitverschwinden können. Aberjetzt war es an der Zeit, BobsEntscheidung zu akzeptieren:

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Er war in mein Lebengetreten, um zu bleiben. Ichhatte das Gefühl, dass wirdiese Busfahrt noch sehr oftgemeinsam machen würden.

An der U-Bahn-Station CourtRoad mussten wir raus. Heuteschulterte ich nicht nur Gitarreund Rucksack, als dieAusstiegsstelle näher kam,sondern nahm auch noch Bobauf den Arm. Auf demGehweg fischte ich in meinen

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Manteltaschen nach denSchuhbändern, die ich früherschon als Leine für ihnbenutzt hatte. Sie waren nochda. Bob bekam dieBehelfsleine umgebunden,denn es war zu gefährlich, ihnan dieser belebten Kreuzungvon Tottenham Court Roadund Oxford Street frei laufenzu lassen. DieMenschenmassen vonTouristen, Leuten auf

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Shoppingtour und anderen,die ihrem Tagesgeschäftnachgingen, war Bobschließlich nicht gewöhnt. Indiesem Getümmel hätte ichihn leicht verlieren können. Imschlimmsten Fall wäre ernoch von einem Bus oderTaxi überfahren worden.

Tatsächlich wirkte er nundoch etwas eingeschüchtert.Ein fremdes Revier, vielevorbeihastende Beine und

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keinerlei schützendeZufluchtsstellen in Sicht –zumindest nahm ich an, dasser so etwas dachte. Ichbahnte uns einen Weg durchdie Menge. SeineAnspannung war deutlich zuerkennen, weil er ständighilfesuchend zu mir aufsah.Es wurde Zeit, aus demGewühl zu verschwinden. Ichwollte über die ruhigeren

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Nebenstraßen nach CoventGarden. »Na, Bob, dannwollen wir mal abbiegen!«,versuchte ich ihnaufzumuntern.

Aber es half nichts, er fühltesich weiterhin unbehaglich. Erlief zwar ohne Bocken undZerren neben mir her, aberich konnte die flehendenBlicke, die er mir dauerndzuwarf, nicht länger ertragen.Er wollte auf meine Schulter.

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»Okay, aber lass das nicht zurGewohnheit werden!«, gabich nach. Ich setzte ihn aufmeine Schulter, wie beimÜberqueren der TottenhamHigh Road. Schnell fand ereine bequeme Position:Hinterteil und Hinterpfoten aufmeinem rechten Schulterblatt,seine linke Körperseitewärmte meine Halsbeuge,und mit den Vorderpfotenstützte er sich auf meinem

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rechten Oberarm ab. Vonvorne sah er aus wie einSpäher im Aussichtskorbeines Piratenschiffes. Ichverbiss mir ein Lachen, weilich mir vorkam wie Long JohnSilver. Nur hatte ich statteinem Papagei einen Katerauf der Schulter.

Sofort fühlte sich Bob wiederstark und sicher. Ich spürtesein leichtes Schnurren anmeinem Hals, während ich

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weiter Richtung CoventGarden marschierte.

Hier in den Nebenstraßenwaren nicht so vieleMenschen unterwegs, und mitder Zeit vergaß ichvollkommen, dass Bob aufmeiner Schulter saß. Mit denGedanken war ich bereits beider Arbeit und ging dieüblichen Fragen durch: Würdees das Wetter zulassen,

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mindestens fünf Stunden zuspielen? Wahrscheinlichschon. Der Himmel war zwarbedeckt, aber die Wolkenwaren weiß und weit weg. Eswürde wohl kaum regnen. Aufwelches Publikum würde ichheute in Covent Gardentreffen? Kurz vor Osternwaren schon viele Touristenin der Stadt. Wie lange würdees heute dauern, die 20 bis 30Pfund zu verdienen, die mir –

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und jetzt natürlich auch Bob –reichen würden, um für dienächsten Tage einkaufen zukönnen? Beim letzten Malhatte ich dafür fast fünfStunden lang Gitarre spielenmüssen. Mal sehen, vielleichthatten wir heute Glück,vielleicht auch nicht. So istdas, wenn man sein Geld alsStraßenmusiker verdient –man hat kein festesEinkommen und weiß nie,

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was kommt.Ich war tief in Gedanken

versunken, als mir plötzlichauffiel, dass wir angestarrtwurden. Normalerweisewurde ich nicht beachtet, keinMensch würdigte mich einesBlickes. Ich war nur einer vonvielen Straßenmusikern inLondon und als solcher immernoch unsichtbar. Ich war einheruntergekommener Typ,den man meidet und dem

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man möglichst aus dem Weggeht.

Aber als ich an diesemNachmittag die Neal Streetentlang ging, wurde ichplötzlich wahrgenommen.Jeder, der uns entgegenkam,sah mir direkt ins Gesicht.Oder besser gesagt, die Leutestarrten auf Bob.

Zuerst registrierte ich nur einpaar ungläubige und irritierte

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Blicke. Das konnte ichniemandem übel nehmen. Wirwaren schon ein seltsamesPaar: Ein großer, langhaarigerTyp mit einem roten Kater aufder Schulter. Sogar fürLondon etwas ungewöhnlich.

Aber die meisten Leutereagierten wohlwollend. Bobzauberte ein Lächeln auf diemeisten Gesichter derPassanten, die unsentgegenkamen. Es dauerte

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nicht lange, und wir wurdenzum ersten Malangesprochen.

»Ah, lasst euch ansehen!«,rief eine gut gekleidete Damemittleren Alters, die uns vollbepackt mit edlenEinkaufstüten entgegenkam.»Der ist aber süß! Darf ich ihnmal streicheln?«

»Aber ja!« Warum sollte iches nicht erlauben? EineStreicheleinheit von einer

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Fremden würde Bob schonnicht schaden, dachte ich.

Sie ließ ihre Tüten fallen undschmiegte ihr Gesicht ganznahe an Bobs Katerkopf.

»Oh, bist du ein hübscherKerl!«, schmeichelte sie ihm.»Es ist doch ein Junge,oder?«

Ich brachte ein verdattertes»Ja« heraus, denn so vielNähe war ich wirklich nichtgewöhnt.

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»Wie er da auf Ihrer Schultersitzt! So brav! So etwas siehtman nicht oft. Der fühlt sichaber wirklich wohl bei Ihnen,nicht wahr?«

Kaum hatte sich die Dameverabschiedet, hielten unszwei junge Mädchen auf.Auch sie wollten Bobstreicheln. Es waren zweiTeenies aus Schweden, die inLondon Urlaub machten.

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»Wie heißt er denn? Dürfenwir ein Foto machen?«,überhäuften sie mich mitFragen. Kaum hatte ichgenickt, knipsten sie auchschon wild drauflos.

»Er heißt Bob«, gab ichAuskunft.

»Ah, Bob. Cooler Name!«Wir unterhielten uns noch

ein Weilchen. Eine der beidenhatte selbst eine Katze undsogar ein Foto dabei.

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Nachdem ich es ausgiebigbewundert hatte,entschuldigte ich mich höflich.Die Mädchen hätten Bobsonst noch stundenlanggeknuddelt.

Ich wollte die Neal Streetentlang Richtung Long Acre.Aber wir kamen nicht weit.Kaum war ein Bewundererweg, stand schon der nächstevor uns, und der nächste, undder nächste … . Nach jedem

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Schritt war wieder jemand da,der Bob streicheln und mitihm reden wollte.

Mein Stolz auf meinenbeliebten Freund verflog mitder Erkenntnis, dass wir sounser Ziel nie erreichenwürden. Normalerweisebrauchte ich zehn Minutenvon der Bushaltestelle bis zumeinem Lieblingsplatz inCovent Garden. Jetzt waren

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wir bereits eine halbe Stundeunterwegs und noch nicht malin der Nähe des ehemaligenBlumenmarktes.

Erst gegen drei Uhrnachmittags erreichten wirendlich und mit einergeschlagenen StundeVerspätung die U-Bahn-Station.

Vielen Dank auch, Bob,wetterte ich in Gedanken. Dukostest mich mit deinem

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Charme ein paar PfundTageseinnahme. Aber richtigböse konnte ich mal wiedernicht sein.

Trotzdem war die Lageernst. Wenn Bob mich jedenTag so aufhielt, konnte ich ihnnicht mehr mitnehmen,überlegte ich. Aber diesenVorsatz würde ich ganzschnell wieder aufgeben.

Zu diesem Zeitpunkt war ich

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bereits seit eineinhalb Jahrenin Covent Garden alsStraßenmusiker unterwegs,täglich von zwei Uhrnachmittags bis circa acht Uhrabends. Meiner Erfahrungnach war das die beste Zeit,um sowohl Touristen als auchLeute zu treffen, die vomEinkaufen oder von der Arbeitkamen. Am Wochenende fingich früher an und spielte überdie Mittagszeit. Donnerstag,

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Freitag und Samstag machteich Spätschicht, denn daswaren die Ausgehtage derLondoner.

Ich hatte gelernt, mich nachmeinem Publikum zu richtenund genau dann und dort zuspielen, wo viele unterwegswaren. Der Gehweg auf derJames Street, genau vor demAusgang der U-Bahn-StationCovent Garden, war mein

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Stammplatz. Dort war bis18.30 Uhr immer viel los.Danach graste ich die Pubsab, weil die Leute zumRauchen und Trinken meistvor den Lokalen standen. Inden Sommermonaten, wennsich die Geschäftsleute nacheinem harten Arbeitstag beiBier und Zigaretten in derAbendsonne entspannten,waren sie meist auch inSpendierlaune.

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Aber es war nicht alles eitelSonnenschein. Manche Leutereagierten sehr ungehalten,wenn ich sie ansprach.Pöbeleien wie »Verpiss dich,du Schnorrer!« oder »Such direinen richtigen Job, du faules****« waren leider auch an derTagesordnung. Aber so wardas nun mal. Ich hatte michdaran gewöhnt und mir eindickes Fell zugelegt. Es gabgenug Leute, die meine Musik

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mochten und mir dafür einPfund zusteckten.

Meine Auftritte auf derJames Street waren leidernicht ganz legal, denn meinLieblingsplatz lag außerhalbder Zone für Straßenmusiker.Covent Garden war von denBehörden für Straßenkünstlerin Kleinkunstviertel aufgeteilt.Die Verwaltung obliegt demStadtrat, dessen Mitarbeiterpenibel auf die Einhaltung

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dieser Einteilung achten. Wirnennen diese Leute »CoventGuardians«, die Wächter vonCovent Garden.

Der Platz, auf dem ichoffiziell spielen durfte, lag imOsten des Viertels, in derNähe des Royal Opera Houseund der Bow Street. Für dieCovent Guardians ist das derBereich für dieStraßenmusiker. Die

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Westseite von Covent Gardenwar den Straßenkünstlernzugesprochen worden. Aberdie Jongleure undAlleinunterhalter bevorzugtenden Platz vor dem Punch andJudy, einem Pub mit ziemlichgrobem Publikum, das sichaber gern unterhalten ließ.

In der James Street, wo icham liebsten spielte, sollteneigentlich nur diemenschlichen Statuen ihrem

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Erwerb nachgehen. Es gabeinen Charlie Chaplin, derecht was drauf hatte, aber erwar sehr selten da. Meist warsein Platz leer und nachmeinem Verständnis somit freifür mich. Die CoventGuardians konnten michnatürlich jederzeit vertreiben,aber das Risiko ging ich gerneein. Die Stelle war einfachideal, weil die U-Bahn imZehnminutentakt Horden von

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Passagieren ausspuckte.Wenn mir nur einer vontausend etwas in denGitarrenkasten warf, konnteich davon leben.

Es war kurz nach drei, als wirendlich an meinemStammplatz ankamen.Gerade als ich in die JamesStreet einbiegen wollte,wurden wir zum -zigten Malangesprochen, diesmal von

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einem jungen Schwulen, deroffenbar gerade aus demFitnessstudio kam. Jedenfallstrug er ziemlich verschwitzteSportklamotten.

Er knuddelte Bob fast zuTode und fragte tatsächlich –ich glaube, es war ein Scherz– ob er mir Bob abkaufenkönnte.

»Oh nein, der ist nicht zuverkaufen«, wehrte ich höflich

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ab. Nur zur Sicherheit, falls eres doch ernst meinte. Als wirendlich weitergehen konnten,murmelte ich Bobkopfschüttelnd ins Fell: »Sowas gibt es nur in London,mein Freund! Nur in London!«

Als wir schließlichangekommen waren, peilteich vorsichtig die Lage. KeinCovent Guardian in Sicht.Manchmal vertrieben michauch die Sicherheitsleute des

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U-Bahnhofs, die natürlichauch die amtliche Einteilungkannten. Aber auch vondenen war keiner in Sicht.

Ich setzte Bob auf denGehweg, ganz hinten an dieMauer, öffnete denReißverschluss meinerGitarrentasche und zog meineJacke aus. Es konntelosgehen.

Meistens brauchte ich umdie zehn Minuten, bis ich die

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Gitarre gestimmt hatte, anfingzu spielen und dieAufmerksamkeit dervorbeihastenden Leute aufmich gelenkt hatte. Aber andiesem Tag war alles anders.Noch bevor ich den erstenTon angeschlagen hatte,verlangsamten ein paar Leuteihr Tempo und warfen mir einpaar Münzen in denG i t a r r e n k a s t e n . Wiegroßzügig, dachte ich,

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konzentrierte mich aber weiterauf das Stimmen meinerGitarre. Und so dauerte eseine Weile, bis bei mir derGroschen fiel.

Ich stand mit dem Rückenzu den Leuten, hörte aberweiterhin das klimperndeGeräusch von Münzen, diebeim Wurf in meinenGitarrenkastenaufeinanderprallten. Erst als

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ich eine männliche Stimmehörte: »Hey, tolle Katze!«,drehte ich mich um. Vor mirstand ein junger Mann inJeans und T-Shirt, der mir das»Daumen-hoch«-Zeichenzeigte und gleich darauf mitbreitem Grinsen in der Mengeverschwand.

Verdutzt sah ich nach untenund fand die Erklärung für dieplötzliche Spendenfreudigkeitmeiner Mitmenschen: Bob

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hatte sich mitten im leerenGitarrenkasten gemütlichzusammengerollt. Ganzunbewusst hatte er sichcharmant in Szene gesetzt.Der Anblick warherzerweichend!

Gitarre spielen habe ich mirals Teenager in Australien sogut wie selbst beigebracht.Freunde zeigten mir dieverschiedenen Griffe, und ich

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habe so lange geübt, bis ichdiverse Stücke spielenkonnte. Da war ich etwafünfzehn oder sechzehn. Dasist ziemlich spät, um einInstrument zu erlernen. Ineinem Second-Hand-Laden inMelbourne kaufte ich mir eineE-Gitarre. Davor hatte ich nurauf den Akustik-Gitarren vonBekannten geübt. Aber ichwollte unbedingt eineelektrische, weil ich ein großer

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Fan von Jimi Hendrix war. Ichwollte genauso gut werdenwie dieser fantastischeMusiker.

Zu meiner Auswahl anSongs, die ich mir für meineVorstellungen auf der Straßezusammengestellt hatte,gehörten viele alte Nummern,die ich seit Jahren gernespielte. Kurt Cobain war aucheiner meiner Helden, also

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spielte ich diverse Nirvana-Songs. Aber auch Bob Dylanund Johnny Cash. Eines derbeliebtesten Stücke inmeinem Repertoire war Hurt.Im Original von Nine InchNails, aber ich bevorzugte dieCover-Version von JohnnyCash, einem akustischenStück. Auch Man in Black vonJohnny Cash gehörte dazu.Ein tolles Stück für jedenStraßenmusiker, und es

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passte so gut zu mir, weil ichimmer schwarz gekleidet war.Am besten kam jedochWonderwall von Oasis an.Dafür gab es immer diemeisten Münzen, besondersabends, wenn ich die Pubsabklapperte.

Ich spielte fast immerdasselbe, tagein, tagaus. DieLeute wollten das so. Auchden Touristen gefiel meineMusikauswahl. Meist begann

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ich mit About a Girl vonNirvana, um meine Finger zulockern. So auch an diesemTag, als Bob vor mir saß undseelenruhig dievorbeiziehenden Massenbeobachtete, die aus der U-Bahn-Station strömten.

Schon nach ein paar Minutenblieben ein paar Jugendlichebei uns stehen. Offenbarwaren sie aus Brasilien, denn

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sie trugen alle brasilianischeFußballtrikots und sprachenportugiesisch. Ein Mädchenaus der Gruppe beugte sichvor und begann, Bob zustreicheln. »Ah, gato bonita«,hörte ich.

»Sie sagt, du hast einewunderschöne Katze«,übersetzte einer der Jungs.Die Jugendlichen aufBildungsreise in London

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waren fasziniert von Bob.Immer mehr Leute bliebenstehen. Manche aus reinerNeugier, weil sie wissenwollten, was es daBesonderes zu sehen gäbe.Mindestens sechs der jungenBrasilianer und auch vieleandere Passanten kramten inihren Taschen nach Kleingeld.Ein wahrer Münzregen ergosssich in meine Gitarrentascherund um Bob.

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»Hey, Bob, du machst dichgut als Partner! Du kannstgern öfter mitkommen«,grinste ich anerkennend.

Da Bobs Anwesenheit nichtgeplant gewesen war, hatteich nur meine Standardrationan Leckerchen in meinemRucksack. Davon steckte ichihm zwischendurch immerwieder ein paar zu. Auf einerichtige Mahlzeit musste ergenauso warten wie ich.

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Am frühen Abend spucktedie U-Bahn die zur Stoßzeitüblichen Horden aus: Leute,die von der Arbeit kamen oderim Westend ausgehenwollten. Unglaublich viele vonihnen verlangsamten andiesem Tag ihren Schritt undbeäugten verwundert dieKatze im Gitarrenkasten. Bobwar ein kleinerPublikumsmagnet.

Es wurde schon dunkel, als

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eine gut gekleidete Dame inden Vierzigern stehen blieb,um ein paar Worte mit mir zuwechseln.

»Wie lange haben Sie ihnschon?«, fragte sie, währendsie sich zu Bobhinunterbeugte, um ihn zustreicheln.

»Oh, erst seit ein paarWochen«, antwortete ich.»Wir haben uns zufällig

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gefunden.«»Ihr habt euch gefunden?

Das klingt aber interessant!«Ich wurde misstrauisch.

Vielleicht war sie ja eineTierschützerin, die mir gleicherzählen würde, dass ich keinRecht hatte, ihn zu behalten,oder ähnliches. Aber ich tatihr Unrecht. Sie war nur eineechte Katzenliebhaberin.Lächelnd hörte sie zu, als ichihr kurz berichtete, wo ich ihn

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gefunden hatte und wie ichihn erst einmal gesundgepflegt hatte.

»Ich hatte auch mal so einenroten Kater«, verriet sie mirund sah dabei ganz traurigaus. Einen Moment fürchteteich, sie würde in Tränenausbrechen. »Sie sollten sichglücklich schätzen, dass erIhnen zugelaufen ist. Katzensind wunderbare Gefährten.Sie sind beruhigend und klug.

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Sie haben jetzt einen wahrenFreund an Ihrer Seite«, sagtesie.

»Ja, da haben Sie wohlrecht«, erwiderte ich lächelnd.

Sie legte tatsächlich fünfPfund in den Gitarrenkasten,bevor sie weiterging.

Frauen waren besondersangetan von Bob. An diesemTag waren bestimmt 70Prozent unserer Spenderweiblich.

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Bereits nach einer Stundehatten wir so vieleingenommen, wie ich sonstan einem guten Tag einspielte– über 25 Pfund!

Das ist ja fantastisch, dachteich.

Aber ich hatte das Gefühl,wir sollten weitermachen. Ichwollte versuchen, unsereGlückssträhne auf den Abendauszudehnen, weil ich immer

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noch an Bob zweifelte.Obwohl ich mich langsam mitdem Gedanken anfreundete,dass der Kater und ichfüreinander bestimmt waren,gab es immer noch einewarnende innere Stimme, diemir fortwährend zuflüsterte:»Eines Tages verschwindet eraus deinem Leben, um seineneigenen Weg zu gehen.«Verständlich, oder? So, wie erplötzlich in meinem Leben

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aufgetaucht war, würde erirgendwann wiederabtauchen. Oder sollte ichwirklich mal Glück haben imLeben? Viele Passantenblieben stehen, um Bob zubewundern und zu streicheln.Ich beschloss, die Gunst derStunde zu nutzen. Heuernten, solange die Sonnescheint, oder so ähnlich.

Solange er gerne mitkommtund Spaß hat an unseren

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Ausflügen, werde ich esgenießen, nahm ich mir vor.Und wenn ich dabei auchnoch ein bisschen mehrverdiene, freue ich micheinfach darüber.

Am Ende des Abends wardie Überraschung perfekt.Gewöhnlich erspielte ich mitmeiner Gitarre etwa 20 Pfundpro Tag. Das reichte, umLebensmittel zu kaufen unddie sonstigen Ausgaben für

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die Wohnung abzudecken.Als ich an diesem Abendgegen acht Uhr Feierabendmachte, waren viel mehrMünzen in meinem altenGitarrenkasten, als ich je aufeinem Haufen gesehen hatte.Ich brauchte ganze fünfMinuten, um all das Kleingeldvor mir zu zählen. Vor mirlagen Hunderte von Münzenin allen Größen und sogar

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mehrere Scheine.Als ich endlich alles mühsam

zusammengezählt hatte,schüttelte ich ungläubig denKopf. An diesem Tag war diestattliche Summe von 63,77Pfund zusammengekommen.Für die meisten Leute war dasvielleicht nicht viel, aber fürmich war es ein kleinesVermögen.

Ich schaufelte die Münzenmit den Händen in meinen

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Rucksack und warf ihn mirüber die Schulter. Er warrichtig schwer, und dieMünzen klimperten in seinemBauch wie in einem Riesen-Sparschwein. Ich war völligaus dem Häuschen. So vielhatte ich als Straßenmusikernoch nie verdient. Dreimal soviel wie sonst an einem Tag!

Ich nahm Bob auf den Armund kraulte ihm den Nacken.»Das hast du toll gemacht,

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mein Großer!«, lobte ich.»Das nenne ich einengelungenen Arbeitstag!«

An diesem Abend konnte ichmir die Tour entlang der Pubssparen. Außerdem waren wirbeide ausgehungert. Wirmussten schnell nach Hause.

Auf dem Weg zur Busstationsaß Bob wieder auf meinerSchulter. Ich war nichtunhöflich, aber ich ließ michauf keine Gespräche mehr ein

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mit all den Leuten, die stehenblieben und uns anlächelten.Es ging nicht. Es wareneinfach zu viele, und ichwollte möglichst noch vorMitternacht zu Hause zu sein.

»Heute gönnen wir uns einganz besonderesAbendessen«, versprach ichBob, als wir im Bus nachTottenham einen Platzgefunden hatten. Aber mein

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Ladykiller hörte mir kaum zuund drückte sich lieber wiederdie Nase am Fenster platt.Fasziniert beobachtete er dievorbeifliegenden hellenLichter und den Verkehr.

Wir stiegen zwei Stationenfrüher aus als sonst. Ganz inder Nähe dieser Haltestelleauf der Tottenham High Roadlag ein sehr gutes indischesRestaurant. Wie oft war ichdaran schon vorbeigegangen!

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Bisher hatte es immer nurzum Lesen derverführerischen Kartegereicht, leisten konnte ichmir die köstlich klingendenGerichte nie. Sie wareneinfach zu teuer. Mehr als einbilliges Curry vom Take-Away-Inder aus derNachbarschaft war nie dringewesen.

Heute trat ich ein undbestellte, was mein Herz

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begehrte: Hühnchen TikkaMasala mit Zitronenreis, SaagPaneer als Beilage undPeshawari Naan zumNachtisch. Die Kellner warfenmir komische Blicke zu, alssie Bob an der Leine nebenmir entdeckten, also teilte ichden Herren mit, dass ich allesin zwanzig Minuten abholenwürde. Ich wollte mit Bob inden Supermarkt auf deranderen Straßenseite. Auch

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er sollte heute schlemmen.Ich kaufte für ihn ein paarBeutel von dem teurenKatzenfutter, zwei Packungenvon seinemLieblingstrockenfutter undKatzenmilch. Mir gönnte ichein gutes Bier.

»Heute lassen wir’s krachen,Bob«, teilte ich ihm mit. »Daswar ein denkwürdiger Tag!«

Nachdem ich unser Essen

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abgeholt hatte, rannte ich soschnell wie möglich mitGitarre, schwerem Rucksack,Bob und den Tragetaschenaus dem Nobelrestaurantnach Hause. Mein Magenknurrte wie verrückt, denn ausder Tüte stiegen köstlicheDüfte in meine Nase. ZuHause verschlangen Bob undich unser Gourmet-Mahl, alshätten wir seit Monaten nichtsgegessen. Tatsächlich hatte

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ich seit Ewigkeiten, vielleichtJahren, nicht mehr so gutgegessen. Und Bob sicherauch nicht.

Danach machten wir es unsrichtig gemütlich, ich vor demFernseher auf der Couch undBob auf seinem Lieblingsplatzunter der Heizung. In dieserNacht schliefen wir beide wiedie Murmeltiere.

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6Ein Mann und seine

Katze

Am nächsten Morgen wurde

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ich von einem plötzlichenKrachen unsanft aus demSchlaf gerissen. Es dauerteeinen Moment, bis ich meinefünf Sinne zusammengeklaubthatte, aber dann wusste ich,was los war. Das metallischeKlonk kam aus der Küche.Bob versuchte sich malwieder alsKüchenschrankknacker undhatte wahrscheinlich etwasumgeworfen.

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Ich blinzelte schlaftrunkenauf die Uhr. Es war bereitszehn Uhr vormittags. Nach allder Aufregung von gesternhatte ich mir erlaubt,auszuschlafen. Aber Bobhatte keine Lust mehr zuwarten. So gab er mir zuverstehen: »Steh endlich auf,ich will Frühstück!« Das warsein Wink mit dem Zaunpfahl.

Pflichtbewusst wälzte ichmich aus meinem warmen

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Bett und tappte barfuß in dieKüche. Der kleine Stahltopf, indem ich immer Milchaufkochte, lag auf demBoden.

Sobald ich auftauchte, trolltesich Bob zu seiner Schüsselund umkreiste sie mithungrigem Blick. Das hieß:»Beeilung!«

»Ja, ja, ich mach ja schon!«,brummte ich, während ich dieSchranktür öffnete und sein

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Lieblings-Menü »Hühnchen infeiner Soße« herausholte. Ichlöffelte eine Portion in seinenNapf und sah ihm zu, wie eralles in wenigen Sekundenverschlang. Nachdem er wieein Verdurstender nach einemWüstenabenteuer seinWasser aufgeschlabberthatte, leckte er sich Gesichtund Pfoten sauber. Danachstolzierte er vollgefressen und

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sehr mit sich zufrieden insWohnzimmer zu seinem Platzan der Heizung.

Ich seufzte. Wenn unserMenschenleben doch auch soeinfach wäre, dachte ichwehmütig.

Einen Moment lang spielteich mit dem Gedanken, heutenicht arbeiten zu gehen, aberdann besann ich mich einesBesseren. Trotz unsererGlücksträhne von gestern

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würde das Geld nicht ewigreichen. Die nächste Strom-und Gasrechnung kambestimmt. Und weil es in denletzten Wochen wirklich sehrkalt gewesen war, würdediese entsprechend hochausfallen. Außerdem gab esjetzt diese neueVerantwortung in meinemLeben. Es galt, einzusätzliches, kleines Maul zustopfen – ein ziemlich

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hungriges und sehrmanipulatives noch dazu.

Also frühstückte ich schnellund packte meine Ausrüstungzusammen. Ich war nichtsicher, ob Bob wiedermitkommen würde. Vielleichthatte er gestern nur seineNeugierde befriedigen undwissen wollen, wo ich soabhing, wenn ich das Hausverließ. Sicherheitshalber warfich einen Katzensnack mit in

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den Rucksack. Nur für denFall, dass er mir wieder folgenwürde.

Am frühen Nachmittag zogich los. Was ich vorhatte, warunschwer zu erkennen, ichhatte Rucksack und Gitarregeschultert. Immer, wenn erkeine Lust hatte, dieWohnung mit mir zu verlassen– was allerdings äußerstselten vorkam – verkroch er

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sich unter dem Sofa. EinenMoment lang sah es aus, alswäre das heute mal wiederder Fall. Als ich dieSicherheitskette unsererWohnungstür aushakte, lief erRichtung Sofa. Doch als ichdie Tür von außen schließenwollte, quetschte er sich nochdurch den Türspalt und folgtemir über die Treppen nachunten. Sein erster Weg führteihn zu seiner Freiluft-Toilette.

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Obwohl ich auf ihn wartete,trottete er danach zu denMüllcontainern hinter unseremHaus.

Diese Tonnen hatten es ihmin letzter Zeit immer mehrangetan. Anscheinend war ernur mitgekommen, um sichseiner neuenLieblingsbeschäftigung rundum den Abfall zu widmen.Begeistert war ich nichtgerade von dieser

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Leidenschaft für Müll. Werweiß, was er dort fand – undfraß. Zur Sicherheit ging ichhinüber, um nachzusehen.Aber meine Sorge warunbegründet. Offenbar wardie Müllabfuhr am Vormittagda gewesen. Die Containerwaren leer, und auch auf demBoden lag keinerlei Abfallherum. Nix zu holen für Bob,dachte ich. Da würde er heutekeine Freude haben.

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Nun konnte ich beruhigtohne ihn losziehen. Er würdeeinen Weg finden, wieder insHaus zu gelangen.Inzwischen kannten ihn diemeisten Nachbarn. Es gabsogar welche, die ihnbetreuten und verwöhnten,wenn ich nicht da war. DieFrau, die genau unter mirwohnte, steckte ihm jedes Maletwas Besonderes zu, wenn

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sie ihm begegnete.Wahrscheinlich würde er vor

meiner Wohnung im fünftenStock auf mich warten, wennich abends zurückkam. Istauch besser so, dachte ichauf meinem Weg zurTottenham High Road. Bobhatte mir am Tag zuvor einenriesigen Gefallen getan. Aufkeinen Fall würde ich unsereBeziehung ausnutzen und ihnzwingen, jeden Tag

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mitzukommen. Er war meinFreund, nicht meinAngestellter.

Der Himmel war grau, undes fühlte sich an, als würde esbald regnen. Wenn es in derInnenstadt genauso aussah,war mein Aufwand heutereine Zeitverschwendung.Straßenmusik im Regen kannman vergessen. Man solltemeinen, die Passantenwürden einem nassen

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Straßenmusiker etwas mehrMitgefühl entgegenbringen,aber das ist leider nicht derFall. Alle wollen nur rasch insTrockene, sie hasten, ohnenach links oder rechts zusehen, noch schneller vorbeials sonst. Ich beschloss,einfach umzukehren, wenn esin der Innenstadt regnensollte. Dann könnte ich Bobvon dem gestern verdientenGeld eine richtige Leine

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kaufen.Ich war noch nicht weit

gekommen, als es hinter mirverdächtig raschelte. Als ichmich umdrehte, zockeltetatsächlich ein mir sehrvertrauter roter Felltiger hintermir her.

»Ah, da hat wohl jemandseine Meinung geändert«,begrüßte ich ihn. Bob legteseinen Kopf leicht schräg und

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schenkte mir einen mitleidigenBlick, der wohl so viel hießwie: »Na, warum sollte ichdenn wohl sonst hierrumstehen?«

Zum Glück hatte ich seineLeine aus Schuhbändernnoch in der Manteltasche. Dieband ich ihm um, bevor wirgemeinsam weiterzogen.

Die Straßen in Tottenhamsind zwar nicht so voll wie diein Covent Garden. Aber auch

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hier wurden wir angestarrt.Die Blicke waren nicht immerfreundlich. Bestimmt hieltenmich manche Leute fürverrückt, weil ich mit einerrote Katze an einer Schnurdurch die Gegend lief.

»Wenn du öfter mitkommenwillst, muss ich dir unbedingteine richtige Leine besorgen«,flüsterte ich Bob beschämt zu.

Aber für jeden bösen Blickgab es ein halbes Dutzend

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freundliche Gesichter. EineFrau aus der Karibik schenkteuns ein besonders breitesLächeln. Sie war bepackt mitEinkaufstüten und sprach aus,was ich auf den meistenGesichtern lesen konnte: »Ihrseid aber ein hübschesPaar!«

Solange ich allein in meinemApartment gewohnt hatte, wares nie zu einem Gespräch mitden Nachbarn gekommen,

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weder auf der Straße, noch imHaus. Dank Bob hat sich dasalles geändert. Es warseltsam und sehr erstaunlich,ein bisschen so, als hätte ermir Harry PottersUnsichtbarkeitsumhangabgenommen.

Als wir zu der starkbefahrenen Kreuzung an derTottenham High Road kamen,warf mir Bob einen

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auffordernden Blick zu:»Komm schon, du weißt, wasich will!« Ich gehorchte undhob ihn auf meine Schulter.

Im Bus wählte ich einenFensterplatz für Bob aus, dener unbedingt zumRausschauen brauchte. Wirwaren wieder unterwegs indie City.

Leider hatte ich recht mitmeiner Wetterprognose. Nochwährend wir im Bus saßen,

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prasselte plötzlich Regengegen die Scheibe und bildetekomplizierte Muster, währendBob wieder seinen Kopf ansFenster drückte. Draußenwaren nur noch tanzendeRegenschirme zu sehen. DieLeute rannten durchaufspritzende Pfützen dieStraßen entlang, um demWolkenbruch so schnell wiemöglich zu entkommen.

Zum Glück war der Spuk

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fast vorbei, bis wir dasZentrum von London erreichthatten. Trotz des schlechtenWetters waren mehr Leuteunterwegs als am Vortag.

»Lass es uns für ein paarStunden versuchen«, schlugich Bob vor, als ich ihn aufmeine Schulter hievte undmich auf den Weg nachCovent Garden machte.»Aber wenn es wiederanfängt zu regnen, fahren wir

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sofort nach Hause.Versprochen!«

Sobald wir die Neal Streeterreicht hatten, wurde unserWeg wieder zumHindernislauf. Ständig wurdenwir angesprochen undaufgehalten. Solange Bob dievielen Streicheleinheiten vonFremden nicht zu viel wurden,hatte ich nichts dagegen.Aber in den nächsten zehn

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Minuten wollten sechs Leutereden, fotografieren und Bobkraulen.

Ich durfte einfach nicht mehrstehenbleiben, sonst war ichvon Menschen umringt, eheich mich’s versah.

Am Ende der Neal Streetpassierte etwasInteressantes. Bob verstärkteplötzlich den Druck seinerPfoten auf meiner Schulter,erhob sich und krabbelte auf

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meinen Arm. Dann sprang erauf den Gehweg und lief vormir her, so weit die Leinereichte. Er schien zu wissen,wo wir waren und wohin wirwollten. Er übernahmtatsächlich die Führung.

Bis zu meinem Stammplatzauf der James Street. Dorthielt er inne und wartete, bisich die Gitarre aus demKasten geholt und diesen fürihn auf den Boden gelegt

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hatte. »Bitte sehr, Bob! Nurfür dich«, lud ich ihn ein, Platzzu nehmen. Sofort sprang erin den Gitarrenkasten, tratsich das weiche Innenfuttergenüsslich zurecht und ließsich nieder. Er platzierte sichgenau so, dass er seineUmgebung gut beobachtenkonnte. Interessiert undaufmerksam ließ er dann dieWelt an sich vorüberziehen –und weil wir in Covent Garden

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waren, tat sie das auch.

Es gab Zeiten, da hatte ichden Traum, ein bekannterMusiker zu werden. Einer wieKurt Cobain. Auch wenn dasheute naiv und total verblödetklingt, aber als ich vonAustralien nach England kam,war das mein Plan.

Das habe ich meiner Mutterund auch jedem anderen

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erzählt, der es hören wollte.Und es gab tatsächlich eineZeit, in der es aussah, alskönnte ich diesen Traumverwirklichen.

Als mich dieObdachlosenhilfe 2002 vonder Straße holte, brachten siemich in einer Notunterkunft inDalton unter. Dort traf ich einpaar Jungs, mit denen icheine Band gründete. Wirwaren vier Gitarristen und

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nannten uns »Hyper Fury«.Das heißt so viel wie»Unbändige Wut« und wareine passende Umschreibungfür unseren damaligenGemütszustand. Auf jedenFall für meinen, denn ich wardamals ein sehr zornigerjunger Mann. Ich warunbändig wütend – auf dasLeben an sich und vor allemüber meine verpfuschteExistenz. Die Musik war mein

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einziges Ventil für diesenFrust. Deshalb waren unsereSongs auch nicht geradeChart-tauglich. Sie warendüster und aggressiv, genauwie unsere Texte. KeinWunder, denn unsere Idolewaren Bands wie Nine InchNails und Nirvana.

Trotzdem konnten wir zweiAlben, beziehungsweiseMaxi-Singles, veröffentlichen.Die erste erschien im

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September 2003 und entstandin Zusammenarbeit mit einerzweiten Band namensCorrision. Sie hieß Corrisionversus Hyper Fury undenthielt zwei Hardrock-Titelnamens »Onslaught« und»Retaliator«, was man mit»Angriff« und »Der Rächer«übersetzen kann. Der Namewar Programm in unsererMusikrichtung. Nach sechs

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Monaten, im März 2004, kamunser zweites Album auf denMarkt. Es hieß ProfoundDestruction Unit – »Truppe fürradikale Zerstörung« – undenthielt drei aussagestarkeTitel: »Sorry«, »Profound«und eine neue Version von»Retaliator«. Wir haben zwareinige Exemplare verkauft,aber der grandiose Erfolg, vondem wir träumten, blieb aus.Zumindest hat uns niemand

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eingeladen, auf demberühmten Glastonbury-Rockfestival, dem englischenWoodstock, aufzutreten.

Aber wir hatten Fans undauch diverse Auftritte.Meistens im nördlichen Teilvon London und in Camden.Dort gab es eine starkeGothic-Szene, zu der unserMusik- und Kleidungsstil gutpasste. Wir traten in Pubs undin besetzten Häusern auf, wir

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nahmen jede Buchung an. Füreine Weile schien es, alswürden wir vorankommen.Unser größtes Konzert fandim Dublin Castle, einemberühmten Musik-Pub imNorden von London, statt.Von diesem Veranstalterwurden wir sogar ein paar Malgebucht. Für einen Auftrittbeim Gothic Summer Festival.Das war damals eine großeSache. Wir waren so gut im

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Geschäft, dass ich mit Pete,einem Bandmitglied vonCorrision, als Partner eineigenes Independent Labelgründete. Wir nannten es»Corrupt Drive Records«.Leider hat es nichtfunktioniert, oder bessergesagt, ich habe nichtfunktioniert.

Damals waren meine besteFreundin Belle und ich für

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kurze Zeit ein Paar. AlsFreunde verstanden wir unsbestens. Sie ist ein sehrfürsorglicher Mensch und hatsich immer um michgekümmert, aber unsereBeziehung war von Anfang anzum Scheitern verurteilt. Siewar selbst drogenabhängigund als meine Partnerin auchnoch co-abhängig. Unseregleichzeitigen Versuche, vonden Drogen loszukommen,

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halfen weder ihr noch mir.Wenn einer von uns geradeversuchte, clean zu werden,hing der andere an der Nadelund umgekehrt. Diesegegenseitige Co-Abhängigkeitwar ein Teufelskreis. Ichversuchte, ihn zudurchbrechen, aber wenn ichehrlich bin, war mein Wunsch,von den Drogenwegzukommen, nicht starkgenug. Ich habe damals nicht

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wirklich an mich geglaubt undkonnte mir nicht vorstellen, esjemals zu schaffen.

Vom Aufstieg in denMusikhimmel hatte ich michmental bereits verabschiedet.Es war so viel einfacher, altenGewohnheiten treu zu bleiben– im wahrsten Sinne desWortes.

2005 hatte ich endgültigresigniert. Ich fand mich damitab, dass die Band nur noch

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ein Hobby war, aber niegenug abwerfen würde, umdavon zu leben. Pete hatunser Label alleinweitergeführt, und soviel ichweiß, gibt es die Firma immernoch. Ich dagegen hattesolche Probleme mit meinerSucht, dass ich mich wiedereinmal selbst ausgebootethatte. Eine weitere verpassteChance, zerronnen zwischen

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meinen zittrigen Fingern. Ichwerde wohl nie erfahren, wiemein Leben verlaufen wäre,wenn diese verdammte Suchtnicht gewesen wäre.

Trotzdem habe ich die Musiknie aufgegeben. Selbst dannnicht, als sich die Bandaufgelöst hatte und ich diebittere Pille geschluckt hatte,dass ich als Profi-Musikergescheitert war. Fast jedenTag spielte ich stundenlang

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Gitarre und improvisierteSongs. Die Musik war immernoch mein Ventil. Gott alleinweiß, was ohne die Musik ausmir geworden wäre. In denletzten Jahren habe ich michmit Straßenmusik am Lebenund auch finanziell überWasser gehalten. Ich will nichtwissen, wie ich mir sonst meinGeld verdient hätte. Gar nichtauszudenken!

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Als ich an diesemSpätnachmittag anfing zuspielen, waren sehr vieleTouristen unterwegs. Zumeiner Überraschungwiederholte sich das kleineWunder vom Vortag. Kaumhatte ich mich hingesetzt –oder, besser gesagt, kaumhatte Bob sich niedergelassen–, blieben viele Leute, diesonst gleichgültig an mirvorübergehastet wären,

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stehen, um sich mit ihm zubeschäftigen.

Wieder waren es vor allemFrauen, die nicht an ihmvorbeigehen konnten. Nachein paar Minuten schlenderteeine Politesse auf uns zu. Ihrestrenge Miene, die zu ihremBeruf gehört wie die Uniform,entgleiste in ein warmesLächeln, als sie Bobbemerkte. »Hey, wer bist dudenn?«, fragte sie und ging in

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die Hocke, um Bob zustreicheln. Mich hat sie kaumbeachtet, und sie hat mir auchnichts gegeben. Aber das warnicht der Punkt. Es bereitetemir viel Vergnügen,zuzusehen, wie Bobwildfremden Menschen imVorbeigehen ein Lächeln insGesicht zaubern konnte. Eswar eine Erfahrung, die ichnicht mehr missen wollte.

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Zweifellos war er einwunderschöner Kater, aberdas war nicht der Grund fürseine Anziehungskraft. Es warseine Aura, diese Mischungaus Charme gepaart mitruhiger Ausgeglichenheit, dieLeute in Scharen anzog.Allein durch seineAnwesenheit schenkte er denMenschen einen kleinenGlücksmoment.

Er war aber genauso in der

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Lage, Ablehnungauszudrücken, wenn erjemanden nicht mochte. Andiesem Tag hatten wir so eineBegegnung mit einem sehrgut gekleideten, sichtlichwohlhabendenGeschäftsmann aus demNahen Osten. Er wollteachtlos an uns vorübergehen,aber seine Begleiterin, einewunderschöne blonde Frau,die aussah wie ein Model,

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blieb stehen, als sie Bob sah.»Oh, sieh doch mal, was füreine wunderhübsche Katze!«,rief sie aus. Sie hielt ihn amArm fest, sodass ihm nichtsanderes übrig blieb, alsebenfalls stehenzubleiben.Der Schönling musterte unsmit geringschätziger Miene.Dazu machte er einegelangweilte, abwertendeHandbewegung, nach dem

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Motto: »Na und?«In dieser Sekunde

veränderte sich BobsKörpersprache. Eine Spur vonKatzenbuckel wurde sichtbarund sein Schwanz wurdebuschiger. Gleichzeitig suchteer Körperkontakt mit mir,indem er sich leicht an michdrückte. Die Veränderung warminimal – aber für michsprach sie Bände.

Ob der Kerl Bob an

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jemanden aus seinerVergangenheit erinnert?,fragte ich mich, als das gutaussehende Paar weiterging.Vielleicht hatte meinFindelkater früher öfter solchverächtliche Blicke zu spürenbekommen.

Ich hätte viel dafür gegeben,Bobs Vorgeschichte zukennen. Zu wissen, was ihnan jenem ersten Abend in denFlur unseres Mietshauses

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getrieben hatte. Aber daswürde ich wohl nie erfahren.Es wird für immer ein Rätselfür mich bleiben.

Ich fing an, Gitarre zu spielen,und es war viel leichter, sichauf die Musik zukonzentrieren, als am Tagzuvor. Bob dabei zu habenhatte mich am Vortag dochziemlich aus der Fassunggebracht. Heute konnte ich

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seine Anwesenheit schongenießen. Bisher hatte ichimmer selbst dafür sorgenmüssen, die vorbeihastendenPassanten auf michaufmerksam zu machen.Musik und Entertainment –das war Schwerstarbeit. Ihneneine kleine Spende zuentlocken war nochschwieriger. Mit Bob war allesviel einfacher. Er war ein

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Publikumsmagnet. Zuerst warmir das fast unangenehm undich setzte mich selbst unterDruck, ihn bei den vielenLeuten bloß nicht zuüberfordern und gut auf ihnaufzupassen. Wie überall inLondon, laufen in CoventGarden eine Menge Verrückteherum. Ich hatte panischeAngst, jemand könnte ihnschnappen und mit ihm in derMenge verschwinden.

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Am Tag zwei waren wirschon ein eingespieltes Teamund fühlten uns so sicher undgeborgen, als wären wir indiesem Getümmel zu Hause.

Als ich zu singen begannund die Münzen wiederfreundlich im Taktmitklimperten, dachte ich: Dasmacht richtig Spaß!

Es war wirklich sehr langeher, dass mir irgendetwas soviel Freude gemacht hatte.

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Drei Stunden später auf demHeimweg war mein Rucksackwieder schwer. Schon wiederüber 60 Pfund. Diesmal wollteich das Geld aber für etwasNützlicheres ausgeben. Amnächsten Tag war das Wetterschlecht, und derWetterbericht prophezeitestarke Regenfälle für denAbend.

Das war die Gelegenheit, mit

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Bob einkaufen zu gehen,anstatt mit der Gitarre in derHand am Straßenrand zustehen. Damit er michweiterhin überallhin begleitenkonnte, brauchte meinZauberkater dringend einebessere Ausstattung. MeineLeine aus Schuhbändern warwirklich erbärmlich. Sie warunangenehm für Bob und vorallem auch gefährlich.

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Also nahmen Bob und ichden Bus Richtung Archway.Dort gab es eine Zweigstelled e r Cat Protection Charity,einer Katzenhilfsorganisationmit zugehörigem Katzen-Laden.

Bob merkte sofort, dass wirnicht die gleiche Routenahmen wie sonst. Er sahzwar wie immer aus demFenster, drehte sich aber öfterzu mir um, als wollte er

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fragen: »Wo fahren wir hin?«Er war nicht beunruhigt,sondern einfach nurneugierig.

Es war ein schicker undganz modern eingerichteterLaden mit vielSchnickschnack, der das Herzeines Katzenbesitzers höherschlagen lässt. Spielzeug,Möbel, Kratzbäume und sogarBücher über Katzen.Außerdem gab es

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massenweise kostenlosesInformationsmaterial über alleAspekte der Katzenhaltung.Von Mikrochips bisToxoplasmose, Diättipps undAufklärung über die Kastrationvon Katzen. Ich steckte einpaar Info-Blätter in meineTasche, um sie zu Hause inRuhe durchzulesen.

Es war wenig los imKatzenladen. Nur zwei

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Verkäuferinnen standenherum. Als ich mich, mit Bobauf der Schulter, ein bisschenim Laden umsah, kamen siesofort zu uns. »Das ist aberein hübscher Kerl!«, eröffneteeine von ihnen das Gesprächund streichelte Bob über denRücken. Sie war ihm definitivsympathisch, denn er lehntesich mit seinem ganzenGewicht gegen ihre Hand,während sie sein Fell kraulte

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und ihn mit Kosewortenüberschüttete. Wirunterhielten uns über Bob undwie ich ihn gefunden hatte.Dann erzählte ich ihnen nochvon unseren gemeinsamenAusflügen in die Innenstadt inden letzten beiden Tagen.

»Viele Katzen gehen gernmit ihren Besitzernspazieren«, nickte eine derVerkäuferinnen, und dieandere ergänzte: »Aber die

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meisten beschränken sichdabei auf einen Park odereine Grünfläche vor demHaus. Seine Abenteuerlust istschon ziemlichungewöhnlich.«

Die andere Verkäuferinnickte bestätigend. »Sieht soaus, als hätten Sie da einkleines Juwel gefunden. Ganzoffensichtlich hat erbeschlossen, Sie zuadoptieren.«

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Es war schön, von denbeiden zu hören, was ich mirbisher kaum einzugestehenwagte. Deshalb hatte ichimmer wieder diese Zweifel,ob es richtig war, ihn zubehalten. Die Worte derbeiden Fachfrauen warenBalsam für meine Seele.

Umso wichtiger war nun dieFrage, wie ich Bob alsständigen Begleiter eines

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Straßenmusikers in denüberfüllten Straßen vonLondon am bestenbeschützen konnte. CoventGarden war ein gefährlichesPflaster für freiheitsliebendePelztiger. Neben den vielenAutos gab es bestimmt nochviele andere drohendeGefahren, die man sich garnicht ausmalen wollte undkonnte.

»Am besten nehmen Sie so

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eine Garnitur«, riet mir eineder Verkäuferinnen und holteeine hübsche, himmelblaueNylon-Kombination mit Leinevom Verkaufsständer. Dannerklärte sie mir die Vor- undNachteile dieses Artikels:»Eine Katze sollte niemalseine Leine am Halsbandtragen wie ein Hund. EinLederhalsband kann dieKatze am Hals verletzen odergar strangulieren. Ein

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Katzenhalsband muss immerelastisch sein, damit sich dieKatze daraus befreien kann,falls sie irgendwo hängenbleibt. Deshalb ist es aberauch nicht für Leinengeeignet. Sonst stehen Siefrüher oder später ohne Katzeda. Ein Garnitur aus Geschirrund Leine gibt Katze undHalter dagegen Sicherheitund ist genau das Richtige füreuch, wenn ihr viel unterwegs

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seid.«»Wird es ihm nicht

unangenehm sein?«, gab ichzu bedenken. »Bestimmt fühlter sich damit eingeengt.«

Sie nickte: »Ja, er muss sichlangsam daran gewöhnen. Eskann schon eine Wochedauern, bis er es akzeptiert.Erst mal nur für ein paarMinuten umlegen, bevor Siemorgens aus dem Haus

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gehen. Und dann täglich dieZeit mit Geschirr ausdehnen.«

Sie sah meinen grübelndenBlick und schlug vor: »Sollenwir es ihm mal anziehen?«

»Ja, warum nicht?«Bob saß immer noch

entspannt auf meiner Schulterund wehrte sich nicht. Aber erverstand nicht, was das allessollte und fühlte sich mitGeschirr etwas unbehaglich.

»Er soll es anlassen, damit

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er sich an das Gefühl desMaterials auf seinem Körpergewöhnt«, meinte dieVerkäuferin leise, um Bobnicht noch mehr zu verwirren.Aber es hätte schon mehrgebraucht als einenFremdkörper namensKatzengeschirr, um BobsVertrauen zu erschüttern.

Die Luxusgarnitur ausGeschirr, Leine und Halsbandkostete stolze 13 Pfund und

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war eine der teuersten imLaden. Aber für BobsSicherheit war mir nichts zuteuer. Wäre ich einGeschäftsmann undGeschäftsführer der James &Bob GmbH, dann wärenzufriedene Mitarbeiter einwichtiger Bestandteil meinerFirmenphilosophie. Alsomusste ich in mein Personalinvestieren. Und es handeltesich in diesem Fall eben um

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Katzenpersonal.

Es dauerte nur zwei Tage, umBob an sein neuesSchmuckstück zu gewöhnen.Zuerst trug er es nur zuHause, manchmal sogar mitLeine am Geschirr. Anfangsirritierte ihn dieserverlängerte, am Boden hinterihm her schleifende Schwanzdoch ziemlich. Aber auch

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daran gewöhnte er sichschnell. Immer wenn er seinGeschirr trug, bekam er extraLob und auch das eine oderandere Leckerchen.Schimpfen war in dieserGewöhnungsphase absoluttabu, aber das tat ich auchsonst nie.

Nach zwei Tagen wagten wirbereits kleine Spaziergängemit dem Geschirr im Hof. Beimeinen Sessions als

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Straßenmusiker trug er nochdas vertraute alte Halsbandaus Schuhbändern. Wirsteigerten uns, indem er esimmer öfter auf dem Wegnach Covent Garden trug.Langsam aber sicher wurdees zu seiner zweiten Haut.

Bob kam immer noch jedenTag freiwillig mit in die Stadt.Wir blieben nie allzu lang,denn ich wollte ihn nichtüberfordern. Dabei war ich mir

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inzwischen sicher, dass er mirbis ans Ende der Welt folgenwürde. Außerdem durfte erbei längeren Fußmärschenimmer auf meiner Schultersitzen, damit er nicht zu müdewurde.

Erst in der dritten Wochehatte er die Nase voll. EinesMorgens gab er mir klar zuverstehen, dass es ihmreichte. Normalerweise kamer sofort freudig

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angesprungen, wenn ichmeine Jacke anzog undmeinen Rucksack packte.Dann strich er mirerwartungsvoll um die Beine,bis ich ihm sein Geschirranlegte. Nicht so an diesemTag. Zuerst verschwand erunter dem Sofa und schlichspäter ziemlich antriebslos zuseinem Platz unter demHeizkörper. Ich hatte

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verstanden. Das hieß wohl:»Ich mach heute blau!«

Er sah tatsächlich müde aus.Ich kniete mich vor ihn hin

und kraulte sein Fell.»Na, Bob, keine Lust

heute?«, fragte ich leise. SeinBlick war Antwort genug.

»Kein Problem, bleib ruhighier!«, bestärkte ich seineweise Entscheidung. Dannging ich in die Küche undfüllte seine Schüssel mit

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Trockenfutter auf, damit ersich bis zu meiner Rückkehram Abend stärken konnte.

Ich habe mal gelesen, dassman den Fernseher laufenlassen soll, wenn man seinHaustier allein lässt. Siefühlen sich dann während derAbwesenheit ihrer Menschennicht so einsam. KeineAhnung, ob das stimmt, aberich schaltete die Kiste ein undBob robbte sofort auf seinen

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Fernsehplatz und starrteinteressiert auf denBildschirm.

Schon auf dem Weg in dieStadt wurde mir klar, wie sehrBob mein Leben veränderthatte. Wenn er auf meinerSchulter saß oder an derLeine vor mir her lief, drehtensich dauernd Leute nach unsum. Ohne Bob war ich wiederunsichtbar.

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Bei den Anwohnern rund umunseren Stammplatz warenwir freilich schon so bekannt,dass sie mich auch ohne Boberkannten.

»Wo ist die Katze?«, fragtemich ein Budenbesitzer, als eran mir vorbeikam.

»Hat heute frei«, antworteteich.

»Ah, gut, ich hatte schonAngst, dem kleinen Kerl wäre

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etwas zugestoßen«, erwiderteer und hob lächelnd denDaumen.

»Wo ist Bob?« So ging esden ganzen Tag. Sie warenfroh, dass er nicht krank war,und gingen weiter. Wenn Bobdabei war, wollten viele Leutemit mir plaudern. Heute wardas nicht der Fall. Das waretwas ernüchternd, aber ichmusste mich damit abfinden:Der Star in unserem Duo war

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nun mal Bob.Der Klang der Münzen, die

eifrig in meinenGitarrenkasten prasselten,war schnell zur Gewohnheitund zur Musik in meinenOhren geworden, das kannich nicht leugnen. Leidermusste ich feststellen, dassdiese Musik ohne Bobquälend langsam wurde.Meine Gitarre und ich gabenalles an diesem Tag, aber der

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Erfolg war eher mäßig.Obwohl ich einige Stundenlänger spielte als sonst, hatteich am Ende gerade mal halbso viel Bares wie an einemguten Tag mit Bob in derhalben Zeit. Da waren siewieder, die harten, altenZeiten vor Bob. Aber ich warja früher auch über dieRunden gekommen.

Als ich an diesem Abend zuFuß nach Hause marschierte,

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gelangte ich zu einerwichtigen Erkenntnis. Inmeiner Beziehung zu Bobging es nicht umsGeldverdienen. Ich würdenicht verhungern, wenn erkeine Lust mehr hattemitzukommen. Bob hat meinLeben in viel wichtigerenDingen bereichert, und nurdas allein zählte.

Er war mein Freund und

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Partner. Alles mit ihm zuteilen und gemeinsam zuerleben, machte einfach vielmehr Spaß. Außerdem gab ermir den nötigen Antrieb, meinLeben wieder in den Griff zubekommen.

Es ist nicht leicht, sein Geldals Straßenmusiker zuverdienen. Täglich derVerachtung seinerMitmenschen ausgeliefert zusein, macht auf die Dauer die

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Seele kaputt. Bevor Bob inmein Leben trat, habe ich oftversucht, mit meiner Gitarreauf Pub-Besucher zuzugehen.Aber noch bevor ich »Hallo«sagen konnte, wimmelten siemich mit finsterem Blick undeinem unfreundlichen »Nein,bitte nicht!« ab. Wenn ichjemanden nur nach derUhrzeit fragen wollte, bekamich zu hören: »Tut mir leid,kein Kleingeld!«, noch bevor

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ich den Mund aufmachenkonnte. Das passiertedauernd. Sie wollten nichtsmit mir zu tun haben.

Niemand will einem Typenwie mir zuhören. Sie sehenmich an und verurteilen michsofort als Schmarotzer. Siewollen nicht verstehen, dassich für mein Geld arbeiten willund nicht betteln. Nur weil ichnicht in Anzug und Krawatteauftrete, weder Aktentasche

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noch Computer bei mir habe,nur weil ich wederGehaltsabrechnung nochSteuernachweis vorlegenkann, bin ich doch noch langekein Trittbrettfahrer!

Dank Bob hatte ich endlichdie Chance, mit Leuten zureden.

Sie wollten alles über Bobwissen, und das gab mir dieMöglichkeit, ihnen meine

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Lage zu schildern. Ich konnteeinfließen lassen, dass wirvon der Straßenmusikunseren Lebensunterhaltbestritten. Dank Bob hörtensie mir gerne zu. AlsKatzenbesitzer war meinAnsehen bei meinenMitmenschen gestiegen. Dasist sogar wissenschaftlicherwiesen.

Katzen sind bekannt dafür,dass sie in ihrem Umgang mit

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Menschen sehr wählerischsind. Wenn eine Katze mitihrem Besitzer nicht zufriedenist, zieht sie los und sucht sicheinen neuen. Darüber gibt esviele Geschichten. Sie suchensich knallhart ein neuesZuhause. Sobald die Leutedie enge Bindung zwischenBob und mir erkannten, stiegmein Sympathie-Barometer.Er machte mich»menschlicher« nach all der

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Zeit der Entmenschlichung.Bob hatte mir wieder einGesicht gegeben. Bevor er zumir kam, war ich Abschaumgewesen. Dank ihm war ichplötzlich wieder ein Teil derGesellschaft. Ein Mensch wiejeder andere.

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7Zwei Musketiere

Dank Bob haben dieMenschen ihre vorgefertigte

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Meinung über mich geändert,aber auch ich habe meineEinstellung anderengegenüber überdacht. Ichhatte noch nie in meinemLeben Verantwortungübernehmen müssen. Alsjunger Mann in Australienhatte ich diverse Jobs, und inEngland spielte ich in einerBand. Dafür brauchte es nurwenig Teamgeist. Seit ich alsTeenager von zu Hause

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auszog, war ich immer nur fürmich selbst verantwortlich. Ichmusste mich nie um jemandanderen kümmern, immer nurum mich. Und selbst das tatich nur, weil niemand da war,der für mich sorgte. Was fürein selbstsüchtiges Leben ichbisher geführt hatte! Allemeine Gedanken drehten sichimmer nur um meinenpersönlichenÜberlebenskampf.

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Bob hatte mein Leben ganzschön umgekrempelt.Plötzlich war ich für einanderes Lebewesenverantwortlich. Nur mit meinerHilfe konnte er wieder gesundund glücklich werden. Ichwurde zum ersten Malgebraucht.

Das war eine ziemlicheUmstellung, aber ich habe eshingekriegt. Es hat mir Spaßgemacht und es hat mir

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gutgetan. Vielleicht klingt dasseltsam, aber zum ersten Malin meinem Leben konnte ichmir vorstellen, wie es wäre,ein Kind zu versorgen. Bobwar mein Baby, und es wareine befriedigende Aufgabe,dafür zu sorgen, dass ihmnicht kalt war, dass er genugzu fressen hatte und dass esihm gut ging. Aber es warauch beängstigend.

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Dauernd machte ich mirSorgen um ihn. Besonders,wenn wir in der Stadtunterwegs waren. Ob inCovent Garden oder sonstwo, immer hatte ich dasGefühl, Bob beschützen zumüssen. Bob hatte diesenUrinstinkt in mir ausgelöst, dermich zwang, ihn ständig imAuge zu behalten. Und ichhatte allen Grund dazu.

Obwohl alle Leute so nett

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waren, seit Bob bei mir war,blieb ich wachsam. In denStraßen von London sindnicht nur gutherzige Touristenund Katzenliebhaberunterwegs. Der Anblick einesStraßenmusikers mit Katze,die so ihr Geld verdienen, löstnicht bei jedem Freude aus.Mit Bob an meiner Seitewurde ich nicht mehr so oftbeschimpft wie früher, aber eskam weiterhin vor. Meist

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waren es junge, betrunkeneBurschen, die sich für etwasBesseres hielten, nur weil sieam Monatsende eineGehaltsabrechnung bekamen.

»Steh auf und geh arbeiten,du langhaariger Penner«, warein beliebter Satz. Und daswar noch die harmlosesteVersion ihrer Pöbeleien.

Diese Beleidigungen pralltenschon lange an mir ab. Ich

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war daran gewöhnt. Aberwenn jemand seineAggressionen an Bobauslassen wollte, wurde ichzum Löwenvater, der seinJunges bis aufs Blutverteidigt.

Für manche Leute warenBob und ich leichte Beute.Und wenn man auf der Straßesein Geld verdient, kommtman um solche Idioteneinfach nicht herum. Sie

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machen abfälligeBemerkungen oder lachenüber uns. Auch Drohungensind keine Seltenheit.

Es war an einemFreitagabend, kurz nachdemBob und ich angefangenhatten, gemeinsamaufzutreten. Ich spielte geradeJohnny Cash auf der JamesStreet, als eine Gruppe vonschwarzen Hooligans auf unsaufmerksam wurde.

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Sie waren eine provokanteTruppe und sichtlich auf derSuche nach einem Opfer. Alssie Bob neben mirentdeckten, versuchten zweivon ihnen, Bob mit »Wuff«-und »Miau«-Geräuschen zuerschrecken. Ihre Mitläufer-Kumpel fanden das sehrwitzig.

Ich versuchte, ihr kindischesGehabe zu ignorieren. Aberdann versetzte einer der

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Jungs dem Gitarrenkasten, indem Bob saß, einen derbenFußtritt. Es war keinspielerischer kleiner Stupser,sondern ein brutaler Tritt. DerKasten schlitterte – mit Bob! –den Gehweg entlang.

Bob erschrak ganzfürchterlich. Er stieß einenkehligen Schrei aus, der mirdurch Mark und Bein ging,und sprang in Panik aus

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seinem sonst so sicherenGitarrenkasten-Körbchen.Zum Glück hatte ich seineLeine daran festgebunden,sonst wäre er bestimmt in derMenschenmengeverschwunden, und ich hätteihn nie wiedergefunden. Soblieb ihm nichts anderesübrig, als sich mit empörtaufgeplustertem Fell hintermeinem Rucksack zuverstecken.

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»Hey, was soll das,verdammt noch mal!«, brüllteich und baute mich so nah vordem Übeltäter auf, dass kaumnoch eine Handflächezwischen uns gepasst hätte.Ich bin sehr groß, überragteihn um einiges, aber er bliebunbeeindruckt.

»Ich wollte nur sehen, ob dieKatze echt ist.« Er fand seineAntwort auch noch witzig undlachte sich schief. Ich

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dagegen kochte vor Wut.»Du hältst dich wohl für sehr

schlau, du verdammter Idiot«,presste ich zwischen denZähnen hervor. Seine Kumpelbegannen, uns einzukreisen.Einer rammte mir seineSchulter in die Rippen, einanderer versuchte, mich miteinem Brustrempler zubeeindrucken. Aber ich bliebfelsenfest stehen und knufftezurück. Ein paar Sekunden

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lang standen wir da wieKampfhähne vor dem Angriff.Dann deutete ich auf eineÜberwachungskamera, die ander Ecke installiert und genauauf uns gerichtet war.

»Los, traut euch! Aber ihrwerdet gefilmt. Mal sehen, wieschnell sie euch kriegen!«

Das wechselndeMienenspiel auf ihrenGesichtern war ein Bild für

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Götter, das ich gernfestgehalten hätte. Auf derÜberwachungskamera odersonst wie. Die Jungs warenechte Rowdies, denn siehatten ganz offensichtlichschon schlechte Erfahrungenmit Überwachungskamerasgemacht. Denen musstekeiner mehr sagen, dassGewaltanwendungen vonunseren Gesetzeshüternscharf geahndet wurden, vor

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allem wenn man Beweise aufVideo hatte. Mit einerKopfbewegung pfiff derWitzbold seine Kumpanenzurück. Mir knurrte er mithasserfülltem Blick zu: »Wirkriegen dich noch!«

Mit wüsten Beschimpfungenund beleidigenden Gestenzogen sie endlich ab. Aberdas kümmerte mich wenig.Hauptsache, ich war sie los.

Trotzdem wollte ich nicht

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länger bleiben. Ich packtealles zusammen, nahm Bobauf den Arm, und wir machtenuns auf den Heimweg. Ichkannte solche Typen. Diekonnten mit Niederlagen nurschwer umgehen. Ich wolltenicht riskieren, ihnen andiesem Tag noch mal zubegegnen.

Aus diesem Zwischenfallhabe ich zwei Dinge gelernt:Seitdem mache ich nur noch

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in der Nähe einerÜberwachungskamera Musik.Als ich neu war, hat mir einKollege schon mal diesen Ratgegeben. »Da bist dusicherer«, meinte er. Aberdamals wusste ich ja allesbesser und habe diesen Tippgleich wieder verworfen. Einesolche Überwachungskamerakönnte ja auch beweisen,dass ich an verbotener Stelle

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Gitarre spielte. Erst mit derZeit habe ich denSicherheitsaspekt derKameras schätzen gelernt,und der Vorfall mit denHooligans hat mich endgültigüberzeugt.

Und die zweite Erkenntnisaus diesem unangenehmenErlebnis: Die Geschichte hatmir leider auch gezeigt, wieallein ich in solchen Fällendastehe. In diesem Moment

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war kein Polizist, kein CoventGuardian und auch keinMitarbeiter der U-Bahn inReichweite. Und von denvielen Passanten hat sichauch keiner eingemischt, alsmich die Jugendbandebedrängte. Ganz imGegenteil, die Leute habeneinen großen Bogen um unsgemacht und sich redlichbemüht, in eine andereRichtung zu sehen. Niemand

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wollte uns helfen. Daran hatsich leider nichts geändert.Nur, dass ich jetzt auch fürBob verantwortlich war.

Als wir an diesem Abend imBus nach Tottenham saßen,rollte sich Bob auf meinemSchoß zusammen. »Du undich gegen den Rest der Welt«,flüsterte ich ihm zu. »Wir sinddie zwei Musketiere.« Erschmiegte sich noch enger anmich und schnurrte

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zustimmend.London war nun mal voll von

Spinnern, vor denen wir unsin Acht nehmen mussten.Dazu kam noch dasHundeproblem, seit ich mitBob unterwegs war. Wirbegegneten täglich vielenHunden, und zu unseremLeidwesen zeigten fast allegroßes Interesse an Bob. Diemeisten Hundebesitzer

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merkten selbst, wenn ihrLiebling Bob zu nahe kam,und zogen ihr Tier weg, aberes gab auch diegedankenlosen undgehässigen Halter.

Generell störte sich Bobüberhaupt nicht anvorbeilaufenden Hunden. Erignorierte sie einfach. Wennsie sich an ihnheranschnüffeln wollten,schenkte er ihnen seinen

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Sphinxblick und plusterteseine Nackenhaare auf. Fürdie meisten Hunde war daseine klare Ansage und reichteaus, um sie das Weite suchenzu lassen. Diese Coolness imUmgang mit demsprichwörtlichen »Feind« warfür mich ein weiteres Indiz fürBobs Vorleben alsStraßenkatze. Nur dort kanner gelernt haben, mit Hundenumzugehen. Wie gut er das

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konnte, zeigte er mir eineWoche nach demZwischenfall mit denHalbstarken.

Es war an einem spätenNachmittag auf der NealStreet, als ein Mann miteinem Staffordshire Bullterrierauf uns zukam. Arschlöcher inLondon haben immerBullterrier, und dieserHundebesitzer sah aus wieein echtes Arschloch: Kahl

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geschorener Schädel,Jogginganzug und Bierdosemit extrastarkem Lager in derHand. Er torkelte sichtlichbetrunken die Straße entlang,obwohl es gerade erst vierUhr am Nachmittag war.

Als er auf unserer Höhe war,wurde er langsamer, weil seinHund an der Leine zerrte. Erhatte Bob erspäht und wollteihn nur friedlich

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beschnuppern. Genauergesagt, ging es demBullterrier mehr um dasTrockenfutter neben Bob.Voller Vorfreude auf einenunerwarteten Leckerbissenschnüffelte er sich näher.

Doch er hatte nicht mitKampfkater Bob gerechnet.Der bot uns jetzt einunglaubliches Schauspiel.

Ich habe Bob schon oft imUmgang mit Hunden

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beobachtet; normalerweisesieht er hoch erhobenenHauptes an ihnen vorbei.Aber einen Angriff auf seineBrekkies wollte er nichtdurchgehen lassen. Meinfriedlich schlummerndesFellbündel sah erst hoch, alssich der Bullterrier gierigschnüffelnd seinem Futternäherte. Er erhob sich imZeitlupentempo und zog demHund dann blitzschnell mit der

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Pfote eins über die Nase.Muhammad Ali wäre stolz aufihn gewesen. Der Hundmachte einen entsetzten Satznach hinten und robbte inBauchlage rückwärts weg vonBob. Dabei sah er aus wie einLakai, der seinem Könighuldigt.

Zuerst war ich genausoüberrumpelt wie derKampfhund. Dann brach ich inGelächter aus. Der Anblick

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war zu komisch. DerHundebesitzer sah erst michan und dann seinen Hund. Erwar so betrunken, dass er garnicht kapierte, was geradegeschehen war. Alles war soschnell gegangen. Trotzdemverpasste er seinem Hundeinen harten Schlag auf denKopf und zog ihn dannunsanft an der Leine mit sichfort. Es war ihm bestimmt

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peinlich, wie seinangsteinflößender Kampfhundvon einer Katze zur Schneckegemacht worden war.

Bob sah seinem Gegner, derals geprügelter Hunddavonschlich, emotionsloshinterher. Ein paar Sekundenspäter schlief er schonwieder, als wäre nichtsgeschehen. Für ihn war esnur eine unbedeutendePfotenbewegung gewesen,

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nicht spannender als dasVerscheuchen einer Fliege.Für mich war es ein Momentder Offenbarung. Ich hattewieder etwas Neues übermeinen Freund und seineVergangenheit gelernt. Erkonnte sich verteidigen undsehr gut auf sich selbstaufpassen. Wahrscheinlichhatte er schon früh Umgangmit Hunden gehabt, die keineSchoßhündchen waren!

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Und wieder beschäftigtenmich die alten Fragen: Wo ister aufgewachsen? WelcheAbenteuer musste erbestehen, bevor er sich mirangeschlossen hat und einerder zwei Musketiere wurde?

Mein neues Leben mit Bobwar voller Abwechslung undSpaß. Mit ihm wurde es nielangweilig, wie der kleineZwischenfall mit dem

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Bullterrier bewiesen hatte. Erwar so eine starkePersönlichkeit! Er hatte dieseltsamsten Eigenarten, undich entdeckte jeden Tag neue.

Inzwischen war ichüberzeugt, dass er auf derStraße groß geworden war.Nicht nur wegen seinerausgeklügelten Kampftechnik,sondern auch wegen seinerrauen Manieren, die so gar

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nicht zu einem gezähmtenStubentiger passten.

Obwohl er nun schon übereinen Monat bei mir lebte,verweigerte er immer nochdas Katzenklo. Er hasste esabgrundtief. Sobald ich esdemonstrativ in seiner Näheaufstellte, nahm er Reißaus.Lieber hielt er alles ein, bis ichdie Wohnung verließ und erzu seinen Büschen flitzenkonnte. Das ging mir mit der

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Zeit ziemlich auf die Nerven.Es war wirklich lästig,mehrmals täglich fünfStockwerke rauf und runter zurennen, nur weil Mr. Sturkopfauf sein Freiluftklo bestand.Ich sah nur noch einenAusweg, Bob dazu zubringen, das Kistchen in derWohnung endlichanzunehmen. Ich musste ihnzwingen. Aber wie macht mandas bei so einer eigenwilligen

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Katze? Mein Plan war, so hartdas klingen mag,vierundzwanzig StundenStubenarrest. So lange hieltes auch der störrischste Katernicht aus. Dachte ich. Aberich hatte die Rechnung malwieder ohne Bob gemacht. Erhat durchgehalten, ohneMauzen, ohne an der Tür zukratzen. Mit stoischer Ruhewartete er, bis ich aufgebenmusste, weil ich einen Termin

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hatte. Sobald die Tür aufging,flutschte er aus dem Türspaltund stürzte sich geradezu dieTreppen hinunter, um nachdraußen zu gelangen. Spiel,Satz und Sieg für Bob! DiesenKampf würde ich wohl niegewinnen.

Bob hatte auch eine wildeSeite. Natürlich war er ruhigerals vor der Kastration, aberzeitweise tobte er immer noch

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wie eine übermütigeWildkatze durch die Wohnungund spielte mit allem, was erzwischen die Pfoten bekam.Einmal konnte ich zusehen,wie er sich über eine Stundelang mit einemFlaschendeckel amüsierte. Erscheuchte ihn durch alleRäume, warf ihn hoch, fingihn auf dem Rücken liegendwieder auf, fegte ihn unterden Teppich und buddelte ihn

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mit viel theatralischem Getuewieder hervor. Ein anderesMal belauerte er eineHummel, die sich in unsereWohnung verirrt hatte. Miteinem kaputten Flügelkrabbelte sie auf demWohnzimmertisch herum.Manchmal fiel sie auf denRücken und surrte laut beiihren verzweifeltenVersuchen, sich wiederumzudrehen. Dabei fiel sie

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manchmal vom Tisch auf denTeppich. Immer wenn daspassierte, hob Bob dieHummel ganz vorsichtig mitseinem Mäulchen wieder aufund legte sie zurück auf denCouchtisch. Es war wirklichbeeindruckend, wie feinfühliger es fertigbrachte, einenFlügel der Hummel zwischenseine Zähne zu nehmen. Erwollte sie unversehrt auf dieGlasfläche zurücklegen, nur

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um sie hoch konzentriertweiter zu beobachten. Es wareinfach zu komisch. Er wollteihr nichts tun, er wollte einfachnur spielen.

Auch beim Fressen konnteer seine Straßenmanieren,den dort aufgeschnapptenFutterneid, nicht verleugnen.Nach jedem Besuch seinesFreiluftklos machte er einenAbstecher zu den

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Müllcontainern hinter demHaus. Leider waren diegroßen Müllkippen auf Rädernimmer wieder offen.Manchmal lagen dieschwarzen Plastiksäcke sogarneben den Containern. Diesewurden dann vonstreunenden Hunden oderFüchsen aufgerissen. Wieunter einem inneren Zwangtrieb es Bob immer wiederdorthin. Es könnten ja

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Essensreste herumliegen, dieman trotz Gourmet-Katzendinner nichtverkommen lassen durfte.Einmal erwischte ich ihndabei, wie er einenHühnerschenkel davonzerrte,den die vierbeinigenStraßenräuber übersehenhatten. Es ist eben schwer,alte Gewohnheitenabzulegen, dachte ichnachsichtig. Wer konnte das

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besser verstehen als ich!Obwohl er von mir zu festen

Zeiten gefüttert wurde, konnteer nicht aufhören zuschlingen. Sobald ich ihm dieSchüssel hinstellte,verschwand sein Gesicht tiefin seinem Napf, und er fraß,als wäre es seine letzteMahlzeit für lange Zeit.

»Langsam, Bob, genieß deinFutter«, beschwor ich ihnjedes Mal mit ruhiger Stimme,

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aber es war sinnlos.Wahrscheinlich hatte er sichfrüher jede Mahlzeit schwererkämpfen müssen und niegewusst, wann und wo er dienächste finden würde. Erhatte noch nicht begriffen,dass ihm bei mir zweiMahlzeiten täglich sicherwaren. Auch dieses Gefühlkonnte ich nachvollziehen.Schließlich habe ich selbst

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lange auf der Straße gelebt.Ich kannte diese Angst.

Bob und ich hatten sehr vielgemeinsam. Deshalb warunsere Bindung von Anfangan so innig – und sie wurdeimmer stärker.

Das Einzige, was michwirklich an Bob störte, warendie Haare, die er überall in derWohnung verlor. Das warganz normal, denn wir hatten

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inzwischen Frühling und erverlor sein Winterfell. Leiderbüschelweise. Und weil erdiesen Fellwechselbeschleunigen wollte, rieb ersich an allem, was ihm zuHause Widerstand bot. Trotztäglichem Staubsaugen warendie Katzenhaare ständigüberall. Auf meiner Kleidung,auf der Bettwäsche, derCouch, an Schränken, Tisch-und Stuhlbeinen und natürlich

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auf dem Teppich. Es machtemich wahnsinnig.

Dabei war es ein gutesZeichen. Sein Fell warnachgewachsen, und auchkörperlich ging es ihm gut. Erwar immer noch sehr schlank,aber man spürte keine Rippenmehr, wenn man ihnstreichelte. Sein Fell war vonNatur aus dünn,wahrscheinlich, weil ihm alsJungtier auf der Straße

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wichtige Nährstoffe gefehlthatten. Aber es gab keinekahlen Stellen mehr, unddurch das Antibiotikum warseine Beinverletzung so gutverheilt, dass neues Felldarüber gewachsen war. Erstrotzte vor Gesundheit, undnichts erinnerte mehr an dasHäufchen Elend, dass ich malgefunden hatte.

Er brauchte auch kein Bad,

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um sauber zu bleiben. Diesprichwörtliche Katzenwäscheist absolut ausreichend, undBob war ein Meister in dieserakrobatischen Disziplin. Ichsah ihm gerne zu bei diesemRitual. Es hatte so etwasFriedliches, wenn er sich diePfoten leckte, um sich danndamit das Gesicht zuwaschen. Für dieGanzkörperwäsche nahm ersich alle Zeit der Welt, als

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gäbe es nichts Wichtigeres.Ich fand die Katzenwäsche

deshalb so faszinierend, weiles zeigte, wie stark dieHauskatze immer noch mitihren wilden Vorfahrenverbunden ist. Bobs Ahnenlebten in tropischem Klima,aber sie konnten nichtschwitzen. Durch dasAblecken wurde mehrSpeichel produziert, unddieser verschaffte ihnen die

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notwendige Abkühlung.Gleichzeitig war dieserSpeichelfilm auf ihrem Fell einGeruchskiller. Ihr Tarnkleid,das sie unsichtbar machte.

Eigengeruch würde dieKatze beim Jagen behindern.Sie überfallen ihre lebendeBeute und müssen sich dafürso unauffällig wie möglichanpirschen können. Sielecken sich deshalb so oft,weil ihr Speichel einen

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natürlichen Deodorantstoffenthält. Zoologen habenherausgefunden, dassKatzen, die sich regelmäßigihren Geruch ablecken, längerüberleben und mehrNachkommen produzieren.Auf diese Weise entgehen sieauch ihren Feinden wiegroßen Schlangen, Waranenund anderenfleischfressenden

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Säugetieren.Die Katzenwäsche erspart

Bob und seinen Vorfahrenauch den Katzendoktor. Siehält sie gesund. Mit demAblecken verringern sieParasitenbefall wie Läuse,Milben und Zecken, die eineKatze im schlimmsten Falltöten können. Der Speichelder Katze verhindert auchInfektionen in offenenWunden, weil er ein

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Desinfektionsmittel enthält.Vielleicht nimmt es Bob mitseiner pingeligenKatzenwäsche auch deshalbso genau, weil er so krankwar und weiß, dass er damitden Heilungsprozessbeschleunigen kann.

Zu guter Letzt wäre da nochsein neues Laster, an dem ichnicht ganz unschuldig war: Ersah gerne fern. Zum erstenMal fiel mir auf, dass er Dinge

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beobachtete, die sich aufeinem Bildschirm bewegten,als ich in einer Bibliothek amComputer saß. An meinenfreien Tagen ging ich oftdorthin, und Bob war natürlichdabei, seit er mir überallhinfolgte. Er saß auf meinemSchoß und starrte mit mirgemeinsam auf denBildschirm. Wenn ich dieMaus bewegte, versuchte er,den sich bewegenden Pfeil

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mit der Pfote einzufangen.Das wollte ich genauer

erkunden. Deshalb machteich zu Hause den Fernseheran und ging ins Schlafzimmer.Als ich wiederkam, hatte sichBob tatsächlich auf der Couchniedergelassen undbeobachtete das Fernsehbild.

Ein Freund hat mir malerzählt, sein Kater wäre einStar-Trek-Fan. Er war ganz

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verrückt nach der Serie TheNext Generation. Immer,wenn er die Titelmusik hörte –Dah-Dah Dah Dah Dah-DahDah Dah –, kam er angerannt,sprang auf die Couch und sahsich die ganze Folge an. Ichhabe es selbst gesehen.Mehrmals. Kein Scherz, eswar irre komisch.

Bob war schon nach kurzerZeit ein Fernseh-Junkie.Sobald ihm irgendetwas auf

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der Mattscheibe auffiel, blieber daran kleben. Ich fand esviel lustiger, Bob beimFernsehen zuzusehen, alsselbst in die Glotze zu starren.So fand ich beim Zappenzufällig heraus, dass BobPferderennen total spannendfand. Ich konnte mich köstlichdarüber amüsieren, wie er dieRennen gebannt auf demBildschirm verfolgte.

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8Offizielle Anmeldung

Ein paar Wochen nach derGründung unseres

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Straßenmusiker-Duos standich an einem Donnerstagfrüher auf, machte Frühstückfür uns beide und verließdann mit Bob das Haus. Wirfuhren aber nicht in die Stadt,sondern stiegen an derHaltestelle Islington Greenaus.

Ich wollte Bob einenMikrochip einpflanzen undregistrieren lassen, da er michfast täglich in die Stadt

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begleitete. Früher war das einziemlich kompliziertesUnterfangen gewesen, aberinzwischen war es einfach.Der Tierarzt transportiert denChip mit einer Spritze unterdie Haut am Hals des Tieres.Darauf befindet sich eineSeriennummer, diezusammen mit denKontaktdaten des Besitzersregistriert wird. Wird einherrenloses Tier mit Chip

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aufgefunden, kann derTierarzt oder ein Mitarbeiterim Tierheim mit Hilfe einesScan-Gerätes die Datenablesen und den Besitzerermitteln.

So wie Bob und ich lebten,war dieser Schrittunumgänglich. Ich hoffte,dass es nie nötig sein würde,aber falls wir uns wirklich malverlieren sollten, wäre das dieeinzige Chance, Bob

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wiederzufinden.Schlimmstenfalls könnte auchmir jederzeit etwas zustoßen.Dann würde die Registrierungwenigstens beweisen, dassBob kein total verwilderterStraßenkater war, sondern einliebevolles Zuhause gehabthatte.

Kurz nachdem Bob bei mireingezogen war, hatte ichalles über Mikrochips für

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Haustiere imBibliothekscomputerrecherchiert. Dabei war mirschnell klar geworden, dassich mir das einfach nichtleisten konnte. Die meistenTierärzte verlangten dafür 60bis 80 Pfund. So viel Geldhatte ich nie übrig. Aber auchwenn ich gekonnt hätte,diesen Wucherpreis wollte ichprinzipiell nicht bezahlen.

Bis ich eines Tages mit

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meiner Nachbarin, derKatzenmutter von gegenüber,ins Gespräch kam. »Siesollten an einem Donnerstagmit Bob nach Islington Greenfahren«, riet sie mir. »Dortsteht an diesem Tag immerder Blue-Cross-Bus mit dermobilen Tierarztpraxis. Dortzahlt man nur für den Chip.Aber Sie müssen früh da sein,der Andrang ist groß«,schärfte sie mir ein.

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Heute war Donnerstag. Ichwollte früh dort sein, um inden zwei Stunden zwischenzehn und zwölf Uhr auchsicher dranzukommen.

Wie es die Katzenmuttervorausgesagt hatte, sahen wirschon von Weitem eine langeWarteschlange. Die Leutestanden bis zurWaterstone-Buchhandlung ander nächsten Ecke. ZumGlück war es ein sonniger

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Morgen, sodass das Wartenerträglich blieb.

Es war die übliche Mischungan Leuten, die man beisolchen sozialenEinrichtungen antrifft:Katzenbesitzer mit denpraktischen Trageboxen,Hunde, die sich gegenseitigbeschnupperten undmiteinander herumalberten.Es war eine gesittete

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Ansammlung, und dieTierhalter waren vielangenehmer und netter alsbei der RSPCA-Ambulanz, woich Bob wegen seinesverletzten Beins hingebrachthatte.

Seltsam, aber Bob war dieeinzige Katze, die nicht ineinem Katzenkorbweggesperrt war. Wir erregtendeshalb viel Aufmerksamkeit.Ein paar ältere Damen waren

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ganz hingerissen von Bob,und er bekam vieleStreicheleinheiten.

Nach eineinhalb Stunden inder Warteschlange waren wirendlich ganz vorne. Einejunge Tierarzthelferin mitKurzhaarschnitt begrüßte unsfreundlich.

»Was kostet es, ihm einenMikrochip einsetzen zulassen?«, fragte ich sie.

»15 Pfund«, gab sie

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lächelnd Auskunft. Sie sah mirwohl an, dass ich nicht geradein Geld schwamm, und fügtehinzu: »Sie müssen das auchnicht auf einmal bezahlen. Wirkönnen Ratenzahlungvereinbaren. Wie wäre es mit2 Pfund pro Woche?«

Ich war angenehmüberrascht. »Cool! Das schaffich!«, stimmte ich erleichtertzu.

Zuerst sollte Bob noch kurz

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untersucht werden,wahrscheinlich umfestzustellen, dass er gesundund flohfrei war. Nicht ohneStolz ging ich davon aus,dass es keine Beanstandunggeben würde. Es ging ihmbesser denn je. Seit seinerMauser war er ein schlanker,sehr athletischer Kater zumVorschein gekommen.

Danach brachte uns die

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Assistentin zumBehandlungsraum, wo unsder Tierarzt bereits erwartete.Er war noch ziemlich jung,vielleicht Mitte zwanzig.

»Guten Morgen«, begrüßteer uns, bevor er sich mitseiner Assistentin in eineEcke zur Beratung zurückzog.Ich beobachtete die beiden,während sie alle Utensilienzum Einsetzen des Chipszusammensuchten. Die junge

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Frau mit den kurzen Haarensuchte Papiere zusammen,während der Arzt Spritze undNadel für die Einpflanzungvorbereitete. Beim Anblick derNadelgröße stockte mir dasBlut in den Adern. Aber dasließ sich wohl nichtvermeiden. Der Chip inReiskorngröße brauchte eineentsprechend große Kanüle.

Leider hatte auch Bob dieRiesenspritze gesehen und

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versuchte zu flüchten – zumersten Mal bei einemArztbesuch. Ich konnte es ihmnicht verdenken. Zusammenmit der Assistentin versuchteich, Bob festzuhalten und vomTierarzt wegzudrehen, damiter die Spritze nicht kommensah. Aber Bob war nichtdumm, er ahnte die Gefahr.So panisch hatte ich ihn nochnie erlebt. Er versuchte, sichaus meinem Griff zu befreien.

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Katzen können sichblitzschnell aufbäumen,winden und verbiegen,sodass man sie zu nichtszwingen kann. »Keine Angst,Bob, das ist gleich vorbei«,redete ich beruhigend auf ihnein und streichelte ihm Bauchund Hinterbeine, während dieTierarzthelferin ihn imSpezialgriff vorne festhielt. Ichwollte ihn von dem näher

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kommenden Tierarztablenken.

Als die Nadel Bobs Hautdurchstach, stieß er einenjämmerlichen, grellen Schreiaus, der mir durch Mark undBein ging. Als es Bob vorSchmerzen schüttelte, trieb esmir die Tränen in die Augen.Aber kaum hatte der Arzt dieNadel herausgezogen, fing ersich wieder. Zum Trost gabich ihm eines seiner

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Lieblingsleckerchen. Dannhob ich ihn vorsichtig hochund trug ihn zurück zumEingangsbereich.

»Das hast du gut gemacht,mein kleiner Kämpfer!«,flüsterte ich ihm zu.

Danach sollte ich noch einpaar kompliziert aussehendeFormulare ausfüllen, aberzum Glück half mir dieTierarzthelferin dabei.

»Wir brauchen Ihre

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Kontaktdaten für dieDatenbank«, erklärte sie mir.»Name, Adresse, Telefon?«Während sie meine Angabenin ihre Formulare schrieb,erkannte ich die Bedeutungdieses Augenblicks. Ich hatteendlich Nägel mit Köpfengemacht.

»Werde ich jetzt als seinrechtmäßiger Besitzerregistriert?«, fragte ichvorsichtig.

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Sie sah von ihren Papierenhoch und lächelte.

»Ja, wenn das für Sie inOrdnung ist?«

»Aber ja, natürlich, das istwunderbar!«, versicherte ichihr. »Wirklich, ich freue michsehr!«

Währenddessen hatte sichBob auf meinem Arm schonwieder sichtlich erholt. Ichkraulte ihn am Kopf. Dabei

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passte ich auf, seinen Nackennicht zu berühren. Ich wollteihm nicht wehtun, aber auchvermeiden, dass er mir vorSchmerz versehentlich denArm zerkratzte.

»Hast du das gehört, Bob?«,nuschelte ich leise zwischenseine Ohren. »Wir sind jetzteine richtige Familie, ganzoffiziell!«

Auf dem Weg zum Busdurch Islington wurden wir

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noch mehr angegafft alssonst. Das lag bestimmt anmeinem Grinsen. Es warbreiter als die Themse, undich konnte es einfach nichtabstellen.

Bob hat mein Leben ganzschön umgekrempelt. Ihmzuliebe hat sich in meinemSinglehaushalt viel geändert.

Er hat mich nicht nur dazugebracht, einen geregelteren

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Tagesablauf einzuhalten undVerantwortung zuübernehmen, sondern auch,mich selbst zu hinterfragen.Mit niederschmetterndemErgebnis.

Bobs Besitzer war einDogenabhängiger auf Entzug.Einer, der täglich seineErsatzdroge aus derApotheke holte und zweimalim Monat zurDrogenambulanz pilgerte.

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Das alles war mir so peinlich,dass ich es tunlichst vermied,Bob zu diesen Terminenmitzunehmen. Es klingtvielleicht verrückt, aber ichwollte nicht, dass Bob diesenTeil meiner Vergangenheitkennenlernte.

Und doch war es seinVerdienst, dass ich meineSucht inzwischen definitiv alsVergangenheit bezeichnen

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konnte.Bob hatte mir den Glauben

an eine drogenfreie Zukunftund die Chance auf einnormales Lebenzurückgegeben. Aber denlangwierigen Prozess bisdahin wollte ich ihm unbedingtersparen.

Leider stolperte ich immernoch über Erinnerungsstückean meine dunklen Zeiten, diemir vor Augen führten, welch

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langen und steinigen Weg ichnoch vor mir hatte. Ein paarTage nachdem Bob seinenMikrochip bekommen hatte,durchwühlte ich meineKommode im Schlafzimmer.Ich war auf der Suche nachder neuen Oystercard, meinerelektronischen Fahrkarte fürdie öffentlichenVerkehrsmittel. Sie war vorein paar Tagen mit der Postgekommen. Unter einem

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Stapel alter Zeitungen und einpaar T-Shirts stieß ich aufeine Tupperware-Box. Ichhatte sie längst vergessen,nicht aber ihren Inhalt. Denkannte ich, auch ohne sie zuöffnen. Sie enthielt all dieUtensilien, die man alsHeroinsüchtiger braucht:Injektionsnadeln,Spritzenkanülen und anderetraurige Dinge für dentäglichen Suchtbedarf. Mir lief

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ein Schauer über denRücken, als würde mich einböser Geist aus derVergangenheit mit seinemkalten Atem streifen. Dieunscheinbare Plastikbox warvoller schlechterErinnerungen. Wie bei einemFlashback zuckten mirscheußliche Bilder ausdunklen Tagen durch denKopf. Bilder, die ich tief in

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meinem Unterbewusstseinweggesperrt hatte und niewieder sehen wollte.

Die Box musste weg. Sofortund endgültig. Raus ausmeiner Wohnung. Sie solltemich nie wieder erinnern odergar in Versuchung führen. Vorallem wollte ich sie nicht inBobs Nähe wissen, auchwenn sie noch so gutversteckt war.

Bob saß neben der Heizung,

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sprang aber sofort auf, als ichmeinen Mantel anzog. Erfolgte mir nach unten undwich mir bis zu denMüllcontainern nicht von derSeite. Er ließ mich nicht ausden Augen, bis die Box imEimer für Sondermüllgelandet war.

»So«, sagte ich erleichtertzu ihm. »Das war schon langefällig.« Er schenkte mir einenseiner unergründlichen Blicke.

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Ich glaube, er war zufriedenmit mir.

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9Der Ausreißer

So etwas wie »Alltag« gibtes nicht auf der Straße. Man

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muss immer auf der Hut seinvor unerwartetenVeränderungen, das habe ichschnell gelernt. Sozialarbeitersind immer gleich zur Stellemit dem Wort »chaotisch«,wenn sie von Leuten wie mirreden. Sie nennen unserLeben chaotisch, weil es nichtin ihre von dengesellschaftlichen Normengeprägte Schablone passt.Aber für Menschen, die auf

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der Straße leben undarbeiten, gelten andereRegeln – und dieseLebensweise ist für uns»normal«.

So war ich auch nicht allzuüberrascht, als nach einemtollen Sommer mit Bob derHerbst ins Land zog undunser Job in Covent Gardenplötzlich schwieriger wurde.Ich hatte schon auf einegroße Veränderung gewartet.

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Nichts bleibt wie es ist.Besonders nicht in meinemLeben.

Bob war immer noch eineAttraktion, besonders für dieTouristen. Aus aller HerrenLänder blieben Leute stehen,um mit Bob Kontaktaufzunehmen. Ich hörteSprachen von überall her, vonAfrikaans bis Walisisch. Vorallem das Wort »Katze« hatteich bereits in all diesen

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Sprachen gelernt und vieleAusdrücke behalten: inSlowakisch Kocka und inRuss isch Koshka oder inTürkisch Kedi. Mein absolutesLieblingswort für Katze hattendie Chinesen: Mao. Es hatmich doch sehr überrascht,dass ihr großer Führer eineKatze war!

Aber egal wie seltsam odermelodisch jemand in seiner

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Muttersprache auf unseinredete, es ging immer nurum eines: Alle liebten Bob.

Unter den Anwohnern derJames Street hatten wir sogarStammgäste: Leute, dietäglich auf ihrem Heimwegvon der Arbeit an unsvorbeikamen. Die bliebenimmer stehen, um Bob zubegrüßen. Manchmal bekamer sogar kleine Geschenke.

Aber leider gab es auch

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Leute, die uns keineSympathie entgegenbrachten.Zuerst nahmen mich dieCovent Guardians aufs Korn,weil ich immer wieder vor derU-Bahn-Station James StreetGitarre spielte. Einer vonihnen verwarnte mich immerwieder. Er berief sich auf dieamtlichen Vorgaben, diemeinen Lieblingsplatz denlebenden Statuen zugeteilthatten. Dass keiner von

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denen da war, hieß für ihnleider nicht, dass ich diesenFreiraum belegen durfte. »Siekennen die Regeln«,wiederholte er laufend inErmangelung bessererArgumente.

Klar kannte ich die Regeln,aber Regeln sind da, um auchmal umgangen zu werden.Auch das ist ein Gesetz derStraße. Wenn wir uns immeran alle Regeln gehalten

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hätten, wäre die Straße wohlkaum unser Arbeits- undLebensraum.

Deshalb verzog ich michjedes Mal friedlich, wenn michder Guardian verscheuchte,spielte für ein paar Stundenwoanders und kam späterganz unauffällig zurück in dieJames Street. Dabei ging ichkein allzu großes Risiko ein,denn bisher hatten die Covent

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Guardians noch nie diePolizei geholt, weil jemand anverbotener Stelle eineVorführung gab.

Viel penetranter waren dieAngestellten der U-Bahn,denen es plötzlich auch nichtmehr passte, dass ich ihrePassagiere gleich amAusgang mit Musik unterhielt.Besonders zweiFahrscheinkontrolleure hattenes auf mich abgesehen.

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Anfangs erntete ich nur böseBlicke und den einen oderanderen abfälligenKommentar, wenn ich an derAußenmauer desStationsgebäudes saß. EinesTages jedoch kam ein extremunsympathischer Kontrolleurauf mich zu. Er war dick undschwitzte sichtbar in seinerblauen Uniform, während ermich verwarnte.

Auf Bobs Menschenkenntnis

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konnte ich mich wirklichverlassen. Er hatte seinensechsten Sinn dafür schon oftbewiesen. Mit seinemunsichtbaren Radar witterte erunangenehme Personen,lange bevor ich sie erspähte.So auch diesen Fettsack.Mein kleiner roter Helddrückte sich bereitsschutzsuchend an mich, nochbevor der Typ aufgetauchtwar. Für mich war das ein

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Zeichen, auf der Hut zu sein.»Hallo! Geht’s gut?«,

versuchte ich dem Widerlingden Wind aus den Segeln zunehmen.

»Nein, nicht wirklich«, wardie schroffe Antwort. »Verpissdich, oder es passiert was!«

»Was denn?«, trotzte ichseiner unbegründeten Wut aufmich.

»Wirst du schon sehen«,

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versuchte er micheinzuschüchtern. »Das isteine Warnung!«

Er hatte keinerlei Befugnisaußerhalb des U-Bahn-Bereiches, und ich hatte nichtvor, mich von ihmeinschüchtern zu lassen.Trotzdem beschloss ich,meinen Lieblingsplatz für eineWeile zu meiden.

Zuerst zog ich um auf dieNeal Street, Ecke Long Acre.

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Also immer noch ganz nahean einer U-Bahn-Station, aberweit genug entfernt, um denübereifrigen Mitarbeitern nichtmehr in die Quere zukommen. Leider war dortauch nicht so viel los, und diePassanten waren nicht sospendierfreudig wie in CoventGarden. Trotzdem trat immerwieder jemand gegen meinenRucksack oder erschreckteBob. Er fühlte sich hier gar

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nicht wohl. Sobald ich andieser Ecke anfing zu spielen,rollte er sich zu einemabwehrenden Ball zusammenund beobachtete auszusammengekniffenen Augenmisstrauisch sein Umfeld.Seine Abwehrhaltung wareine klare Ansage: »Hiergefällt´s mir nicht!«

Nach ein paar Tagen gab ichnach. Wir stiegen ein paarHaltestellen früher aus und

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liefen durch Soho in RichtungPiccadilly Circus. Wir warenimmer noch im Stadtzentrum,im Bezirk Westminster. Sogab es auch hier Regeln undEinteilungen fürStraßenkünstler. Bob zuliebewollte ich mich daran halten.Ich hatte gehört, dass esöstlich von Piccadilly Circus,auf der Straße RichtungLeicester Square, eine gute

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Stelle für Straßenmusikergab. Dort wollte ich es andiesem Tag mit Bobversuchen.

Wir fanden gleich denperfekten Platz, ganz in derNähe vom Haupteingang derU-Bahn-Station PiccadillyCircus und vor dem Eingangder Ausstellung Ripley‘sunglaubliche Welt.

Es war viel los an diesemSpätnachmittag und Abend.

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Hunderte von Touristen zogenauf ihrem Weg zu den Kinosund Theatern im Westend anuns vorbei. Wir machtenschnell Kasse, obwohl diemeisten Passanten auf demWeg zur U-Bahn an unsvorbeihetzten. Trotzdemblieben viele von ihnen beimAnblick von Bob stehen oderwurden zumindest langsamer.

Bob war dieses Getümmelunheimlich. Er saß auf meiner

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Gitarre, während ich spielteund drückte sich dabei nochfester an mich als sonst. Soviele Menschen und ein völligunbekanntes Revier! InCovent Garden war er nie soanhänglich, aber dort warenihm meine Stammplätze auchalle vertraut.

Wie immer warinternationales Publikum aufden Straßen der Innenstadtunterwegs, um Londons

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Sehenswürdigkeiten zubewundern. Viele Japaner,die beim Anblick von Bobkaum ihren Augen trauten.Schon bald kannte ich wiederein neues Wort für Katze:Neko. Bis 18 Uhr lief alleshervorragend. Dann beganndie Stoßzeit, und die Straßenwurden noch voller. Plötzlichtrat ein Promoter von Ripley’sauf die Straße. Er trug eines

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dieser aufblasbarenPlastikkostüme, die ihn sodick wie einen Sumo-Ringermachten. Er ruderte einladendmit den Armen, um Passantenzu einem Besuch derAusstellung zu animieren.Was seine Verkleidung mitden Ausstellungsstücken zutun haben könnte, war mirschleierhaft. VielleichtSehenswertes über denfettesten Mann der Welt?

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Oder über den peinlichstenJob der Welt?

Die monströse Figur machteBob Angst. Sobald eraufgetaucht war, suchte Bobwieder meine Nähe. DerRiese war ihm unheimlich. Mitbangem Blick starrte erunverwandt zu ihm hinüber.Und mit Katzenaugenbetrachtet, sah der Kerl jaauch wirklich zum Fürchtenaus.

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Ich behielt Bob im Auge,aber nach kurzer Zeitentspannte er sich wieder.Sollte der Dicke doch seinenJob machen, Bob kümmertees nicht weiter. Ich sangg e r a d e Ring of Fire vonJohnny Cash, als der Plastik-Sumo plötzlich auf unszukam. Er streckte die Handaus, als wolle er Bobstreicheln. Leider bemerkteich ihn erst, als sich das

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Ungetüm bereits über Bobbeugte. Zu spät.

Bob machte einenentsetzten Luftsprung. Dannwar er weg. Er verschwand soschnell zwischen den Beinender vielen Passanten, dassich nur noch eine buschigeSchwanzspitze und seineLeine hinter ihm herflitschensah. Noch bevor ich Luftholen konnte, war er im U-

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Bahn-Eingang verschwunden.Verdammt, dachte ich

entsetzt und mein Herzklopfte wie wild. Jetzt ist erweg. Jetzt habe ich ihnverloren!

Nach der erstenSchrecksekunde kehrtenmeine Lebensgeister zurück.Ich sprang auf und lief hinterihm her. Meine Habseligkeitensamt Gitarre waren mir indiesem Moment egal. Ich

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musste Bob einholen. EineGitarre kriege ich überall, aberBob war unersetzlich!

Ich stürzte mich in dieMenge. Müde Bürohengsteauf dem Heimweg von derArbeit, frühe Nachtschwärmerauf dem Weg ins Westendund natürlich Touristen überTouristen, manche mitRucksack, andere, die sich anihren Stadtplänenfestklammerten und hier

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mitten im pulsierendenHerzen von London etwasüberfordert schienen. Ichmusste Zickzacklinien laufen,um schneller bis zum U-Bahn-Eingang durchzukommen.Dabei rempelte ich leiderauch ein paar Leute an undprallte mit einer Frauzusammen.

In diesem Wust aus Leibern,die sich mirentgegendrückten, war es

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unmöglich, ein kleinesKatertier zu finden. Vor allem,wenn er sich verstört in einerEcke verkrochen hatte. Erstals ich am Ende der Treppe inder Bahnhofshalle ankam,lichtete sich das Getümmel.Es waren immer noch zu vieleLeute, aber zumindest konnteich stehenbleiben und michumsehen. Ich ging in die Knie,um den Boden abzusuchen.

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Dafür erntete ich schiefeBlicke, aber das war mir egal.

»Bob! Bob, wo bist du?«,schrie ich verzweifelt. Aberder ohrenbetäubende Lärmder ein- und abfahrendenZüge übertönte alles. Ichkonnte mich selbst kaumhören.

Mir blieb nichts anderesübrig, als auf gut Glück inirgendeine Richtungweiterzugehen. Sollte ich zu

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den Drehkreuzen gehen, diezu den Rolltreppen und Zügenführten, oder zu einem dervielen anderen Ausgänge?Was würde Bob tun? Ichverwarf den Weg zu denZügen. Wir waren noch niezusammen U-Bahn gefahrenund die Rolltreppen wärenihm bestimmt unheimlich.

Also lief ich zu denAusgängen auf der anderenSeite der Halle, die zum

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Piccadilly Circus führten.Zwei Sekunden später sah

ich auf einer Treppe etwasRotes aufblitzen. Und dannden Zipfel seiner Leine, dieüber die Treppe nach obenschleifte.

»Bob!«, brüllte ich. »Bob!«Ich versuchte, die Leine zuerwischen, konnte mich abernur mühsam gegen die mirentgegenkommende Flut anNeuankömmlingen

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durchquetschen. Höchstenszehn Meter trennten mich vonBob, aber ich kam nichtvoran. Ich fühlte mich wie ineinem dieser Albträume, indenen man läuft, aber nichtvon der Stelle kommt, obwohlman fast stirbt vor Angst. DerGegenstrom der Passagiere,die in die Bahnhofshalledrängten, hielt mich gefangenund drückte mich zurück.

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»Halten Sie ihn auf! Bitte,treten Sie auf seine Leine!«,brüllte ich, als das roteFellbüschel im Abendlichtüber mir nochmalsaufleuchtete.

Aber niemand schenkte mirBeachtung, niemand hörte mirzu.

Die Leine war weg, Bobendgültig verschwunden.Bestimmt war er auf dieRegent Street geflüchtet.

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Unbekanntes Revier für Bob,und kein Wunder, wenn er vorlauter Panik ziellosweitergelaufen war.

Meine Gedankenüberschlugen sich. In meinemKopf spielten sich dieunmöglichstenHorrorszenarien ab. War eroben auf die Straße gelaufen?Hat ihn jemand gesehen undmitgenommen? Als ich michendlich die Treppen

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hochgekämpft hatte und aufder Straße ankam, war ichselbst in Panik. Mir war nurnoch zum Heulen zumute,denn ich war überzeugt, ichwürde Bob nie mehrwiedersehen.

Was passiert war, hätte ichnicht verhindern können,trotzdem fühlte ich michschrecklich. Warum,verdammt noch mal, hatte ichBobs Leine nicht an meinem

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Rucksack oder an meinemGürtel befestigt? Warum hatteich seine Panik ignoriert, alsdas Ripley-Monsteraufgetaucht war? Warumhatte ich mir nicht gleich einenanderen Platz gesucht? Ichwar so wütend auf mich, dassmir übel wurde.

In welche Richtung könnteBob gelaufen sein? Wiedermusste ich mich entscheiden.

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Nach links zum Piccadillyoder etwa in den riesigenLaden von Tower Records?Instinktiv wäre erwahrscheinlich am ehestengeradeaus weitergerannt –auf dem breiten Gehweg derRegent Street.

Völlig aufgelöst klammerteich mich an diesen Strohhalmund lief los. »Haben Sie einerote Katze mit Leinegesehen?«, wiederholte ich

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dabei wie ein Mantra dieFrage an alle, die mirentgegenkamen. Ich musswie ein Verrückter gewirkthaben, denn ich erntete nichtsals scheele Blicke. EinigeLeute wichen mir aus, alswäre ich ein Amokläufer.

Zum Glück reagierten abernicht alle Leute so. Nach etwa500 Metern kam mir einjunges Mädchen mit einergroßen Tüte vom Apple Store

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auf der Oxford Streetentgegen. Sie kam also vomanderen Ende der RegentStreet, wo ich hinwollte. Ichhielt sie auf und fragte, ob sieeine Katze gesehen hätte.

»Ja«, antwortete sie. »Dawar eine Katze. Sie hat weiteroben versucht, sich einenWeg durch den Verkehr zubahnen. Eine rote Katze. Siehat ihre Leine hinter sichhergeschleift. Ein Mann hat

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versucht, auf die Leine zutreten, aber die Katze war zuschnell.«

Zuerst übermannte michpures Glücksgefühl. Amliebsten hätte ich die Botindieser guten Nachrichtabgeknutscht. Kein Zweifel,das war Bob! Aber nurSekunden später war ichwieder in Panik. Wer war derKerl, der versucht hatte, Bob

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einzufangen? Was hatte ervor mit meinem Kater? Hatteer Bob noch mehrverschreckt? Vielleicht hattesich mein armer Katerinzwischen irgendwoverkrochen, wo ich ihn niewieder finden würde!

All diese Gedanken spuktenmir beim Weiterlaufen durchden Kopf. Dabei steckte ichden Kopf in jedenverdammten Laden auf dem

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Weg. »Haben Sie eine roteKatze gesehen?« Die meistenVerkäuferinnen wichen beimAnblick eines verstörten,langhaarigen Hünen entsetztzurück. Aber ich erntete nurausdruckslose Blicke oderverständnislosesKopfschütteln. Bestimmthielten sie mich für einenObdachlosen, den der Windversehentlich von der Straßehereingeblasen hatte.

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Nachdem ich diverseGeschäfte abgeklappert hatte,sank meine neu erwachteHoffnung wieder auf denNullpunkt. Ich hatte keineAhnung, wie lange Bob nunschon verschwunden war. Fürmich war die Zeitstehengeblieben. Ich saß festin einem Albtraum, der inZeitlupentempo ablief. Ich warkurz davor, aufzugeben.

Ein paar hundert Meter

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weiter die Regent Streethinunter kam eineSeitenstraße, die zurück zumPiccadilly Circus führte. Vondort aus könnte Bob in zwölfverschiedene Richtungenlaufen: nach Mayfair oderüber die Straße zur St. Jamesoder zum Haymarket. Dannwürde er nie wiederzurückfinden.

Ich wusste nicht weiter.

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Trotzdem steckte ich meinenKopf auch noch in die letzteBoutique vor derSeitenstraße, bevor ich zumPiccadilly Circuszurückkehren würde.

»Haben Sie eine rote Katzegesehen?« Die beidenVerkäuferinnen beobachtetengerade etwas im hinterenLadenbereich. Sie drehtensich zu mir um und ich sahihre ratlosen Gesichter. Aber

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beim Wort »Katze« erhelltensich ihre Mienen.

»Eine rote Katze?«, fragteeine von ihnen.

»Ja, er hat ein Geschirr anmit, mit … blauer Leine.«Meine Gedankenüberschlugen sich.

»Er ist da hinten«, flüstertedie eine und gab mir Zeichen,hereinzukommen und die Türzu schließen.

»Wir haben die Tür

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zugemacht«, erklärte dieandere Verkäuferin, »weil wirAngst hatten, er könneüberfahren werden.«

Und ihre Kollegin ergänzte:»Wir haben gehofft, dass ihnjemand suchen würde –wegen der Leine.«

Sie führten mich vorbei anvielen offenen Schränken, diemit schicken Kleidern gefülltwaren. Ich konnte ein paarPreisschilder entziffern. Da

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kostete ein Teil mehr, als ichin einem Monat verdiente.Und dann sah ich Bob – einkleines, zusammengerolltesFellknäuel in der hinterstenEcke des letzten Schrankes.

In den letzten Minuten, dieauch Stunden gewesen seinkonnten, hatte ich einenfurchtbaren Gedankenverdrängt, der jetzt mit vollerWucht zuschlug: Vielleicht

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wollte er gar nicht zurück zumir. Vielleicht hatte er dieSchnauze voll von mir unddiesem mickrigen Leben, dasich ihm bieten konnte.Vorsichtig näherte ich michdem Schrank. Ich war aufalles gefasst. Was, wenn erbei meinem Anblick wiederdie Flucht ergreifen würde?Mein Herz pochte laut undvoller Angst, als ich langsamin die Knie ging.

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»Hey, Bob! Ich bin’s«,flüsterte ich leise.

Mit einem Klagelaut spranger mir direkt in die Arme.

Laut schnurrend schmiegteer sich an mich und riebseinen Kopf stürmisch anmeiner Wange. Sofort warenall meine Ängste verflogen.

»Hast du mich erschreckt,mein Großer!«, schimpfte ichlachend. »Ich dachte schon,ich hätte dich verloren!«

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Erst als ich hochsah,bemerkte ich, dass uns diebeiden Verkäuferinnenbeobachteten. Eine von ihnenwischte sich verstohlen überdie Wange. Sie hatte Tränenin den Augen.

»Ich bin so froh, dass Siehereingekommen sind«, stießsie mit einem Seufzer aus.»Er ist so ein Süßer. Wirhaben uns schon gefragt, waswir nach Geschäftsschluss mit

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ihm machen sollen, fallskeiner nach ihm fragt.«

Sie kam näher undstreichelte Bob. Wirunterhielten uns noch, bis diebeiden so weit waren, denLaden zu schließen.

»Auf Wiedersehen, Bob«,verabschiedeten sie sich vonihrem Findling. Mit Bob sicherund geborgen auf meinerSchulter, bahnte ich mir einen

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Weg durch die Menge, zurückzum Piccadilly Circus.

Meine Gitarre lag tatsächlichnoch da, wo ich sie achtloshingeschmissen hatte. VorRipley’s wunderbarer Weltstand jetzt wieder einnormaler Wachmann.Vielleicht hatte er ein Augedarauf gehabt, oder einer derSicherheitsleute der U-Bahn-Station. Ein Streifenwagender Polizei stand auch ganz in

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der Nähe. Bob war sehrbeliebt bei den Polizisten.Keine Ahnung, welcher guteSamariter da Wache gehaltenhatte. Egal. Wichtig war nur,dass Bob und ich wiedervereint waren.

Ohne Umschweife suchteich meine Habseligkeitenzusammen, denn ich wolltenur noch nach Hause. Wirhatten heute kaum etwasverdient, aber das juckte mich

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wenig. Zielsicher steuerte ichauf dem Heimweg dennächstenGemischtwarenladen an undkaufte von meinem letztenGeld einen Karabinerhaken.Den befestigte ich sofort anmeinem Gürtel und hängteBobs Leine ein. Ab sofortwaren Bob und ich aufunseren gemeinsamenAusflügen stets miteinanderverbunden, das schwor ich

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mir. Im Bus setzte sich Bobauf meinen Schoß, anstatt wiesonst seinen eigenen Sitzneben mir zu beanspruchen.Mein Kater war oftundurchschaubar, abermanchmal verstand ich ihnauch ohne Worte. Wie indiesem Moment. Wir warenzusammen, und keiner vonuns wollte jemals etwas daranändern.

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10Der Weihnachtskater

In den Tagen und Wochennach dem schrecklichen

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Verschwinden von Bob amPiccadilly Circus waren wirunzertrennlich. Wirklammerten uns aneinanderwie zwei Ertrinkende an einenRettungsring. DieseGeschichte hatte uns ganzschön zugesetzt.

Sie hatte mich auch dazugebracht, lange undausführlich über unsereFreundschaft nachzudenken.Sollte Bob mich je verlassen

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wollen, um wieder in Freiheitauf der Straße – oder woauch immer er sonsthergekommen war – zu leben,dann könnte und sollte ichihm das nicht verwehren.

Ich hatte noch nie darübernachgedacht, was ich tunwürde, wenn Bob eines Tagesnicht mehr glücklich bei mirwäre. Wahrscheinlich würdeich ihn bei der RSPCA oderim Battersea-Heim für Hunde

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und Katzen abgeben. Diehatten ein sehr schönesKatzengehege. Schließlichwollte ich nicht seinGefängniswärter sein. Ichhatte kein Recht, einen gutenFreund wie ihn unglücklich zumachen. Das hätte er nichtverdient.

Aber zum Glück musste icheine solche Entscheidung nietreffen.

Seit er fast verloren

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gegangen wäre, gab es Tage,an denen Bob lieber zu Hauseblieb. Wenn er sich unter dieCouch verkroch, sobald ichsein Geschirr vom Hakennahm, wusste ich, dass ernicht mitkommen wollte. Ichließ ihm seinen Willen. Abermeistens kam er sofortangerannt, strich mir um dieBeine und ließ sichschnurrend sein Geschirr

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anlegen. Aber etwas hattesich geändert. Er ließ michkaum noch aus den Augen,fühlte sich in meiner Näheaber gut aufgehoben. Alswüsste er jetzt, dass ich ihnnie im Stich lassen würde.

Trotz seiner schlechtenErfahrungen mitMenschenmengen war er insolchen Situationen jetztweniger ängstlich als vorher.Vielleicht gaben ihm auch

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meine Vorsichtsmaßnahmenmehr Sicherheit. Seine Leinewar nun immer amKarabinerhaken meinesGürtels festgebunden.Dadurch blieb er in meinerNähe, auch wenn wir uns ineiner Menschentraubefortbewegen mussten. Und erwar anhänglicher denn je.Unsere Freundschaft war aufeine harte Probe gestelltworden – und hatte sie

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bestanden.Trotzdem war unser Leben

kein Zuckerschlecken. Wennman seinen Lebensunterhaltauf den Straßen von Londonverdient, kommt man umbedrohliche Situationen nichtherum. Etwa zwei Wochennach der Begegnung mit demaufgeblasenen Sumo-Monstertrafen wir in Covent Gardenauf eine Gruppe französischerStelzenkünstler. Aus

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Katzenperspektive waren siegigantisch, und mit ihrengruseligen Horrormasken undflatternden Gewändern warensie Bob gar nicht geheuer. Erflüchtete auf meinen Schoß,während die langenVogelscheuchen um unsherumstaksten. Ich konntemich kaum auf das Singenkonzentrieren, weil ichProbleme hatte, die Melodie

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auf der Gitarre beizubehalten.Bobs Schwanz peitschte vorlauter Aufregung hin und her.Immer wieder traf er damitdas Griffbrett meiner Gitarre,sodass ich statt der Saiten nurnoch Katzenhaare zwischenden Fingern hatte.

»Bob, hör auf damit«,schimpfte ich undentschuldigte mich bei zweiTouristen, die bei uns stehengeblieben waren, um

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zuzuhören. Aber die fandenBobs Faxen äußerstunterhaltsam und hieltenmeine Patzer für einen Teilunserer Show. Glaubten diewirklich, man könnte eineKatze dressieren?

Kaum waren dieStelzenkünstlerweitergezogen, rückte Bobwieder von mir ab und machteganz auf cooler Kater. Er hieltmich wohl für seinen

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Bodyguard. Und der war ichauch verdammt gerne.

Als das Weihnachtsfest 2007näher rückte und unser erstesgemeinsames Kalenderjahrzu Ende ging, hatten wir unsprima zusammengerauft. Wirwaren ein eingespieltesTeam. Jeden Morgen, wennich aufstand, saß Bob bereitsin der Küche vor seinerSchüssel und wartete

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geduldig auf seinenDosenöffner. Sobald er seinFrühstück verschlungen hatte,wurden Gesicht und Pfotenfein säuberlich geleckt unddas Fell auf Hochglanz poliert.Danach war meist der Besuchseines Freiluftkistchensangesagt, weil er seinKatzenklo in der Wohnungimmer noch höchst ungernbenutzte. Manchmal öffnete

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ich ihm nur die Wohnungstür,weil sich morgens meistjemand fand, der ihm untendie Haustür öffnete. SeineLieblingsbüsche fand er auchohne mich und dank um diePfote gewickelter Nachbarnauch einen Türöffner für denRückweg.

Nach meinem Frühstück undmeiner Morgentoiletteschnappte ich mir Rucksackund Gitarre, und wir machten

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uns auf den Weg in dieInnenstadt.

Es waren nur noch wenigeTage bis zum 24. Dezember,und die Einkaufsstraßenwaren entsprechend voll. DieLeute waren invorweihnachtlicherSpendierlaune, und Bobwurde im wahrsten Sinne desWortes mit Geschenken undLeckerchen überschüttet.

Es hatte schon immer

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Passanten gegeben, die Bobetwas mitbrachten. Seinerstes Geschenk kam voneiner Büroangestellten, die inder Nähe der James Streetarbeitete. Sie blieb immerstehen, wenn sie an unsvorbeikam, und wirunterhielten uns ein bisschen.Sie war ganz vernarrt in Bob,weil er sie an ihren rotenKater erinnerte, der leidernicht mehr lebte.

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Kurz vor Weihnachten standsie eines Abends mit einemschicken Tütchen aus einemvornehmen Katzengeschäftvor uns. »Ich hoffe, Sie sindmir nicht böse, aber ich habeBob etwas Schönesmitgebracht«, strahlte sie.

»Natürlich nicht«,versicherte ich ihr.

»Es ist nur eine Kleinigkeit«,betonte sie unnötigerweise

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und fischte eine kleineSpielmaus aus der Tüte.

»Da ist ein bisschenKatzenminze drin«, erklärtesie mir. »Aber nur ganzwenig, keine Bange!«

Dabei war mir nicht wohl.Katzenminze ist einSuchtmittel. Ich habe schonviel darüber gelesen underinnere mich, dass es Katzenganz verrückt macht, wennsie einmal davon abhängig

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sind.Schlimm genug, dass ich

mich damit herumquälte, vonden Drogen loszukommen.Ein süchtiger Kater hätte mirgerade noch gefehlt. Aber siemeinte es nur gut und wollteBob eine Freude machen.Und ich wollte sie nichtenttäuschen. Sie blieb eineWeile stehen und genoss denAnblick von Bob, wie er mitder Maus spielte.

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Je schlechter das Wetterwurde, desto mehr praktischeGeschenke wurden für Bobabgegeben. Eines Tagessteuerte eine verdammt gutaussehende Russin mitbreitem Lächeln auf uns zu.

»Hallo, ihr zwei«, begrüßtesie uns. »Das Wetter ist soschlecht und es ist so kalt. Ichhabe Bob etwas zumWarmhalten gestrickt.« Siezog einen wunderschönen,

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hellblauen Schal inKatzengröße aus ihrerHandtasche.

Ich brachte nicht mehr alsein verblüfftes »Wow!«hervor. »Das ist toll!«,bedankte ich mich dann undwickelte Bob den Minischaldirekt um den Hals. Er passteperfekt, und mein Ladykillersah wirklich gut damit aus.Unsere edle Spenderin war

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auch ganz angetan. ZweiWochen später tauchte siewieder auf, diesmal mit einemzum Schal passenden, blauenMäntelchen. Ich bin zwar keinMode-Experte, wie jeder leichterkennen kann, aber sogarmir war klar, dass Bob indieser Kombination einfachfantastisch aussah. Esdauerte nicht lange, und dieLeute standen Schlange, umBob in seinem modischen

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Outfit zu fotografieren. Wennich für jedes Foto Geldverlangt hätte, wäre ichinzwischen reich.

Seither bekam Bob immermehr selbstgestrickte Schalsund Mäntelchen geschenkt.

Eine Frau stickte sogar denNamen Bob auf seinen von ihrgestrickten Schal. Bob wurdezum Cat-Model. Er führte jedeneue Kreation vor, die wir vonseinen Fans geschenkt

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bekamen. Das Wort Catwalkbekam durch ihn eine völligneue Bedeutung.

Diese Entwicklung bestätigtemeine schon lang gehegteVermutung: Ich war nicht derEinzige, der Bob großeZuneigung entgegenbrachte.Fast jeder wollte sein Freundsein. Ich beneidete ihn einwenig um diese besondereGabe. Mir ist es noch nieleichtgefallen, Freunde zu

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finden.Aber niemand war mehr

verliebt in Bob als meine Ex-Freundin Belle. Wir warenimmer noch gute Freunde,verstanden uns besser als inder Zeit, als wir zusammengewesen waren. Sie besuchteuns oft. Angeblich, um mit mirzu reden, aber ich glaube, siekam vor allem wegen Bob.Die beiden konnten

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stundenlang auf dem Sofamiteinander spielen. Bob warauch ganz verrückt nach ihr.

Kurz vor Weihnachten standsie eines Tages mit einerPlastiktüte vor meiner Tür.»Was hast du da?«, fragte ichmisstrauisch.

»Das ist nicht für dich,sondern für Bob!«, wies siemich zurecht.

Bob hatte friedlich aufseinem Lieblingsplatz unter

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der Heizung gelegen. Als erseinen Namen hörte, schosssein Kopf mit einemfragenden »Grrrk?« hoch.

»Komm her, Bob, ich habeeine Überraschung für dich!«,lockte Belle den Kater undschmiss sich samt Tüte aufdie Kuschelcouch. Wie alleKatzen war Bob sehrneugierig. Auch wenn erscheinbar unbeeindruckt zuihr hinüberschlenderte, sein

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langer Hals beimAbschnüffeln der Tüte strafteihn Lügen. Belle lachte undzog zwei Mini-T-Shirts hervor.

Auf einem prangte das Bildvon einem süßenKatzenbaby. Das andere warrot mit grünen Umrandungen.Darauf stand in weißen,großen Buchstaben »SantaPaws« und darunter war derAbdruck einer weißenKatzenpfote.

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»Ist das cool, Bob!«, rief ichbeeindruckt. »Der perfekteWärmespender für dieWeihnachtszeit in CoventGarden. Damit würdest dusogar das Herz vonEbernezer Scroogeerweichen!«

Und genau so war es.Ich weiß nicht, ob es an der

Weihnachtsstimmung oder anBobs niedlichem Santa-Paws-

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T-Shirt lag, jedenfalls warenalle entzückt über denWeihnachtskater.

»Oh, sieh mal, da ist SantaPaws!«, bekamen wir ständigzu hören. Viele Leute bliebenstehen und warfen ein paarMünzen in meinenGitarrenkasten. Anderewollten unbedingt Bobbeschenken.

Wie diese elegante Dame,die gar nicht mehr aufhören

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wollte, Bob zu kraulen. »Wasfür ein außergewöhnlicherKater!«, wandte sie sich nacheiner Weile an mich. »Waswünscht er sich zuWeihnachten?«

»Keine Ahnung, Madam«,antwortete ichwahrheitsgemäß.

»Na, dann frage ich anders:Was könnte er brauchen?«

»Hmm, ein zweites Geschirrmit Leine wäre nicht schlecht.

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Oder ein wirklich warmerMantel für die eisigen Tage.Oder Spielsachen. Jedes Kindwünscht sich Spielzeug zuWeihnachten, nicht wahr?«

»Alles klar.« Sie nickte undverschwand, nicht ohne Bobnoch mal innig über denRücken gestreichelt zu haben.

Ich dachte nicht weiterdarüber nach, aber nach einerStunde war sie wieder da. Mitglücklichem Lächeln

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überreichte sie mir einenhandgestricktenWeihnachtssocken mitKatzenbild vorne drauf. Ichwarf einen Blick hinein. Er warbis obenhin vollgestopft mitallem, was ein Katzenherzbegehrt. Futter, Spielzeug undvieles mehr.

»Sie müssen mir aberversprechen, den Sockennicht vor Weihnachten

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auszupacken. Legen Sie ihnbitte für Bob bis zurBescherung unter denChristbaum.« Ich hatte nichtdas Herz, ihr zu sagen, dassich mir weder Christbaumnoch Weihnachtsdekorationleisten konnte, um unserZuhause festlich zuschmücken. Mehr als einelektrisch beleuchteter Mini-Baum aus Plastik, den ich ineinem Secondhandladen

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erstanden hatte, war nichtdrin.

Ein paar Tage späteränderte ich jedoch meineMeinung. Sie hatte recht. Ichsollte mir dieses Jahr einrichtiges Weihnachtsfestgönnen. Schließlich hatte ichetwas zu feiern: Ich hatte Bobund war nicht mehr allein!

Seit Jahren hatte mirWeihnachten nichts mehrbedeutet; ich fand, es gab für

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mich keinen Grund, diesesFest zu feiern. Ich gehörte zuden Leuten, die Weihnachteneher fürchten.

In den letzten zehn Jahrenhatte ich Weihnachten meistin Notunterkünften verbracht.Die Hilfsorganisationenmeinten es gut mit uns, unddie weihnachtlichenFestessen waren durchwegsfröhliche Veranstaltungen.Aber ich hatte an diesen

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Abenden immer einen Kloß imHals, den ich nur mühsamunterdrücken konnte. Weilmich dieses Fest immer daranerinnerte, was mir fehlte: einZuhause und eine Familie. Esführte mir »alle Jahre wieder«schmerzlich vor Augen, wiesehr ich mein Lebenverpfuscht hatte.

Einmal habe ich Heiligabendauch allein verbracht. Da war

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es noch schwerer, zuvergessen, dass meineFamilie am anderen Ende derWelt lebte. Zumindest derGroßteil meiner Familie. Einanderes Mal war ich beimeinem Vater. Nachdem ichein Jahr von der Bildflächeverschwunden war und aufder Straße gelebt hatte, hieltich wieder losen Kontakt zuihm. Manchmal rief ich ihn an,und diesmal lud er mich ein,

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Weihnachten mit ihm undseiner neuen Familie inseinem Haus im Süden vonLondon zu verbringen. Es warkein schöner Abend. MeinVater ließ mich deutlichspüren, was er von mir hielt.Ich konnte es ihm nichtverdenken. Ich war kein Sohn,auf den man stolz seinkonnte.

Ich war dankbar für das guteEssen und vor allem für die

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Gesellschaft. Trotzdem sindwir uns nicht einmal andiesem Abendnähergekommen. Wir habendiese Art von »Familienfest«nie wiederholt.

Aber diesmal war allesanders. Ich lud Belle ein, amHeiligabend auf einen Drinkvorbeizukommen. Für denersten Weihnachtstag hatteich mich in Unkosten gestürztund fertig zubereitete

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Truthahnbrust mit sämtlichenBeilagen gekauft. Ich konntenicht richtig kochen und mirfehlten die nötigenKüchenutensilien. Für Bobhatte ich ein paar besondereLeckerbissen und seineLieblingssorte »Hühnchen infeiner Soße« besorgt.

Wir standen relativ früh aufan diesem Tag und machtengleich einen kleinen

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Spaziergang, damit Bob seineGeschäftchen erledigenkonnte. Dabei trafen wirmehrere Nachbarn, die aufdem Weg zu Verwandtenwaren. Wir wünschten uns»Frohe Weihnachten« undschenkten uns ein fröhlichesLächeln. Diese flüchtigenBegegnungen gaben mir einwarmes Gefühl derZugehörigkeit. Kein Vergleichmit den Weihnachtsfesten der

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letzten Jahre.Als wir nach Hause kamen,

bekam Bob seine Santa-Socke. Er hatte sie schon vorTagen entdeckt und wusstegenau, dass sie für ihn war.Ich holte jede Überraschungeinzeln für ihn hervor. Dawaren Leckerchen,Spielmäuse, Bälle mitGlöckchen und kleine, weicheKissen, die mit Katzenminzegefüllt waren. Er war

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überglücklich und fing sofortan, mit seinem neuenSpielzeug zu spielen. Erbenahm sich wie einaufgeregtes Kind unter demWeihnachtsbaum. Es war einhinreißender Anblick, und ichwar glücklich, ihn so zusehen.

Gegen Mittag machte ichden Truthahn warm. Dannsetzte ich uns beiden einWeihnachtsmützchen auf,

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gönnte mir eine Dose Bierund machte es mir für denRest des Tages vor demFernseher gemütlich. Es warmein schönstesWeihnachtsfest seit Jahren.

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11Die Verwechslung

Im Frühling und Sommer desJahres 2008 wurde es immer

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schwieriger, ja fast unmöglich,in London als Straßenmusikerzu überleben.

Dafür gab es gleich mehrereGründe. Die meisten Leuteglauben, dassStraßenkünstler nicht von deraktuellen Wirtschaftslageabhängig sind. Aber da irrensie sich gewaltig. Die schwereWirtschaftskrise in diesemJahr machte auch vor mir undmeinen Straßenkünstler-

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Kollegen nicht Halt. All diegutherzigen Leute, die bisherüber das Kleingeld, das sieuns in den Gitarrenkastenschnippten, nicht weiternachdenken mussten, hattenplötzlich nichts mehr für unsübrig. Ein paar nette»Stammkunden« sprachen essogar aus. Sie hatten Angst,ihre Arbeit zu verlieren. Wassollte ich da noch sagen? DieKonsequenz für mich war,

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mehr Stunden auf der Straßezu spielen. Trotzdemverdiente ich meist wenigerals früher, um Bob und michüber Wasser zu halten.

Das hätten wir nochverkraftet, aber gleichzeitigstarteten die Behörden einenerbitterten Kleinkrieg gegenalle Straßenkünstler, die eswagten, außerhalb ihreszugeteilten Stadtteilsaufzutreten. Keine Ahnung,

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warum sie gerade in dieserschweren Zeit damit anfingen.Ich zerbrach mir nur noch denKopf darüber, wie ich mit Bobweiter überleben sollte.

Die meisten der CoventGuardians waren bisher ganzumgänglich gewesen.Natürlich hatte ich öfter Ärgermit den Strengsten von ihnen,aber mehr als denobligatorischen Platzverweis

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gab es bisher nicht zubefürchten. Doch ihrUmgangston änderte sichjetzt schlagartig. Siekonfiszierten unserHandwerkszeug, um ernstgenommen zu werden. Ichglaube nicht, dass sie neueBefugnisse hatten; es warwohl eher der Befehl vonoben, härter durchzugreifen.

Außerdem hatten sieVerstärkung bekommen.

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Einer dieser neuen Radikalenhatte schon ein paar Malgedroht, mir die Gitarrewegzunehmen. Zum Glückbin ich nicht auf den Mundgefallen und konnte es ihmwieder ausreden. Jedes Malversprach ich, mir im Bereichder Straßenmusiker einenPlatz zu suchen oder nachHause zu gehen. Aber ichgehorchte nur für eine halbeStunde, dann schlich ich mich

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wieder zurück in die JamesStreet.

Daraus wurde einzermürbendes Versteckspiel,bis mir irgendwann dieVerstecke ausgingen. Dieneuen Covent Guardianshatten Argusaugen; siespürten mich überall auf. Fasttäglich wurde ich verscheuchtoder verwarnt. Es laugte michaus. Meine Zeit alsStraßenmusiker ging zu Ende,

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auch wenn ich es noch nichtwahrhaben wollte. Bis einEreignis im Mai das Fass zumÜberlaufen brachte.

Alles begann damit, dass mirauch die Mitarbeiter der U-Bahn-Station Covent Gardenverstärkt zusetzten. Sie warenwirklich extrem schlecht aufmich zu sprechen. Ich weißnicht, warum sie sich anmeiner Musik gegenüber der

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U-Bahn-Station so störten.Sie überquerten extra dieStraße, nur um mich zubeschimpfen.

Das hätte mich nicht weitergestört, denn Pöbeleiengehören zu meinem Job. Abersie hatten sich gegen michverschworen und einen Planausgeheckt, um mich fürimmer zu vertreiben: mit Hilfeder Polizei. Deshalb hatte ichjetzt auch noch die

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Ordnungshüter am Hals, diejedes Mal umständlich meinePapiere überprüften und eineVerwarnung aussprachen. Ichreagierte auf diese höhereGewalt wie immer: Ich packtezusammen, versprach, niewiederzukommen, um genaudas zu tun, sobald die Luftrein war. Als Vergehen sahich das nicht, denn schließlichschadete ich dochniemandem, oder?

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Aber eines Nachmittagseskalierte die Situation.

Bob und ich waren wie immerauf dem Weg nach CoventGarden. Wir hatten damalsgerade Besuch von Dylan,den ich noch aus der Bandkannte. Man hatte ihm fristlosdie Wohnung gekündigt, weiler sich geweigert hatte, einehorrende Mieterhöhungseines neuen, skrupellosen

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Vermieters zu akzeptieren. Erbrauchte für ein paar Wochenein Dach über dem Kopf, biser etwas Neues gefundenhatte. Da ich selbst schon ineiner solchen Notlagegewesen war, konnte ich dasnicht ablehnen. Er schlief aufmeinem Sofa.

Zuerst war Bob gar nichtbegeistert von unseremneuen Mitbewohner.

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Wahrscheinlich hatte erAngst, ich würde ihm nichtmehr genug Aufmerksamkeitschenken, wenn da noch einZweibeiner rumhing. Aber dashielt nicht lange an, dennDylan war ein großerTierfreund, und Bob hatschnell begriffen, dass ermehr Zuwendung bekamdenn je. Bob stand sehr gernim Mittelpunkt.

An diesem Nachmittag

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wollte Dylan mit uns in dieStadt kommen und sichCovent Garden ansehen. Eswar sonnig und warm, genaudas richtige Wetter für einenAusflug. Während ich anmeiner Lieblingsecke in derJames Street meine Gitarreauspackte, spielte er mit Bob.Rückblickend bin ich immernoch froh und dankbar, dassDylan an diesem Tag dabeiwar.

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Gerade als ich mir denGitarrenriemen über den Kopfzog, bog mit hoherGeschwindigkeit einPolizeibus um die Ecke undhielt mit quietschenden Reifenvor uns am Straßenrand. Dreiuniformierte Beamte sprangenheraus und kamen zielstrebigauf uns zu.

»Was ist denn jetzt los?«,fragte Dylan verdattert.

»Keine Ahnung, die übliche

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Verwarnung, nehme ich an«,antwortete ich noch ganzgelassen. Natürlich würde ichihnen wieder versprechen,hier nicht mehr zu spielen.

Aber diesmal fuhren sieschwerere Geschütze auf.

»Okay, Sie! Sofortmitkommen!«, sagte einer derdrei Polizisten streng.

»Wieso das denn?«, fragteich verdattert.

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»Wir verhaften Sie wegendes Verdachts auf Nötigung.«

»Was? Wen soll ich denngenötigt haben? Was,verdammt noch mal …« Sieließen mich gar nichtausreden. Einer hielt michfest, der zweite las mir meineRechte vor, und der drittelegte mir Handschellen an.

»Wir klären das auf derWache! Wir nehmen IhreSachen mit, und Sie steigen

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in den Bus, bevor wirungemütlich werden«, drohtemir einer der drei Beamten.

»Und was wird aus meinemKater?«, fragte ich entsetztund deutete auf Bob.

»Wir haben Hundezwingerauf der Wache, da stecken wirihn gerne rein«, antworteteein anderer ungerührt. »Außeres gibt jemanden, der ihnmitnehmen kann.«

In meinem Kopf drehte sich

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alles. Ich verstand das allesnicht. Es dauerte ein paarSekunden, bis mir Dylanwieder einfiel. Er stand etwasabseits und sah betreten weg.Ganz offensichtlich wollte ernicht in die Sachehineingezogen werden.

»Dylan, bitte kümmere dichum Bob!«, rief ich ihm zu.»Bring ihn nach Hause. DieSchlüssel sind im Rucksack!«

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Erleichtert sah ich, dass ernickte. Er hob Bob hoch undsprach beruhigend auf ihn ein.Bob wirkte total verstört. Erverstand nicht, warum michdie Männer von ihm trennten.Durch das vergitterteRückfenster des Bussesbeobachtete ich die kleinerwerdende Silhouette vonDylan und Bob auf demGehweg, bis die Entfernungsie verschluckte.

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Sie brachten mich zurPolizeiwache. Ich wussteimmer noch nicht, worum eseigentlich ging. Ein Polizistschubste mich unsanft an denEmpfang, wo mir einSchreibtischhengst befahl,meine Taschen zu leeren.Dann verfrachteten sie michin eine Zelle. Dort sollte ichwarten, bis ein Polizeibeamterfür mich Zeit hätte.

Die karge Zelle war mit

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Graffiti übersät, und derFußboden stank nacheingetrocknetem Urin. DerGeruch rief unangenehmeErinnerungen in mir wach. Eswar nicht meine ersteBegegnung mit einerPolizeiunterkunft. Vor meinemDrogenentzug war ich öfterwegen Bagatell-Diebstählenverhaftet worden.

Wer auf der Straße lebt oder

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ein Drogenproblem hat,versucht immer irgendwieGeld aufzutreiben.Ladendiebstahl ist dieeinfachste Lösung. MeinSpezialgebiet war Fleisch. Ichklaute Lammkeulen und teureFiletsteaks. Jamie OliverSteaks. Lammschenkel.Geräucherten Schinken. DasZeug hatte den höchstenWiederverkaufswert. Nur keinHühnerfleisch. Das war zu

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billig und brachte nichts ein.Für hochwertiges Fleischbekam ich die Hälfte desausgezeichnetenLadenpreises. Pubs sindwillige Abnehmer für dieseWare. Wenn sie teuresFleisch billig kriegen können,nehmen sie es. Pubs machengern solche Geschäfte, dasweiß jeder.

Zum ersten Mal habe ich2001 oder 2002 gestohlen,

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um meine Drogen bezahlenzu können. Davor habe ichdafür gebettelt. Ich hattebereits ein Methadon-Programm hinter mir, waraber nur kurzfristig clean.Nach diesem ersten Entzugsteckten sie mich in eineschäbige Notunterkunft, in derjeder auf Drogen war. Allesdort war schmuddelig: dieZimmer, die Bettlaken, dieDuschen und vor allen Dingen

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die Bewohner. Es war einunerträglicher undmenschenunwürdiger Ort.Bevor ich mich versah, warich rückfällig geworden.

Ich erinnere mich noch gutdaran, wie ich zum ersten Malbeim Stehlen erwischt wurde.Es war bei Marks andSpencer’s an der AngelStation in Islington. Ichachtete sehr darauf, bei

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meinen kleinen Raubzügennicht aufzufallen. Ich zog michgut an und bändigte meineRockmusiker-Mähne miteinem Lagerfeld-Zopf. Ich sahaus wie ein Postbote, dernach getaner Arbeit kurz inden Supermarkt schlüpft, umsich auf dem Heimweg nochschnell mit Milch zuversorgen. Aussehen waralles. Ich hatte sogar einePostbotentasche mit dem

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Royal-Mail-Abzeichen drauf,die ich mir lässig über dieSchulter hängte. Sie verliehmir den nötigenVertrauensbonus, sodass keinMensch von mir Notiz nahm.Heute ist diese Tasche keinFreifahrtschein mehr, aberdamals war es eine guteMasche, um unbehelligt zuklauen. Wäre ich mit einemRucksack oder einerEinkaufstasche

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herumgewandert, hätte ichkeine Chance gehabt, auchnur einen Kaugummi aus demLaden zu schmuggeln. Aberan diesem Tag bei Marks andSpencer’s haben sie michgeschnappt. Mit Fleisch imWert von 120 Pfund.

Auf der Tolpuddle Street imStadtteil Angel kam ich zumersten Mal inPolizeigewahrsam. Sie habenmich wegen Diebstahls zu 80

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Pfund Strafe verdonnert. Aberich wurde nicht verhaftet, weiles mein erstes Vergehen war.

Leider war mir dieserZusammenstoß mit derPolizei keine Lehre. Die Suchtließ mir keine andere Wahl –irgendwie musste ich an Geldkommen. Ich brauchte meinetägliche Dosis Heroin undmanchmal auch ein bisschenCrack. Kein Geld für Drogen

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zu haben ist viel schlimmerals das Risiko, erwischt zuwerden. Niemand will insGefängnis. Aber die Sucht iststärker als alles andere.Jegliche Schuldgefühlewerden von dieserunkontrollierbaren Gierausgelöscht. Man versuchtsich rauszureden, man belügtsich und andere. Niemandglaubt dir – weil du dir selbstnicht mehr glauben kannst.

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Wenn du ganz unten bist,kommst du nicht mehr hoch.

Die Straßenmusik war meineRettung. Es war eine legaleEinkommensquelle. Ich hattekeine kriminellenVerzweiflungstaten mehrnötig. Und trotzdem saß ichjetzt wieder in einer Zelle. Daswar ein Schlag in dieMagengrube.

Eine halbe Stunde ließen sie

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mich in der Zelle schmoren,dann öffnete sich die Tür, undein Beamter in weißemDiensthemd gab mirHandzeichen, mitzukommen.»Los, komm schon«, bellte er.

»Wohin bringen Sie mich?«,wollte ich wissen. »Siewerden schon sehen«, wardie unbefriedigende Auskunft.Er schubste mich in einenkleinen, kahlen Raum miteinem Tisch und ein paar

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Plastikstühlen. Zwei Beamtewarteten schon auf mich. Siemachten einen ziemlichgelangweilten Eindruck.

Als sie anfingen mich zuverhören, bekam ich es mitder Angst zu tun.

»Wo waren Sie gesternAbend gegen 18.30 Uhr?«,fragte einer.

»Ähhm, ich habe in CoventGarden Gitarre gespielt«,

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antwortete ich.»Wo?«»In der James Street

gegenüber vom U-Bahn-Ausgang«, antwortete ichwahrheitsgemäß.

»Haben Sie die U-Bahn-Station irgendwann an diesemAbend betreten?«, fragte micheiner der beiden Polizisten.

»Nein, ich gehe nie in dieBahnhofshalle, ich fahreimmer mit dem Bus«, gab ich

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Auskunft.»Wie kommt es dann, dass

wir mindestens zweiAugenzeugen haben, diebehaupten, dass Sie in der U-Bahn-Station eineKontrolleurin beschimpft undbespuckt haben?«

»Keine Ahnung«, antworteteich entsetzt.

»Unsere Zeugen habengesehen, wie Sie mit demAufzug nach oben kamen und

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dann versuchten, über dasDrehkreuz zu springen, weilSie keine Fahrkarte hatten!«

»Also, wie gesagt, das warich ganz sicher nicht!«, wehrteich ab.

»Und als eine MitarbeiterinSie ansprach, wurde diesevon Ihnen beschimpft …«

Ich saß da und schüttelteden Kopf. Das konnte dochalles nicht wahr sein!

»… dann wurden Sie von

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der Mitarbeiterin zum Schaltergeführt und aufgefordert, eineFahrkarte zu kaufen«,ergänzte der andere Beamte.

»Sie kauften also gegenihren Willen eine Fahrkarteund spuckten dann auf dasSchalterfenster.«

Bei dieser lächerlichenAnschuldigung platzte mir derKragen.

»So ein Blödsinn! Ich habe

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es bereits gesagt: Ich warweder gestern Abend nochsonst irgendwann in dieseroder sonst einer U-Bahn-Station. Ich fahre niemals mitder U-Bahn. Mein Kater undich fahren immer undausschließlich mit dem Bus!«

Die beiden Polizeibeamtenstarrten mich ungläubig an.Ihren Blicken nach waren sieüberzeugt, dass ich sie anlog.Dann fragten sie, ob ich

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meine Aussage zu Protokollgeben wolle. Ich gab an, dassich den ganzen Abenddraußen vor der Angel StationGitarre gespielt hatte unddass die Bilder derÜberwachungskameras diesbestätigen würden.Währenddessen spielten sichin meinem Hinterkopf ganzandere Szenarien ab. MeinHerz raste vor Angst und ichkonnte nur hoffen, dass die

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beiden Bullen meine Paniknicht bemerkten.

Vielleicht war das eineFalle? Wenn nun jemand dieÜberwachungsbilder desVortages manipuliert hatte?Was passierte, wenn dieseGeschichte vor Gerichtlandete und meine Aussagegegen die von dreivertrauenswürdigenAngestellten der Londoner U-Bahn-Gesellschaft stand?

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Aber meine größte Sorgegalt Bob.

Was würde aus ihm, wennich ins Gefängnis musste?Wer sollte sich um ihnkümmern? Würde er beiFremden bleiben oderabhauen und in den Straßenvon London verloren gehen?Könnte er allein auf derStraße noch überleben? Ichbekam pochende

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Kopfschmerzen von all diesenschrecklichen Gedanken.

Sie behielten mich nochmehrere Stunden auf demRevier. Ich verlor jeglichesZeitgefühl. Der Verhörraumhatte kein Fenster, und ichhatte keine Ahnung, ob esdraußen noch hell war oderschon dunkel. Irgendwannkam eine Polizistin inBegleitung eines schlechtgelaunten männlichen

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Kollegen herein.»Ich brauche einen DNA-

Test«, informierte sie mich. IhrBegleiter baute sich mitverschränkten Armen in einerEcke auf und starrte michböse an.

»Kein Problem«, gab ich zurAntwort und ignorierte ihrenWachhund. Mein Gewissenwar rein. »Was soll ich tun?«,fragte ich sie.

»Einfach sitzen bleiben und

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den Mund aufmachen. Ichnehme mit diesem Stäbchenetwas Speichel aus IhremMund«, erklärte sie mir.

Sie öffnete einen kleinenKoffer, der voller Tupfer undTeströhrchen war.

»Mund bitte weit öffnen«,befahl sie, und ich fühlte michplötzlich wie beim Zahnarzt.Aber die Prozedur war langenicht so schmerzhaft. DieBeamtin steckte mir ein

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langes Wattestäbchen in denMund und drehte es ein paarMal an meinerWangeninnenseite.

»Das war’s auch schon!«Sie verschloss dasWattestäbchen in einem ihrerTeströhrchen, schrieb meinenNamen auf einen Aufkleberund verstaute es in ihremKoffer.

Kurz darauf durfte ich

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endlich gehen. Am Empfangbekam ich den Inhalt meinerTaschen wieder und musstedafür unterschreiben.Außerdem musste ich einenSchriftsatz unterzeichnen, dermich darauf hinwies, dass ichauf Bewährung entlassen war.Außerdem verpflichtete ichmich mit meiner Unterschrift,in zwei Tagen wieder zuerscheinen.

»Und wann werde ich

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wissen, ob man michanklagt?«, fragte ich denBeamten hinter dem Tresen.Eigentlich erwartete ich keineAntwort. Aber ich bekam dieAuskunft, dass dies in dennächsten beiden Tagengeklärt würde.

»Echt jetzt?«, fragte ichungläubig nach.

»Höchstwahrscheinlich«,bestätigte er mir.

Ich wusste nicht, ob ich mich

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darüber freuen oder davorfürchten sollte. Zumindestwürde ich schnell erfahren, obich ins Gefängnis müsste odernicht. Bei dem Gedanken,eventuell weggeschlossen zuwerden – noch dazu füretwas, was ich definitiv nichtgetan hatte – lief mir ein kalterSchauer über den Rücken.

Als ich wieder auf der Straßestand, fand ich mich in einer

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stockdunklen Nebenstraßeder Warren Street wieder. Icherkannte die Umrisse vonmehreren GruppenObdachloser, die – verstecktin Toreinfahrten – ihrNachtlager aufgeschlagenhatten.

Es war kurz vor 23 Uhr. Erstgegen Mitternacht erreichteich die U-Bahn-HaltestelleSeven Sisters. Es waren nur

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noch Betrunkene undNachtschwärmer unterwegs,die um diese Zeit aus denPubs geworfen wurden.

Als ich endlich zu Hauseankam, atmete ich erleichtertauf. Dylan sah fern, und Bobhatte sich auf seinemLieblingsplatz unter derHeizung zusammengerollt.Kaum hatte ich dieWohnungstür aufgeschlossen,sprang er auf und kam

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federnden Schrittes auf michzu gelaufen. Dabei sah ermich mit schief gelegtem Kopferwartungsvoll an, als wollteer sagen: »Na, wo kommst dudenn jetzt her?«

»Hallo, mein Freund, allesokay?«, fragte ich, währendich in die Knie ging, um ihn zustreicheln. Er sprang sofort anmir hoch und rieb seinen Kopfan meiner Wange.

Dylan verschwand in der

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Küche. Als er zurückkam,reichte er mir wortlos einekalte Dose Bier, frisch ausdem Kühlschrank.

»Ah, das brauche ich jetzt!Vielen Dank!«, seufzte ich,riss die Dose auf undgenehmigte mir einen großenSchluck.

Wir saßen noch langezusammen und redeten.Während Bob selig übermeine Rückkehr auf meinem

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Schoß schlief, zerbrachensich Dylan und ich den Kopfdarüber, was da heutegelaufen war. Auch wenn diegesamte U-Bahn-Belegschaftnicht gerade glücklich übermeine Auftritte alsStraßenmusiker vor derJames Station war, konnte ichnicht glauben, dass sie michfür ein Verbrechen büßenlassen würden, das ich nicht

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begangen hatte.Dylan versuchte mich zu

beruhigen: »Nicht mal diewürden es schaffen, deineDNA so zu manipulieren, dasssie mit der auf demSchalterfensterübereinstimmt!«

Da hatte er zwar recht, aberich war trotzdem ziemlichverunsichert.

In dieser Nacht konnte ichnicht schlafen. Die Verhaftung

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hatte mich mehrmitgenommen, als ich dachte.Egal, wie oft ich mir vorsagte,dass alles gut gehen würde,ich konnte die dunklenVorahnungen nichtabschütteln. Ich sah esbuchstäblich vor mir, wie meinmühsam aufgebautes»normales« Lebenzusammenbrach, wie einKartenhaus beim erstenLuftzug. Eine innere Stimme,

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die ich nicht abstellen konnte,raunte: »War’s das? Stürzt dujetzt wieder ab?« Ich fühltemich so hilflos und wütend –und ich hatte eine Scheiß-Angst.

Am nächsten Tag machte icheinen großen Bogen umCovent Garden. Bob und ichspielten in der Neal Street undversuchten noch zwei weiterePlätze in der Nähe der

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Tottenham Court Road. Aberich war nicht bei der Sache.Dauernd musste ich darandenken, was am nächstenTag bei meinem Termin aufder Polizeistation passierenwürde. Auch in der folgendenNacht fand ich wenig Schlaf.

Mein Termin auf derPolizeistation war um zwölfUhr mittags. Ich fuhr früh los,denn ich wollte nicht zu spät

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kommen und die Beamtennoch mehr verärgern. Bobließ ich zu Hause, nur für denFall, dass es wieder Stundendauern sollte. Meinfeinfühliger kleinerMitbewohner war genausozappelig wie ich. Er spürte,dass ich nervös war, vorallem, weil ich mein Frühstückim Stehen einnahm. Ichkonnte einfach nicht stillsitzen. Wie ein eingesperrter

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Tiger lief ich in der Küche aufund ab, während ich meinenToast hinunterwürgte. Bob liefimmer hinter mir her oderzwischen meine Beine,sodass ich mehr als einmalstolperte.

»Keine Angst, Bob«,verabschiedete ich mich vonihm. Auf sein fragendes»Krrrk?« versicherte ich ihm:»Ich bin bald wieder da.« Ichwollte ihn nicht noch mehr

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beunruhigen. Wenn ich mirnur so sicher wäre, wie ichklang!

Ich brauchte eine Weile, umdie Polizeistation wieder zufinden, die sich in einerkleinen Gasse parallel zurTottenham Court Roadversteckte. Hingefahren warich in einem Polizeibus, undals ich rausgekommen war,war es finstere Nachtgewesen. Da war es nicht

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weiter verwunderlich, dass ichsuchen musste. Trotz allemwar ich zwanzig Minutenfrüher da. Bis zu meinemTermin stand und saß ich aufdem Korridor herum, unfähig,mich auch nur auf eineneinzelnen Gedanken zukonzentrieren.

Endlich wurde ich in einenRaum gebeten, in dem zweiBeamte auf mich warteten:

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ein Mann in den Vierzigernund eine jüngere Frau.

Auf dem Tisch vor denbeiden türmten sich Akten, dienichts Gutes verhießen.Hatten die etwa alles übermeine Vergangenheitausgegraben? Gott alleinweiß, welche Leichen indiesem für mich nebulösenKeller meiner Drogenzeit zufinden waren.

Der ältere Mann teilte mir

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ohne Umschweife mit, dassdie Vorwürfe gegen michfallen gelassen wurden.

» D e r DNA-Test war wohlnegativ? Mein Speichel hatnicht zu dem am Schaltergepasst, was?« Die guteNachricht hatte mir wiederLeben eingehaucht und einePortion meines altenSelbstbewusstseinszurückgegeben.

Er gab mir keine Antwort,

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sondern sah mich nur mit derschmallippigen Andeutungeines Lächelns an. Er durftedazu nichts sagen, daswusste ich. War auch nichtnötig. Sie mussten jetzt meineVersion der Geschichteglauben. Jemand von den U-Bahn-Mitarbeitern hatteversucht, mich zuverleumden, zum Glück ohneErfolg.

Sie ließen mich nur kurz

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durchschnaufen. Dann zogensie ihr Ass aus dem Ärmel.Die junge Beamtin teilte mirmit, dass ich stattdessenwegen »illegalem Musizierenauf der Straße« oder, um esformell auszudrücken, wegen»Belästigung« angeklagtwürde.

Sie schoben mir ein BlattPapier unter die Nase undwiesen mich darauf hin, dass

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ich in einer Woche bei Gerichtzu erscheinen hatte.

Total erleichtert verließ ichdas Polizeirevier.»Belästigung« war einOrdnungsdelikt, keinVergleich mit Nötigung. Mitein bisschen Glück käme ichmit einer kleinen Geldstrafedavon, sozusagen alserzieherischer Klaps auf dieFinger. Bei Nötigung hätte ichschlechte Karten gehabt. Das

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ist wie versuchteKörperverletzung, einschweres Vergehen, dasentsprechend bestraft wird.Dafür hätte ich tatsächlich imKnast landen können. DasGanze war gut ausgegangen,so musste ich es sehen undso wollte ich es sehen.Trotzdem war ich sauer überdie Ungerechtigkeit, die mirda widerfahren war. DiePolizei hatte mir das Protokoll

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ausgehändigt, und es gabüberhaupt keine Ähnlichkeitzwischen mir und dem vonZeugen beschriebenenSpucker. Ich nahm mir vor,diese Papiere aufzuheben.Vielleicht konnte ich siewegen unrechtmäßigerVerhaftung verklagen.

Von Erleichterung beflügelt,machte ich mich auf denHeimweg. Ich hatte geradenoch mal die Kurve gekriegt.

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Ich wusste nur noch nicht,wohin sie führen würde.

Jetzt musste ich nur noch denGerichtstermin überstehen.Deshalb fuhr ich in dennächsten Tagen zu einemBürger-Beratungszentrum, ummich rechtlich beraten zulassen. Wahrscheinlich hätteich das schon früher tunsollen, aber meine Verhaftung

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hatte mich so verstört, dassich keinen klaren Gedankenmehr hatte fassen können. Esstellte sich heraus, dass mirkostenfreier Rechtsbeistandzustand, weil ich alsTeilnehmer eines Drogen-Entzugsprogrammes undMieter einer Sozialwohnungdie Bedürftigkeitskriterienerfüllte. Einen Anwalt, dermich vor Gericht vertrat, fandich aber für meine Sache zu

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übertrieben. Ich wollte nurhören, wie ich mich beiGericht verhalten sollte.

Es klang ganz einfach. Ichmusste mich schuldigbekennen, also zugeben,dass ich illegal Straßenmusikgemacht hatte. Und danndarauf hoffen, dass derRichter kein Sadist war, derStraßenmusiker hasste.

Am Tag der Verhandlungzog ich über mein frisches T-

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Shirt mit der Aufschrift»Extrem unglücklich« auchnoch ein sauberes Hemd undrasierte mich. Die Wartezonevor dem Gerichtssaal warüberfüllt. Da waren finstereGestalten mit kahlenSkinhead-Köpfen, die sich mitosteuropäischen Akzentenunterhielten, aber auch einpaar Geschäftsmänner imAnzug, die auf ihreVerhandlung wegen

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Fahrdelikten warteten.»James Bowen. Das Gericht

ruft Mr. James Bowen« töntenach kurzer Wartezeit einevornehme Stimme über denunsichtbaren Lautsprecher.Ich holte tief Luft und betratden Gerichtssaal.

Der Friedensrichter beäugtemich wie ein Stück Dreck, dasversehentlich von der Straßein seinen sauberen

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Gerichtssaal geblasen wordenwar. Aber nach dem Gesetzkonnte er mir nicht vielanhaben. Vor allem, da diesmein erstes Vergehen dieserArt war.

Sie entließen mich mit dreiMonaten auf Bewährung undohne Geldstrafe. Der Richterschärfte mir aber ein, dass ichbeim nächsten Mal mit einerGeldstrafe oder sogar einerVerhaftung zu rechnen hatte.

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Belle und Bob warteten vordem Gerichtsgebäude aufmich. Als Bob mich kommensah, sprang er von BellesSchoß und kam mir entgegen.Er bemühte sich sehr, cool zubleiben. Aber seine übermütigblitzenden Augen verrietenmir, wie froh er war, mich zusehen.

»Und? Wie ist esgelaufen?«, wollte Bellewissen.

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»Drei Monate aufBewährung, aber wenn siemich noch mal erwischen, binich dran«, informierte ich sie.

»Oh! Und was machst dujetzt?«, fragte sie.

Ich sah sie nur an, dannwanderte mein Blick hinunterzu Bob. Die Antwort stand mirwohl ins Gesicht geschrieben.

Ich war am Ende. Meine Zeitals Straßenmusiker warvorbei. Fast zehn Jahre hatte

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ich vorwiegend davon gelebt.Aber die Zeiten hatten sichgeändert, genau wie meinLeben. Vor allem, seit Bob beimir war. In letzter Zeit hatteich schon oft darübernachgedacht, dieStraßenmusik an den Nagelzu hängen. Manchmal reichtedas Geld nicht mehr für dasNötigste. Und immer öftergerieten wir in Situationen, die

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mich – und vor allem auchBob – in Gefahr brachten.Dazu kam jetzt auch nochdiese Bewährungsauflage, diemich noch mehr einschränkte.Sollten sie mich noch einmalerwischen, würden sie michins Gefängnis stecken. Daswar mir die Sache nicht wert.

»Ich weiß nicht, was ich tunwerde, Belle«, antwortete ichnachdenklich. »Aber einesweiß ich bestimmt: Ich hänge

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die Straßenmusik an denNagel!«

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12Nummer 683

In den nächsten Tagenrauchte mir der Kopf vom

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vielen Nachdenken. Ich warimmer noch wütend wegender Ungerechtigkeit, die mirwiderfahren war. Ich hattetatsächlich meine Existenzverloren, nur weil sich einpaar missgünstigeMitmenschen gegen michverschworen hatten.Trotzdem versuchte ich, dieSache als Glück im Unglückzu betrachten.

Mir war schon lange klar,

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dass ich nicht für den Restmeines Lebens alsStraßenmusiker durch Londonziehen konnte. Mit denLiedern von Johnny Cash undOasis, die ich an belebtenStraßenecken zum Bestengab, würde ich es nicht weitbringen. Meine Gitarre würdemir auch nicht helfen, vonmeiner Ersatzdroge Methadonloszukommen. Endlich begriffich, dass ich am

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bedeutendsten Wendepunktmeines Lebens stand. Hierwar sie, meine Chance,endlich mit der Vergangenheitabzuschließen. So weit warich schon öfter in meinemLeben gewesen, aber zumersten Mal war ich bereit undmehr als willig, sie zuergreifen.

Ich hatte die richtigeEntscheidung getroffen. Aberden Vorsatz in die Tat

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umzusetzen, eine neuePerspektive zu finden, daswar schwierig. Ich kannte diebrutale Wahrheit: Ich hattenicht viele Möglichkeiten,denn mir fehlte dieAusbildung. An dieser Hürdewar ich schon oft gescheitert.Die zentrale Frage war: Wiesollte ich Geld verdienen?Wer würde mir Arbeit geben?Nicht, dass ich dumm war.

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Durch meinen einstigen Job ind e r IT-Branche in Australienhatte ichComputerkenntnisse. Auch inEngland hatte ich immerwieder viel Zeit am Laptopvon Freunden oder amComputer der Bibliothekverbracht. Ich hatte mich aufdem Laufenden gehalten.Aber mit Referenzen odernachweisbarer »Erfahrung«konnte ich nicht aufwarten.

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Und wenn ich tatsächlich biszu einemBewerbungsgesprächkommen sollte, würde ichfrüher oder später die Fragebeantworten müssen, wo ichin den letzten zehn Jahrengearbeitet habe. »Weder beiGoogle noch bei Microsoft.«Diesen Traum konnte ichabhaken.

Es hatte auch keinen Sinn,sich um eine Computer-

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Fortbildung zu bewerben. Ichsteckte immer noch imDrogen-Rehabilitationsprogramm,lebte in einer Sozialwohnungund hatte keinenSchulabschluss. Selbst wenndas Arbeitsamt wollte, siehätten mir nicht helfenkönnen. So sehr ich mir auchden Kopf zerbrach,letztendlich musste ich mireingestehen, dass ich für

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jeden normalen Jobunvermittelbar war. Was manauch immer unter »normal«verstehen mag.

Es gab nur eine realistischeAlternative. Denn leiderkonnte ich es mir nicht leisten,mich entspanntzurückzulehnen und auf einWunder zu warten. Ichmusste Geld verdienen – fürmich, aber auch für Bob.

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Nach zwei Tagen, die ichgrübelnd zu Hause verbrachthatte, schnappte ich Bob undfuhr mit ihm nach CoventGarden, zum ersten Mal seitJahren ohne meine Gitarre.Auf der großen Piazzaangekommen, steuerte ichzielstrebig auf die Stelle zu,an der ich Sam vermutete. Siewar die Bezirksleiterin fürCovent Garden derObdachlosenzeitung The Big

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Issue.Von 1998 bis 1999 hatte ich

schon mal versucht, alsZeitungsverkäufer zuarbeiten. Das war die Zeit, alsich gerade auf der Straßegelandet war. Ich holte mirmeine Zulassung undarbeitete in dem Gebietzwischen Charing Cross undTrafalgar Square. Ich warnicht sehr erfolgreich. Es warschwierig, die Zeitschriften

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loszuwerden, und ich habenur ein paar Monatedurchgehalten.

Mein größtes Problem beidem Versuch, The Big Issuezu verkaufen, war schondamals die Unfreundlichkeitder Leute. Immer wiedermusste ich mir blödeKommentare anhören wie:»Such dir einen Job!«

Damals hat mich dasfertiggemacht. Die Leute

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haben nicht kapiert, dassZeitungsverkäufer ein Job ist.Mehr als das, denn als Big-Issue-Verkäufer ist manselbstständigerGeschäftsmann. Ich hatteKosten, denn ich musste dieZeitschriften kaufen, um sieweiterverkaufen zu können.Vom Verkaufserlös mussteich den Einkaufspreis für dienächsten Magazine abziehen.

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Denn neue Zeitschriften gabes nur gegen Bargeld. Wiejeder Selbstständige mussteich erst Geld investieren, umGeld zu verdienen.

Leider glauben die meistenLeute, dass dies einWohltätigkeitsjob ist und dieVerkäufer die Zeitungengeschenkt bekommen. Wenndas der Fall wäre, würde jederviel mehr Exemplare zumVerkaufen vor sich liegen

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haben. The Big Issue verfolgteine ganz andere Strategie.Sie wollen Menschen helfen,sich selbst zu helfen. Beimeinem ersten Anlauf war ichnicht sicher, ob ich Hilfewollte. Ich war noch nichtsoweit.

Ich erinnere mich noch gutan die vielen kalten Tage, dieich, vom Regen durchnässt,an einer windigenStraßenecke saß. Mit

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Engelszungen habe ichversucht, vorbeihastendeLondoner zu überreden, sichvon ihrem wertvollenKleingeld zu trennen und mirein Magazin abzukaufen. Dasging echt auf die Psyche –und nicht nur, weil ich damalsnoch ein Junkie war. Trotzfreundlichster Bemühungenregnete es Beschimpfungenoder sogar den einen oderanderen Stoß in die Rippen.

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Der Job raubte mir den letztenRest an Selbstwertgefühl.

Aber damals gehörte ich jaauch noch zu denUnsichtbaren. Ich war nichtvorhanden. Wenn jemandversuchte, einen Bogen ummich zu machen, war das fürmich schon einErfolgserlebnis, weil manmich wahrgenommen hatte.Die Idee mit der

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Straßenmusik war aus reinerVerzweiflung entstanden. Mitder Musik konnte ich dieMenschen erreichen, sie aufmich aufmerksam zu machen.So wurde ihnen zumindestbewusst, dass ich einatmendes, menschlichesWesen war – auch wenn ichnicht ihren Normen entsprach.Aber auch derStraßenmusiker wurde vonden meisten Passanten

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ignoriert.Mit Bob war das Glück bei

mir eingezogen. Er hat mirErfolg als Straßenmusikerbeschert und mir denLebenswillen zurückgegeben.Ohne meinen kleinenZauberkater hätte ich nie denMut aufgebracht, es nochmalsa l s Big-Issue-Verkäufer zuversuchen. Es gab nur einkleines Problem: Ich musstemeine ehemaligen

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Arbeitgeber davonüberzeugen, mir noch maleine Chance zu geben.

Sam war tatsächlich nochda, an derselben Stelle ineiner Seitenstraße, die vonder Piazza in Covent Gardenabgeht. An diesemVerteilerstandort treffen sichtäglich die Big-Issue-Verkäufer der Umgebung, umihre Zeitschriften zu erwerben.Es standen nur wenige

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Männer herum. Den einenoder anderen kannte ichsogar noch. Einer davon warSteve, der schon lange alsFahrer für das Magazinarbeitete. Ich habe ihnmanchmal rund um CoventGarden gesehen, wenn ermontags die neue Ausgabeder Big Issue ablieferte.

Wir haben uns bei diesenseltenen Gelegenheiten eher

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misstrauisch beäugt alsfreundlich gegrüßt. Auch indiesem Moment hatte ich denEindruck, dass er nichtgerade erfreut war, mich zusehen. Aber das juckte michnicht weiter. Schließlich warich nicht seinetwegen hier, ichwollte Sam sprechen.

Kaum hatte sie unsgesehen, begrüßte sie unsfreundlich: »Hallo! KeineStraßenmusik heute?« Sie

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streckte die Hand nach Bobaus und kraulte ihn zwischenden Ohren.

»Nein, ich hab die Gitarre anden Nagel gehängt«,antwortete ich, dankbar fürdieses Stichwort. »Ich hatteein bisschen Stress mit denBullen. Wenn sie mich nochmal an nicht genehmigterStelle erwischen, stecken siemich in den Knast. Das kannich nicht riskieren, ich muss

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mich doch um Bob kümmern,nicht wahr, Kumpel?«

»Ooookeeey?«, war ihrevorsichtige Reaktion. Siewusste sofort, worum es hierging.

»Und deshalb …«, zögerteich und trat von einem Beinauf das andere, »… wollte ichmal fragen …«

Sam erlöste mich mit einemLächeln und den Worten:»Kommt drauf an, ob du die

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Bedingungen erfüllst.«»Aber ja«, freute ich mich,

denn The Big Issue durfte nurvon Bedürftigen verkauftwerden. Das heißt, vonLeuten, die nachweislichobdachlos sind oder in einerSozialwohnung leben.

»Die Formalitäten kann ichdir aber nicht ersparen«,sagte Sam. »Du musst inunser Büro in Vauxhall fahren,

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dich dort anmelden und denPapierkram erledigen!«

»Kein Problem«, grinste ich.»Weißt du noch, wo das

Büro ist?«, wollte sie wissenund drückte mir eineVisitenkarte in die Hand.

»Bin nicht sicher«, gab ichzur Antwort, denn die Adresseauf der Karte war mirunbekannt. Wahrscheinlichwar die Redaktionumgezogen.

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»Du nimmst den Bus bisVauxhall und steigst amBahnhof aus. Das Büro liegtschräg gegenüber in derEinbahnstraße neben demFluss«, erklärte sie mir.»Sobald du deinen Ausweishast, kommst du wieder undwirst von mir eingewiesen.«

Ich steckte die Visitenkartein meine Jackentasche undfuhr mit Bob zurück nachHause. »Jetzt müssen wir

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noch einiges organisieren,Bob«, erklärte ich meinemRotpelzchen. »Wir haben einBewerbungsgespräch.«

Dafür musste ichschnellstens die nötigenPapiere zusammensuchen.Vor allem brauchte ich eineBestätigung vomWohnungsamt. Da sollte ichmich sowieso regelmäßigmelden. Ich erzählte meinerSachbearbeiterin von meinen

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Schwierigkeiten mit derPolizei und was ich vorhatte.Sie stellte mir sofort die nötigeBescheinigung aus. Darüberhinaus schrieb sie mir einepersönliche Empfehlung: EinJob wie der Verkauf derObdachlosenzeitung würdemir helfen, mein Leben wiederin den Griff zu bekommen.

Am nächsten Morgen gabich mir Mühe mit meinem

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Aussehen. Ich wollte einenguten Eindruck machen. Ichzog ein Hemd an statt demsonst üblichen T-Shirt undband die Haare mit einemGummi zusammen. Dannmachte ich mich mit demganzen Papierkram auf denWeg nach Vauxhall. Bob warnatürlich auch dabei. Ich warsicher, er würde mir beimZeitungsverkaufen genausohelfen wie beim

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Gitarrespielen. Er warsozusagen mein besterMitarbeiter. Deshalb wollte ichfür ihn auch einen Verkäufer-Ausweis beantragen.

Redaktion und Büro des Big-Issue-Magazins liegen ineinem unscheinbarenBürogebäude am südlichenUfer der Themse, ganz in derNähe der Vauxhall-Brückeund dem M16-Gebäude.

Schon beim Betreten der

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Eingangshalle fiel mein Blickauf ein riesiges Schild»Hunde müssen draußenbleiben«. Früher warenHunde erlaubt gewesen, aberoft liefen so viele herum, dasssie miteinander kämpften. Ichnehme an, dass Hundedeshalb jetzt verboten waren.Zum Glück stand da nichtsvon Katzen.

Nachdem ich ein paarFormulare ausgefüllt hatte,

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durfte ich mich in denEmpfangsbereich setzen undwarten. Kurze Zeit späterwurde ich aufgerufen. DerPersonalchef war einsympathischer Mann. UnserGespräch hatte mehr voneiner Unterhaltung als voneinem Jobinterview. Er hattevor Jahren selbst auf derStraße gelebt. The Big Issuewar sein Trittbrett zurück ins

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normale Leben gewesen.Ich schilderte ihm meine

Lebenssituation, und er warsehr verständnisvoll. »Ichweiß, was da draußen abgeht,James, das kannst du mirglauben«, nickte er.

Schon nach ein paarMinuten hatte ich seineZusage in der Tasche. Erschickte mich weiter insNachbarbüro, wo der Ausweisausgestellt wurde. Ich sollte

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fotografiert werden und dannauf meinen laminiertenAusweis mit Foto undVerkäufer-Nummer warten.Ich fragte den zuständigenMitarbeiter, ob Bob aucheinen Ausweis haben könnte.

Der Angestellte schütteltebedauernd den Kopf: »Tut mirleid, aber das geht wirklichnicht. Haustiere kriegenkeinen Ausweis. Diese Fragewird öfter gestellt. Allerdings

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bisher nur wegen Hunden.Eine Katze war noch niedabei.« Beim letzten Satzmusste er grinsen.

Aber so schnell gab ich nichtauf: »Kann er vielleicht mit mirzusammen auf demAusweisfoto sein?«

Der Fotograf verzog gequältdas Gesicht, aber letztendlichgab er nach.

»Okay, Foto mit Katze!«,grinste er.

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»Lächeln!«, flüsterte ich Bobins Ohr, als wir vor derKamera saßen.

Während wir auf dieEntwicklung des Fotoswarteten, erledigte ich dierestlichen Formalitäten. JederBig-Issue-Verkäufer erhältseine eigeneRegistrierungsnummer. DieseKennzahlen werden abernicht fortlaufend vergeben,

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sonst wären sie inzwischenbereits im fünf- odersechsstelligen Bereich. Soviele Big-Issue-Verkäufer hates schon gegeben. Aber diemeisten verschwinden früheroder später ohne Abmeldungauf Nimmerwiedersehen.Deshalb werden dieAusweisnummern neuvergeben, wenn ein Verkäuferüber einen längeren Zeitraumin den Umsatzlisten nicht

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mehr auftaucht.Nach einer Viertelstunde war

unser Ausweis fertig. BeimAnblick des Fotos konnte ichmir ein breites Grinsen nichtverkneifen. Bobs Kopf linksneben meinem: Wir waren alsTeam registriert. Die Big-Issue-Verkäufer mit derLizenz Nr. 683.

Der Rückweg nachTottenham dauerte lange:

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eineinhalb Stunden Fahrt mitzwei Bussen. Um mir die Zeitzu vertreiben, las ich in derBroschüre, die ich vomPersonalchef in die Handgedrückt bekommen hatte.Vor zehn Jahren habe ich dasHandbuch zwar überflogen,aber so gut wie nichts davonbehalten. Damals hatte ichden Job auch nicht so ernstgenommen; die meiste Zeitwar ich sowieso zugedröhnt.

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Diesmal war ich hochmotiviertund wollte alles richtigmachen.

Gleich auf der ersten Seiteging es um die Zielsetzungdes Magazins: »The Big Issuewurde gegründet, umObdachlosen und Menschenin sozialen Wohnprojekten dieMöglichkeit zu geben, mitdem Verkauf des Magazinsauf legale Weise ihr Geld zu

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verdienen. Wir glauben anHilfe zur Selbsthilfe statt derVergabe von Almosen, umihnen die Möglichkeit zugeben, ihr Leben selbst in dieHand zu nehmen.« Genaudas brauche ich, dachte ich:Hilfe zur Selbsthilfe. Unddiesmal werde ich sieannehmen!

Auf der nächsten Seite standalles über die Probezeit, dieich durchlaufen musste, und

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dass man die Einhaltung derVerhaltensregeln perUnterschrift bestätigenmusste. An die Probezeiterinnerte ich mich noch: Manarbeitet an einem vomBezirksleiter zugewiesenenPlatz und wird von denVorgesetzten vor Ortbeobachtet und bewertet. Erstwenn man sich dort bewährthat, bekommt man seineeigene Verkaufsstelle

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zugewiesen, erklärt dieBroschüre.

Als Einstiegshilfe erhält manzehn Magazine umsonst. »Abdiesem Zeitpunkt ist derVerkäufer als selbständigerUnternehmer tätig« las ichweiter. »Es liegt an ihm, waser aus dieser Starthilfe macht.Sobald die Freiexemplareverkauft sind, zahlt man 1Pfund pro Magazin im Einkaufund verkauft es für 2 Pfund.

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D e r Big-Issue-Verkäuferverdient somit 1 Pfund proZeitschrift.«

Eine weitere Regel war dieSelbstständigkeit derVerkäufer. »Nicht verkaufteAusgaben werden nichtzurückgenommen. Diesbedeutet, dass jeder selbst fürseine Verkäufe und Finanzenverantwortlich ist. DieseAufgabe zusammen mit dem

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Selbstbewusstsein und dereigenen Wertschätzung, dieunsere Verkäufer durch ihreArbeit erlangen, sind vonentscheidender Bedeutung fürdie Wiedereingliederung vonObdachlosen undSozialhilfeempfängern in dieGesellschaft.«

Das war das einfacheErfolgskonzept der Machervon The Big Issue. Aber ganzso leicht war es nicht, wie ich

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schon bald herausfindensollte.

Gleich am nächsten Morgenfuhren wir wieder nachCovent Garden, um Sam zutreffen. Ich konnte es gar nichtabwarten mit meiner»Probezeit« loszulegen.

»Und? Ist alles gut gelaufenin Vauxhall?«, rief sie unsentgegen, sobald sie Bob undmich erspähte.

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»Ich denke schon. Immerhinhabe ich jetzt den hier«,grinste ich stolz und holtemeinen laminierten Ausweisaus der Jackentasche.

»Super!«, lobte Sam undfing an zu lachten, als sie dasFoto von Bob und mir sah.»Dann könnt ihr beiden jagleich loslegen!« Ohneweitere Umschweife zählte siemir die zehn kostenlosenExemplare vom Stapel. Beim

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Überreichen meinesStartkapitals vergewissertesie sich noch: »Du weißt,dass du alle weiterenExemplare kaufen musst?«

»Ja, hab ich verstanden«,bestätigte ich ihr.

Sie nickte zufrieden undüberflog dabei eine Liste, dievor ihr auf dem Tresen lag.»’tschuldige, aber ich schaunur, welchen Probeplatz ich

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dir geben kann.«Schon nach ein paar

Sekunden erhellte sich ihrenachdenkliche Miene.

»Und? Was gefunden?«,drängelte ich aufgeregt.

»Ich denke schon«,antwortete sie langsam.

Was dann kam, war Ironiedes Schicksals vom Feinsten.

»Ja, ich denke, dieser Platzist frei«. Ihr Zeigefinger ruhteauf einem Punkt im Stadtplan

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von Covent Garden, den ichnur zu gut kannte. Auf derJames Street, ein paar Meterentfernt von der U-Bahn-Station.

Ich konnte mir das Lachennicht verkneifen.

»Ist das ein Problem? Bistdu okay?«, fragte Sam leichtverwirrt. »Ich kann dir aucheinen anderen Platz geben.«

»Nein, auf gar keinen Fall«,sagte ich schnell. »Ein toller

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Platz mit vielen Erinnerungen.Ich werde sofort anfangen.«

Ich verlor keine Zeit mehrund lief hinüber zu meinemalten Stammplatz. Ich legteeine Decke auf den Boden fürBob, platzierte meinenRucksack daneben und legtelos. Es war früher Vormittag.Als Straßenmusiker hatte ichimmer erst gegen elf Uhrangefangen, aber auch umdiese Zeit waren schon viele

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Leute unterwegs, vor allemTouristen. Es war ein heller,sonniger Tag, und aus meinerlangjährigen Erfahrungwusste ich, dass bei gutemWetter alle viel besser gelauntwaren und das Kleingeldlockerer saß als beischlechtem Wetter.

Wenn ich genau an diesemPlatz als Straßenmusiker saß,hatte ich ständig die

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Behörden im Nacken. Als Big-Issue-Verkäufer hatte ich eineGenehmigung, hier zu sein.Ich konnte es mir nichtverkneifen, mich so nah wiemöglich an den Ausgang derJames Station zu setzen,gerade noch außerhalb derBahnhofshalle.

Während ich The Big Issueanbot, spähte ich immerwieder in die Halle. Ich suchtenach einem der Kontrolleure,

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die mir früher das Leben soschwer gemacht hatten.Schon nach kurzer Zeit sahich den fetten Riesen mit demSchweißproblem. Er trug seinblaues Uniformhemd und warso beschäftigt, dass er michgar nicht wahrnahm. Ich binnoch länger da, schmunzelteich voller Genugtuung.

In der Zwischenzeitkonzentrierte ich mich auf denVerkauf meiner zehn

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Freiexemplare von The BigIssue. Mir war klar, dass ichdiesen Standort bekommenhatte, weil er für die meistenVerkäufer ein Albtraum war.Vor dem U-Bahnhof hatkeiner Zeit, sich auf jemandeneinzulassen, der etwasverkaufen will. Die Leutehaben es eilig, weil sie dienächste U-Bahn erwischenwollen. Wenn sieherauskommen, haben sie ein

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Ziel oder eine Verabredung.Ein Zeitungsverkäufer, der esan diesem Standort schafft,einen von tausend Leutenherauszuziehen, ist einwahrer Künstler. Es war einwirklich undankbarerProbeplatz. BeimGitarrespielen auf deranderen Straßenseite hatteich eine ganze Reihe von Big-Issue-Anfänger beobachtet,

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wie sie vergeblich versuchten,die Aufmerksamkeit vonFahrgästen zu erhaschen. Ichkannte das Problem unseresStandorts.

Aber ich war ja keinnormaler Verkäufer. Ich hatteeine Geheimwaffe: MeinenMitarbeiter Bob, der bisher diePassanten von CoventGarden verzaubert hatte. Undes dauerte nicht lange, bisseine Magie auch hier wirkte.

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Bob saß neben mir aufmeinem Rucksack. Wie einekleine Sphinx beobachtete erzufrieden und gelassen dievorbeiströmenden Massen.Viele der eiligen Passantenübersahen Bob, während siemit Handy am Ohr in ihrenTaschen nach der Fahrkartekramten. Aber zum Glücknicht alle.

Kaum hatten wir es unsgemütlich gemacht, blieben

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schon zwei amerikanischeTouristinnen vor uns stehen.Ungläubig zeigten sie aufBob.

»Ooooh!«, machte eine undgriff zu ihrer Kamera.

»Dürfen wir ein Foto vonIhrer Katze machen?«, fragteihre Begleiterin höflich.

»Aber klar doch!«, gab ichzurück. Es freute mich, dasssie den Anstand hatten zufragen.

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»Wollt ihr vielleicht dieneueste Ausgabe von The BigIssue kaufen? So als Beitragfür unser Abendessen.«

»Aber natürlich!«,versicherte mir das jungeMädchen fast verlegen, weilsie nicht selbst auf die Ideegekommen war.

»Wenn ihr kein Geld habt, istes auch okay«, beeilte ichmich, sie zu beruhigen.

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»Keine Verpflichtung!«Aber bevor ich weiterreden

konnte, hatte sie mir schoneine Fünf-Pfund-Note in dieHand gedrückt.

»Oh, es tut mir leid, ichglaube ich kann nichtwechseln, ich habe eben erstangefangen.« Das war mirjetzt wirklich peinlich.Bestimmt glauben viele Leute,dass alle Verkäufer derObdachlosen-Zeitschrift

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versuchen, so ihren Umsatzzu erhöhen. Aber ich hattetatsächlich kaum Geld in derTasche. Ich zählte ihr meinmageres Kleingeld auf dieHand. Es war weniger als 1Pfund.

»Nein, nein!«, wehrte diekleine Amerikanerin ab. »Ichwill kein Wechselgeld, bittekauf deiner Katze davonheute Abend etwasLeckeres.«

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Kaum waren die beidenweitergegangen, blieb schondie nächste Gruppe Touristenvor uns stehen. Es warenDeutsche, die Bob mitBabysprache undStreicheleinheitenüberschütteten. EineZeitschrift kauften sie nicht,aber das war auch okay. Diezehn Exemplare würde ich aufjeden Fall verkaufen. Ich warsogar überzeugt, ich würde

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mir später bei Sam nochNachschub holen können.

Tatsächlich hatte ich bereitsnach einer Stunde sechsZeitschriften verkauft. Diemeisten Leute zahlten denkorrekten Kaufpreis, aber einälterer Gentleman in einemTweed-Anzug gab mir auchfünf Pfund. Dieser Erfolg wardie Bestätigung, die ichbrauchte. Ich hatte die richtige

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Entscheidung getroffen.Natürlich war mir bewusst,dass es nicht immer so gutlaufen würde und dass esauch in diesem Job gute undschlechte Tage geben würde.Aber ich hatte einen großenSchritt gewagt und etwasNeues angefangen.

Ich dachte nicht, dass dieserTag noch besser werdenkönnte, aber zweieinhalbStunden später wurde er noch

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durch ein Sahnehäubchengekrönt. Ich hatte inzwischenacht Zeitschriften verkauft.Plötzlich bemerkte ich leichteUnruhe in der Bahnhofshalle.Kurz darauf entdeckte icheine ganze Gruppe U-Bahn-Mitarbeiter, die wildgestikulierend die Halledurchquerten. Zwei von ihnenbrüllten aufgeregt in ihreWalkie-Talkies.

Sofort musste ich daran

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denken, wie sie hinter mir hergewesen waren. Ob es wiedereinen Zwischenfall gegebenhatte? Welchen armen Tropfhatten sie jetzt im Visier? Wenwollten sie diesmal insUnglück stürzen? Aber diePanik der U-Bahn-Kontrolleure legte sich nachkurzer Zeit, und die Gruppelöste sich auf.

Just in diesem Momententdeckte uns der große,

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schwitzendeFahrkartenkontrolleur amAusgang. Im Eilschritt stürmteer aus der Halle.

Er bebte vor Wut. SeinGesicht war rot angelaufen.Es heißt, Rache ist eineDelikatesse, die man kaltgenießen soll. Ich blieb alsoganz cool.

»Was, zum Teufel, tust dudenn hier?«, brüllte er

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unbeherrscht. »Ich dachte, duschmorst im Knast! Du hasthier nichts verloren!«

Ich gab ihm keine Antwort.Stattdessen kramte ichlangsam und genüsslichmeinen Verkäuferausweishervor. Dann hielt ich ihmmeine Trophäe unter dieschweißtriefende Nase: »Ichmache hier nur meine Arbeit,Kollege«, erklärte ichgelassen. »Und ich schlage

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vor, du gehst zurück zudeiner!« John Wayne wärestolz auf mich gewesen.

Die Mischung ausFassungslosigkeit undhilfloser Wut, die sich indiesem Moment auf seinemGesicht widerspiegelten, war,mit Verlaub, die Krönungeines erfolgreichen Tages.

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13Der perfekte Standort

Leider kann ich nichtbehaupten, dass ich in

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meinem Leben immer dierichtigen Entscheidungengetroffen habe, ganz imGegenteil: In den letzten zehnJahren habe ich jede Chance,die mir geboten wurde, totalvermasselt. Diesmal sollte mirdas nicht passieren. Als Big-Issue-Verkäufer zu arbeiten,war die richtige Entscheidung,und mit Hilfe von Bob würdeich diese Chance auchnutzen.

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Der neue Job hatteAuswirkungen. Er gabunserem Alltag noch mehrStruktur. Schließlich hatte ichnun einen Job von Montag bisFreitag, oder eigentlich sogarbis Samstag.

In den ersten beidenWochen arbeiteten Bob undich von Montag bis Samstagin Covent Garden, also all dieTage, an denen dieWochenausgabe verkauft

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wurde. Die neue Auflageerschien immer montags.

Wir waren von morgens umzehn bis abends um siebenan unserem Platz und bliebenimmer so lange, bis wir einenStapel Zeitschriften verkaufthatten.

Durch Bob hatte ich gelernt,Verantwortung zuübernehmen. Das kam mir alsBig-Issue-Verkäufer zugute,auch wenn es hier um etwas

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ganz anderes ging. DieserJob erforderte eine MengeDisziplin undOrganisationstalent, umGewinn abzuwerfen. Wennich mich verkalkulierte, hättenBob und ich kein Geld fürunsere bescheidenenMahlzeiten. Ich musste alsoschnell lernen, unserenStandort alsWirtschaftsunternehmen zu

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führen.Das war ein großer Schritt

für jemanden, der in denletzten zehn Jahren ziel- undplanlos in den Tag gelebt hat.Ich konnte auch nie mit Geldumgehen. Bisher war dasnicht weiter tragisch, denn ichhabe immer nur von der Handin den Mund gelebt. Umsomehr hat es mich überrascht,wie gut ich mit dieser neuenHerausforderung zurechtkam.

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Mein neuer Job hatte nureinen Nachteil: Nichtverkaufte Exemplare von TheBig Issue wurden nichtzurückgenommen und auchnicht rückvergütet. Ich lernteschnell, mit Bedachteinzukaufen, denn wenn manam Samstagabend nochfünfzig Zeitschriften übrig hat,steht man kurz vor dem Ruinund wird alles tun, damit dasnie wieder passiert. Die neue

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Auflage am Montag gibt esnur gegen Bargeld, egal wieviel Pfund von seinem sauerverdienten Geld man geradeals Altpapier entsorgt hatte.Genauso schlimm ist es,wenn einem die Zeitungen zufrüh ausgehen. Das schmälertden Gewinn und verprelltkaufwillige Kunden. ImGrunde genommen hatte ichdie gleichen Probleme wie dieGeschäftsleitung von Marks

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and Spencer’s – nur inkleinerem Rahmen.

Es gab noch einen Punkt,den ich beim Einkaufberücksichtigen musste: denInhalt der Zeitschrift. Meistbrachten sie spannendeArtikel, die jedeninteressierten, aber es gabauch langweilige Ausgaben.Besonders wenn das Titelblattmal keinen berühmten

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Schauspieler oder Musikerzeigte, lief der Verkaufschleppend und äußerstmühsam. Es hat eine Weilegedauert, bis ich diesenwöchentlichen Kalkulationsakteinigermaßen durchschauthatte.

In dieser Testperiode lebtenwir weiterhin von der Hand inden Mund. Alles, was ichzwischen Montag undSamstag verdient hatte, war

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nach dem Wochenende weg.Manchmal hatte ich für denEinkauf meiner Ware amMontag kaum noch etwasübrig. Wenn Sam da war, batich sie, zehn Zeitschriften fürmich zu kaufen. EinKurzzeitdarlehen, das ichnoch am selben Tagzurückgab, sobald ich dieExemplare verkauft hatte.Diesen Gefallen tat Sam nichtjedem, sondern nur wenigen

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vertrauenswürdigenMitarbeitern. Zwei oder dreiMal hat sie mir so aus derPatsche geholfen, und nachein paar Stunden bekam siealles zurück. Schließlichwusste ich, dass sie mir ihreigenes Geld vorstreckte undnicht das des Verlages.

Von meinen Einnahmenkonnte ich dann weitereZeitungen erstehen, und sobaute ich mir nach und nach

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wieder einen Gewinn auf, mitdem Bob und ich klar kamen.

Genau genommenverdienten wir als Big-Issue-Verkäufer weniger als mit derStraßenmusik. Aber das warmir der legale Job wert. Ichbrauchte weder vor Guardiansnoch sonstigen Verrücktenauf der Hut sein. Und wennmich die Polizei aufhielt,zeigte ich meinen Ausweis,

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und sie ließen mich in Ruhe.Nach meiner Verhaftung wardas ein enormer Pluspunktmeiner Arbeit.

Die nächsten beiden Monatein unserem neuen Jobvergingen wie im Flug. UnserKundenstamm hat sich seitmeiner Zeit alsStraßenmusiker nicht wirklichgeändert: vorwiegend Frauenaller Altersgruppen, Schwuleund Touristen aus aller Welt.

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Im Herbst 2008 hatten wireine Begegnung mit einemmega-cool gekleideten jungenMann. Er hatte blondgesträhnte Haare, trug teureJeans, Cowboystiefel undeine Lederjacke, die bestimmtein Vermögen gekostet hatte.Er sah aus wie einamerikanischer Rockstar, undwahrscheinlich war er dasauch.

Er blieb sofort stehen, als

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sein Blick an Bobhängenblieb.

»Hey! Ist das ’ne cooleKatze!«, rief er überraschtaus. Sein Slang bestätigtemeine Vermutung. Er warAmerikaner.

Er kam mir so bekannt vor,aber ich kam nicht auf seinenNamen. Am liebsten hätte ichihn gefragt, aber das wäreaufdringlich gewesen. Ich binfroh, dass ich mich

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zurückgehalten habe.Er kauerte lange vor Bob

und streichelte ihn, bis er sichwieder an mich wandte: »Wielange seid ihr zwei schon einTeam?«

»Oh, mal sehen«, stotterteich überrumpelt. Ich musstetatsächlich nachrechnen. »Wirkennen uns seit Frühlingletzten Jahres – alsoeineinhalb Jahre.«

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»Cool! Ihr seht aus wieSeelenverwandte …« Erlächelte und legte den Kopfschief, als würde er überseine eigenen Wortenachdenken. Dann nickte er:»… als würdet ihr wirklichzusammengehören.«

»Danke«, gab ich lächelndzurück. Innerlich ärgerte ichmich, weil mir nicht einfallenwollte, wer er war.

Aber bevor ich ihn doch

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noch fragen konnte, sah erauf die Uhr und sprang auf.

»Hey, ich muss weiter, bisbald mal!« Dabei holte er einBündel Scheine aus seinerJackentasche und gab mirzehn Pfund für eine Big Issue.

Ich kramte nachWechselgeld, aber er hobabwehrend die Hände: »Passtschon! Ich wünsche euchbeiden einen wunderschönenTag!«

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»Den werden wir haben«,versprach ich ihm. Und so wares auch.

Meine»Aufenthaltsgenehmigung«für den Platz vor der AngelStation war ein Segen fürmich. Die Kontrolleurekonnten mir nichts mehranhaben. Die schiefen Blickevon einigen wenigen

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ignorierte ich einfach, aber diemeisten waren freundlich. Daich weder störte nochjemanden belästigte, ließensie mich in Ruhe.

Aber neue Feinde warenbereits im Anmarsch.Scheinbar hatten wir, Bob undich, uns bei einigen Big-Issue-Kollegen unbeliebtgemacht.

Das war absehbar, denn dieGesetze der Straße sind hart.

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Wer meint, dass auf derStraße alle zusammenhalten,täuscht sich sehr. Füreinanderda sein war in diesem Haufenvon Einzelkämpfern einFremdwort. Jeder war nur aufseinen eigenen Vorteilbedacht. Trotzdem sei gesagt,dass die meisten Kollegen»den Neuen mit der Katze aufder Schulter« sehr freundlichaufgenommen haben.

Verkäufer mit Hunden hatte

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es immer schon gegeben.Einige von ihnen waren auchkleine Herzensbrecher. Aberein Verkäufer mit Katze warneu – nicht nur in CoventGarden, sondern in ganzLondon.

Einige Kollegen zeigtenaufrichtiges Interesse. Siewollten Bob streicheln undalles über ihn wissen: Wie wiruns gefunden hatten und obich seine Vorgeschichte

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kannte. Aber seine Herkunftist und bleibt im Dunkeln.Bob, der mysteriöseFindelkater, der aus demNichts aufgetaucht war und –vielleicht gerade deshalb – dieHerzen der Menscheneroberte wie kein anderer.

Für mich interessierte sichnatürlich keiner. Wann immerwir einen Kollegen trafen,hörte ich: »Wie geht’s Bob

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heute?« Niemand fragte jenach meinem Befinden. Ichwar nicht eifersüchtig. Nein,ich hatte nichts andereserwartet. Ich wusste, dassdiese aufgesetzteFreundlichkeit nicht langewähren würde. So ist dasimmer auf der Straße.

Es stellte sich heraus, dassich – mit Bob alsVerkaufsmanager – zwischen

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dreißig und fünfzigZeitschriften pro Tagabsetzen konnte. Bei demdamaligen Preis von zweiPfund pro Zeitschrift konntenwir damit ganz gut leben,besonders weil auch nochTrinkgeld dazukam. BobsTrinkgeld.

Eines frühen Abends imHerbst saß Bob auf meinemRucksack und genoss dieletzten Strahlen der

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Abendsonne. Unter den vielenPassanten, die an unsvorbeiliefen, entdeckte ich einPaar in edlerAbendgarderobe. Sie sahenaus, als wären sie auf demWeg ins Theater oder in dieOper. Er im Smoking mitFliege, sie in einemschwarzen, raffiniertgeschnittenen Seidenkleid.

»Sie sehen sehr elegantaus«, versuchte ich über ein

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ehrliches Kompliment Kontaktaufzunehmen, als die beidenstehen blieben, um Bob zuhofieren. Sie schenkte mirdaraufhin ein Lächeln, aberihr Begleiter ignorierte michweiter.

»So ein hübscher Kater«,sagte die Lady in Black. »Seidihr schon lange zusammen?«

»Ja, ziemlich lange«, gab ichbereitwillig Auskunft. »Wir

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sind uns sozusagen auf derStraße begegnet.«

Ihr Begleiter zupfte plötzlichseine Brieftasche aus derInnentasche seinerSmokingjacke und drückte mireinen Zwanzig-Pfund-Scheinin die Hand. Noch bevor ichmein Wechselgeldhervorholen konnte, winkte erungeduldig ab. »Behalten Sieden Rest«, sagte er und sahseiner Begleiterin mit einem

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Lächeln tief in die Augen.Der Blick, den sie ihm für

seine Großzügigkeit schenkte,sprach Bände. Für mich sahes aus wie die ersteVerabredung der beiden.Sonst wäre die elegante jungeDame von der Großzügigkeitihres Begleiters nicht sobeeindruckt gewesen.

Als sie weitergingen, sah ichhinter ihnen her. Zuerst lehntesie sich beim Gehen gegen

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ihn und himmelte ihn an. Erlegte daraufhin den Arm umihre Schulter. Ob dieZuneigung der beiden echtwar oder nicht, war mir egal.Weil er sie beeindruckenwollte, hatte ich zum erstenMal in meinem Leben 20Pfund geschenkt bekommen.Das war echt abgefahren!

Nach ein paar Wochen amU-Bahnhof James Stationwusste ich, dass dieser

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»schwierige« Standort für Bobund mich geradezu ideal war.Deshalb war ich sehrenttäuscht, als Sam mirmitteilte, dass sie uns einenanderen Platz zuteilen wollte.

Aber es wunderte michnicht. In der großen Familieder Big-Issue-Verkäufer kriegtjeder mit, was der andereumsetzt. Die Listen mit denEinträgen, wer wie viele

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Zeitschriften einkauft, liegenam Standort der Bezirksleiterfür jeden einsehbar herum.Jeder kann sich informieren,wer zehn, zwanzig oder nochmehr Exemplare pro Tagabnimmt. Somit kannten alleKollegen auch meineAbsatzzahlen der letztenWochen an der Angel Station.

Es wurde schnell deutlich,dass mein Erfolg so manchemKollegen ein Dorn im Auge

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war. Schon in der zweitenWoche wurden die anfangsfreundlichen Kollegen immerzurückhaltender.

Unser neuer Platz war zumGlück immer noch in derNähe der U-Bahn, jetzt abervor einem Schuhgeschäftn a m e n s Size, an derKreuzung Neal Street undShort’s Garden.

Ich hatte das Gefühl, dassbesonders die alten Hasen

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unter den Kollegen nicht mehrgut auf Bob und mich zusprechen waren, weil wir aneinem von allen verpönten Ortso guten Umsatz machten.Aber ich hielt den Mund undbeschwerte mich nicht überden Standortwechsel. »Wähledeine Kämpfe mit Bedacht,James«, sagte ich mir. Undwie sich herausstellte, war ichdamit gut beraten.

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14Angeschlagen

Der Herbst in diesem Jahrwar extrem kalt und nass. Die

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Bäume waren in kürzesterZeit kahl, weil Wind undRegen sie blitzschnellentblättert hatten.

Eines Morgens, als wirunseren Wohnblockverließen, um uns auf denWeg zur Bushaltestelle zumachen, hielt sich die Sonneversteckt und es nieselteleicht.

Bob hasst den Regen, undso schob ich die Lustlosigkeit,

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mit der er hinter mir hertrottete, auf das Wetter.Langsam und vorsichtigsetzte er einen Fuß vor denanderen, fast wie in Zeitlupe.Ich hatte den Eindruck, erwäre am liebsten zurück nachHause gelaufen. Vielleichtstimmt es ja, dass Katzenschlechtes Wetter schonlange spüren, bevor wir es amHimmel aufziehen sehen,überlegte ich. Mein Blick nach

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oben schien das zubestätigen. Eine gigantische,stahlgraue Wolkenbank hattesich aufgebaut und hing wieein gewaltiges Raumschiffaus einer unbekanntenGalaxie über Nordlondon. Diewürde bestimmt den ganzenTag nicht aufreißen. Undwenn sie sich entlud, würdeder Regen nur so auf unsherunterklatschen. Vielleichtsollte ich auf Bob hören und

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umdrehen, dachte ich kurz.Aber das Wochenende standvor der Tür, und wir hattennoch nicht genug Geld, umdafür einzukaufen. Es heißtzwar: In der Not frisst derTeufel Fliegen, aber wirwerden davon nicht satt,versuchte ich mich zumotivieren.

Ich war nie sonderlichglücklich darüber, auf den

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Straßen von London meinGeld verdienen zu müssen,aber an diesem Tag kostetees mich mehr Überwindungdenn je. Bob kroch immernoch im Schneckentemponeben mir her, und wir kamennicht voran.

Ich ging in die Knie undermunterte ihn, auf meineSchulter zu springen: »Nakomm, mein Freund, steigauf!«

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Er kuschelte sich in meineHalsbeuge, und ich schlepptemich lustlos weiter zurBusstation Tottenham HighRoad. Der Regen wurdestärker, und die fetten,schweren Wassertropfenplatschten auf den Asphalt.Bob blieb ruhig auf meinerSchulter, während ichZickzack lief, um jeden Baumoder Dachvorsprung alsRegenschutz zu nutzen. Erst

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im Bus fiel mir auf, dass Bobscheinbar ganz andereProbleme hatte als dasschlechte Wetter.

Bob liebt Busfahren. Er istein sehr neugieriger Kater.Normalerweise ist alles umihn herum unendlichspannend, egal, wie oft wirdieselbe Strecke fahren.Bisher hat er es noch nieversäumt, seine Nase amBusfenster platt zu drücken,

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um draußen bloß nichts zuverpassen. Heute wollte ernicht einmal auf denFensterplatz. Inzwischenprasselte starker Regengegen die Scheibe, die voninnen ganz angelaufen war.Er hätte die Welt da draußenzwar nur verschwommengesehen, aber das hat ihnbisher noch nie gestört. Heuteinteressierte ihn sein sonst so

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wichtiger Fensterplatz garnicht. Stattdessen rollte ersich auf meinem Schoßzusammen. Er wirkte sehrmüde und schwach. DieAugen hielt er halbgeschlossen, als wäre er kurzdavor, wegzudösen. So hatteich meinen sonst sounternehmungslustigen,frechen Bob noch nie erlebt.

Als wir an der TottenhamCourt Road ausstiegen, ging

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es ihm noch schlechter.Glücklicherweise hatte derRegen nachgelassen. Mit Bobauf der Schulter platschte ichdurch die überflutetenNebenstraßen nach CoventGarden. Es war ein bisschenunruhig für Bob auf meinerSchulter, denn ich mussteriesigen Pfützen ausweichenoder sie überspringen, und ichmusste mich immer wiedergegen unerbittliche

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Regenschirme zur Wehrsetzen.

So merkte ich erst auf derNeal Street, dass Bob sich aufmeiner Schulter sehrungewöhnlich benahm. Erzuckte und schwankte unruhighin und her.

»Hey, Bob, geht es dirgut?«, fragte ich entsetzt undwurde langsamer. SeineAntwort war ein krampfartigesWürgen, als würde er jeden

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Moment ersticken oderversuchen, sich zuübergeben. Ich dachte, erwürde jeden Moment vonmeiner Schulter fallen oderspringen, also hob ich ihn aufden Gehweg, um zu sehen,was mit ihm los war. Nochbevor ich mich vor ihnhinknien konnte, kotzte er.Keine Essensreste, sondernnur grellgelbe

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Gallenflüssigkeit. Er konntegar nicht mehr aufhören. Seinganzer Körper krampfte, erwürgte und kämpfte, umloszuwerden, was dieseÜbelkeit auslöste.

Einen Moment lang gab ichmir die Schuld, weil ich ihmdurch meinen Pfützen-und-Schirm-Slalom diesenunruhigen Ritt auf meinerSchulter zugemutet hatte.

Aber dann übergab er sich

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wieder. Er würgte und würgte,doch außer giftgrünerFlüssigkeit gab der kleine,geschundene Körper nichtsher. So übel konnte ihmwegen des ungewohntenSchaukelns auf meinerSchulter nicht sein. Bobwürgte immer noch, aber eskam nichts mehr. Das warseltsam, denn am Abendzuvor und zum Frühstückhatte er noch mit Appetit sein

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Futter vertilgt. Erst da begriffich, dass er heute nicht zumersten Mal kotzte.Wahrscheinlich hat er schonbeim Aufsuchen seinesFreiluft-Kistchens zum erstenMal gebrochen. Er war alleinhinuntergelaufen. Auf derBusfahrt war ihm bestimmtauch schon schlechtgewesen. Und ich Idiot hattenichts bemerkt.

Es ist schon seltsam, wie

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man in solchen Situationenauf Autopilot schaltet. Ichreagierte instinktiv, wie einVater, dessen Kind plötzlichvor seinen Augen kollabiert.Meine Gedankenüberschlugen sich. Hatte erheute Morgen etwasSchlechtes gegessen? Hatteer in der Wohnungirgendetwas verschluckt, wasseinen Magen revoltieren

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ließ? Oder war es nochschlimmer? Was tun, wenn erjetzt zusammenbrach undstarb? Wüste Geschichtenvon Katzenbesitzern, derenKatzen vor ihren Augen totzusammenbrachen, weil siePutzmittel getrunken oderkleine Plastikteile verschluckthatten, schossen mir durchden Kopf. Für eineZehntelsekunde blitzte dasBild eines sterbenden roten

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Katers vor meinem geistigenAuge auf. Dann riss ich michzusammen, und befahl mir:Los, James, bleib ruhig und tuwas!

Bob konnte nicht aufhörenzu würgen, aber sein Körpergab nichts mehr her. AkuterFlüssigkeitsverlust. Wenn ichnicht schnell handelte, könntedas seine inneren Organeschädigen. Er musste etwasessen, nein, trinken! Ich hob

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ihn hoch und trug ihnschnellstmöglich, abervorsichtig zu einem kleinenSupermarkt. Ich hatte zwarnur Kleingeld in den Taschen,aber ich konnte genugzusammenkratzen, um seinLieblingsfutter, Hühnchen inSoße, und eine FlascheWasser ohne Kohlensäure zukaufen. Leitungswasser kamin seinem Zustand für michnicht in Frage. Ich wollte kein

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Risiko eingehen.Dann trug ich Bob zu

unserem Verkaufsplatz, holteseine Schüssel heraus undfüllte sie halb mit Wasser.Zögernd steckte er seineZunge hinein, nahm aber nurwenige Schlucke. Er rührtesich nicht vom Fleck, ließ denKopf hängen und starrteteilnahmslos vor sich hin. Mirbrach vor Verzweiflung der

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Schweiß aus. Vorsichtig zogich den Napf weg, leerte dasWasser aus und löffelte denInhalt seinesLieblingsschälchens hinein.Normalerweise steht Bobschon beim Anblick desFutterdöschens stramm.Seine Schüssel ist innerhalbvon Sekunden ratzeputz leerund sauber. Aber nicht andiesem Tag. Er stand davorund starrte unentschlossen

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auf sein Lieblingsfutter. Als erden Kopf endlich senkte,schleckte er nur langsam undvorsichtig die Soße auf. Dasleckere Fleisch rührte er nichtan. Ich bekam es richtig mitder Angst zu tun. So kannteich Bob gar nicht. Es mussteihm hundsmiserabel gehen.

Halbherzig fing ich an,meine Zeitschrift zuverkaufen. Ich brauchtedringend Geld für die

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nächsten Tage, vor allem,wenn ich mit Bob zum Tierarztmusste und er Medizinbrauchte. Aber ich hatte nichtdie Nerven dafür. MeineAufmerksamkeit gehörte mehrBob als meinen Kunden. MeinKater lag völlig teilnahmslosauf meinem Rucksack, undmir fehlte die Kraft, diePassanten mit lockerenSprüchen auf michaufmerksam zu machen.

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Nach zwei Stunden gab ichauf. Bob hat zwar nicht mehrgebrochen, aber er war völligapathisch. Er gehörte nachHause, raus aus demLondoner Nieselregen, rein indie warme Wohnung.

Bisher hatte ich wirklich Glückgehabt mit Bob. Er war nochnie krank gewesen, sondernimmer hundertprozentig fit.

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Anfangs hatte er mal Flöhegehabt, aber das ist normalfür einen Kater, der von derStraße kommt. Seit einerFloh- und Wurmkur gab eskeinerlei gesundheitlicheProbleme mehr.

Trotzdem ließ ich ihnregelmäßig im Blue CrossBus durchchecken. Die Ärzteund Schwestern dort kanntenihn gut und hatten seinenguten Gesundheitszustand

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immer gelobt. Jetzt war ichvöllig hilflos. Die Angst umBob schnürte mir die Kehle zuund nahm mir fast die Luftzum Atmen. Als er auf demRückweg im Bus wieder aufmeinem Schoß schlief,musste ich mehr als einmaldie Tränen zurückhalten. Bobwar mein Ein und Alles. DerGedanke, ihn zu verlieren,machte mich schier verrückt.Aber ich konnte an nichts

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anderes mehr denken.Endlich zu Hause

angekommen, verkroch sichBob sofort unter der Heizung,rollte sich zusammen undschlief für den Rest desTages. In dieser Nacht konnteich kaum schlafen. Bob warso erschöpft, dass er mir nichtmal ins Schlafzimmer folgte.Immer wieder stand ich auf,um nach ihm zu sehen. Aufallen Vieren kroch ich im

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Dunkeln leise zu ihm, ummich zu vergewissern, dass ernoch atmete. Es war einSchock, als ich mir einbildete,ihn nicht mehr zu hören. Flachauf dem Boden robbte ichmich an ihn heran, um ihm dieHand auf sein Zwerchfell zulegen. Ich war furchtbarerleichtert, als er ganz leichtzu schnurren begann.

Ich war so pleite, dass ich

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am nächsten Morgenunbedingt arbeiten musste.Aber wie? Sollte ich Bob alleinin der Wohnung lassen? Oderwarm einpacken undmitnehmen, damit ich ihn imAuge behalten konnte?

Zumindest war das Wetterviel besser als am Vortag.Sogar die Sonne hattebeschlossen, sich zu zeigen.Als ich mit meinerMüslischüssel aus der Küche

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kam, hob Bob den Kopf undsah mich an. Er schautetatsächlich etwas frischer ausdem Pelz. Als ich ihm seinFutter hinstellte, schleckte erschon etwas eifriger daranherum als am Tag zuvor.

Das war ein gutes Zeichen,und ich beschloss, ihnmitzunehmen. Es würde nochzwei Tage dauern, bis ich ihnam Donnerstag zur Blue-Cross-Tierambulanz bringen

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konnte. Also wollte ichzumindest herausfinden, wases mit Bobs Symptomen aufsich hatte. Wir machten einenZwischenstopp in derBibliothek, und ich setzte michvor einen der öffentlichenComputer.

Ich hatte ganz vergessen,dass es nicht empfehlenswertist, medizinische Webseitenzu durchforsten. Nichts alsHorrorszenarien!

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Ich tippte ein paarStichworte ein und fand eineinformative Website. Als ichBobs wichtigste Symptomeeingab – Lethargie,Erbrechen, Appetitlosigkeit –erschienen eine MengeKrankheitsbilder. Es ging losmit Abstoßen von Katzenhaaraus dem Magen undschweren Blähungen. Daswar es nicht. Die nächsten auf

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der Liste waren: Addison-Syndrom, Nierenversagen,Arsenvergiftung. Das warziemlich beängstigend, aberes kamen noch schlimmereMöglichkeiten:Mandelentzündung, Diabetes,Katzenleukämie,Dickdarmkatarrh,Bleivergiftung, Salmonellen.Mir wurde mulmig. Amschlimmsten aber war dieSeite, auf der stand, dass

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Bobs Zustand ein frühesAnzeichen von Darmkrebssein könnte.

Nach einer Viertelstunde vordem Computer war ich einNervenbündel. Das alles halfmir nicht im Geringstenweiter. Also suchte ich nachBehandlungstipps. Das warviel besser. Übereinstimmendrieten die meistenInternetseiten: viel Wasser,Ruhe und ständige

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Beobachtung. Das konnte ichdie nächsten achtundvierzigStunden durchziehen. Ichnahm mir vor, Bob rund umdie Uhr nicht aus den Augenlassen. Sollte er sich nocheinmal übergeben, würde ichihn sofort zum nächstenTierarzt bringen. Falls nicht,würde ich am Donnerstag aufjeden Fall mit ihm zum BlueCross gehen.

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Am nächsten Tag blieb ich bisspät nachmittags zu Hause,damit Bob sich ausruhenkonnte. Zusammengerollt aufseinem Lieblingsplatz, schliefer wie ein Stein. Ich wollte ihnnicht allein lassen, aber seinZustand hatte sich nichtverschlechtert, und derGenesungsschlaf war wichtig.Also verließ ich leise dieWohnung, um wenigstens einpaar Stunden zu arbeiten. Ich

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hatte keine andere Wahl.Auf dem Weg von der

Bushaltestelle nach CoventGarden fiel mir auf, dass ichwieder unsichtbar war. Als ichan meiner Verkaufsstellea n fi n g , The Big Issueanzupreisen, wurde ichdauernd gefragt: »Wo istBob?« Über meine Auskunft,dass er krank sei, waren allesehr betroffen und löchertenmich mit weiteren Fragen: »Er

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wird aber wieder, oder?« –»Ist es sehr schlimm?« –»Waren Sie schon beimTierarzt mit ihm?« – »SolltenSie nicht bei ihm sein?«

Auf einmal fiel mir ein, dassich eine Tierarzt-Helferinkannte. Sie hieß Rosemarie,und ihr Freund Stevearbeitete in einemComicbuchladen ganz in derNähe. Bob und ich waren oft

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dort und hatten uns mit Steveein bisschen angefreundet.So haben wir auch seineFreundin Rosemariekennengelernt, die alles überBob wissen wollte und michmit Fragen löcherte.

Ich machte sofort einenAbstecher in denComicbuchladen. Steve wartatsächlich da und gab mirsofort RosemariesTelefonnummer. »Du kannst

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sie gleich anrufen«,versicherte er mir. »Sie wirdsich freuen, Bob zu helfen. Erhat es ihr wirklich angetan.«

Zum Glück erreichte ich siegleich, und sie stellte mir vieleFragen.

»Was für Futter bekommter? Frisst er auch andereSachen, wenn er draußenrumstrolcht?«

»Na ja, er durchwühlt mitWonne die Müllcontainer

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hinter unserem Haus.«Leider hatte er diese

schlechte Gewohnheit nieaufgegeben; in dieser Hinsichtwar er unbelehrbar. Wenn icheine volle Mülltüte in derKüche vergaß, zerfledderte ersie in Sekunden. Ich mussteimmer darauf achten, siesofort auf den Gang vor dieWohnungstür zu stellen, wennich sie erst am nächstenMorgen mit nach unten

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nehmen wollte. Das war seinewilde Seite. Man kann einenKater von der Straße holen,aber die Überlebensstrategiender Straße kann man ihmnicht austreiben.

»Hmmm«, hörte ich siesagen. »Das erklärt vieles.«Ihre Stimme klang, als wäreihr gerade ein Lichtaufgegangen. Sie nannte mireine Darmkur mit

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probiotischen Bakterien,Antibiotika und einen Saft, derseinen Magen beruhigensollte.

»Gib mir deine Adresse«,forderte sie mich auf. »Ichlasse dir die Medikamentevon einem Fahrradkurierzustellen.«

Ich fühlte mich überrannt.»Oh, Rosemarie, es tut mirleid, aber ich glaube, dass ichmir all die Medikamente gar

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nicht leisten kann«, stotterteich verlegen.

»Keine Panik, James, eskostet dich gar nichts. Nichteinmal der Lieferservice. Wirmüssen heute noch etwas indeiner Gegend ausliefern, undich gebe Bobs Zeug einfachdazu! Bist du heute Abend zuHause?«

»Ja, klar!«, brachte ichmühsam hervor.

Ich war total überwältigt.

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Eine derartige Fürsorge warmir in all den Jahren auf derStraße noch nie begegnet.Willkürliche Gewalt, ja –Nächstenliebe, nein. Das wareine der größtenVeränderungen, die Bob mitsich brachte. Dank ihm habeich das Gute im Menschenwieder entdeckt. Er hat mirden Mut zurückgegeben,Fremden zu vertrauen und ansie zu glauben.

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Rosemarie jedenfalls hieltWort. Nicht, dass ich darangezweifelt hätte. DerFahrradkurier stand schon amSpätnachmittag vor meinerWohnungstür, und ichverabreichte Bob sofort seineerste Dosis Medizin.

Der probiotische Darmsaftschmeckte ihm gar nicht. Alsich ihm einen Löffel volleinflößte, verzog er

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angewidert das Gesicht undmachte einen entsetztenSchritt rückwärts.

»Tja, Partner, das hast dujetzt davon«, warf ich ihm vor.»Nur weil du nicht aufhörenkannst, im Müllherumzuwühlen, musst dujetzt diesen ekeligen Saftschlucken.«

Die Medikamente wirktenschnell. In dieser Nachtschlief er wie ein Baby, und

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am nächsten Morgenbegrüßte mich ein vielfröhlicheres Rotpelzchen.Seine Kräfte kehrten zurück,und er wehrte sich bereitsganz beachtlich gegen diemorgendliche Dosis Darmkur.Ich musste seinen Kopffesthalten, um ihm das Zeugeinzuflößen.

Am Donnerstag ging es ihmschon wieder blendend.Trotzdem fuhren wir zur

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mobilen Ambulanz des BlueCross nach Islington. Ichwollte sicher sein, dass erwieder gesund war. DieTierärztin erkannte Bob sofortwieder und schien ehrlichbesorgt zu sein, als ich ihrerzählte, wie schlimm es Bobgegangen war.

»Ich werde ihn gleich maluntersuchen«, sagte sie undnahm ihn mir ab. Sie stellteihn auf die Waage, leuchtete

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mit einer kleinenTaschenlampe in seinMäulchen und tastete seinenKörper gründlich ab.

»Sieht gut aus«, informiertesie mich danach. »Ich denke,es geht ihm schon vielbesser.« Ich war sehrerleichtert.

Als wir den Bus verlassenwollten, gab sie Bob nocheine Warnung mit auf den

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Weg: »Und bleib weg von denMüllcontainern, Bob! Ichhoffe, es war dir eine Lehre!«

Bobs Krankheit hatte michwachgerüttelt. Bisher war ermein Fels in der Brandunggewesen, ich hatte nie darangedacht, dass er krankwerden könnte. DieErkenntnis, dass Bob sterblichwar, hatte mich tieferschüttert.

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Ich musste endlich aktivwerden und einen heimlichenWunsch, der sich schonlänger in mir regte, in die Tatumsetzen. Es war Zeit,wirklich clean zu werden.

Ich hatte die Schnauze vollvon meinem Lebensstil.Wollte endlich raus aus dendumpfen Zwängen, die mir dieMethadon-Abhängigkeitauferlegte. Der tägliche Gangzur Apotheke, zweimal im

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Monat die lange Fahrt zurDrogenambulanz. Ich wollteendlich das Gefühl loswerden,immer noch suchtgefährdet zusein.

Bei meinem nächstenBesuch in der Klinik erklärteich meinem Therapieleiter,dass es Zeit sei, dasMethadon abzusetzen. Ichwar bereit für den letztenSchritt. Natürlich hatten wirschon öfter darüber

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gesprochen, aber derMethadon-Entzug verlangtviel Kraft und einen starkenWillen. DieseVoraussetzungen hatte ichihm bisher nicht glaubhaftvermitteln können. Aber andiesem Tag überzeugte ichihn.

»Das wird nicht leicht,James«, warnte er mich.

»Ja, ich weiß!«

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»Du bekommst einMedikament namensSubutex. Die Dosis wird überMonate hinweg langsamreduziert, bis du es gar nichtmehr brauchst.«

»Okay«, sagte ich.»Aber die Umstellung ist

hart. Du wirst starkeEntzugserscheinungenhaben, bevor wir dir Subutexgeben können«, warnte ermich. Dabei lehnte er sich

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über seinen Schreibtisch undsah mir tief in die Augen.

»Das ist mein Problem«,konterte ich wildentschlossen. »Ich will dasunbedingt. Für mich, aberauch für Bob!«

Mein Berater war sichtlichbeeindruckt. »Okay, dannwerde ich mich mal um alleFormalitäten kümmern«,stimmte er zu. »In ein paarWochen kann es losgehen!«

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Als ich wieder auf der Straßestand, atmete ich tief ein undaus. Zum ersten Mal seitJahren sah ich ein winzigesLicht am Ende meines sehrdunklen Tunnels.

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15Die schwarze Liste

An einem kalten, feuchtenMontagmorgen erreichte ich

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den Verteilerstand und merktesofort, dass etwas nichtstimmte. Ein paar Big-Issue-Verkäufer standen herum,stampften mit den Füßen, umsich warm zu halten, undtranken heißen Tee ausStyroporbechern. Sobald siemich und Bob erblickten,steckten sie tuschelnd dieKöpfe zusammen und warfenuns finstere Blicke zu.Niemand grüßte, und ich kam

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mir vor wie ein ungebetenerGast.

Sam tauchte mit einemStapel frisch gedruckterMagazine hinter demLieferwagen auf. Als sie michsah, zeigte sie sofort mit demFinger auf mich.

»James, wir müssen reden.«Es war ein Befehl.

»Ja, gern, gibt’s einProblem?«, strahlte ich sie anund ging mit Bob auf meiner

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Schulter zu ihr hinüber. Sonsthatte sie immer einenExtragruß und eineStreicheleinheit für ihn übrig,aber nicht an diesem Morgen.

»Ich habe eine Beschwerdebekommen, genauer gesagt,es waren mehrere«, kam sieohne Umschweife zur Sache.

»Und worüber?«, fragte ichverwundert, denn ich war mirkeiner Schuld bewusst.

»Ein paar von den anderen

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Verkäufern sagen, du›flanierst‹. Du weißt doch,dass du damit gegen dieRegeln verstößt.«

»Aber das stimmt nicht«,versuchte ich mich zuverteidigen, aber sie hielt mirnur abwehrend eineHandfläche entgegen.

»Ich will gar nichts hören. Dusollst sofort ins Büro fahren.Sie wollen mit dir reden.«

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Ich nickte ergeben undwollte mir einen StapelZeitschriften holen. IhreStimme hielt mich auf: »Nein,es gibt keine Zeitschriften, bisdu das in Vauxhall geklärthast.«

»Was soll das denn? Wiesoll ich für mich und Bobsorgen, wenn ich keineZeitschriften von dirbekomme?« Jetzt war ichentsetzt.

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»Tut mir leid, aber du bistgesperrt, bis das mit derPersonalabteilung geklärt ist.«

Ich war sauer, aber nichtallzu überrascht. Einegewisse Feindseligkeit derKollegen war mir nichtentgangen.

Es gab tatsächlich eineRegel für uns Verkäufer, dielautete: Verkaufe deineMagazine nur an dem dirzugeteilten Platz. Man darf

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niemals den Platz einesanderen einnehmen und mandarf mit seinen Zeitschriftennicht »flanieren«. Das heißt,man darf beim Verkaufenseinen Standort nichtverlassen und schon gar nichtverkaufen, während mandurch die Straßen läuft. Ichwar zu hundert Prozent mitdieser Regel einverstanden.Schließlich hätte es mir auch

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nicht gefallen, wenn einKollege neben meinemStandort herumlaufen undThe Big Issue schwingenwürde. Für mich war dieseRegel die gerechteste undeinfachste Art, LondonsArmee vonZeitungsverkäufern unterKontrolle zu halten.

Trotzdem hatten mich inletzter Zeit zwei Kollegenangesprochen und des

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»Flanierens« beschuldigt. Siewarfen mir vor, Zeitschriftenverkauft zu haben, währendich mit Bob an der Leineherumlief. Das stimmte zwarnicht, aber ich wusste, warumsie das dachten.

Egal, wohin ich mit Bob ging,wir wurden immeraufgehalten. Die Passantenwollten Bob entwederstreicheln oder ein Foto mitihm machen.

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Der einzige Unterschied war,dass ich inzwischen Big-Issue-Verkäufer war, und dakam es natürlich auch vor,dass jemand eine Zeitschriftkaufen wollte.

Ich versuchte meinenKollegen zu erklären, inwelche Zwickmühle mich einsolcher Kundenwunschbrachte. Die offizielle Antwortwar klar: Ich musste die Leutedarauf hinweisen, doch bitte

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zu meinem Verkaufsplatz zukommen oder sich dieZeitschrift beimnächstgelegenen Verkäuferzu holen. Aber wozu dasführen würde, war auch klar:Kein Verkauf, also keinGewinn für irgendeinen vonuns.

Einige Kollegen fanden daseinleuchtend und warenzufrieden; andere blieben

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uneinsichtig und nahmen mirdie Sache weiterhin übel.

Ich wusste auch gleich, wermich angeschwärzt hatte.Dazu musste ich kein Geniesein.

Vor etwa vier Wochen warich auf der Long Acreunterwegs gewesen. Dabeiwar ich an Geoffvorbeigekommen, der vordem Bodyshop Zeitungenverkauft. Gordon Roddick,

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Ehemann der Gründerin derBody Shops, war ein großerGönner von The Big Issue.Deshalb gab es vor jedemBody Shop in London einenVerkaufsplatz unseresMagazins. Ich kannte Geoffvom Sehen und grüßte ihnfreundlich, als ich an ihmvorbeiging. Nur wenigeSchritte später wurde ich voneinem amerikanischenEhepaar wegen Bob

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aufgehalten.Die beiden waren

unglaublich höflich, typischmittlerer Westen.

»Entschuldigen Sie bitte,Sir«, sprach mich derEhemann an, »dürfte ichvielleicht ein Foto von Ihnenund Ihrem Begleiter machen?Unsere Tochter liebt Katzen,und sie würde sich überdieses Bild sicher sehrfreuen.«

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Konnte ich da Nein sagen?Mich hatte seit Jahrenniemand mehr »Sir« genannt,falls das überhaupt schon malvorgekommen war.

Inzwischen war ich Profidarin, Bob und mich für dieFotos von Touristen ins rechteLicht zu rücken. Ich setzte ihnauf meine rechte Schulter, mitseinem Gesicht genau nebenmeinem.

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Auch bei demamerikanischen Ehepaar kamunsere Pose gut an. »Oh,vielen Dank«, zwitscherte dieEhefrau. »Unsere Tochterwird ganz aus dem Häuschensein vor Freude über diesesBild.«

Sie hörten gar nicht mehrauf, sich zu bedanken, undwollten mir unbedingt eineZeitschrift abkaufen. Ich sagtesogar Nein und zeigte auf

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Geoff, der ja nur ein paarMeter entfernt an seinemPlatz stand.

»Er ist der offizielleVerkäufer für diese Gegendhier, deshalb hat nur er hierdas Verkaufsrecht«, erklärteich den beiden.

Aber das wollten die beidennicht und gingen weiter. Imletzten Moment lehnte sichdie Frau kurz an mich undschob mir unauffällig einen

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Geldschein in die Hand.»Hier, der ist für Sie«,

flüsterte sie. »Kaufen Sieetwas für sich und Ihrensüßen Kater.«

Das war eine dieserklassischen Situationen, inder Wahrnehmung undWirklichkeit ganzunterschiedlich gesehenwerden konnten. Nur werneben uns stand, hätte

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gesehen, dass ich nicht umGeld gebeten hatte und dassich sogar versucht hatte, diebeiden wegen der Zeitschriftzu Geoff zu schicken. Aber fürGeoff sah es aus, als hätte ichGeld angenommen, ohne eineZeitschrift dafürauszuhändigen, was ebenfallsverboten war. Noch dazudachte er, ich hätte denbeiden geraten, ihn zuignorieren.

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Mir war klar, dass er meineBegegnung mit denAmerikanern falsch deutenwürde, also machte ich kehrt,um die Sache zu klären. Aberer gab mir keine Chance;schon von Weitembombardierte er uns mitwüsten Beschimpfungen.Geoff war bekannt für seineaufbrausende Art undberüchtigt für seinen hartenrechten Haken. Darauf hatte

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ich keine Lust. Er war sowütend, dass ein klärendesGespräch in diesem Momentunmöglich war. Ich ließ ihntobend zurück, damit er sichberuhigen konnte.

Ich hatte schnell gemerkt,dass sich dieser Zwischenfallunter den Kollegen bereitsherumgesprochen hatte. Abdiesem Moment lief eineFlüsterkampagne gegen mich.

Anfangs waren es nur

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dumme Sprüche. »Na,flanierst du wieder?«,begrüßte mich ein Verkäufer,an dessen Standort ich jedenMorgen vorbeilief. Wenigstensbeschimpfte er mich nicht.

Ein Kollege von der St.Martin’s Lane sprach aus,was scheinbar viele dachten:»Na, welchem Verkäuferstiehlst du mit deinemräudigen Kater denn heute

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wieder die Kunden?«, zischteer mir zu.

Ich habe immer wiederversucht, die Sache zuerklären, aber ich hättegenauso gut mit einer Wandsprechen können. MeineKollegen tratschten undstachelten sich gegenseitigauf, indem sie zwei und zweizusammenzählten und darausfünf machten.

Anfangs gab ich nichts auf

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das Getuschel, aberirgendwann lief alles aus demRuder. Ein paar Wochen nachdem Zusammenstoß mitGeoff wurde ich vonbetrunkene Kollegen bedroht.Natürlich ist Alkohol im Job fürBig-Issue-Verkäuferstrengstens verboten. Abereinige Verkäufer sindAlkoholiker und haben immereine Dose »Extra starkesLager« in der Tasche. Andere

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haben ihren Flachmann undgönnen sich den einen oderanderen Schluck Schnapszum Durchhalten. An einemeisig kalten Wintertag habeich das auch schon gemacht,wegen der inneren Wärme,aber diese Kerle waren täglichstockbesoffen.

Als Bob und ich eines Tagesüber die Piazza von CoventGarden gingen, torkelte einervon ihnen auf uns zu und

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bedrohte uns mit schwererZunge und rudernden Armen:»Du verdammter Bastard, wirwerden dich, verflucht nochmal, drankriegen!« Leider wardas keine einmaligeEntgleisung. Inzwischenpassierte so etwasmindestens einmal proWoche.

Am Verteilerstand derBezirksleitung musste ich mir

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eines Tages eingestehen,dass sich die Wut derKollegen zu einem echtenProblem entwickelte. Wie sooft hatte Steve dieNachmittagsschicht von Samübernommen. Ich glaubenicht, dass er mich besondersmochte, aber Bob hatte erimmer gestreichelt. An diesemTag jedoch ließ er seineschlechte Laune an unsbeiden aus. Ich saß auf einer

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Bank und hatte ihn gar nichtbeachtet. Er kam zu mir undbellte gehässig: »Wenn esnach mir ginge, würdest duk e i n e Big Issue mehrverkaufen. Du und dieserKater, ihr seid nichts alsmiese Bettler!«

Damit hatte er mich wirklichverletzt. Okay, ich war malganz unten. Aber ich habemich wieder aufgerappelt.Mich wirklich bemüht, die

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Regeln der Big-Issue-Familievon Covent Gardeneinzuhalten. Ich habe immerwieder versucht zu erklären,dass ich Leute nicht vor denKopf stoßen wollte, nur weilsie Bob mochten. Aberniemand hörte mir zu.

Ja, und genau deshalb warich nicht wirklich überrascht,dass ich ins Personalbürozitiert wurde. Trotzdembrachte mich die Sache ins

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Straucheln.Wie betäubt und schwer

verunsichert verließ ichCovent Garden. Ich stand aufder schwarzen Liste.

An diesem Abend gingen Bobund ich früh schlafen. Es warschon ziemlich kalt, aber ichwollte in unserer verzwicktenfinanziellen Situation keinenStrom verschwenden.

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Während Bob sich amFußende meines Betteszusammenrollte, tat ichdasselbe unter meiner Decke.An Schlaf war nicht zudenken. Verzweifeltzermarterte ich mir den Kopfund suchte nach einer Lösungunseres Problems. Was sollteich tun? Ich hatte keineAhnung, was diese Sperrebedeutete. Sollten wirentlassen werden oder war es

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nur ein strafender Klaps aufden Handrücken, den ich mirabholen sollte? Wenn ich dasnur wüsste!

Während ich mich schlaflosin meinem Bett wälzte, kamdie Erinnerung an dieschäbige Art und Weisegewisser Leute wieder hoch,die mir meinen Job alsStraßenmusiker vergällthatten. Ich konnte denGedanken nicht ertragen,

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schon wieder wegen infamerLügen meine Existenz zuverlieren.

Diesmal war es wirklichunfair. Bisher gab es noch nieProbleme; Sam hatte noch nieeinen Grund gehabt, mich zuermahnen. Viele Kollegenwurden wegen diverserRegelverstöße immer wiedervon den Bezirksleitern gerügt,ohne je gesperrt zu werden.Konnte man nicht wenigstens

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in Betracht ziehen, dass ichregelmäßig mehr Zeitschriftenverkaufte als die meistenmeiner Kollegen?

Da war zum Beispiel dieserschnoddrige,furchteinflößende Riese mitdem breiten Cockney-Dialektaus dem Londoner Eastend.Der Kerl war berüchtigt unterden Kollegen. SeineVerkaufsstrategie

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beschränkte sich aufknurrende Drohungen statteiner freundlichen Einladungzum Kauf. Besonders Frauenfühlten sich von ihm bedrängt,weil er direkt auf sie zuging,sich in voller Lebensgrößedicht vor ihnen aufbaute undsie dabei auch nochunverschämt anbaggerte:»Los, Süße, kauf mir einMagazin ab.« Es war, alswürde er sagen: »Kauf eines,

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oder …«Ich hatte gehört, dass er

vorüberhastenden Passantengern ein zusammengerolltesMagazin in die offenenTaschen steckte. Dann bauteer sich vor ihnen auf undverlangte sein Geld: »Dasmacht zwei Pfund, bitte!« Erlief seinen armen Opfern solange hinterher, bis sie ihmGeld gaben, um ihnloszuwerden. Mit diesem

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Benehmen schadete er unseraller Ruf. Seine Opfer warfendas zwangsweise erworbeneMagazin meist gleich in dennächsten Mülleimer. Mankonnte nicht einmal sagen,dass er um sein Überlebenkämpfte. Angeblich war dieserBrutalo ein Spieler, und dieKollegen erzählten sich, dasser seinen gesamten Verdienstumgehend in einarmigeBanditen steckte.

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Dieser Kerl brach täglich soviele Regeln, aber er warimmer noch da!

Keine meiner angeblichenVerfehlungen warvergleichbar oder schlimmerals das Benehmen diesesKerls. Außerdem war ich nochnie abgemahnt worden. Ichkonnte nur hoffen, dass dieLeute in derPersonalabteilung das

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berücksichtigen würden. Aberich konnte meine Situationüberhaupt nicht einschätzen.Ich lag im Dunkeln undversuchte, meineaufsteigende Panik zubekämpfen.

Je länger ich darübernachdachte, desto unsichererund hilfloser fühlte ich mich.Ich konnte mir das nichtgefallen lassen!

Am nächsten Morgen verließ

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ich wie üblich die Wohnung.Ich wollte versuchen, meineMagazine in einem anderenStadtteil zu kaufen. Lieberwollte ich dieses Risikoeingehen, als mir in Vauxhalldie Existenz wegnehmen zulassen.

J e d e r Big-Issue-Verkäuferweiß, dass es überall inLondon Verteilerstände für dieverschiedenen Bezirke gibt.Besonders viele davon sind in

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der Innenstadt rund um dieOxford Street, Kings Crossund Liverpool Street. Ichkannte inzwischen daskomplette Netzwerk. Ichwollte mein Glück an derOxford Street versuchen, woich bereits ein paar Leutekannte.

Gegen Mittag war ich dortund versuchte, so unauffälligwie möglich meinen Einkaufzu tätigen. Ich hielt ganz kurz

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meinen Ausweis hoch undkaufte zwanzig Exemplare.Der Bezirksleiter war geradesehr beschäftigt und nahmkaum Notiz von mir. Ichentfernte michschnellstmöglich, um ihmkeine Chance auf Frageneinzuräumen. Schwieriger wares, einen freien Platz zufinden, um meine Zeitschriftenzu verkaufen. Es tat mir so

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leid, dass Bob sich wieder aufeine fremde Umgebungeinstellen musste! Er warunruhig und unsicher in demneuen Revier. Er brauchteRoutine, konnte sich nurentfalten und wohlfühlen,wenn alles in seinengewohnten Bahnen ablief. Erwollte sich nicht schon wiederumstellen. Genau so wenigwie ich. Aber wie sollte ichmeinem armen Kater

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begreiflich machen, warumsich unser lieb gewordenerAlltag schon wieder ändernmusste?

Immerhin verkaufte ich einenansehnlichen PackenZeitschriften, und amnächsten Tag ging es ebenso.Ich wechselte täglich denStandort. In meinerVerzweiflung bildete ich mirein, ein Big-Issue-Suchtruppwäre mir bestimmt schon auf

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den Fersen. Diese Vorstellungmag unlogisch und leichtverrückt klingen, aber ichhatte panische Angst, meinenJob und damit meine einzigeund letzte Chance auf einselbstbestimmtes Leben zuverlieren.

In meiner paranoidenVorstellung lief einSchreckensszenario inEndlosschleife ab: Bilder, wieman mich in Vauxhall vor ein

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Schiedsgericht zerrte, besetztmit mehrerenPersonalsachbearbeitern, diemir mit finsteren Mienenmeine »Verbrechen«vorhielten. Sie kannten keineGnade, nahmen mir denlebensnotwendigen Ausweisweg und schickten mich dannmit einem Fußtritt zurück aufdie Straße. »Warum muss soetwas immer uns

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passieren?«, fragte ich Bobeines Abends, als wir zumBus liefen. »Wir haben dochnichts falsch gemacht. Warumlässt man uns nicht einfach inRuhe?«

Aber Klagen brachte wenig.Es blieb mir nichts anderesübrig, als mir in Zukunfttäglich eine andere Gegendvon London zu suchen, umweiterhin für unserenLebensunterhalt sorgen zu

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können. Jeder Einkauf einesStapels Zeitschriften würdemit Herzklopfen undAngstschweiß verbundensein. Denn ich lebte in derständigen Angst, dass eseinem Bezirksleiter auffallenkönnte, eine unerwünschtePerson vor sich zu haben.

Ich saß unter einem alten,zerrupften Schirm auf einerStraße in der Nähe der

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Victoria Station. Es war einSamstag, spätnachmittags,und ich gestand mir endlichein, dass ich einen großenFehler gemacht hatte.Eigentlich war es Bob, der mirzu dieser Einsicht verholfenhatte.

Seit vier Stunden prasseltestarker Regen auf uns herab.Kaum jemand war seitherstehen geblieben, um eineZeitschrift zu kaufen. Ich

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konnte es niemandemverdenken. Jeder wollte soschnell wie möglich raus ausdem Wolkenbruch und nachHause.

Die Einzigen, die sich seitunserem Arbeitsbeginn umzwölf Uhr mittags für unsinteressiert hatten, waren dieSicherheitsbeamten derGebäude, unter derenDächern wir Schutz gesucht

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hatten.»Tut mir leid, Mann, aber

hier kannst du nicht stehenbleiben«, ratterten siemonoton ihren Standardsatzherunter. Der zerfledderteSchirm steckte in einemAbfalleimer, und ich nahm ihnmit. Ein letzter Versuch,diesen Tag nicht ganz zurKatastrophe werden zulassen. Aber das hätte ich mirsparen können.

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Seit einem Monat lebten wirjetzt schon in Verbannung,und ich bezog meine Waretäglich von einem anderenSammelstand. Ich wähltejeden mit Bedacht aus undbat am liebsten fremdeKollegen, mir zehn oderzwanzig Magazinemitzubringen. Genug, um zuüberleben. Ich wollteniemandem schaden, aberwer von meinem Ausschluss

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nichts wusste, konnte dafürauch nicht bestraft werden. Eswar meine einzige Chance,unerkannt zu bleiben undweiterhin für mich und Bob zusorgen.

Aber gut ging es uns nicht.Es war extrem schwierig,jeden Tag einen neuengeeigneten Platz zu finden.Die offiziellen Big-Issue-Standorte musste ich jameiden. Inzwischen kannten

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wir alle Straßenecken rundum Oxford Street,Paddington, King’s Cross,Euston und noch viele mehr.Von den meisten wurden wirschnell wieder vertrieben.Einmal wurde ich vondemselben Polizisten drei Malan einem Tag erwischt. Beimdritten Mal verwarnte er michmit der Aussicht, mich beimnächsten Zusammentreffen

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zu verhaften. Das wollte ichnicht noch einmaldurchmachen. UnsereSituation war aussichtslos.

Ich musste die großenPlätze meiden und suchte mirNebenschauplätze. Dort wares aber viel schwerer,Zeitschriften zu verkaufen,trotz Bobs Hilfe. Die Machervon The Big Issue hatten ihrelizensierten Plätze gutgewählt. Bestimmt hatten sie

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vorher genau analysiert, woman gut oder schlechtverkaufen konnte. Mir bliebnichts anderes übrig, als anden schlechten Plätzen meinGlück zu versuchen.

Bob zog überall die Menschenin seinen Bann, aber meinUmsatz war sehrzurückgegangen. Es wurdeimmer schwerer, das Geld fürden Einkauf neuer Magazine

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übrig zu behalten. An diesemverregneten Samstagabendhatte ich noch fünfzehnZeitschriften. Die würde ichnicht mehr verkaufen. AmMontag wären sie Altpapier,weil die neue Ausgabeherauskam. Ich hatte wirklichein Problem.

Obwohl es bereits dunkelwurde und unaufhörlichweiterregnete, wollte ich nochein paar Plätze aufsuchen,

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um die Magazine vielleichtdoch noch loszuwerden. AberBob war anderer Meinung.

Bis jetzt war er sehr geduldiggewesen, hat diesengrauenhaften Tag mitstoischer Gelassenheitertragen. Es schien ihn nichteinmal zu stören, dass unsdie vorbeirasenden Autosimmer wieder mit einemSchwall Pfützenwasser

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überschütteten. Dabei hassteer Wasser, wie die meistenKatzen. Besonders, wenn esso kalt war. Als ich micherneut an einer Straßeneckeniederlassen wollte, blieb ereinfach nicht stehen. Es kamso gut wie nie vor, dass er ander Leine zog wie ein Hund,aber genau das tat er indiesem Moment.

»Okay, Bob, ich verstehschon. Du willst hier nicht

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bleiben«, gab ich nach. Nochdachte ich, dass ihm dieserspezielle Platz nicht gefiel.Aber das Spiel wiederholtesich an der nächsten undauch an der übernächstenStelle. Er zog mich beharrlichweiter, bis bei mir endlich derGroschen fiel.

»Du willst nach Hause, ja?«Als er meine Frage hörte,wurde er langsamer und legteseinen Kopf ein bisschen

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schief, sodass er michansehen konnte. Dabei – ichschwöre – zog er eineAugenbraue hoch. Dann blieber stehen und starrte mich mitseinem »Ich-will-hoch«-Blickan.

In diesem Moment traf icheine Entscheidung. Bis jetztwar Bob mein Fels gewesen,loyal an meiner Seite trotzständiger Veränderungen, dieich ihm täglich zumutete.

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Trotz der schlechtenFinanzlage, die seineFutterschüssel jeden Tagetwas weniger füllte. Er warder treueste Freund, den ichhatte. Und jetzt war es an mir,ihm meine Freundschaft zubeweisen. Ich musste michmit der Personalabteilung vonThe Big Issueauseinandersetzen.

Plötzlich war mir klar, dass

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dies unsere einzige Chancewar. Dieser Job war für michein großer Schritt in dieNormalität gewesen. Er hattemir so viel Auftrieb gegebenwie nichts anderes zuvor,abgesehen von der Tatsache,dass Bob in mein Lebengetreten war. Ich musste dieSituation klären. So konnte esnicht weitergehen; das war ichBob und auch mir selbstschuldig. Ich konnte Bob das

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alles nicht länger zumuten.Am Montagmorgen zog ich

nach dem Duschen ein Hemdan und machte mich auf denWeg nach Vauxhall. Bobnahm ich mit, alsErklärungshilfe.

Die Ungewissheit machtemich sehr nervös. Ich war aufalles gefasst. Im schlimmstenFall würden sie mir denkostbaren Ausweis abnehmenund mich ausschließen. Das

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wäre wirklich total ungerecht.Mit jeder anderen Strafekönnte ich mich abfinden,sollten sie die Beschwerdenwegen »Flanierens«tatsächlich ernst nehmen.Mein sehnlichster Wunschwar es aber, meineVorgesetzten vom Gegenteilzu überzeugen. Ich hofftesehr, es würde mir gelingen.

Am Empfang desVerwaltungsgebäudes von

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The Big Issue bat ich umeinen Gesprächstermin. Nacheinem kurzen Telefonatforderte mich die nette jungeEmpfangsdame auf, Platz zunehmen und zu warten.

Nach zwanzig bangenMinuten wurden wir endlichabgeholt. Ein jüngerer Mannim Rollkragenpullover undeine ältere Frau mit schickerKurzhaarfrisur führten mich in

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ein schmuckloses Büro. Siebaten mich, die Tür hinter mirzu schließen. Ich hielt die Luftan und wartete auf denRichterspruch.

Die beiden nahmen michwirklich in die Mangel. Siewarfen mir vor, ein paarunumstößliche Regelngebrochen zu haben.

»Wir hatten Beschwerdenwegen Flanierens undBettelns«, bekam ich zu

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hören. Ich wusste, von wem,aber ich hielt den Mund. Ichwollte daraus keinepersönliche Fehde machen.Big-Issue-Verkäufer solltenkollegial miteinanderumgehen. Deshalb würde ichmir hier keine Freundemachen, wenn ich jetzt anfing,andere zu verpfeifen.Stattdessen erklärte ich denbeiden, wie schwierig es war,mit Bob auf der Schulter

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durch Covent Garden zulaufen, ohne dass mir jemandGeld für eine Zeitschrift bot,nur um Bob streicheln zudürfen.

Ich schmückte meineVerteidigung mit ein paarnetten Anekdoten aus, zumBeispiel, wie mich ein paarMänner vor einem Pubaufgehalten hatten, um Bobzu bewundern. Sie hatten mirfünf Pfund für drei meiner

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Zeitschriften geboten, weil sieauf dem Titelblatt eineSchauspielerin entdeckthatten, auf die sie alle dreischarf waren.

»So etwas passiert mirandauernd«, versuchte ich zuerklären. »Wenn mich jemandvor einem Pub aufhält, wärees doch unhöflich, ihm diegewünschte Zeitschrift zuverwehren, oder nicht?«

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Sie hörten mir aufmerksamzu und manchmal nickten siesogar nachdenklich.

»Okay, wir sehen ein, dassBob Aufmerksamkeit erregt.Wir haben mit mehrerenVerkäufern über euchgesprochen, und man hat unsschon von seinerAnziehungskraft berichtet«,gab der junge Mann zu, undseine Stimme klang gar nichtmehr böse.

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»Trotzdem müssen wir dichmündlich verwarnen«, sagtedie Frau neben ihm.

»Okay, okay. Einemündliche Verwarnung – wasbedeutet das?«, fragte ichverblüfft. Sie erklärte mir,dass ich weiterarbeiten dürfe,aber wenn es weitereBeschwerden wegen»Flanierens« gäbe, könnte ichgesperrt werden.

Zurück auf der Straße, hätte

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ich mich ohrfeigen können.Eine mündliche Verwarnungwar so gut wie nichts. Wegenso einer Lappalie hatte ichvollkommen panisch reagiertund mich – typisch für mich! –heillos in einen Irrgarten vollerselbst erdachterHorrorszenarien verstrickt. Ichhatte nichts kapiert, war fastverrückt geworden vorExistenzangst und konnte

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nicht mehr klar denken. Alldiese Bilder, wie man michvor ein Gremium vonManagern zerrte, mir denAusweis abnahm und michzurück auf die Straße warf –nichts als Hirngespinste. Eswäre mir nie in den Sinngekommen, dass man mirGlauben schenken und michmit einer Verwarnungweitermachen lassen würde.

Ich fuhr sofort zurück nach

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Covent Garden und zu SamsVerkaufsstelle. DieAngelegenheit war mir totalpeinlich.

Sam lächelte, als sie michmit Bob kommen sah.

»Ich habe mich schongefragt, ob ich euch beidewiedersehe«, begrüßte sieuns. »Warst du endlich imBüro, um die Sache zuklären?«

Ich nickte und überreichte ihr

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das Schreiben, das man mirim Büro für sie mitgegebenhatte.

»Aha, sie haben dir eineweitere Probezeit auferlegt«,teilte sie mir mit, während sieden Text überflog. »Du darfstin den nächsten vierzehnTagen wochentags erst ab16.30 Uhr und sonntags denganzen Tag arbeiten. Danachbekommst du deine normaleSchicht zurück. Aber sauber

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bleiben!«, warnte sie miterhobenem Zeigefinger.»Wenn du mit Bob unterwegsbist und jemand eineZeitschrift von dir kaufen will,sagst du, dass du keine mehrhast. Wenn du welche im Armhast, erklärst du, dass alleschon für Stammkundenreserviert sind. Lass dich aufnichts ein!«

Das war ein guter Rat. Ich

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hatte allerdings dieBefürchtung, dass andereLeute ein Problem mit dem»Sauberbleiben« habenkönnten. Leider sollte ichdamit recht behalten.

Meine zweite Probezeit warnoch nicht zu Ende, als Bobund ich an einemSonntagnachmittag in CoventGarden auf unserem PlatzZeitschriften verkauften. Wir

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nutzten jede Minute unsererreduzierten Verkaufszeit undsaßen ganz in der Nähe desVerteilerstandes auf derJames Street. Plötzlichbemerkte ich, dass wirbeobachtet wurden. Es warein Kollege namens Stan,dessen grimmige Mienenichts Gutes ahnen ließ.

J e d e r Big-Issue-Verkäuferkannte Stan, er war schonlange dabei. Das Problem mit

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ihm war, dass man niewusste, woran man mit ihmwar. Wenn er gute Launehatte, war er einer dernettesten Kollegen, hilfsbereitund sehr zuvorkommend. Alsich einmal kein Geld mehrgehabt hatte, um neue Wareeinzukaufen, hatte er mir einpaar von seinen Zeitschriftenzum Verkaufen geschenkt.

War er aber schlecht gelauntoder gar betrunken, dann

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hatte man dieunangenehmste,streitsüchtigste undaggressivste Nervensäge vorsich, die man sich nurvorstellen kann.

In diesem Moment war erdie Nervensäge.

Stan war ein Riese,bestimmt 1,95 groß. Erbeugte sich über mich undbellte mit schwerer Zunge:

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»Du darfst gar nicht hier sein.Du bist doch gesperrt!«

Sein Atem roch wie eineSchnapsfabrik.

Normalerweise lasse ichmich auf keine Diskussionenmit einem Betrunkenen ein,aber ich konnte ja nichteinfach weggehen. Ichmusste meine Big Issuesloswerden. Also Augen zuund durch!

»Nein, Stan, laut Sam darf

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ich sonntags den ganzen Tagund unter der Woche ab16.30 Uhr hier arbeiten.«

Zum Glück war ein Kollegevon Sam am Verteilerstand,der meine Aussagebestätigte. Stan passte dasgar nicht. Er taumelte erst malrückwärts und kam wiedernäher. Mit gehässiger Mienebeugte er sich über mich.Sein Atem war Whisky pur.Dann blieb sein von Alkohol

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verschleierter Blick an Bobhängen. »Wenn’s nach mirginge, würde ich deine Katzeeinfach abmurksen«,quetschte er leise zwischenden Zähnen hervor.

Das hat gesessen!Wenn er versucht hätte, Bob

anzufassen, wäre ich auf ihnlosgegangen. Wie eine Mutterihr Kind hätte ich meinenKater verteidigt. Bob war meinBaby. Für meinen Job wäre

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das allerdings das Endegewesen.

Deshalb traf ich auf derStelle zwei Entscheidungen.Zum einen schnappte ich mirBob und suchte mir für denRest des Tages einenanderen Verkaufsplatz. Ichwürde keine Sekunde längerin Stans Dunstkreis arbeiten,solange er in diesem Zustandwar. Zum anderen würde ich

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in Zukunft Covent Gardenkomplett meiden.

Geschäftlich gesehen wardas zwar fatal, denn Bob undich hatten hier einen treuenKundenstamm, und dielebhafte Atmosphäre diesesViertels würde uns bestimmtfehlen.

Aber ich musste mireingestehen, dass wir inCovent Garden nicht mehrsicher waren. Es gab Neider,

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die offensichtlich vor nichtszurückschreckten. Kein Jobwar es wert, Bob in Gefahr zubringen. Es war Zeit, in einenanderen Stadtteil zuwechseln. Am besten wäreeine Gegend mit wenigerKonkurrenz, in der wir auchweniger bekannt waren. Ichhatte da schon so eine Idee.

Bevor ich Covent Gardenentdeckte, hatte ich alsStraßenmusiker einen Platz in

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der Nähe der Angel Station inIslington. Ein guter Stadtteil,weniger lukrativ als CoventGarden, aber immer nochlohnend.

Gleich am nächsten Tagbesuchte ich Lee, denBezirksleiter für Islington. Wirkannten uns flüchtig.

»Gibt es eine Chance, hiereinen guten Verkaufsplatz zukriegen?«, fragte ich ihn.

»Na ja«, überlegte er laut,

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»die Camden Passage istschon überbelegt und Greenauch. Aber du könntest dichvor die U-Bahn-Stationsetzen. Der Platz ist nichtsehr beliebt.«

Es war ein Déjà-vu-Erlebnis.Genau wie in Covent Garden.A l l e Big-Issue-Verkäufermieden die U-Bahn-Stationen.Sie waren der Meinung, dassman dort keine Zeitungen

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loswürde, weil es dieFahrgäste immer viel zu eilighatten. Keine Zeit, über einenKauf nachzudenken und Geldhervorzukramen. Allepotenziellen Kunden warenunter Zeitdruck.

Aber genau wie in CoventGarden wirkte Bobs magischeAusstrahlung auch hier.Sobald die Leute ihnentdeckten, hatten sie esplötzlich gar nicht mehr eilig.

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Es war, als bewirkte seinAnblick sofortigenStressabbau. Bob brachte esinnerhalb von Sekundenfertig, ihr hektisches,einsames Leben mit etwasWärme und Zuneigungaufzuhellen. Ich glaube, vieledieser Leute kauften mir eineBig Issue als Dankeschön fürdiesen magischen Momentmit Bob ab. Und so nahm ichden »schwierigen

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Verkaufsplatz« mit Kusshand.Wir fingen gleich am

nächsten Tag an. Die Covent-Garden-Verkäufer konntenuns gestohlen bleiben.

Es dauerte nicht lange, bisdie ersten Passanten stehenblieben, um Bob zubewundern. Wir machtengenau da weiter, wo wir inCovent Garden aufgehörthatten. Manchmal trafen wirauch alte Bekannte. Wie die

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gut gekleidete Dame imKostüm. Sie blieb abrupt voruns stehen, als sie uns einesAbends sah, und riefverwundert aus: »Arbeitet ihrbeiden nicht in CoventGarden?«

»Nein, Madam, nicht mehr!«

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16Herzlich aufgenommen

Bob war sehr angetan vonunserem Wechsel zur Angel

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Station. Sein Verhalten, wennwir morgens zu unseremneuen Stammplatzmarschierten, sprach Bände.

Wenn wir in Islington Greenaus dem Bus stiegen, wollteer nicht auf meine Schulter,wie das in Covent Gardenimmer der Fall gewesen war.Fast jeden Morgen lief er ander Leine erwartungsvoll vormir her. Vorbei an derCamden-Einkaufspassage

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und all den Antiquitätenläden,Cafés, Pubs und Restaurantsin Richtung Islington HighStreet bis zu dem großen,asphaltierten Platz vor demEingang der U-Bahn-Station.

Manchmal, wenn ich etwasam Verteilerstand auf derNordseite von Green zuerledigen hatte, nahmen wireinen anderen Weg. Danndurfte er einen Abstecher inden kleinen Park im Herzen

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von Green machen. Esmachte mir nichts aus, auf ihnzu warten, während er sichdurch das hohe Grasschnüffelte. Wahrscheinlichsuchte er nach Nagetieren,Vögeln oder sonstigenarglosen Kleintieren, andenen er seinenRaubtierinstinkt austobenwollte. Bisher war er zwarnoch nicht fündig geworden,aber das tat seinem Eifer

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keinen Abbruch. Er steckteseinen Kopf in jeden nurmöglichen Schlupfwinkel undjedes Versteck.

Unser neuer Stammplatz,der jetzt schon BobsLieblingsplatz war, lag genauzwischen dem Blumenstandund dem Zeitungskiosk. Ganzin der Nähe der Bänke, dievor dem Eingang zur AngelStation standen. Sobald wir

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dort ankamen, blieb er stehenund sah mir bei unseremAnkunftsritual zu: Ich legteden Rucksack auf den Bodenund eine aktuelle Ausgabeder Big Issue davor auf denBürgersteig. Erst wenn allesauf seinem Platz war, setzteer sich dazu. Dann begann ermit einer gründlichenKatzenwäsche, um unserenArbeitstag sauber und gutgelaunt zu beginnen.

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Mir ging es ähnlich wie Bob:Ich fühlte mich ebenfalls sehrwohl an unserem neuenStandort. Nach all dem Ärger,den ich über die Jahre inCovent Garden gehabt hatte,war Islington Green wie einruhiger Hafen nach einersturmgepeitschten Seereise.Es fühlte sich an wie derBeginn eines neuenLebensabschnittes – diesmalhoffentlich ohne Rückschläge.

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Die Angel Station war invielerlei Hinsicht ganz andersals Covent Garden und dieStraßen rund um dasWestend. Im Zentrum vonLondon waren tagsüberimmer Horden von Touristenunterwegs und abends dievergnügungshungrigenLondoner. Unser neuerStandort war nicht soüberlaufen, aber auch dieAngel Station spuckte und

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verschluckte täglich immernoch jede Menge Passagiere,die an uns vorbei mussten.

Auch das Publikum war einanderes. Immer noch vieleTouristen, die von denRestaurants,Kunstausstellungen wieSadlers Wells und demIslington Design Centerangezogen wurden. Aber indieser Gegend waren auch

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viele Firmen ansässig. Diesbrachte ein etwasgehobeneres Publikum mitsich, wenn ich das so sagendarf. Morgens und abendszog eine Armada vonGeschäftsleuten in Anzügenan uns vorüber. Viele vonihnen nahmen keine Notiz vondem roten Kater zu ihrenFüßen. Aber wer ihnbemerkte, war meist auchhingerissen. Unsere neuen

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Kunden waren sehrgroßzügig. Unser Absatzerhöhte sich leicht, und auchdie Trinkgelder waren imDurchschnitt etwas höher alsin Covent Garden.

Die Anwohner zeigten ihreGroßzügigkeit auf andere Art.Gleich von Anfang anbrachten unsere »Nachbarn«Geschenke für Bob.

Es war unser zweiter oderdritter Tag an der Angel

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Station, als die ersteFutterspende für Bobabgegeben wurde. Eine sehrelegant gekleidete Dame bliebstehen, um sich mit uns zuunterhalten. Sie fragte, ob wirnun jeden Tag hier wären.Das fand ich etwas seltsam.Wollte sie sich über unsbeschweren? Aber ich lagvöllig falsch. Am nächstenTag brachte sie eine kleineTüte von Sa i nsbu r y mit

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Katzenmilch und einemDöschen Sheba.

»Hier Bob, das ist für dich«,sagte sie und stellte die Tütevor ihm auf den Boden.

»Ich gebe es ihm heuteAbend zu Hause, wenn esIhnen recht ist«, bedankte ichmich.

»Aber natürlich!Hauptsache, es schmecktihm«, gab sie zur Antwort.

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Mit der Zeit wurden esimmer mehr Anwohner, dieBob mit Leckereienverwöhnten.

Unser Platz war ganz in derNähe eines Sainsbury-Supermarktes. Mir fiel auf,dass viele Leute, die dort ihreEinkäufe erledigten, auchetwas für Bob mitnahmen. Aufdem Heimweg vomSupermarkt gaben sie ihreGeschenke für Bob bei uns

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ab. Wir arbeiteten noch nichtlange an der Angel Station,als Bob an einem Tag vonsechs Anwohnern Futtergeschenkt bekam. Als wirabends nach Hause wollten,hatten sich in meinemRucksack so viele Dosen mitKatzenmilch, Futter undFischkonservenangesammelt, dass ich sie ineine Plastiktüte umfüllenmusste. Zu Hause

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angekommen, füllte ich einganzes Regal imKüchenschrank mit diesenGeschenken. Der Vorratreichte Bob für eine ganzeWoche.

Auch die U-Bahn-Mitarbeiterder Angel Station hatten mitihren Kollegen von CoventGarden wenig gemein. Dortwar ich der von vielengehasste Antichrist gewesen.

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Die Leute, mit denen sich inall den Jahren eineFreundschaft entwickelt hatte,konnte ich an einer Handabzählen. Wenn man meineZeit als Straßenmusiker undBig-Issue-Verkäuferzusammenzählt, dann ist daswirklich mager. Eigentlichbrauchte ich keine ganzeHand, es waren höchstenszwei Leute.

Von den Mitarbeitern der

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Angel Station dagegen wurdeBob vom ersten Tag angeliebt und verwöhnt. Wie aneinem sehr heißen Tag, alsdas Thermometer bestimmtüber 30 Grad anzeigte. Alletrugen T-Shirts, obwohl esbereits Herbst war. Ich kamfast um in meinen schwarzenKlamotten.

Ich setzte Bob in denSchatten des Gebäudeshinter uns, damit ihm nicht zu

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heiß wurde. Hitze ist nichtgesund für Katzen. Schonnach einer Stunde war klar,ich musste für Bob Wasserbesorgen. Aber noch bevorich diesen Gedanken in dieTat umsetzen konnte, tauchteaus dem U-Bahnhof jemandauf, der eine Schüssel mitklarem, kaltem Wasserbrachte. Es war Davika, eineTicket-Kontrolleurin, die schonoft bei uns stehen geblieben

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war, um zu plaudern. »HierBob«, sagte sie und stellte dieSchüssel vor ihn hin. Siestreichelte seinen Nacken undfügte hinzu: »Wir wollen dochnicht, dass du unsaustrocknest.« Bob ließ sichnicht lange bitten. Dankbarschlabberte er die ganzeSchüssel leer.

Obwohl ich seine besondereGabe kannte, Menschen für

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sich zu gewinnen, fasziniertees mich immer wieder, wieviele Fans er hatte. DieAnwohner von Islington warenihm jedenfalls innerhalbweniger Wochen treuergeben. Einfach unglaublich,mein Rotpelzchen.

Aber leider hatte auch unserneuer Standort seineSchattenseiten. Wir warenimmer noch in London, undda ist nun mal nicht alles

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Gold, was glänzt. Meingrößtes Problem waren dievielen anderenStraßenverkäufer, die ganz inunserer Nähe ihrenGeschäften nachgingen.

Während man in CoventGarden überall etwas gebotenbekam, konzentrierte sich hierin Islington die gesamteHändler- und Künstlerscharrund um die Angel Station.Das Ergebnis war eine Menge

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Konkurrenz. Da waren Leute,die kostenlose Magazineverteilten, und Freiwillige vondiversenWohltätigkeitsorganisationen,die für ihren guten Zwecksammelten. Vor zehn Jahren,als ich mit der Straßenmusikangefangen hatte, war hiernoch viel weniger losgewesen.

Die Spendensammler warenmeist übereifrige junge Leute.

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Sie pickten sich gut betuchtePendler und Touristen aus derMenge und beschwatzten sieso lange, bis sie eineEinzugsermächtigung fürregelmäßige Abbuchungenvon ihrem Bankkontounterschrieben. Für michgrenzte das schon an Stehlenfür einen guten Zweck. Dieeinen sammelten für die DritteWelt, die anderen für die

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Erforschung von Krankheitenwie Krebs, Mukoviszidoseoder Alzheimer. Das war ihrgutes Recht, aber ihreAufdringlichkeit ging mir aufdie Nerven. Natürlich hatteauch ich meine Taktik, umThe Big Issue an den Mannzu bringen. Aber dieZudringlichkeit und Penetranzdieser Leute ging mir gegenden Strich. Sie liefen denPassanten hinterher und

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zwangen ihnen Gesprächeauf, die niemand führenwollte.

Täglich musste ich zusehen,wie Pendler aus dem U-Bahnhof kamen, dieaggressiven Sammler in ihrengrellfarbigen T-Shirtserblickten und schlichtweg dieFlucht ergriffen. Da alle diesePassanten auch potenzielleBig-Issue-Kunden waren,machte mich das richtig

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sauer.Wenn einer dieser jungen

Wilden meinem Verkaufsplatzzu nahe kam, knöpfte ich mirden Übereifrigen vor. Manchevon ihnen waren einsichtig.Sie zeigten Respekt undhielten Abstand zu meinemStandort. Aber leider nichtalle.

Ich hatte eine ernsteAuseinandersetzung miteinem jungen Studenten,

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dessen Lockenkopf mich anden Musiker Marc Bolan vonT. Rex erinnerte. Erverärgerte die Passanten,indem er sie umkreiste, sieaufhielt und auch dann nochweiter neben ihnen herlief,wenn sie ganz offensichtlichversuchten, ihnabzuschütteln. Ich konnte dasnicht länger mit ansehen.

»Hör mal, Kumpel, so wie du

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dich aufführst, vergraulst duauch allen anderen hier dieKunden«, versuchte ich eszuerst auf die sanfte Tour.»Kannst du bitte etwas weiterweggehen?«

Leider fühlte er sich gleichangegriffen. »Ich habe jedesRecht, hier zu sein«,verteidigte er sich. »Du hastmir keine Vorschriften zumachen, und ich kannbleiben, wo ich will!«

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Offenbar musste ichdeutlicher werden, um zudiesem jungen Wildendurchzudringen. Ich machteihm klar, dass ich hierversuchte, Geld zu verdienen,um meine Rechnungen zubezahlen und um Bob und mirdas Dach über dem Kopf zuerhalten. Für ihn dagegen wares nur ein kleiner Nebenjob,mit dem er in der Zeitzwischen Schule und

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Universität sein Taschengeldaufbessern wollte.

Das nahm ihm den Wind ausden Segeln.

Aber es gab noch eineandere Gruppe, die mir dasLeben schwer machte: DieVerteiler von Gratis-Magazinen wie StyleList undShortList, leider sehransprechende, gut gemachteZeitschriften. Ein echtesProblem für mich, denn die

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Frage war: Warum solltenKunden für mein Magazinbezahlen, wenn es zweiSchritte weiter ein ebensogutes umsonst gab?

Sobald einer dieser Gratis-Verteiler in meine Nähe kam,versuchte ich, ihm meinDilemma zu erklären: »Hörmal, ich verdiene nur Geld,wenn ich meine Zeitschriftenverkaufe. Also bitte, lass mich

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leben und gib mir den nötigenFreiraum. Am besten, duhältst mindestens sechsMeter Abstand.«

Meine Bitte war nicht immererfolgreich, vor allem, weilviele dieser Verteiler keinEnglisch sprachen. Die einenverstanden mich nicht, unddie anderen hatten keine Lust,mir zuzuhören.

Am nervigsten warenallerdings die Sammeldosen-

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Schüttler. Bewaffnet mitgroßen Plastikdosen,tauchten sie auf, um für einenaktuellen Notfall Spenden zusammeln.

Nur um das gleichklarzustellen, ich befürworteteSpendenaktionen: Afrika,Umweltschutz, Tierschutz,alles ehrenwerte und wichtigeProjekte. Aber wenn esstimmt, dass eine Menge vondiesem Geld in die eigenen

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Taschen gewisserDosenschüttler wandert, hältsich mein Mitleid in Grenzen.Viele von ihnen hatten keineLizenz zum Sammeln undauch keinen entsprechendenAusweis. Die laminiertenKärtchen, die sie um den Halsgehängt trugen, hättengenauso gut von einemKindergeburtstag stammenkönnen. Sie sahen ziemlichunprofessionell aus.

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Die Dosenschwenker durftensogar in die U-Bahn-Halle. Einheiliger Ort, den kein Big-Issue-Verkäufer betretendurfte, um Geschäfte zumachen. Mir wurde übel,wenn ich zusehen musste,wie sie im Innern derBahnhofshalle die Leutebelästigten. Manchmalstanden sie direkt an denDrehkreuzen, damit ihnen ja

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niemand entkam. Wenn dieseFahrgäste dann nach obenkamen, hatten sie keine Lustmehr, auch noch eineZeitschrift zu kaufen.

Ich erlebte hier so etwas wiedie andere Seite der Medaille.In Covent Garden war ich derRegelbrecher gewesen, dernicht im vereinbarten Bereichblieb und die Gesetzeziemlich locker auslegte. Jetztwar ich der Leidtragende

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solcher Typen.Ich war der einzige

Straßenverkäufer mit Lizenzfür meinen Platz vor der AngelStation. Ich hielt gebührendenAbstand von allen Plätzen, dievon Kollegen besetzt waren,besonders vom Blumen- undZeitungsstand. Ich hattemeine Lektion gelernt. Aberdie Spendensammler,Dosenschüttler undStraßenhändler setzten sich

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rücksichtslos über alleGesetze der Straße hinweg.

Man könnte meine Problemeals Ironie des Schicksalsbezeichnen, aber manchmalmochte ich darüber nichtmehr lachen.

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17Achtundvierzig

Stunden

In der Drogenambulanz

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setzte ein junger Arzt seineUnterschrift auf mein Rezept.Seine Miene war ernst, als eres mir aushändigte. Dannschärfte er mir nochmals ein:»Bitte denk daran, nimm dasnoch und komm dannfrühestens nachachtundvierzig Stundenwieder. Erst wenn du dieEntzugserscheinungen nichtmehr aushältst.« Dabei sah ermich prüfend an, wohl um zu

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ergründen, wie ernst es mirwar. »Das wird nicht einfach,James, vor allem, wenn dudich nicht daran hältst, wasich dir gesagt habe. Okay?«

»Okay, ich hab’sverstanden«, versicherte ichihm. Dann stand ich auf, umden Behandlungsraum zuverlassen. »Ich will es wirklichschaffen. Bis in zwei Tagendann.«

Zwei Monate waren

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vergangen, seit wir bei einemmeiner regelmäßigen Termineim Drogenzentrum über dasAbsetzen meiner täglichenDosis Methadon gesprochenhatten. Damals war ich wildentschlossen gewesen, abermeine Ärzte und Beraterwaren anderer Meinung. Beijedem meiner Termineverschoben sie den von mirgewünschten Methadon-Entzug. Eine Erklärung dafür

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gab mir keiner. Endlich sahensie die Zeit gekommen. Ichdurfte den letzten Schritt indie Unabhängigkeit machenund mich aus den Klauendieser stimmungsdämpfendenErsatzdroge befreien.

Das Rezept, das ich geradevom Arzt bekommen hatte,war die letzte Dosis Methadonin meinem Leben. Ich hatte esgebraucht, um vom Heroin

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loszukommen. Aberinzwischen hatte ich die Dosisso weit reduziert, dass ich esnun ganz absetzen konnte.

Wenn ich in achtundvierzigStunden zur Drogenambulanzzurückkäme, würden sie mirSubutex geben, ein vielschwächeres, eheranregendes Medikament.Damit würde ich den Schritt inein komplett drogenfreiesLeben schaffen.

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Mein Arzt hatte die Phasemeines Entzuges, die nun aufmich zukam, mit der Landungeines Flugzeuges verglichen.Diese Metapher gefiel mir. Inden nächsten Monaten würdeer meine tägliche RationSubutex langsam auf einMinimum reduzieren. MitMethadon ist das nichtmöglich. In dieser Zeit würdeich sozusagen langsam aufdie Landebahn zusteuern und

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am Ende – hoffentlich! – nurmit einem ganz leichten Ruckaufsetzen. Während ich aufmein Rezept wartete, dachteich nicht weiter über dieBedeutung dieses tiefsinnigenVergleichs nach. Viel mehrlagen mir die nächstenachtundvierzig Stunden imMagen.

Mein Arzt hatte mir dieRisiken detailliertbeschrieben. Es war nicht so

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einfach, Methadonabzusetzen, es war vor allemsehr unangenehm. Ich kanntedie Auswirkungen des »ColdTurkey«, derEntzugserscheinungen beimplötzlichen Absetzen vonHeroin. Methadon-Entzugverursacht die gleichenSymptome. Sie würden nachetwa vierundzwanzig Stundenlangsam einsetzen. Es war

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wichtig, all die dazugehörigenBeschwerden weiterevierundzwanzig Stundenauszuhalten, bevor ich dieerste Dosis Subutexeinnehmen durfte.

Würde ich Subutex zu früheinnehmen, setzten dieEntzugserscheinungen sofortund vehement ein. DasMethadon musste erstkomplett vom Körperabgebaut sein, damit die

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beiden unterschiedlichenErsatzdrogen keinenSpontan-Entzugverursachten, der vielschlimmer wäre als derlangsam einsetzendeMethadon-Entzug. Ich wolltegar nicht daran denken.

Momentan fühlte ich michstark genug, die Vorgabengenau einzuhalten. Trotzdemquälte mich der Gedanke, imentscheidenden Moment

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schwach zu werden. DieSchmerzen nicht mehrauszuhalten, sodass ich»alles« tun würde, damit esmir besser ginge. Wie einMantra betete ich mir vor:»Ich werde das schaffen.« Eswar die letzte und allesentscheidende Hürde, umdiese verdammteAbhängigkeit zu überwinden.Der Zeitpunkt war perfekt, umdiesen Teufelskreis endlich zu

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durchbrechen.Ich habe mir die traurige

Wahrheit endlicheingestanden. Seit zehnJahren war ich süchtig. All dievielen vergeudetenLebensjahre! Ich hattewertvolle Zeit verschwendet,so viele Tage nutzlos an mirvorüberziehen lassen. Wennman auf Drogen ist, werdenMinuten zu Stunden und

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Stunden zu Tagen. Manverliert jegliches Zeitgefühl.Alles ist egal. Zeit wird erstwieder wichtig, wenn man dennächsten Schuss braucht.

Dann ist man in Zeitnot. Weilman an nichts anderes mehrdenken kann, als Geld für dennächsten Schuss zubeschaffen. Seit meinerHeroinabhängigkeit vor vielenJahren hatte ich dennoch vielerreicht. Dank dem Drogen-

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Rehabilitationsprogrammhatte ich die Chance aufeinen Neuanfang bekommen.Dafür war ich sehr dankbar,aber es war Zeit, mehr vonmir zu fordern. Ich hatte dieSchnauze gestrichen voll vonden täglichenApothekenbesuchen und vonden regelmäßigen Terminenin der Drogenambulanz. Dawurde unter anderem jedesMal überprüft, ob ich auch

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nicht rückfällig geworden war.Es war genug. Mein Lebenging mich wieder etwas an.Es war Zeit für eineVeränderung.

Ich hatte darauf bestanden,diesen schwierigenMedikamentenwechsel alleindurchzustehen. Man hat mirzwar mehr als einmale m p f o h l e n , NarcoticsAnonymous beizutreten. Dasist eine Selbsthilfegruppe für

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genesende Süchtige, die sichgegenseitig helfen, von denDrogen wegzubleiben. Aberich konnte mich mit derenZwölf-Stufen-Programm nichtanfreunden. Ihre »spirituellenPrinzipien« waren nicht meinDing. Ich konnte mit derversteckten religiösenBotschaft, so etwas wie»Selbstaufgabe für Gott«,nichts anfangen.

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Vielleicht machte ich mir dasLeben schwerer als nötig, weilich diese achtundvierzigStunden ohne Hilfedurchziehen wollte. Aberallein war ich nicht, ich hatteja Bob.

Wie immer hatte ich ihn beimeinem Termin in derDrogenambulanz zu Hausegelassen. Ich wollte ihmdiesen schrecklichen Ort nichtzumuten. Ich war alles andere

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als stolz auf diesen Teilmeines Lebens, auch wennich seit meinem erstenBesuch schon viel erreichthatte.

Als ich nach Hause kam,wurde ich von Bob freudigbegrüßt. Vielleicht lag es aberauch an der verführerischduftenden Einkaufstüte, dieich mitgebracht hatte. Ichhatte uns im Supermarkt mitden nötigen Lebensmitteln

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und diversen Leckereieneingedeckt, um die nächstenbeiden Tage abgeschottet vonder Außenwelt zu Hauseverbringen zu können. Jeder,der schon mal versucht hat,sich ein Lasterabzugewöhnen, weiß, wie dasist. Ob Zigaretten oderAlkohol – die erstenachtundvierzig Stunden sinddie schlimmsten. Man ist

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seine Rituale so gewöhnt,dass man an nichts anderesmehr denken kann. Man musssich also ablenken, undgenau das hatte ich vor.Deshalb war ich auch so froh,dass Bob bei mir war. Erwürde mir helfendurchzuhalten. Gegen Mittagmachten wir es uns auf derCouch vor dem Fernsehergemütlich, und ich wartete.

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Die Wirkung von Methadonhält etwa zwanzig Stundenan. Somit war dieser ersteTag noch sehr entspannt. Ichspielte viel mit Bob, und wirmachten einen kleinenSpaziergang, damit er seinGeschäftchen erledigenkonnte. Danach spielte icheine ganz alte Version desComputerspiels »Halo 2« aufmeiner altersschwachenXBox. Noch war die See

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ruhig. Aber der Sturm würdenicht mehr lange auf sichwarten lassen.

Die berühmtesteNachstellung vonEntzugserscheinungen findetman in dem FilmTrainspotting. Darin spieltEwan McGregor die Rolle desMark Renton, der im Filmeinen kalten Heroinentzugdurchzieht. Dazu lässt er sichmit genug Nahrung und

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Getränken für ein paar Tagein einem Zimmereinschließen. Er durchlebt dieschrecklichsten psychischenund physischen Schmerzen,die man sich nur vorstellenkann. Zittern, Halluzinationen,Übelkeit bis zum Erbrechenund was sonst nochdazugehört. Wer den Filmgesehen hat, erinnert sichbestimmt an die Szene, in der

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er sich vorstellt, wie er in dieKloschüssel kriecht.

Die nächsten Stunden warenzehn Mal schlimmer als dieseFilmszene. Aber ich hatteauch ähnliche Symptome.

Der Entzug setzte ziemlichgenau vierundzwanzigStunden nach meiner letztenDosis Methadon ein. Nachweiteren acht Stunden war ichschweißgebadet und konntenicht mehr stillsitzen. Es war

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spät nachts, und unteranderen Umständen hätte ichlängst geschlafen.Irgendwann bin ich docheingenickt, aber es fühlte sichan, als wäre ich die ganzeZeit wach. Es war einseltsamer Schlaf, vollgestopftmit Träumen, die schon eherHalluzinationen waren, soecht fühlten sie sich an.

Ich erinnere mich nicht mehrganz genau an diese Träume,

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nur, dass ich in jedemeinzelnen Traum Heroinnehmen wollte. Malverschüttete ich es, malbekam ich die Nadel nicht inmeine Venen, und beimnächsten Mal wurde ich vonder Polizei festgenommen,natürlich bevor ich mir denSchuss setzen konnte. Es wareigenartig. Als versuchte meinKörper, auf diese Weise mitdem Entzug der Droge

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umzugehen, die er sonstregelmäßig alle zwölf Stundenbekam. Und meinUnterbewusstsein versuchtemir zu sagen, dass es einegute Idee wäre, wieder damitanzufangen. In meinemKörper tobte ein Kampfzwischen Gut und Böse.Dabei fühlte ich mich fast wieein Zuschauer, der danebenstand und gaffte. Es war

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komisch. Mein Heroinentzugvor Jahren war nicht halb soschlimm gewesen wie dashier. Der Wechsel zuMethadon war damals ganzunkompliziert gewesen, ohnekörperliche Beschwerden.

Ich verlor jedes Zeitgefühl.Als es draußen hell wurde,bekam ich unbeschreiblicheKopfschmerzen. Vielleichtvergleichbar mit Migräne,denn ich konnte weder Licht

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noch das leiseste Geräuschaushalten. Also machte ichdie Fenster dicht und saß imabgedunkelten Raum. Aberdann kamen dieseHalluzinationsträume wieder.Ich brauchte all meineWillenskraft, um wieder wachzu werden. Ein Teufelskreis.Was ich jetzt wirklichbrauchte, war eineAblenkung, eineBeschäftigung. Bob war

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meine Rettung.Manchmal frage ich mich, ob

Bob und ich via Telepathieverbunden waren. Er kannwirklich meine Gedankenlesen. Auch in diesemMoment: Er wusste genau,dass es mir schlecht ging, under ließ mich nicht aus denAugen. Er blieb in meinerNähe, kuschelte sich an mich,wenn ich ihn dazu einlud, undzog sich etwas zurück, wenn

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es mir total schlecht ging. Erschien immer zu wissen, wasich gerade brauchte.Manchmal, wenn icheinnickte, stupste er mir seinkaltes Näschen ins Gesicht,als wolle er sagen: »Hey,alles klar? Ich bin da, wenn dumich brauchst.« Die meisteZeit saß er aber einfach nurneben mir und schnurrte, oderer strich um mich herum.

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Manchmal spürte ich seinekleine, raue Zunge auch kurzauf meiner Stirn oder Wange.Immer wieder tauchte ich indieses unheimliche Parallel-Universum ausHalluzinationen ab. Und eswar Bob, der mich immerwieder rausholte. Er war meinRettungsring, denn er ließmich nicht untergehen,sondern holte mich immerwieder an die Oberfläche,

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zurück in die Realität.Bob war noch aus vielen

anderen Gründen einGeschenk des Himmels indiesen schweren Stunden. Erlenkte mich ab und gab miretwas zu tun. Ich musste ihnfüttern – und ich hielt seineZeiten auch in diesenachtundvierzig Stunden eisernein. Diese einfachenAufgaben – in die Küchegehen, Dose öffnen, das

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Futter in der Schüsseldurchmischen – bildetengenau dieBeschäftigungstherapie, dieich brauchte. Mit Bob nachunten zu gehen, damit er seinGeschäft erledigen konnte,war mir allerdings zu viel.Aber ich öffnete ihm dieWohnungstür. Er zischtedavon und war nach wenigenMinuten wieder da. Es hattefast den Anschein, als wollte

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er mich nicht länger als nötigaus den Augen lassen.Streckenweise ging es mirbesser. Am Morgen deszweiten Tages zum Beispiel.Ich spielte ein bisschen mitBob und las in einem Buch.Das war zwar nicht einfach,da ich mich kaumkonzentrieren konnte, aberHauptsache Ablenkung. DasBuch über die wahre

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Geschichte einesamerikanischenMarinesoldaten, der inAfghanistan Hunde rettet, warziemlich spannend. Es tat gut,sich mit dem Leben einesanderen zu beschäftigen.

Am Nachmittag wurden dieEntzugserscheinungen wiederstärker, fast unerträglich. Amschlimmsten waren dieSchmerzen. Man hatte michschon auf das Restless Leg

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Syndrom vorbereitet. Man hatunkontrollierbare nervöseZuckungen in denGliedmaßen, die das Sitzenfast unmöglich machen.Meine Beine krampften undschlugen aus, ohne dass iches verhindern konnte. Bobbekam es mit der Angst zutun. Er flüchtete in sichereEntfernung und bedachtemich mit schiefen Blicken.Aber er ließ mich nicht im

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Stich. Er blieb in meinerNähe.

Die zweite Nacht war dieHölle. Fernsehen warunmöglich, weil das Licht unddie Geräusche des Gerätesmeine Kopfschmerzenverstärkten. Saß ich imDunkeln, fing ich an zuhalluzinieren. Es warenverrückte undangsteinflößende Gedanken.Meine Beine zuckten immer

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noch unkontrollierbar, und mirwar abwechselnd heiß undkalt. Der Schweiß auf meinemKörper war entweder so kalt,dass ich fror, oder aber soheiß, dass ich glaubte, ichwürde verbrennen. Es wargrauenhaft.

Mal war ich völlig benebelt,dann wieder klar. Irgendwannin diesen schrecklichenStunden, als sich mein Körper

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mit allen Mitteln gegenmeinen Verstand wehrte,habe ich begriffen, warum einDrogenentzug für viele Leuteso schwer ist. Man stößtkörperlich und mental anseine Grenzen. Es ist einziemlich einseitiger Kampf,denn der Körper wehrt sichdurch vehemente Schmerzen.Das macht ihn viel stärker alsden Verstand, der dicheinfach nur von den Drogen

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fernhalten will.An einem anderen Punkt

sah ich in aller Deutlichkeitzurück auf die letzten zehnJahre meines Lebens und aufdas, was die Drogen aus mirgemacht hatten. Ich spürteden Geruch der Gassen undUnterführungen, in denen ichals Obdachloser gelebt undgeschlafen hatte. Sah all dieHerbergen undNotunterkünfte vor mir, in

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denen ich um mein Lebengefürchtet hatte. Und icherinnerte mich an all dieschrecklichen Dinge, die ichgetan hatte, nur um Geld fürStoff aufzutreiben, damit ichdie nächsten zwölf Stundenüberstehen konnte. Die Bilderwaren schonungslos undgestochen scharf wie digitalesFernsehen in meinem Kopf.Plötzlich hatte ich eineOffenbarung, die mich zutiefst

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erschütterte: Es war nichtmeine Mutter, es war dieSucht, die mein Lebenzerstört hatte!

Dann wieder durchzogen dieverrücktestenGedankenschwaden meinenbenebelten Kopf: Ich fragtemich zum Beispiel, ob dieserEntzug beiGedächtnisschwundschmerzlos wäre. Dann

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wüsste ich ja nicht, was mirfehlte. Aber der Grund fürmeine Probleme war ja meinKörper, der leider nur zugenau wusste, was ihm fehlte,und der auch wusste, was ichdagegen tun könnte.

Ich kann nicht verhehlen,dass ich auch schwacheMomente hatte, in denen ichmir nichts sehnlicherwünschte, als mir sofort einenSchuss zu setzen. Zum Glück

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war mein Wille stark genug,diesen Gedanken jedes Malsofort zu eliminieren. Dies warmeine letzte Chance, dieSucht zu besiegen. Ichmusste stark bleiben, und ichmusste das Aufbäumenmeines Körpers aushalten:den Durchfall, die Krämpfe,die Kotzanfälle, dieKopfschmerzen und dasFieber. Augen zu und durch.

Die zweite Nacht wollte nicht

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enden. Immer wieder sah ichauf die Uhr. Manchmal hatteich das Gefühl, die Zeigerwürden rückwärts laufen. DieDunkelheit der Nacht vormeinem Fenster wurde immerschwärzer undundurchdringlicher; sie wollteeinfach nicht derMorgendämmerung weichen.Die Zeit verging unerträglichlangsam.

Sogar meine Geheimwaffe

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Bob schaffte es, mich zuverärgern. Irgendwann lag ichganz still und regungslos aufmeinem Bett und versuchte,mich mental auszuklinken.Plötzlich spürte ich, wie Bobseine Krallen schmerzhaft inmein Bein grub.

»Verdammt, Bob, wasmachst du da?«, schrie ichihn entnervt an. Erschrockensprang Bob zurück, und mir

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tat es sofort leid, ihmgegenüber so laut gewordenzu sein. Er hatte sichbestimmt nur Sorgengemacht, weil ich soregungslos dalag. Er wolltenur wissen, ob ich noch lebte.

Endlich zeichnete sich mitverschwommenem Grau vormeinem Fenster das Endedieser unendlichen Nacht ab.Ich quälte mich aus dem Bettund sah auf die Uhr. Es war

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fast acht Uhr. DieDrogenambulanz öffnete umneun. Ich hielt es nicht längeraus.

Im Bad schaufelte ich mirkaltes Wasser ins Gesicht. Eshatte nicht den gewünschtenEffekt auf der schweißnassenHaut. Der Spiegel zeigte mirein schmerzverzerrtesGesicht, und auch meineHaare waren verschwitzt undzerwühlt. Es kümmerte mich

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keinen Deut. Ich konnte nurnoch an meinen Termindenken. Ich warf mich in dienächstbesten Klamotten, diemir unterkamen, und ranntefast zum Bus.

Die Busfahrt von Tottenhamnach Camden war um dieseZeit immer eineGeduldsprobe. Aber soschlimm wie heute war esnoch nie gewesen. JedeAmpel war rot, auf jeder

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Straße war Stau. Es war dieHölle.

Ich hatte immer noch dieseextremenTemperaturschwankungen,die mich von einer Minute aufdie andere entweder vor Kältezittern oder vor Hitzeschwitzen ließen.Zwischendurch zuckten meineArme oder Beineunkontrolliert, wenn auch

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nicht so schlimm wie in dervergangenen Nacht. DieLeute starrten mich an wieeinen Verrückten. Ja, ich sahgrauenhaft aus, aber das warmir so was von egal! Ichwollte nur so schnell wiemöglich zur Drogenambulanz.

Es war kurz nach neun, alsich dort ankam. DerWarteraum war halb voll. Dereine oder andere Wartendesah genauso schlimm aus,

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wie ich mich fühlte. Ob sie alledie gleichen achtundvierzigStunden Hölle hinter sichhatten wie ich?

»Hallo, James, wie geht esdir?«, fragte mich derTherapieleiter, als er dasBehandlungszimmer betrat, indem ich auf ihn wartete. Ichglaube nicht, dass er eineAntwort von mir erwartete; ermusste mich nur ansehen. Eswar nur eine nett gemeinte

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Floskel.»Nicht so toll«, krächzte ich

trotzdem.»Aber du hast es geschafft!

Du hast die zwei Tageüberstanden. Das ist einegroße Leistung«, lobte ermich.

Nachdem er mich untersuchthatte, musste ich eineUrinprobe abgeben. Erst danngab er mir die erste, so heißersehnte Tablette Subutex

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sowie ein Rezept für dasMedikament.

»Du wirst dich jetzt gleichviel besser fühlen«, sagte er.»Und ab sofort wird dieTablettendosis reduziert. Solange, bis wir dich hier niewiedersehen müssen.«

Ich blieb noch eine Weiledort, weil die Ärztesichergehen wollten, dassSubutex keine unerwünschten

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Nebenwirkungen bei mirhervorrief. Zum Glück war dasnicht der Fall, ganz imGegenteil. Schon nach kurzerZeit fühlte ich mich um 1000Prozent besser.

Als ich in Tottenham ausdem Bus ausstieg, war ich einanderer Mensch. Subutex warmit der leicht betäubendenWirkung von Methadon nichtzu vergleichen. Die Welt ummich herum schien um vieles

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lebhafter. Ich konnte besserhören, sehen und riechen. DieFarben waren intensiver, dieGeräusche klarer. Es warunglaublich. Auch wenn espathetisch klingt, ich fühltemich plötzlich ganz lebendig.

Ich ging in den nächstenSupermarkt und kaufte Bobdie neuestenGeschmackskreationen vonSheba sowie eine kleineQuietschmaus zum Spielen.

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Bei meiner Rückkehr in dieWohnung wurde ergebührend verwöhnt undverhätschelt.

»Wir haben es geschafft,Bob!«, flüsterte ich ihm insOhr, als er sich glücklich anmich kuschelte. »Du und ich,die zwei Musketiere!«

Dieses Gefühl, etwasAußergewöhnliches geleistetzu haben, hat mich beflügelt.Schon nach wenigen Tagen

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fühlte ich mich gesünder,stärker und lebendiger dennje. Es kam mir vor, als hättejemand einen Vorhangzurückgezogen und dieSonne in mein Lebengelassen. Und so war esauch.

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18Die Heimreise

Ich hätte nicht gedacht, dassBob und ich uns noch näher

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kommen könnten. Aber diebeiden Horrornächte hattenuns tatsächlich noch innigeraneinander gebunden. In dennächsten Tagen klebte Boban mir wie ein Magnet. Erpasste auf mich auf, als hätteer Angst vor einem Rückfall.

Dabei ging es mir so gut wieseit Jahren nicht mehr. Alleinder Gedanke an die dunklenZeiten der Abhängigkeit jagtemir kalte Schauer über den

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Rücken. Nach allem, was ichdurchgemacht hatte, würde eskeinen Rückfall mehr geben.

Zur Feier meinespersönlichen Erfolges wollteich mein Apartmentrenovieren. Dafür arbeitetenBob und ich jeden Tag einbisschen länger an der U-Bahn-Station. Mit dem soverdienten Extrageld kaufteich Farbe, ein paar passendeKissen und ein paar Bilder für

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die kahlen Wände.Dazu erstand ich noch eine

neue Couch aus einemSecond-Hand-Möbelhaus inTottenham. Der Bezug waraus schwerem weinrotemStoff, der mit ein bisschenGlück den scharfen Krallenvon Bob standhalten würde.Das alte Sofa war nur nochschäbig, und das leider nichtnur aus Altersgründen: Bobhatte sich an den Sofabeinen

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und auf der Sitzfläche mitGenuss die Krallen geschärft.Ab sofort war ein derartigesBenehmen strengstensverboten.

Die Wochen vergingen, unddie Nächte wurden länger undkälter. Bob und ichverbrachten immer mehr Zeitauf unserem kuscheligenneuen Sofa. Ich freute michschon auf unser nächstes

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gemeinsamesWeihnachtsfest. Aber wiedereinmal kam alles ganzanders.

Außer Rechnungen bekamich kaum Post. Deshalb fielmir der Umschlag sofort auf,der eines Morgens imNovember 2008 in meinemBriefkasten lag. Es war einLuftpost-Brief mit einemPoststempel aus Tasmanien,

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der Insel vor der SüdküsteAustraliens. Er kam vonmeiner Mutter.

Wir hatten seit Jahren kaumKontakt, aber trotz derEntfremdung zwischen unswaren ihre Zeilenunterhaltsam und liebevoll.Sie erzählte von ihrem Umzugin ein neues Haus inTasmanien, und sie schienglücklich zu sein.

Der Grund für diesen Brief

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war eine Einladung.»Würdest du mich über

Weihnachten besuchen, wennich dir den Flug bezahle?«,wollte sie wissen. Außerdemschlug sie vor, einenAbstecher nach Melbourne zumeinen Paten zu machen, diewichtiger Bestandteil meinerJugend gewesen waren.

»Sag mir Bescheid«,beendete sie den Brief. »InLiebe, Mam.«

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Früher hätte ich diesen Briefsofort in den Müll geworfen.Ich war trotzig, störrisch undviel zu stolz, um ein Almosenmeiner Familie anzunehmen.Aber ich hatte mich geändert.Mein Kopf war klar, ich sahdas Leben jetzt mit anderenAugen, und ich konnteförmlich spüren, wie all dieWut und der Ärger, die ich solange mit mir

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herumgeschleppt hatte, vonmir abfielen. Ich wolltezumindest über ihr Angebotnachdenken.

Ich machte mir dieEntscheidung nicht leicht,denn es galt, die Vor- undNachteile gegeneinanderabzuwägen. Natürlich wäre esfantastisch, meine Mutterwiederzusehen. Egal, welcheProbleme wir über die Jahremiteinander gehabt hatten, sie

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war meine Mutter, und ichvermisste sie sehr.

Seit ich abgerutscht und aufder Straße gelandet war,hatten wir nur noch wenigKontakt. Ich war auch nieehrlich zu ihr gewesen; siehatte keine Ahnung, was ausmir geworden war. In denletzten zehn Jahren hatten wiruns nur einmal getroffen, imJahr 2000, als sie kurz inEngland gewesen war. Da

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hatten wir uns in einem Pub inEpping Forest getroffen undfast vier Stunden miteinanderverbracht.

Als ich vor zehn Jahren nachder vereinbarten Zeit nichtzurück nach Australiengekommen war, hatte ich fürsie eine Geschichte erfunden:Ich könne nicht nach Hausekommen, weil ich eine Bandgegründet hätte und wirgerade versuchten »groß

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rauszukommen«.Dabei blieb ich auch, als ich

sie Jahre später wiedertraf.Ich fühlte mich schrecklich, ihrdiese Lügenmärchenaufzutischen, aber ich hatteweder den Mut noch die Kraft,ihr zu gestehen, dass ichobdachlos undheroinabhängig war undnichts anderes tat, als meinLeben zu vergeuden.

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Ich hatte keine Ahnung, obsie mir glaubte. Damals warmir alles egal. Danach rief ichsie nur noch selten an undmeldete mich oft monatelangnicht bei ihr, obwohl ichwusste, dass sie sich Sorgenmachte.

Manchmal hat sie Himmelund Hölle in Bewegunggesetzt, um mich zuerreichen. Wie nach denBombenanschlägen am 7. Juli

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2005. Zum Glück war ich nichtin der Nähe gewesen, abermeine Mutter – am anderenEnde der Welt – hatte davonnatürlich keine Ahnung. Ichkam nicht auf die Idee, siedeshalb anzurufen. IhrLebensgefährte Nick arbeitetedamals bei der Polizei inTasmanien. Irgendwie hat eres geschafft, einen LondonerKollegen zu überreden, nachmir zu suchen. Über die

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Polizeiakten fanden siemeinen Aufenthaltsort herausund schickten zwei Polizistenin meine Notunterkunft inDalston.

Sehr früh morgenstrommelten sie mit denFäusten an meine Tür underschreckten mich fast zuTode.

»Keine Angst, Sie habennichts verbrochen«,

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beschwichtigte mich einer derbeiden, als ich die Tür öffnete.Ich war noch ganzverschlafen, aber die Furchtstand mir trotzdem insGesicht geschrieben. »Es gibtda zwei Menschen auf deranderen Seite der Erde, diewissen möchten, ob Sie nochleben.«

Ich wollte schon sagen, dassich eben fast vor Schreckgestorben wäre, aber dann

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verkniff ich mir diesenKommentar. Die beidenwirkten nicht gerade erfreutüber ihren Suchauftrag.Stattdessen kontaktierte ichmeine Mutter und versicherteihr, dass es mir gut ging. Ichwäre nie auf die Ideegekommen, dass sichirgendjemand meinetwegenSorgen machen könnte. Ichwar damals wohl ziemlichgedankenlos und

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egozentrisch. Ich warausschließlich mit meinemÜberlebenskampf beschäftigt.Das war inzwischen anders.

Nach all den Jahren, die ichmeine Mutter vernachlässigtund hintergangen hatte, wardiese Einladung meineChance, etwaswiedergutzumachen. Die Zeitwar gekommen, ihr endlichdie Wahrheit zu sagen.

Außerdem würde mir nach

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all den Jahren in London undder ständigen Nachtarbeit einUrlaub in der Sonne extremguttun. Die Umstellung aufdas neue Medikament hattedoch an meinen Kräftengezehrt. Ein paar Wochen inwärmeren Gefilden wärenschon eine gute Sache. MeineMutter hatte geschrieben,dass sie auf einem kleinenBauernhof mit

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vorbeifließendem Bach imNiemandsland wohnte. Welchherrlicher Kontrast zurGroßstadt London! Australien,oder besser gesagt: dieSchönheit der australischenLandschaft, hatte mich schonals Kind tief beeindruckt. EineRückkehr dahin wäre Balsamfür meine geschundeneSeele.

Ja, die Liste mit denVorteilen war lang. Aber die

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mit den Nachteilen leider nochlänger. Und ganz oben aufder Liste, die gegen einenUrlaub in Australien sprach,stand: Bob!

Wer sollte sich um ihnkümmern? Woher sollte ichwissen, ob er auf mich wartenwürde? Wollte ich wirklichwochenlang von meinemSeelenverwandten getrenntsein?

Die erste dieser Fragen

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erledigte sich schneller, alsich dachte.

Kaum hatte ich Belle von derEinladung meiner Muttererzählt, erklärte sie sichbereit, Bob zu sich zunehmen. Sie war die idealeBob-Sitterin, und ich vertrauteihr blind. Aber ich kam nichtumhin, mich zu fragen, wieBob meine Abwesenheitverkraften würde. Ein weiteres

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Problem war das Geld. Auchwenn meine Mutter für dasFlugticket aufkommen würde,brauchte ich Geld, umüberhaupt einreisen zudürfen. Ich hatte michumgehört und erfahren, dassman mindestens 500 Pfunddabei haben musste, um insLand gelassen zu werden.

Ich habe mir dieEntscheidung nicht leicht

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gemacht und tatsächlich einpaar Tage und Nächte hinund her überlegt. Letztendlichwollte ich fliegen. Warumauch nicht? Ein bisschenAbwechslung undSonnenschein würden mirguttun.

Es war noch so viel zuerledigen! Vor allem brauchteich einen neuen Reisepass.Das war gar nicht so leicht mitmeiner Vergangenheit, aber

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dank der Hilfe einesSozialarbeiters konnte ich alldie nötigen Papiere, inklusiveeiner neu ausgestelltenGeburtsurkunde, vorlegen.

Dann musste ich den Flugbuchen. Air China hatte dasbeste Angebot. Von Londonnach Peking und von dort ausweiter nach Melbourne. Eswürde länger dauern als mitjeder anderenFluggesellschaft, und der

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Zwischenstopp in Pekingdauerte ewig. Aber es war beiWeitem das günstigsteAngebot. Meine Mutter hattemir inzwischen ihre E-Mail-Adresse gegeben, und sosandte ich ihr auf diesem Wegalle nötigen Informationensowie meine Passnummer.Ein paar Tage später erhieltich, ebenfalls per E-Mail, dieBuchungsbestätigung. Soweitwar alles geregelt.

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Jetzt fehlten mir nur noch die500 Pfund. Ich hatte nocheinen Monat Zeit bis zumeinem Abflug. Um das Geldaufzubringen, arbeitete ichvon früh bis spät, sieben Tagedie Wochen und bei jedemWetter. Bob war fast immerdabei; nur wenn es starkregnete, ließ ich ihn zuHause, nicht nur wegenseiner Abneigung gegen

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Regen, sondern vor allem,weil ich Angst hatte, er könnesich vor meiner Abreise nocherkälten. Einen kranken Bobhätte ich nie und nimmerallein gelassen.

Jeder Cent, den ich übrighatte oder den ich mehrverdiente, wanderte in einekleine Blechdose, die ichgefunden hatte. Langsamaber sicher füllte sie sich.Kurz vor meinem Abflugdatum

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hatte ich das nötige Bargeldzusammen. Ich konntetatsächlich fliegen.

Am Tag meiner Abreise fuhrich schweren Herzens zumLondoner FlughafenHeathrow. Ich hatte mich inBelles Wohnung von Bobverabschiedet. Für ihn wardas bei Weitem nicht soschlimm wie für mich. Wohersollte er schließlich wissen,

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dass ich für sechs Wochenverschwand? Mir war völligklar, dass er bei meinerFreundin bestens aufgehobenwar, aber Sorgen machte ichmir trotzdem. Ich war eineechte Glucke geworden, wennes um Bob ging.

Ich hatte einen angenehmenund entspannten Flugerwartet, aber da war ich aufdem Holzweg. Ich warsechsunddreißig Stunden

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unterwegs und hatte nichtsals Probleme.

Dabei fing alles ganz gut an.Der Flug nach Peking mit derAir China dauerte elf Stundenund verlief ohneZwischenfälle. Ich sah mir denBordfilm an und nahm eineMahlzeit zu mir. Leider konnteich nicht schlafen, weil ichmich ziemlich mies fühlte. Daslag nur zum Teil an meinen

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Tabletten; vor allem war dasschlechte Londoner Wetterdaran schuld. Ich hatte wohlzu viele Stunden imströmenden Regengestanden, um The Big Issuezu verkaufen. Und so war ichplötzlich erkältet und schniefteund nieste den gesamten Flugüber. Bei einer nicht mehrenden wollenden Nies-Attacke erntete ich zwar einpaar schräge Blicke der

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Stewardessen undPassagiere um mich herum,aber bis Peking kümmertemich das wenig.

Als wir auf dem Flughafenausrollten, machte derKapitän über dasBordmikrofon eineDurchsage, erst inChinesisch, dann in Englisch:Wir wurden aufgefordert, bisauf Weiteres sitzen zubleiben.

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Seltsam, dachte ich noch.Dann kamen zwei

uniformierte Chinesen mitGesichtsmasken an Bord. Siegingen durch den Mittelgangund steuerten direkt auf michzu. Bei mir angekommen,blieben sie vor mir stehen,und einer der beiden hielt mirein Fieberthermometer hin.

Eine Stewardess war ausdem Nichts aufgetaucht undübersetzte: »Die Herren sind

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von der chinesischenRegierung. Sie müssen IhreTemperatur messen.«

»Okay«, erwiderte ichverdutzt. Dies war nicht derrichtige Zeitpunkt fürWiderworte, das waroffensichtlich.

Sie schoben mir dasThermometer in den Mundund warteten. Die beidenBeamten sahen immer wieder

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auf die Uhr. Dann nuscheltensie etwas in Landessprache,und die Stewardessübersetzte: »Sie müssen diebeiden Männer begleiten. Siewollen ein paar Routine-Untersuchungen machen.«

Damals war der Hype umdie Schweinegrippe geradeauf dem Höhepunkt, undChina war geradezu panischdarauf bedacht, sie nicht insLand einschleppen zu lassen.

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Erst vor ein paar Tagen hatteich einen Bericht darübergesehen, dass China bei demgeringsten Verdacht aufInfektion die Passagiere nichteinreisen ließ. Sie wurden fürTage in Quarantänefestgehalten.

Mit mulmigem Gefühl folgteich den beidenGesundheitswächtern. Ich sahmich bereits meinen Urlaub ineiner chinesischen

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Quarantäne-Zelle verbringen.Sie nahmen alle möglichen

Proben von mir, von Blut überSpeichel bis Urin.Wahrscheinlich fanden siealle möglichen interessantenDinge – aber weder dasSchweinegrippen-Virus nochSars oder sonstigeansteckenden Krankheiten.Zwei Stunden später wurdeich von einem gleichgültigenBeamten entlassen. Wie ich

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nun zu meinem Anschlussflugkommen sollte, schienniemanden zu interessieren.Der Flughafen von Pekinggleicht einem riesigenFlugzeughangar, in dem ichvöllig orientierungslosherumirrte.

Mir blieben noch dreiStunden, um mein Gepäckeinzusammeln und meinenAnschlussflug ausfindig zu

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machen. Ich war seit Jahrenauf keinem Flughafen mehrgewesen und hatte ganzvergessen, wie groß undseelenlos sie waren. Vorallem dieser: Es gab eineZugverbindung von einem Teilvon Terminal 3 zum anderen.

Erst eine Stunde vor Abflugfand ich meinenAnschlussflug. Als ich michendlich auf meinem Sitzplatzzurücklehnen konnte, seufzte

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ich erleichtert auf. Totalerschöpft durch dieAnspannung der letztenStunden verschlief ich denkompletten Flug nachMelbourne. Aber dort lief ichin die nächste Falle. Aufmeinem Weg durch dieZollkontrolle war da plötzlichdieser Hund, ein Labrador,der gierig an meinem Gepäckschnüffelte.

»Entschuldigen Sie, Sir,

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würden Sie bitte mit unskommen?«, hörte ich auchschon die Stimme seinesBesitzers, eines Zollbeamten.

»Oh – mein – Gott!«, dachteich verzweifelt. »Ich werdemeine Mutter heute wohl nichtmehr zu Gesicht bekommen!«

Sie führten mich in einenUntersuchungsraum. Dortdurchwühlten sie zuerstmeinen Koffer. Dann wurdemeine Tasche mit einem

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elektronischen Drogentesterabgetastet. Ich hatte einProblem.

»Auf Ihrem Gepäck befindensich Spuren von Kokain«,sagte einer der Wächter.

Ich war sprachlos undkonnte mir das überhauptnicht erklären. Weder ichnoch irgendjemand, den ichkannte, nahm Kokain. Daskonnte sich keiner meiner

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Bekannten leisten.Zum Glück stellte sich

heraus, dass eine kleineMenge für den persönlichenGebrauch nicht strafbar war.

»Wenn Sie gelegentlichKokain schnupfen, brauchenSie es nur zuzugeben und wirlassen Sie laufen!«, erklärtemir der Beamte.

Nun war es an der Zeit,meine Situation offenzulegen.»Ich bin in einem Drogen-

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Entzugsprogramm und nehmegar nichts – wedergelegentlich, nochregelmäßig.« Dann zeigte ichihnen den Brief von meinemTherapieleiter, der erklärte,warum ich Subutex nahm.

Sie mussten einsehen, dasssie einen Unschuldigenmitgenommen hatten. Auchhier wurde ich letztendlichentlassen. Mit einer StundeVerspätung durfte ich endlich

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raus aus dem Zollbereich.Aber das war immer nochnicht das Ende meiner Reise:Ich musste noch ein Flugzeugnehmen, um nach Tasmanienzu gelangen. Als ich endlichdort ankam, war es bereitsfrüher Abend, und ich wartotal geschafft.

Meine Mutter wiederzusehenwar einfach wundervoll. Sieerwartete mich am Ausgang

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des Flugsteiges und umarmtemich lange und stürmisch. Sieweinte vor Freude; ich glaube,sie war heilfroh, mich lebendwiederzusehen.

Ich war auch sehr glücklich,sie zu sehen, aber geweinthabe ich deshalb nicht.

Ihr neues Zuhause wargenauso hübsch, wie sie es inihrem Brief beschrieben hatte.Es war ein großer,

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geräumiger Bungalow miteinem riesigen Gartendahinter. Das Haus war vonAckerland umgeben, und dieGrenze ihres Grundstückeswurde von einem Bachgezogen. Was für einfriedlicher, malerischer Ort!Perfekt zum Entspannen,Erholen und Auftanken neuerEnergie. Schon nach zweiWochen fühlte ich mich wieneugeboren. All die Sorgen

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ums tägliche Überleben, diemich in London quälten,waren buchstäblich Tausendevon Kilometer weit weg,genauer gesagt über 16 000.Meine Mutter überhäufte michmit mütterlicher Fürsorge undihren Kochkünsten. Ich spürteförmlich, wie ich zu Kräftenkam. Und wie meine Mutterund ich uns wiedernäherkamen.

Anfangs führten wir keine

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tiefschürfenden Gespräche.Sie ließ mir Zeit, bis ichlangsam gesprächiger wurde.Eines Abends saßen wir aufder Terrasse und genossenden Sonnenuntergang. Ichhatte schon etwas getrunken,und auf einmal sprudelte allesaus mir heraus. Es war keineüberschwängliche Beichteund auch keine hollywoodreifeGeschichte, aber ich redete… und redete … ohne Punkt

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und Komma.Im Nachhinein hätte ich

wissen müssen, dass einsolcher seelischerDammbruch schon lange fälligwar. Ich hatte jahrelangDrogen genommen, ummeine Gefühle zuunterdrücken. Mehr noch, ichwollte sie abtöten,sichergehen, keine Gefühlezu haben. Aber seit Bob sich

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in mein Herz geschlichenhatte, hatte sich meinGemütszustand langsamverändert. Ich konnte Gefühlewieder zulassen.

Meine Mutter starrte michfassungslos an, als ich ihr einpaar Tiefpunkte der letztenJahre in London schilderte.»Als ich dich am Flughafensah, habe mir schon gedacht,dass es dir nicht besondersgut geht, aber ich hätte nie

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gedacht, dass es so schlimmist«, flüsterte sie mit Tränen inden Augen.

Während ich weiterredete,stützte sie immer wieder ihrenKopf in die Hände, brachteaber nie mehr heraus als:»Warum?«

»Warum hast du mir nichtgesagt, dass du deinen Passverloren hast?«

»Warum hast du mich nichtangerufen und um Hilfe

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gebeten?«»Warum hast du deinen

Vater nicht angerufen?«Am Ende gab sie sich selbst

die Schuld an meinemverpfuschten Leben. Sie hattedas Gefühl, mich im Stichgelassen zu haben, aber ichversicherte ihr, dass dies nichtder Fall war. Nur ich allein warschuld an meiner Misere. »Duhast nicht für michentschieden, in Pappkartons

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zu schlafen und meine Nächtemit Heroin zu verbringen. Eswar allein meineEntscheidung!« Ich wollte mitdieser Aussage erreichen,dass sie sich besser fühlte,aber es brachte sie zumWeinen.

Nachdem das Eis gebrochenwar, konnten wir über allesreden. Auch über dieVergangenheit und meine

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Kindheit in Australien undEngland. Unsere neueVertrauensbasis erlaubte mir,ganz ehrlich mit ihr zu reden.Ich konnte ihr vorwerfen, dasssie in meiner Kindheit nur einunnahbarer Schattengewesen war und dass dieKindermädchen und die vielenUmzüge mir auf lange Sichtnicht sehr gutgetan hatten.

Sie fiel aus allen Wolken,aber sie widersprach mir und

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erklärte – ob zu Recht oder zuUnrecht sei dahingestellt –,sie habe schließlich für unserEinkommen und ein Dachüber dem Kopf sorgenmüssen. Ich verstand ihrenEinwand, aber das ändertenichts an der Tatsache, dassich mir immer gewünschthatte, sie wäre mehr für michda gewesen.

Aber nicht alle unsereGespräche waren so ernst.

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Wir konnten auch vielmiteinander lachen. Wirlernten uns neu kennen,fanden heraus, wie ähnlich wiruns waren, und amüsiertenuns über die vielenAuseinandersetzungen, diewir im Laufe meiner Pubertätgehabt hatten.

Sie gab zu, dass unseredamaligen Konflikte sehr vielmit unser beider Ego zu tunhatten. »Wir sind beide sehr

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starke Persönlichkeiten. Duhast das von mir«, versuchtemeine Mutter unsere Kämpfevon damals zu erklären.

Aber die meiste Zeit redetenwir über die Gegenwart. Siewollte alles über meinenDrogenentzug wissen undwelche Ziele ich mir für meineZukunft gesetzt hatte. Ichversuchte ihr zu erklären,dass ich immer noch einen

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Schritt nach dem anderenmachen musste, aberhoffentlich im neuen Jahrendlich clean sein würde.Manchmal hörte sie einfachnur zu. Das konnte sie frühernicht besonders gut. Aberauch ich habe zuhörengelernt. Ich glaube, wir habenuns in diesem Urlaub erstrichtig kennengelernt. Endlichkonnte ich die langeaufgestauten Aggressionen

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gegen meine Mutterbegraben. Ich hatte erkannt,dass unsere Kämpfe inmeiner Jugend nurstattfanden, weil wir dengleichen Dickschädel hatten.

Natürlich erzählte ich auchsehr viel von Bob. Ich hatteein Foto von ihm dabei, dasich jedem unter die Nase hielt,der nur das geringsteInteresse zeigte.

»Ein kluges Kerlchen!«,

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lächelte meine Mutter, als siesein Bild sah. »Oh ja, das ister!«, grinste ich stolz. »Ichweiß nicht, was ohne Bob ausmir geworden wäre.«

Die Auszeit in Australien tatmir richtig gut. Ich konnte inRuhe meine Gedankenordnen und Bilanz ziehen.Was hatte ich bisher erreichtund wie sollte esweitergehen? Ein Teil von mir

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sehnte sich danach, ganzhierher zurückzukommen.Hier lebte meine Familie. Ichhätte hier mehr Rückhalt, einkleines, aber wertvollesNetzwerk von Vertrauten.Einen Schatz, den ich erstjetzt zu würdigen wusste undder mir in London schmerzlichfehlen würde. Aber Bob wäreohne mich verloren, genauwie ich ohne ihn. Und so

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verwarf ich den Gedanken aneine Rückkehr nachAustralien schnell wieder. BeiAnbruch der sechsten Wocheauf Tasmanien dachte ich nurnoch an den Rückflug nachEngland.

Diesmal verabschiedete ichmich richtig von meinerMutter. Sie kam mit zumFlughafen und winkte mirnach, als ich durch dieKontrolle zu meinem Flug

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nach Melbourne verschwand.Dort wollte ich noch ein paarTage mit meinem Patenonkelund seiner Frau verbringen. Inmeiner Jugend war ich oft beiihnen zu Besuch gewesen,und sie waren mir sehrwichtig. Früher waren sie dieEigentümer der größtenprivaten TelefongesellschaftAustraliens gewesen, dieerste Firma in Australien, dieMobiltelefone verkaufte. Sie

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waren damals sehrvermögend gewesen. AlsJunge war ich immer ganzwild darauf gewesen, sie inihrer Riesenvilla in Melbournebesuchen zu dürfen. Als ichmit meiner Mutter gar nichtmehr klar kam, durfte ichsogar eine Weile bei ihnenwohnen.

Auf meine kleineLebensbeichte reagierten diebeiden ähnlich schockiert wie

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meine Mutter. Sie boten mirfinanzielle Hilfe an und wolltenmich bei der Arbeitssuche inAustralien unterstützen. Aberich lehnte dankend ab underzählte von meinerVerpflichtung namens Bob inEngland.

Meine Rückflüge waren vielangenehmer als meineAnreise. Ich fühlte michbesser, fitter und gesünder,

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und so sah ich auch aus.Diesmal fiel ich weder denZollbeamten noch denEinwanderungsbehördenunangenehm auf. Ich war soausgeruht und entspanntdurch meine Zeit inAustralien, dass ich fast diegesamte Flugzeitdurchschlief.

Ich konnte es nicht mehrabwarten, Bobwiederzusehen. Gleichzeitig

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plagten mich Ängste, erkönnte sich verändert odermich gar vergessen haben.

Diese Sorge hätte ich mirsparen können. Kaum hatteich Belles Wohnung betreten,sprang er vom Sofa undrannte mit steil aufgerichtetemSchwanz auf mich zu.Natürlich hatte ich ihm etwasmitgebracht, darunter auchzwei kleine ausgestopfteKängurus. Während ich Belle

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von Australien erzählte,spielte er bereitshingebungsvoll mit einem derkleinen Beuteltiere.

Als wir am Abend in unsereigenes kleines Reichzurückkehrten, kletterte ersofort hoch auf meinen Arm,schmiegte sich in meineNackenbeuge und machte essich wie immer auf meinerSchulter bequem. In diesemMoment war meine Reise

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nach Australien mit all ihrenAnnehmlichkeiten vergessen.Die zwei Musketiere warenwieder zusammen. Bob undich gegen den Rest der Welt –als wäre ich nie weggewesen.

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19Der Stationsvorsteher

Der Urlaub in Australienhatte mir wirklich gutgetan.

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Meine Familie, allen voranmeine Mutter, hatte mir neueKraft gegeben. Ich fühlte michso stark und selbstsicher wieseit Jahren nicht mehr. Abermeine gute Laune war nochbesser, seit Bob wieder beimir war. Er hat mir sehrgefehlt in Tasmanien. Nur mitihm war ich rundum glücklich.

Schnell hatte uns der Alltagwieder. Wir warenunzertrennlich und teilten

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Freud und Leid. Bob hatteauch nach drei gemeinsamenJahren immer noch die eineoder andere Überraschung fürmich parat.

In Australien redete ichdauernd von Bob und erzähltejedem, was für ein klugerKater er doch war. Bestimmthaben mich manche Leutedeswegen für verrücktgehalten. »Eine Katze kannnicht so schlau sein«, wird

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sich so mancher gedachthaben. Doch etwa zweiWochen nach meinerRückkehr musste ichfeststellen, dass ich ihn nochunter Wert angepriesen hatte.

Es war schon immer einelästige Pflicht, Bob zurErledigung seiner tierischenGeschäftchen nach draußenzu lassen; schließlichwohnten wir im fünften Stock.Das Kistchen in der Wohnung

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lehnte er nach wie vorkategorisch ab. MehrereSäcke voll mit hochwertigemKatzenstreu stapelten sich ineinem Schrank und staubtentraurig vor sich hin – seitmeinem ersten Einkauf vonKatzenutensilien vor dreiJahren.

Es war ein Riesentheater,jedes Mal fünf Stockwerkenach unten, raus auf die

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Grünfläche und wieder zurücknach oben laufen zu müssen.Seit ich aus Australien zurückwar, fiel mir aber auf, dass ernicht mehr so oft raus musstewie früher.

Anfangs tippte ich auf einmedizinisches Problem undbrachte ihn zur Tierambulanzim Blue Cross Bus in IslingtonGreen. Die Tierärztin fandjedoch nichtsUngewöhnliches. Sie

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vermutete eine altersbedingteStoffwechselveränderung.

Die Erklärung für Bobsvermindertem Drang nachdraußen hatte allerdingskeinen medizinischenUrsprung, sondern einen sehramüsanten. Kurz nachunserem Tierarztbesuchwachte ich eines Morgenssehr früh auf. Es war erst kurznach sechs, aber meineinnere Uhr war noch ziemlich

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durcheinander. Ich quältemich schlaftrunken aus demBett, um ins Bad zu gehen.Die Toilettentür stand halboffen, und ein leises,plätscherndes Geräuschdrang an mein Ohr. Wieseltsam, dachte ich undmachte mich schon daraufgefasst, einen Einbrecherbeim Wasserlassen zuüberraschen. Vorsichtigschubste ich die

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Badezimmertür weiter auf –und staunte Bauklötze. Bobsaß auf dem Toilettensitz undpinkelte ganz entspannt in dieKloschüssel.

Es sah aus wie in dem FilmMeine Braut, ihr Vater undich, als Robert De Niros KaterJinxie in einer bestimmt langgeprobten Szene die Toiletteseiner Besitzer benutzt. NurBob tat es wirklich und ganz

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ohne Training. Offenbar warihm der aufwendige Besuchseines Freiluftklos selbstschon zu viel geworden, under hatte seine eigene Lösunggefunden. Bisher war ich derMeinung gewesen, er begleitemich aus Langeweile bis aufdie Toilette. Dabei hat sichder kleine Schlaumeier allesabgeguckt und ahmte michnun perfekt nach.

Als er mich bemerkte, warf

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er mir einen seinervernichtenden Blicke zu, alswolle er sagen: »Was guckstdu? Ich gehe aufs Klo, istdoch ganz normal, oder?« Erhatte natürlich recht. Warumließ ich mich immer nochüberraschen? Bob konntealles, das sollte ich längstwissen.

Unsere längere Abwesenheitwar vielen unserer Kunden

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rund um die Angel Stationtatsächlich aufgefallen. In derersten Woche nach meinemUrlaub begrüßten uns vieleLeute mit freudigem Lächelnund warmen Worten wie: »Ah,da seid ihr ja wieder!« oder»Ich dachte schon, ihr habt imLotto gewonnen.« Einer vonBobs weiblichen Fans brachtesogar eine Karte, auf derstand: »Wir haben dichvermisst.« Es war schön,

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wieder »zu Hause« zu sein.Aber es gab auch Leute, die

sich nicht sonderlich überunsere Rückkehr freuten.Eines Abends hatte ich einehitzige Auseinandersetzungmit einer Chinesin. Sie warmir schon öfter aufgefallen,weil sie Bob und mich immermit missbilligenden Blickenbedachte. Diesmal blieb sievor mir stehen und drohte mit

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dem Zeigefinger.»Das nicht gut, nicht gut«,

schimpfte sie.»Entschuldigung, aber was

ist nicht gut?«, fragte icherstaunt.

»Das nicht normal für Katz’,so sein«, radebrechte sie inschlechtem Englisch. »Ersooo ruhig, du gibst Drogenzu Katz’.«

Das konnte ich nicht auf mirsitzen lassen, auch wenn ich

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diesen Vorwurf nicht zumersten Mal hörte. Als ich nochin Covent GardenStraßenmusik gemacht hatte,war mir von einem arrogantenBesserwisser, der aussah wieein Gelehrter, Ähnlichesvorgehalten worden: »Dasgeht doch nicht mit rechtenDingen zu. Ich glaube, ichweiß, was Sie dem Katergeben, damit er so ruhig undunterwürfig ist«, ging er

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unerwartet auf mich los.»Und was sollte das sein,

Sir?«, fragte ich vorsichtig.»Na, wenn ich Ihnen das

sage, hätten Sie ja dieMöglichkeit, auf etwasanderes umzusteigen.« Erwar sichtlich überrascht, dassich ihn herausforderte.

»Jetzt kommen Sie! So eineAnschuldigung müssen Sieschon begründen«, forderteich ihn auf.

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Ohne ein weiteres Wortverschwand er in der Menge.Das war auch besser für ihn,denn wenn er soweitergemacht hätte, wäre mirwomöglich die Handausgerutscht.

Die Chinesin machte mir dengleichen Vorwurf. Auchdiesmal wollte ich das nichtauf mir sitzen lassen. »Wasglauben Sie denn, das ich ihm

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gebe?«, fragte ich sie.»Das weiß ik nikt«,

antwortete sie, »aber Siegeben irgendetwas.«

»Also, wenn ich ihnruhigstellen würde, warumsollte er dann bei mir bleiben?Dann würde er doch bei dererstbesten Gelegenheitabhauen, oder? Ich kann ihmja nicht vor allen LeutenBeruhigungsmittel einflößen,oder?«

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»Pfff«, war ihre Antwort aufmeine Fragen. Dabei machtesie abwehrendeHandbewegungen in meineRichtung und wandte sichzum Gehen. »Is nich gut, isnich gut«, wiederholte sienoch, bevor sie in der Mengeverschwand.

Ich habe mich damitabgefunden, dass es immerLeute geben wird, die michverdächtigen, Bob schlecht zu

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behandeln, die keine Katzenmögen oder etwas dagegenhaben, dass ein Big-Issue-Verkäufer mit Katzeanstatt mit Hund unterwegsist.

Schon zwei Wochen nachdem Streit mit der Chinesinhatte ich eine andere Art dersich wiederholendenAuseinandersetzungen.

Seit ich mit Bob unterwegsbin, hat es immer Leute

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gegeben, die ihn mir abkaufenwollten. »Wie viel willst du fürdie Katze?«, fragten sie mich.Meine Standardantwort war:»Das könnten Sie sich nichtleisten.«

Auch an der Angel Stationgab es Leute, die mir Bobabschwatzen wollten. EineFrau war besondershartnäckig. Jedes Malunterhielt sie sich zuerst

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freundlich mit mir und fing imLaufe des Gesprächs an,mich zu bearbeiten.

»Schau, James«, ging esjedes Mal los. »Ich finde, Bobsollte nicht mit dir auf derStraße herumlungern. Erverdient ein schönes, warmesZuhause und ein besseresLeben, meinst du nichtauch?«

Und am Ende kam immerdie Frage: »Also, wie viel

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willst du für ihn haben?«Ich schüttelte nur noch den

Kopf, woraufhin sie versuchte,mich mit Zahlen zu locken.Sie fing mit 100 Pfund an undging hoch bis 500 Pfund.

Bei ihrem letzten Besuch vorein paar Tagen übertraf siesich selbst: »Ich gebe dir1000 Pfund.«

Ich sah ihr geradewegs indie Augen. »Haben SieKinder?«, wollte ich wissen.

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»Äh, ja, wieso?«, stottertesie etwas verwirrt.

»Gut. Okay. Also, für wie vielGeld würden Sie Ihr jüngstesKind verkaufen?«

»Was soll die Frage?«»Wie viel kostet Ihr jüngstes

Kind?«»Ich glaube nicht, dass das

eine angemessene Frage ist…«

»Doch, genau darum gehtes«, unterbrach ich sie.

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»Denn Bob ist mein Kind, erist mein Baby. Und wenn Siemich fragen, ob ich Bobverkaufe, dann ist das fürmich, als würden Sie Ihr Kindverkaufen müssen.«

Sie machte auf dem Absatzkehrt und lief weg. Ich habesie nie wieder gesehen.

Aber die meisten Leutewaren so nett wie die U-Bahn-Mitarbeiter der Angel Station.

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Eines Tages unterhielt ichmich mit Vanika, einerFahrkartenkontrolleurin, dieganz vernarrt in Bob war. Sieamüsierte sich darüber, wieviele Leute wegen Bob stehenblieben, mit ihm redeten undFotos von ihm machten.

»Er macht unsere Haltestellenoch berühmt, warte es ab!«,scherzte sie.

»Ja, bestimmt«, pflichteteich ihr bei. »Ihr solltet Bob als

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Mitarbeiter einstellen. InJapan gibt es einen Kater, derist Stationsvorsteher. Er trägtsogar eine kleine Uniform-Mütze.«

Vanika kicherte: »Ich weißnicht, ob es gerade freieStellen bei uns gibt!«

»Na, wenigstens einenAusweis oder so was könntetihr ihm doch geben«, spannich die Idee weiter.

Ihr Gesicht wurde

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nachdenklich. Sieverabschiedete sich, und ichvergaß unser Gespräch.

Als wir Vanika etwa zweiWochen später an unseremVerkaufsplatz vor dem U-Bahnhof wieder trafen, grinstesie uns schon von Weitemverheißungsvoll entgegen.

»Was ist los?«, fragte ich.»Nichts. Aber ich hab hier

was für Bob.« Stolzpräsentierte sie mir einen

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laminierten Fahrausweis mitBobs Foto.

»Wow, das ist ja toll!«, riefich aus.

»Das Foto habe ich aus demInternet«, erklärte sie mir.

Ich war verblüfft. Wie zumTeufel kam Bob ins Internet?

»Und was bedeutet dieserAusweis?«, wollte ich wissen.

»Das heißt: Bob darf absofort und auf Lebenszeit

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kostenlos U-Bahn fahren«,lachte sie.

»Ich dachte, Katzenbrauchen sowieso nicht zubezahlen«, grinste ich.

»Okay, also dann bedeutetder Ausweis, dass wir allegroße Bob-Fans sind und ihnals Familienmitgliedbetrachten.«

Ich spürte einen Kloß imHals und musste mich schwerzusammenreißen, um die

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aufsteigenden Tränenzurückzuhalten.

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20Die längste Nacht

Der Frühling 2009 warüberfällig. Die Abende waren

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immer noch dunkel und trist.Wenn ich gegen sieben meineArbeit als Big-Issue-Verkäuferbeendete, brach bereits dieAbenddämmerung herein, dieStraßenlaternen blitzten aufund die Gehwege füllten sich.

In den ersten Monaten desJahres waren die Straßennicht so überfüllt wie sonst,weil in dieser Zeit kaumTouristen unterwegs waren.Aber sobald es wärmer

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wurde, erwachte die Gegendum die Angel Station ausihrem Winterschlaf. DiePendler und Touristen warenwieder da, und in der U-Bahn-Halle summte es wie in einemBienenstock.

Offenbar hatte es sichherumgesprochen, dass indieser Gegend gut situierteLeute unterwegs waren.Jedenfalls hatte derJahreswechsel –

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unglücklicherweise – auch einpaar unangenehme Leute anunseren Standort gelockt.

Wenn man das Leben aufden Straßen von London sogut kennt wie ich, entwickeltman ein Gespür fürMenschen, die man unbedingtmeiden sollte. Eines frühenAbends, so zwischen 18.30und 19 Uhr, also genau in derZeit, in der ich immer viel zutun hatte, tauchte so ein Typ

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auf. Er war mir schon öfterunangenehm aufgefallen.

Er sah sehrheruntergekommen aus. Ichgehöre auch nicht zu denbestangezogenen Männerndieser Stadt, aber dieser Kerlwar dürr und verwahrlost. Ermachte dem Begriff »Penner«alle Ehre. Seine Haut war rotund fleckig, die Klamottenstanden vor Dreck. Trotzdem

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wäre er mir ohne seinen Hundwohl gar nicht aufgefallen. Erhatte einen riesigenschwarzen Rottweiler mitbraunen Flecken. Mir warsofort klar, dass dieser Hundaggressiv war. Der Anblickder beiden erinnerte mich aneine alte Zeichnung von BillSikes und seinem Hund»Bull’s Eye« aus Oliver Twist.Sie waren Querulanten, allzeitbereit, sich mit dem Rest der

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Welt anzulegen.Auch an diesem Abend hatte

er den Hund dabei. Er setztesich zu ein paar zwielichtigenGestalten, die seit über einerStunde neben dem U-Bahn-Ausgang saßen und Biertranken. Sie waren mirallesamt nicht geheuer.

Der Rottweiler hatte Bobsofort entdeckt und zerrte anseiner Leine. Seine Lefzentrieften vor Gier nach meinem

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Kater. Sein Besitzer hielt denHund zwar kurz, aber wielange noch? Quatschen undsich die Birne zusaufenschien jedenfalls wichtiger, alsauf seinen Hundaufzupassen.

Aber ich wollte sowiesogerade Schluss machen.Wegen der bereits fröhlichgrölenden Säufer beeilte ichmich mit demZusammenpacken meiner

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Zeitschriften. Sie – und vorallem der Hund – machtenmich nervös. Ich wollte Bobund mich möglichst schnell inSicherheit bringen.

Ich war gerade dabei, meineZeitschriften aufzuheben, alsmich ein lautes, hysterischesBellen erschreckte. Der Restlief wie in Zeitlupe ab. Eineschlechte Actionszene auseinem ganz schlechten

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Actionfilm.Als ich mich umdrehte,

zischte ein schwarzbraunerPfeil auf uns zu. SeinBesitzer, der Idiot, hatte dieLeine nicht richtigfestgebunden. Der Rottweilerwar frei. Ich wollte Bobschützen und stellte michinstinktiv dem Hund in denWeg, aber das Riesenviehrannte mich einfach um. ImFallen schaffte ich es, meine

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Arme um seinen Bauch zuschlingen. Ich riss ihn mit zuBoden, aber der Rottweilerdrehte und wand sich, umsich aus meinerUmklammerung zu befreien.Brüllend und fluchendversuchte ich, das wütendeTier am Kopf zu packen,damit es nicht zubeißenkonnte, aber der Hund wareinfach zu stark.

Rottweiler sind Kraftpakete,

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und hätte unser Kampf nurwenige Sekunden längergedauert, hätte ich bestimmtden Kürzeren gezogen. Ichwill gar nicht daran denken,wie schwer mich das Biesthätte verletzen können. ZumGlück hörte ich umgehendeine Stimme, die den Hundanbrüllte, und ich spürte, wieer von mir weggerissenwurde.

»Hierher, du verdammtes

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***«, schrie der Besitzer undzog den Hund mit aller Kraftaus der Gefahrenzone. Dannzog er ihm etwas Hartes überden Schädel. Ich weiß nicht,was es war, aber dasGeräusch drehte mir fast denMagen um. Unter anderenUmständen hätte ich mir umdas arme Tier Sorgengemacht, aber in diesemMoment dachte ich nur an

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Bob. Er hatte sich bestimmtzu Tode erschreckt. Ichdrehte mich nach ihm um –aber sein Platz war leer. Ichdrehte mich im Kreis, um zusehen, ob ihn vielleichtjemand hochgehoben hatte,um ihn zu beschützen. Aberich konnte ihn nirgendsentdecken. Er war weg.

Erst jetzt begriff ich, waspassiert war. Ich hatte nocheinen Packen Zeitschriften

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holen wollen, den ich untereiner Bank neben unsabgelegt hatte. Bobs Leinewar für die Entfernung abernicht lang genug. Weil ich soin Eile war, von hierwegzukommen, hatte ich dieLeine von meinem Gürtellosgemacht, um kurz zu derBank hinüberzulaufen. Wieblöd war das denn? DerRottweiler musste michbeobachtet haben. Deshalb

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hatte er sich genau in demMoment, als ich ihm denRücken zukehrte, losgerissen,um auf Bob loszugehen.

Ich bekam es mit der Angstzu tun.

Ein paar Leute hatten sichum mich versammelt undfragten, ob es mir gut ginge.

»Mir geht es gut«, wehrte ichab. »Aber hat irgendjemandBob gesehen?«

Dabei ging es mir miserabel.

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Ich hatte mir wehgetan, alsmich der Rottweiler umrannte,und ich blutete aus mehrerenBisswunden an den Händen.

In dem Moment tauchte eineStammkundin auf, die immeretwas Leckeres für Bob dabeihatte. »Ich habe Bobgesehen, er ist in RichtungCamden Passage gelaufen«,rief sie aufgeregt. »Ich habeversucht, seine Leine zu

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erwischen, aber er war zuschnell.«

»Vielen Dank«, antworteteich, während ich meinenRucksack schnappte undlosrannte. Mein Herz pochtelaut vor Angst.

Ich dachte an seinepanische Flucht am PiccadillyCircus. Damals hatte ihn einkostümierter Mann erschreckt,aber diesmal war es einwirklich bedrohlicher Angriff

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gewesen. Wenn ich michnicht dazwischengeworfenhätte, hätte ihn der Rottweilersicherlich gepackt. Wer weiß,was dieser Hundeangriff beiihm ausgelöst hatte. Vielleichthat es ihn an ein Erlebnis ausseiner Vergangenheit erinnert.Ich hatte keine Ahnung, wiees ihm gerade ging, aberwahrscheinlich war ergenauso verstört undverängstigt wie ich.

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So schnell ich konnte, rannteich zur Camden Passage. Eswar ein Hindernislauf, dennich musste mich durch einennicht enden wollenden Wustaus gemütlichdahinschlenderndenSpaziergängern drängeln, dierund um die Pubs,Restaurants und Barsunterwegs waren.

»Bob, Bob!«, rief ich dabeiunentwegt und handelte mir

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empörte Blicke der Passantenein. »Hat jemand einen rotenKater gesehen, der seineLeine hinter sich herzog?«,fragte ich eine Gruppe vonLeuten, die vor dem größtenPub in der Passageherumstanden.

Aber sie zuckten nur mit denSchultern und schüttelten dieKöpfe.

Ich hatte gehofft, Bob würde

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sich wieder Schutz in einerder Boutiquen suchen, wiedamals am Piccadilly Circus.Aber die meisten hattenbereits geschlossen. Nur dieBars, Restaurants undKaffeehäuser waren geöffnet.Ich arbeitete michsystematisch durch alleLokale in der Passage undfragte herum, aber niemandhatte Bob gesehen. Wäre eran der Passage

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vorbeigelaufen und weiter inRichtung Norden, dann wäreer an der Essex Roadherausgekommen, derHauptstraße, die weiterführtenach Dalston und darüberhinaus. Einen Teil dieserRoute kannte Bob, aber nichtbei Nacht und nicht allein.

Ich war schon völligverzweifelt, als ich amanderen Ende der Passage,kurz vor dem Ausgang, der

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nach Islington Green führte,eine Frau traf, die mirAuskunft geben konnte. Aufmeine Frage antwortete sie:»Ja, ich habe eine Katzegesehen. Sie ist in dieseRichtung gelaufen.« Dabeizeigte sie auf die Straßehinaus. »Sie ist an mirvorbeigeschossen wie eineRakete. Draußen ist sie inRichtung Hauptstraßeabgedreht, und es sah aus,

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als wollte sie über dieStraße.«

Ich lief sofort hinterher undsah mich draußen um. Bobliebte Islington Green mitseinen umliegendenGrünflächen. In dieser Eckeparkte donnerstags auchimmer der Bus vom BlueCross mit der Tierambulanz.Hier könnte er sich versteckthaben. Ich überquerte die

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Straße und betrat die kleineumzäunte Grünanlage. Esgab ein paar Büsche, unterdenen er immer gernherumwühlte. Ich ging vorjedem einzelnen in die Knie,um darunter nachsehen zukönnen. Inzwischen war esdunkel geworden, und ich sahkaum noch die Hand vor denAugen. Entgegen allerVernunft hoffte ich dennoch,unter einem der Büsche

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würde mich ein grünblitzendes Augenpaaranstarren.

»Bob, bist du da, Bob?«,fragte ich vor jedem Busch.Aber ich bekam keineAntwort. Ich ging bis ansandere Ende der kleinenAnlage und rief weiter nachihm. Aber außer dem Gegrölevon ein paar Betrunkenen aufeiner Parkbank war nur derpenetrante Lärm des

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Straßenverkehrs zu hören,der um die kleine grüne Oasetobte.

Völlig verzagt lief ich weiter,bis ich plötzlich vor dergroßenWaterstone-Buchhandlung inIslington stand. Bob und ichwaren oft dort drin und dieAngestellten mochten ihnsehr. Ich griff nach jedemStrohhalm … vielleicht hatteer dort Zuflucht gefunden.

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Drinnen war nicht viel los.Nur ein paar Mitarbeiterbereiteten schon alles für denLadenschluss vor. Nur wenigeKunden stöberten noch in denBücherregalen. Ich erkannteeine der Damen hinter derKasse. Ich war totalverschwitzt, atmete schwerund sah wahrscheinlichziemlich verstört aus.

»Alles okay mit Ihnen?«,

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fragte sie mich.»Bob ist weg. Ein Hund hat

uns angegriffen, und Bob istdavongelaufen. Ist er vielleichthier?«

»Oh, leider nicht.« Sie sahehrlich besorgt aus. »Ich wardie ganze Zeit da, aber ichhabe ihn nicht gesehen. Sollich oben nachfragen?« Siegriff nach dem Telefon undwählte.

»Habt ihr bei euch oben eine

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rote Katze gesehen?« Nochwährend der Kollege amanderen Ende sprach,schüttelte sie bedauernd denKopf. »Es tut mir so leid«,wandte sie sich beimAuflegen wieder an mich.»Aber wenn er auftaucht,behalten wir ihn auf jeden Fallhier«, versicherte sie mir.

»Danke«, brachte ichmühsam hervor.

Als ich wieder auf der Straße

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stand, versetzte mir einGedanke einen Keulenschlagin den Magen: Ich hatte ihnverloren.

Ich war völlig fertig.Benommen schlurfte ich dieEssex Street hinunter. Aberich hatte es aufgegeben,weiter nach ihm zu suchen.

Es war der Weg, den wirjeden Tag gemeinsam zurArbeit und auch zurück nachHause gingen. Als ich das

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Busschild mit der Aufschrift»Tottenham« sah, kam mireine Idee. Er würde dochnicht …? Oder doch?

An der Haltestelle stand einTicketkontrolleur, und ichfragte ihn: »Entschuldigung,haben Sie vielleicht eine roteKatze gesehen, die in einenBus gesprungen ist?« Ichhätte es Bob zugetraut, aberder Mann starrte mich an, als

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hätte ich ihn gefragt, ob einAußerirdischer den Bus Nr. 73bestiegen hätte. Er schüttelteden Kopf und drehte sichweg.

Ich wusste, dass Katzeneinen hervorragendenOrientierungssinn haben. Esgab viele Geschichten, wieKatzen über großeEntfernungen wieder nachHause gefunden hatten. Aberich konnte mir nicht vorstellen,

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dass Bob nach Tottenhamzurückfinden würde. Daswaren über fünf Kilometerdurch die unwegsamstenBezirke von London. Wirhatten die Strecke noch nie zuFuß zurückgelegt, sondernimmer mit dem Bus. DieseMöglichkeit kam nicht inBetracht.

Die nächste halbe Stundewar eine Achterbahn derGefühle. Ich schwankte

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zwischen Hoffnung undResignation. Zuerst war ichüberzeugt, dass er bald vonjemandem gefunden underkannt werden würde. VieleLeute aus der Gegend, in derer entlaufen war, kannten ihn.Aber auch, wenn er einemFremden zulaufen wäre,standen die Chancen gut.Hauptsache, der Finder hatteschon mal von Mikrochips fürHaustiere gehört. Jeder

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Tierarzt kann die Daten vongechippten Tieren über dieDatenbank-Zentrale abfragen.

Aber sobald ich mich damitgetröstet hatte, stürzten michwilde Horrorszenarien in tiefeVerzweiflung. Was, wenngenau so etwas vor dreiJahren passiert war? Was,wenn ein solcher Zwischenfalldazu geführt hatte, dass Bobsich damals ein neues

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Zuhause gesucht hatte, alsich ihn auf der Fußmatte inmeinem Mietshaus fand? Ichwar total hin und her gerissen.

Mein Verstand sagte: »Esgeht ihm gut und du kriegstihn wieder!« Aber da warauch diese unbeschreiblicheAngst, eine monotoneStimme, die in meinem Kopfdröhnte: »Er ist weg. Du wirstihn nie wiedersehen!«

Über eine Stunde rannte ich

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die Essex Road rauf undrunter. Inzwischen war esstockdunkel geworden, unddie Autoschlange desFeierabendverkehrs hatte sichbis hinunter zur Islington HighStreet festgefahren.

Ich war ratlos und völlighilflos. Ohne wirklich darübernachzudenken, schleppte ichmich in Richtung Dalston.Meine Freundin Belle wohntedort in der Nähe. Warum

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sollte ich nicht zu ihr gehen,ein anderes Ziel hatte ichmomentan nicht mehr.

In einer Seitengasse sah ichdie Umrisse einesKatzenschwanzes. Schwarzund dünn, ganz anders alsder von Bob, aber ich war soverzweifelt, dass ich mireinredete, es könnte Bobsein.

»Bob«, brüllte ich undhechtete um die dunkle Ecke,

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aber da war nichts. Ich hörteein Miauen, aber es klangnicht wie Bob. Trotzdemlauschte ich angestrengt indie Dunkelheit. Erst nach einpaar Minuten gespenstischerStille ging ich weiter.

Inzwischen hatte sich derStau aufgelöst. Es warungewohnt still. Der Himmelwar voller Sterne. KeinVergleich mit dem

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australischen Nachthimmel,aber doch ziemlichbeeindruckend. Noch ein paarWochen zuvor hatte ichglücklich unter demSternenzelt von Tasmaniengesessen. Ich hatte dort allenerzählt, dass ich nach Londonzurück müsste, weil ich fürBob Verantwortungübernommen hatte. Das hastdu wirklich gut hingekriegt,schimpfte und fluchte ich.

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Vielleicht hätte ich nichtnach Australien fliegen sollen.Konnte es sein, dass meinesechswöchige Abwesenheitdie starke Bindung zwischenBob und mir zerstört hatte?Vielleicht hatte ich in seinenAugen meine Aufsichtspflichtvernachlässigt, und er hattesein Vertrauen in michverloren? Hatte er in demMoment, als der Rottweilerangriff, entschieden, dass er

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sich auf mich nicht mehrverlassen konnte? Ich hätteschreien können vor Wut undVerzweiflung.

Belles Wohnung war bereitsin Sicht, und mir war immernoch zum Heulen zumute.Wie sollte ich nur ohne Bobklarkommen? Einen Freundwie ihn würde ich nie wiederfinden. Und plötzlich war danoch etwas: Die altbekannteGier nach einem Schuss, die

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ich seit Jahren nicht mehrgespürt hatte.

Sofort versuchte ich, diesenGedanken zu verdrängen,aber mein Unterbewusstseinkämpfte dagegen. MeinLeben hatte keinen Sinn mehrohne Bob. Um die Trauer undden Schmerz zu ertragen, diemich jetzt schonübermannten, würde ich michbetäuben müssen.

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Belle war, genau wie ich,ebenfalls seit Jahren clean.Aber ich wusste, dass ihreMitbewohnerin Drogen nahm.Je näher ich der Straße kam,in der Belle wohnte, destounbezähmbarer wurde meinWunsch nach Betäubung.

Als ich vor Belles Wohnhausstand, war es fast 22 Uhr. Ichwar stundenlang durch dieStraßen geirrt. Dasdurchdringende Heulen von

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Sirenen zerstörte die Stille.Die Polizei war unterwegs zueiner Schlägerei oderMesserstecherei inirgendeinem Pub. Egal – alleswar nur noch egal.

Ich ging auf den schwachbeleuchteten Hauseingangzu. Im Schatten neben demGebäude nahm ich einedunkle Silhouette wahr.Eindeutig die Umrisse einerKatze, aber ich hatte schon

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aufgegeben und nahm an, eswäre ein Streuner, der vor derKälte Zuflucht suchte.

Als er den Kopf drehte, sahich sein Gesicht. Dieseseinzigartige, wunderbareGesicht.

»Bob!«Er antwortete sofort mit

einem anklagenden Miau.Genau wie damals, vor dreiJahren im Hausflur bei

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unserer ersten Begegnung.Es hieß: »Wo warst du denn?Ich warte schon ewig aufdich!«

Ich hob ihn hoch und drückteihn überglücklich an mich.

»Ich bin fast gestorben vorAngst um dich. Du wirst michnoch umbringen, wenn duimmer wegläufst!«, murmelteich in sein Fell und wischtemir gleichzeitig dieFreudentränen ab. Er kam mit

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seiner kalten Nase ganz dichtan mein Gesicht und lecktemir die letzten nassen Spurenmit federleichten Berührungenvon der Wange.Währenddessen zermarterteich mir den Kopf, wie er wohlzu Belles Wohnung gefundenhaben könnte.

Im Nachhinein gesehen, wares das Nächstliegende.Warum hatte ich nicht gleichdaran gedacht? Wir hatten

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Belle oft gemeinsam besuchtund er war während meinerAustralienreise sechs Wochenhier gewesen. Er hatte daseinzig Richtige getan. Aberwie nur? Die Wohnung lagetwa drei Kilometer entferntvon unserem Platz an derAngel Station. Hat er denganzen Weg zu Fußzurückgelegt? Und wie langewartete er hier schon?

Es war nicht mehr wichtig.

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Ich streichelte, kraulte undknutschte ihn, während er mirmit seiner rauen, trockenenZunge die Hand ableckte,sein Gesicht an meinem riebund seinen Schwanz ummeinen Arm wickelte.

Nach einer Weile drückte ichauf Belles Klingel, und sieöffnete. MeineWeltuntergangsstimmung wareinem unbeschreiblichen

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Glücksgefühl gewichen. Ichschwebte auf Wolke Sieben.

Belles Mitbewohnerin warauch da. »Na, brauchst duwas zum Feiern?«, fragte siemich und lächelteverführerisch.

»Nein, danke, kein Bedarf«,antwortete ich grinsend. Bobkratzte spielerisch an meinerHand, und ich zog ihnliebevoll am Nackenfell. Ichstrahlte Belle an und sagte:

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»Ein Bier wäre jetzt klasse!«Bob brauchte keine Drogen,

um die Nacht zu überstehen.Er brauchte nur seinenFreund, und das war ich. Indiesem Moment wurde mirklar, dass ich auch nichtsanderes brauchte. Nur Bob.Nicht nur heute Abend,sondern solange ich die Ehrehatte, ihn bei mir zu haben.

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21Bob, der Big-Issue-

Kater

Es war Ende März, die

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Sonne war geradeuntergegangen, und dieAbenddämmerung breitetesich über der Angel Stationaus. London machte sichbereit für eine neuePartynacht. Auf der IslingtonHigh Street setzte derFeierabendverkehr ein, unddas Hupkonzert wurdeunerträglich. Die Bürgersteigewaren voll mit Passanten, diein die Bahnhofshalle strömten

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oder daraus hervorquollen.Jeder war in Eile, alle hattenscheinbar ein wichtiges Ziel.Zumindest fast alle.

Ich zählte gerade meine Big-Issue-Exemplare, umsicherzugehen, dass ich nochgenug Vorrat für denabendlichen Ansturm hatte.Aus den Augenwinkelnbemerkte ich eine kleineGruppe von Jugendlichen, diesich um uns geschart hatten.

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Drei Jungs und zweiMädchen. Sie sahen aus wieSüdamerikaner, Spanier oderPortugiesen.

Das war nichtsUngewöhnliches. Wir warenhier zwar nicht in CoventGarden, am Leicester Squareoder Piccadilly Circus, aberauch nach Islington kamenregelmäßig Touristen, undBob zog sie an wie ein kleinerMagnet. Es verging kaum ein

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Tag, an dem Bob nichtmindestens einmal von einerentzückten Gruppe vonjungen Leuten umgeben war.

Aber diese Jugendlichenfielen mir auf, weil sie überBob redeten, als ob sie ihnkannten.

»Ah, si, Bob!«, sagte einesder Mädchen auf Spanisch.

»Si, si, Bob, The Biiig IssuuuCat«, nickte ihre Freundin.

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Das ist aber komisch, dachteich. Woher kennen die BobsNamen? Er trägt doch keinNamensschild. Und wiesonennen sie ihn »The Big IssueCat«? Das wollte ich genauerwissen.

»Entschuldigt, bitte, darf ichfragen, woher ihr Bobkennt?«, fragte ich und hoffte,dass einer von ihnen meineSprache verstand. MeinSpanisch war miserabel bis

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nicht vorhanden.Glücklicherweise antwortete

einer der Jungs. »Oh, wirhaben ihn auf YouTubegesehen«, grinste er. »Bob istsehr berühmt, ja?«

»Ist er das?«, fragte ichverdutzt. »Ich habe schongehört, dass es ein Video vonihm auf dieser Plattform gibt,aber mir war nicht klar, wersich das ansieht.«

Der Junge nickte: »Viele

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Leute, denke ich!«»Wo kommt ihr her?«»España, Spanien.«»Heißt das, Bob ist bekannt

in Spanien?«»Si, si«, bekräftigte der

andere Junge, nachdem erunsere Unterhaltung übersetztbekommen hatte. »Bob esuna estrella en España.«

»Äh, was hat er gesagt?«,fragte ich meinen Übersetzer.

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»Er sagt, Bob ist ein Star inSpanien.«

Ich war total verblüfft.Natürlich hatten viele Leute

von überallher in den letztenJahren Fotos von Bobgemacht. Als ich noch alsStraßenmusiker unterwegsgewesen war und auch, seiti ch The Big Issue verkaufte.Im Scherz hatte ich schon malerwähnt, dass Bob insGuinness-Buch der Rekorde

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gehörte: als meistfotografierteKatze.

Manche Leute haben Bobauch gefilmt, mit ihreniPhones oder auch mit einerrichtigen Videokamera. Ichversuchte, mich zu erinnern,wer ihn in den letztenMonaten gefilmt hatte. Werkönnte einen Film gemachthaben, der jetzt auf YouTubelief? Mir fielen da zwei Leuteein, und ich wollte mir das bei

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nächster Gelegenheit selbstansehen.

Gleich am nächsten Morgenbesuchte ich mit Bob dieBibliothek in unserer Näheund ging online.

Ich tippte die Wörter: »BobBig Issue Cat«, und schonhatte ich einen Link zuYouTube, den ich anklickte.Zu meiner Überraschung gabes sogar zwei Filme über Bob.

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»Hey, Bob, schau mal! DerJunge hatte recht. Du bist einStar auf YouTube.«

Bis zu diesem Moment warBob an den Computerbildernnicht sehr interessiertgewesen. Es war schließlichkein Pferderennen. Aber alsich den Film anklickte und ermich sprechen hörte, spranger auf die Tastatur undpresste seine Nase an denComputerbildschirm.

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Als ich mir den Clip mit demTitel »Bobcat and I« ansah,erinnerte ich mich wieder. EinStudent der Filmakademienamens Tom Jones hatte unsangesprochen. Er hatte michein paar Tage mit der Kamerabegleitet. Damals hatte ichnoch an der Neal Streetverkauft, wie ich den Bildernentnahm. Außerdem konnteman sehen, wie wir den Busnehmen und die Straße

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entlanggehen. Er hatte denAlltag eines Big-Issue-Verkäufers sehr guteingefangen. Man sah Leute,die Bob verwöhnten undstreichelten, aber auch eineSzene, in der ich von ein paarLeuten beschuldigt wurde,Bob mit Medikamenten»willenlos« zu machen.

Der zweiteZusammenschnitt war erst vor

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Kurzem an der Angel Stationvon einem Russenaufgenommen worden. Erhatte den Titel »Bob, The BigIssue Cat«. Diesen Cliphatten die spanischenJugendlichen gesehen.Dieses Video hatte mehr als100 000 clicks. Ich warsprachlos.

Ich hatte schon länger denVerdacht, dass Bob so etwaswie eine Fangemeinde

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entwickelte. Es kam immeröfter vor, dass jemand bei unsstehen blieb und fragte: »Ah,ist das Bob? Ich habe von ihmgehört.« Oder: »Ist das derberühmte Bobcat?« Bisherhatte ich dabei nur anMundpropaganda gedacht.Ein paar Wochen, bevor wirdie spanischen Teenagertrafen, brachte eineTageszeitung einen Artikelüber uns, der Islington

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Tribune. Daraufhin hatte micheine amerikanische Agentinsogar gefragt, ob ich nicht einBuch über Bob und michschreiben wollte. Als ob ichdas könnte!

Dank der jungen Spaniererkannte ich, dass Bob schonweit über die lokaleBerühmtheithinausgewachsen war. Er warauf dem besten Weg einKatzenstar zu werden.

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Auf dem Weg zum Busversuchte ich das alles ersteinmal zu verdauen. Aber einLächeln konnte ich mir dochnicht verkneifen. In einem derbeiden Videos hatte ichgesagt, dass Bob mir dasLeben gerettet hatte. Als ichmich so reden hörte, klangdas doch etwas seltsam undübertrieben. Aber während ich

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dahinschlenderte und übermeine Worte nachdachte,stellte ich fest, dass es diereine Wahrheit war. Er hatmich wirklich gerettet.

Er hat in den drei Jahrenmeine Welt verändert. Als ichihn fand – oder er mich, warich ein Heroinabhängiger aufmedizinisch betreutemEntzug, und ich lebte von derHand in den Mund. Ich warEnde zwanzig, aber mein

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Leben hatte weder ein Zielnoch einen Grund. Ich hatteden Kontakt zu meinerFamilie verloren und besaßkaum einen Freund auf dieserWelt. Um es gelindeauszudrücken, mein Lebenwar ein Albtraum. Bob hatalles verändert.

Meine Reise nach Australienhat meine Kindheitsproblemezwar nicht ausradiert, aber ichhabe mich mit meiner Mutter

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versöhnt. Die Wunden sindverheilt. Ich hatte das Gefühl,wir waren uns wiedernähergekommen. Mein Kampfgegen die Drogen war endlicherfolgreich, und ich hoffe,dass dies für immer so bleibt.Meine tägliche Dosis anSubutex wird immer weniger.In absehbarer Zeit werde iches absetzen können. DasEnde meiner Abhängigkeitrückt immer näher. Es gab

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Zeiten, da hätte ich das allesnie für möglich gehalten.

Vor allem habe ich endlichWurzeln geschlagen. Für diemeisten Menschen mag diesunwichtig erscheinen, abermeine kleine Wohnung inTottenham hat mir dieSicherheit und den Haltgegeben, nach dem ich michimmer gesehnt hatte. Ichhabe noch nie so lange an

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einem Ort gewohnt: Ganzevier Jahre, und kein Umzug inSicht. Ohne Bob wäre ichwohl nicht so lange geblieben.

Ich wurde als Kirchgängererzogen, aber ich war keinpraktizierender Christ. Auchkein Agnostiker oder Atheist;ich bin der Meinung, wirsollten uns von jeder Religionund Philosophie etwasherauspicken. Ich bin auchkein Buddhist, aber die

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buddhistischen Lehrengefallen mir am besten. Siegeben gute Ansatzpunkte, umdie herum man sein Lebenaufbauen kann. Zum Beispielglaube ich wirklich an Karma,an die Wiedergeburt. Ich fragemich, ob Bob meineBelohnung dafür ist, dass ichirgendwann in meinemverkorksten Leben etwasGutes getan habe.

Außerdem frage ich mich, ob

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Bob und ich uns nichtvielleicht aus einem anderenLeben kennen. UnsereBindung war von Anfang anso stark und das Verständnisfüreinander so groß. Jemandhat uns mal die Reinkarnationvon Dick Whittington undseiner Katze genannt. Nurdass die Rollen vertauschtwurden. Dick Whittington warals Katze Bob wiedergeborenworden und ich als sein

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Begleiter war früher seineKatze. Ich fand den Vergleichspannend. Ich konnte mir Bobgut als alte Seele vorstellen.Bob ist mein bester Freund,und er hat mir zu einemneuen, viel besseren Lebenverholfen. Dafür verlangt erkeine komplizierte oderunrealistische Gegenleistung.Er will nur, dass ich für ihn dabin. Und das bin ich.

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Der gemeinsame Weg, dernoch vor uns liegt, wirdbestimmt nicht ohne Steinesein. Schließlich arbeite ichimmer noch auf den Straßenvon London. Nichts ist einfachim Leben. Aber solange wirzusammen sind, werden wiralle Klippen meistern.

Jeder verdient eine zweiteChance. Bob und ich habenunsere genutzt.

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Dank

Die Entstehung diesesBuches war für mich eine

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erstaunliche Erfahrung zumThema Zusammenarbeit.Sehr viele Menschen habenihren Teil dazu beigetragen,es möglich zu machen.

Zuallererst möchte ich michbei meiner Familie bedanken,allen voran bei meiner Mutterund meinem Vater, weil siemir diesen unglaublichstarken Willen vererbt haben,der mich durch die dunkelstenTage meines Lebens

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getragen hat. Außerdemmeinen Paten Merilyn undTerry Winters, die immer fürmich da waren.

In all den Jahren auf denStraßen von London habe ichviel Nächstenliebe erlebendürfen. Namentlich erwähnenmöchte ich Sam, Tom, Leeund Rita, die Big-Issue-Bezirksleiter, die mir aus somancher Notlage geholfenhaben. Außerdem danke ich

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den Streetworkern Kevin undChris für ihr Mitgefühl und ihrVerständnis, dem Blue Crossund dem RSPCA für ihrewertvolle medizinische Hilfemit Bob sowie Davika, Leanneund all den anderenMitarbeitern der AngelStation, die immer für Bobund mich da waren.

Nicht zu vergessen, FoodFor Thought und Pix in derNeal Street, die immer einen

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heißen Tee für mich und einSchälchen Milch für Bob übrighatten. Genau wie Daryl imDiamond Jacks in Soho sowiedie Schuster Paul und Den,die schon lange zu echtenFreunden geworden sind.Auch Pete Watkins vonCorrupt Drive Records, DJCavey Nik von Mosaic Homesund Ron Richardson möchteich erwähnen.

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Dieses Buch wäre ohnemeine Agentin Mary Pachnosnie zustande gekommen. Eswar ihre Idee – die ichanfangs für ziemlich verrückthielt. Ohne Mary und denAutor Garry Jenkins hätte iches nicht geschafft, unsererGeschichte die richtige Formzu geben. Ich danke Euch vonganzem Herzen, Mary undGarry. Auch meinem VerlagHodder & Stoughton danke

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ich – vor allem RowenaWebb, Ciara Foley, EmmaKnight und allen anderen ausdiesem wunderbaren Team.Vielen Dank auch an Alan undalle Mitarbeiter aus derBuchhandlung Waterstone’sin Islington, die Garry und mirsogar erlaubten, in ihrenruhigen Büroräumen anunserem Buch zu arbeiten.Ein großes Dankeschön auchan Kitty, ohne deren ständige

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Unterstützung wir beideverloren gewesen wären.

Ich möchte mich auch nochbei Scott Hartford-Davis unddem Dalai-Lama bedanken,die mir in den letzten Jahreneine großartigeLebensphilosophienähergebracht haben, und beiLeigh Ann, die in Gedankenimmer bei mir ist.

Zu guter Letzt, aber

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keinesfalls als Letztem,möchte ich dem kleinenRotpelzchen danken, der2007 in mein Leben trat undder vom Anbeginn unsererFreundschaft die treibendeKraft in meinem Leben war.Ich wünsche jedem Menscheneinen Freund wie Bob. Ichhatte großes Glück, ihn zufinden …

James Bowen

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London, im Januar 2012

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Über den Autor

James Bowen lebt inLondon. Er fand Bob, den

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Streuner, im Frühling 2007.Seitdem sind die beidenFreunde unzertrennlich.

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InhaltsverzeichnisTitel 2Impressum 41–Weggefährten 62–AufdemWegderGenesung 67

3–DieKastration 1864–Freifahrschein 2325–ImMittelpunkt 262

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6–EinMannundseineKatze

332

7–ZweiMusketiere 423

8–OffizielleAnmeldung 485

9–DerAusreißer 517

10–DerWeihnachtskater 574

11–Die 619

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Verwechslung12–Nummer683 70013–DerperfekteStandort 771

14–Angeschlagen 806

15–DieschwarzeListe 864

16–Herzlichaufgenommen 958

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17–AchtundvierzigStunden

997

18–DieHeimreise 1057

19–DerStationsvorsteher 1129

20–DielängsteNacht 1160

21–Bob,derBig-Issue-Kater 1214

Dank 1241

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ÜberdenAutor 1251