Boileau
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Transcript of Boileau
Boileau[Bearbeiten]
Der wichtigste Dramentheoretiker der französischen Klassik war Nicolas Boileau (1636–1711) mit
seiner in Versen gehaltenen Schrift L'art poétique (1669–74). Er formulierte die Forderungen
der Hofgesellschaft während des Absolutismus an das Drama, das in diesem Rahmen zum
barocken Regeldrama gemacht wurde. Das höfische Drama diente den Adligen als
Verhaltensschule und als Diskussionsstoff für politische Ereignisse. Obwohl sich Boileau auf
Aristoteles und Horaz beruft, wandelt er ihre Lehren stark ab. Weil sich das neue französische
Drama mit Jean Racine oder Pierre Corneille gegenüber dem englischen und spanischen
vonShakespeare oder Calderón behaupten musste, werden jene Autoren von Boileau als
regellos und unvernünftig verurteilt.
Den Bedürfnissen der Hofgesellschaft entsprechend, sollte das Drama angenehm, nicht zu
emotional und nicht zu belehrend sein. Heftig diskutiert wurden die
sogenannte Ständeklausel (dass Bürgerliche sich nicht als tragische Figuren eigneten) oder
die Bienséance (dass nichts Kreatürliches auf der Bühne dargestellt werden sollte wie Kämpfe,
erotische Berührungen, Alter oder Essen). Johann Christoph Gottsched versuchte diese
Vorstellungen dem deutschsprachigen Bürgertum zu vermitteln, um ihm eine gesellschaftliche
Aufwertung zu ermöglichen.
Corneille[Bearbeiten]
Pierre Corneille (1606–1684) legte seine theoretischen Ansichten in den Trois discours sur le
poème dramatique (1660) nieder. Seine Dramentheorie ist im deutschen Sprachgebiet
gegenwärtig, weil sie ausführlich von Lessing diskutiert wurde. Angesichts christlicher Kritik am
antiken Drama, an welchem vor allem die Gnadenlosigkeit der antiken Tragik bemängelt wurde,
war es Corneille wichtig, die Dramentheorie mit der christlichen Sittenlehre zu verbinden und zu
zeigen, dass es hier keinen Widerspruch gebe.
Daher entwickelte Corneille seine Dramentheorie aus der Beschäftigung mit dem Märtyrer-Drama
des Barocks. Diese Märtyrertragödien wiesen extrem polareFigurenkonstellationen auf:
Einerseits waren sich die Helden ihres Heils so sicher, dass sie eigentlich gar nicht in
eine Katastrophe gestürzt werden konnten. Andererseits waren ihre Gegenspieler dermaßen
böse, dass der Untergang des Helden von vornherein für den Zuschauer voraussehbar wurde.
Diese Problematik führte Corneille zum Gedanken, dass die von Aristoteles geforderte Katharsis
durch das Hervorrufen von Furcht und Mitleid als „Reinigung von Leidenschaften“ zu verstehen
sei. Leidenschaft ist nach dem (religiösen) Verständnis der Zeit noch etwas Schlechtes. Deshalb
konnte es noch keine Spannungoder überbordende Heiterkeit im Drama geben.
Die Affekte treten auf, um vor ihnen zu warnen. Einerseits kann der Held ein Bösewicht sein, der
durch seine Leidenschaften Angst und Schrecken verbreitet. Mit ihm empfindet der Zuschauer
zwar kein Mitleid, kann sich jedoch vor dessen Leidenschaften fürchten. Andererseits kann der
Held auch ein Heiliger und Märtyrer sein, der durch seine Tugend über allen Leidenschaften
steht. Dieser wird vom Zuschauer bemitleidet und gleichzeitig auch für
seine Erhabenheit bewundert. Somit erweitert Corneille das Affektpaar „Furcht und Mitleid“ (eine
christliche Übersetzung von Phobos und Eleos), das den Zuschauer von seinen Leidenschaften
reinigen soll, um einen dritten Affekt, nämlich die Bewunderung.
Diderot[Bearbeiten]
In den Jahren vor der Französischen Revolution wurden die Privilegien des Adels, die sich im
Hoftheater spiegelten, in Frage gestellt. Die hoch angesehene Tragödie sollte nicht mehr dem
Adel vorbehalten bleiben, und die Nichtadeligen sollten nicht mehr in der Komödie verlacht
werden. Denis Diderot (1713–1784) entwarf in seinen Abhandlungen Entretiens sur le fils
naturel (1757) und De la poésie dramatique (1758) eine Theorie des bürgerlichen
Trauerspiels (er selbst nennt es genre sérieux), die großen Einfluss hatte und im deutschen
Sprachgebiet etwa von Lessing übernommen wurde.
Lessing[Bearbeiten]
Für Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) spielte die Emanzipation des Dramas von der
christlichen Sittenlehre nicht mehr die Hauptrolle wie noch für Corneille. Er forderte ein
bürgerliches Drama und gab einer positiv bewerteten Leidenschaft auf der Bühne und im
Zuschauerraum einen größeren Stellenwert. Lessing veröffentlichte seine Theorie in Form von
regelmäßig erscheinenden Magazinen, der Hamburgischen Dramaturgie (1767) im
Zusammenhang mit seiner Tätigkeit für die Hamburgische Entreprise.
Gustav Freytag erklärte später, Lessing habe eine „nationale Auffassung des dramatisch
Schönen“[8] begründet. Der Begriff des Nationalen (wie inNationaltheater) diente dazu, die
Rivalitäten zwischen Bürgern und Adligen abzuschwächen oder zuzudecken. Daher ist die
sozialkritische Komponente von Lessings Theorie seit dem 19. Jahrhundert heruntergespielt und
eine national „deutsche“ hervorgehoben worden, auch in der kulturellen Rivalität zu Frankreich,
das in der dramatischen Produktion nach wie vor führend war.
Wichtig war Lessing die Emanzipation des bürgerlichen Dramas vom Hoftheater, die in seiner
Zeit geschah. Daher stand für ihn die Überwindung der Ständeklauselim Zentrum seines
Bemühens, die sich seit der Renaissance als Abgrenzung zwischen „schlechten“ oder
„hässlichen“ bürgerlichen und „guten“ oder „schönen“ adligen Theaterfiguren entwickelt hatte. Er
kritisiert auch die eindimensionalen Charaktere des von Corneille verteidigten Märtyrerdramas,
die aus seiner Sicht in ihrem unerschütterlichen Glauben und ihrer Gewissheit auf Erlösung die
menschlichen Fähigkeiten bei weitem überschreiten und ihr Martyrium zu einer
Selbstverständlichkeit machen.
Lessing fordert Charaktere, die nicht stereotyp und polar wirken, sondern die Vielfalt
menschlicher Emotionen und Gedanken in sich vereinen, also ihrer gesellschaftlichen Stellung
entsprechend nicht nur böse oder nur gut sind. Dadurch werden ihre Motive psychologisch
begründbar und für den Zuschauer nachvollziehbar. Anstelle des zuvor im Mittelpunkt stehenden
Verhältnisses zwischen Mensch und Gott und zwischen den Ständen wird nun der
psychologische Prozess für den Handlungsverlauf ausschlaggebend.
„Ich frage nicht, ob ihn (den Zuschauer) der Poet so weit bringt, dass er diese Leidenschaft in der
spielenden Person billiget, sondern ob er ihn so weit bringt, dass er diese Leidenschaften selbst
fühlt, und nicht bloß fühlt, ein andrer fühle sie? (...) die Bestimmung der Tragödie ist diese: Sie
soll unsre Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern. (...) Der mitleidigste Mensch ist der beste
Mensch.“
– G. E. LESSİNG[9]
Aus diesem Zitat aus einem Brief Lessings an Moses Mendelssohn wird ersichtlich, dass Lessing
die Aufgabe des Trauerspiels in der Verbesserung des Menschen sieht, indem dieser mitleiden
„darf“. Das Mitleid als starke Emotion, die man auch als christliche Haltung ausgeben konnte, war
in der Empfindsamkeitgesellschaftsfähig geworden und wurde auch als öffentliches Weinen
zelebriert (siehe Rührstück). Mit diesem kreatürlichen Verhalten konnte man gegen die
höfische Schicklichkeit revoltieren.
Eine ähnliche Aufgabe sichert Lessing der Komödie zu, die dem Publikum zur Fähigkeit verhelfen
soll, Lächerliches leicht wahrzunehmen. Derjenige, der diese Fähigkeit besitzt, solle dadurch zu
einem wohlerzogenen und gesitteten Menschen werden. Die höfische Komödie dagegen hielt
den Bürgern ihre Lächerlichkeit vor, definierte das Lächerliche also nicht als allgemein-
menschliche, sondern als soziale Eigenschaft.
Schiller[Bearbeiten]
Friedrich Schiller (1759–1805) bemühte sich wie Goethe um eine neue Klassik, die der Antike
näher kommen sollte als die Französische Klassik. Gebundene Rede, didaktische Ziele und eine
Vermeidung des „Gemeinen“ zu Gunsten des Poetischen lagen ihm am Herzen. Als 25-Jähriger
versuchte er mit seiner Rede Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet (1784) die
Mitglieder der kurpfälzischen Tochter der Deutschen Gesellschaft für sich zu gewinnen. Ob die
starke Betonung des Lehrhaften in dieser Rede Schillers Ansichten wirklich entsprach und wie
weit sie auch für seine spätere Haltung zutrifft, ist umstritten.
In seinem Brief an Goethe vom 24. November 1797 erklärte Schiller, dass er die gebundene
Rede im Drama für würdiger halte als die Prosa. In seiner Vorrede zuDie Braut von
Messina (Über den Gebrauch des Chores in der Tragödie, 1803) verteidigte er den Chor in
modernen Bühnenstücken und verurteilt die „Dürftigkeit“ der französischen Tragödien, die auf ihn
verzichten und die Aristotelischen Einheiten im „gemeinsten empirischen Sinn“ verständen.
Goethe[Bearbeiten]
Für Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) war das bürgerliche Drama Realität geworden.
Die Wanderbühnen hatten eine akzeptable „deutsche“ Schauspielkultur hervorgebracht, und es
gab mittlerweile einige deutschsprachige Autoren von Bedeutung. Goethe brauchte sich nicht
mehr so sehr gegenüber Kirche und Adel oder gegenüber der italienischen Oper und dem
französischen Drama zu verteidigen, sondern bemühte sich um eine Aufweichung der
Gegensätze. So versuchte er mit der Weimarer Klassik den antiken Figuren, Handlungen und
höfischen Verhaltensregeln, die vom Theater der französischen Klassik herstammten, eine
Schlichtheit zu verleihen, die zumindest er selbst als „natürlich“ (das heißt: nicht gesellschaftlich
differenzierend) empfand. Die romanische und die deutsche Kultur sowie das Bürgertum und der
Adel sollten dadurch versöhnt werden.
Allerdings wandte sich Goethe von dem von Aristoteles bis Lessing in verschiedensten Varianten
geforderten Regeldrama ab. Er wollte die Fesseln der formalen Einheiten brechen und dem
Beispiel William Shakespeares folgen, den er als eine Art naiven Dramatiker beschrieb
(Shakespeare und kein Ende, 1813). Als Goethe seine antiken Figuren auf das kleine Weimarer
Hoftheater brachte, hatte sich die Theaterwelt allerdings schon fast vollständig von den
klassizistischen Stoffen und Deklamationsregeln abgewandt, die erst gegen Ende des 19.
Jahrhunderts wieder modern wurden.
19. Jahrhundert[Bearbeiten]
Freytag[Bearbeiten]
In der Reaktionsära war eine politisch-soziale Dramentheorie kaum möglich. Gustav
Freytag (1816–1895) verstand Dramentheorie als Gebrauchsanleitung und Bauplan für
Theaterstücke. Sein Ideal eines einheitlichen, geschlossen aufgebauten Dramas brachte er
jedoch ausdrücklich mit der nationalen Einheit der Deutschen in Zusammenhang (die mit
der Reichsgründung 1871 verwirklicht wurde).
Sein Buch Die Technik des Dramas (1863) ist als Lehrbuch für Dramatiker verwendbar und hatte
daher großen Einfluss. Freytag versuchte in der Zeit desHistorismus an die antiken und
klassizistischen neuzeitlichen Dramentheorien anzuknüpfen und entwarf eine stark
schematisierte und daher besonders gut verständliche Vorstellung vom „Drama“. Er prägte vor
allem die Vorstellung vom „pyramidalen Aufbau“ der Handlung. Er stellte das fünfaktige Drama
als Modell heraus und schilderte die Folge der Akte als Spannungsverlauf: I. Exposition, II.
Steigende Handlung mit erregendem Moment, III. Höhepunkt und Peripetie, IV. Fallende
Handlung mit retardierendem Moment, V. Katastrophe.[10]
Ob Freytags Darstellung tatsächlich vorbildlich ist und wie weit sie auf antike oder
zeitgenössische Vorbilder überhaupt zutrifft, ist kontrovers diskutiert worden.
In der Nachfolge Freytags wurde von verschiedenen Dramentheoretikern zudem die Einheit der
Zeit, der Handlung und des Schauplatzes gefordert. Nur wenn die Handlung nicht länger als
einen Tag in Anspruch nähme, könne sie wahrscheinlich genug erscheinen, um den Zuschauer
zu involvieren. Zahlreiche Dramen, beispielsweise die Shakespeares, Brechts oder des Theater
des Absurden, belegen jedoch, dass Zuschauer auch auf ganz andere Weise angesprochen und
beteiligt werden können.[11]
Wagner[Bearbeiten]
In der italienischen Tradition seit etwa 1600 war die Oper mehr oder weniger gleichbedeutend mit
dem Drama. Sie konnte das Schauspiel zuweilen auch außerhalb Italiens verdrängen. Nach 1800
verlor die italienische Oper jedoch an Einfluss. Dies ist der Ausgangspunkt von Richard
Wagners (1813–1883) Dramentheorie, die er in Oper und Drama (1852) sowie in weiteren
Schriften wie Das Kunstwerk der Zukunft darlegte. Im Unterschied zu Freytag betätigte sich
Wagner als Revolutionär, der nach dem Scheitern der Märzrevolution 1848 mit zahlreichen
politischen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Das von ihm entworfene Konzept
eines Gesamtkunstwerks war für ihn ein Gesellschaftsmodell, als „Genossenschaft“ von
Gleichrangigen und gleich Gesinnten, das sich der fortbestehenden feudalen Gesellschaft
entgegenstellen sollte.
Wagner verstand die Oper ebenso wie das Schauspiel als verunglückte Wiederbelebungen des
antiken Dramas. Seine eigenen Opern stellt er dagegen als das eigentliche erneuerte Drama dar,
in dem die Musik und vor allem der Chor wieder eine der griechischen Tragödie entsprechende
Rolle finden sollten. Den Chor machte er dabei zum melodramatisch kommentierenden
Orchester. Friedrich Nietzsche unterstützte ihn mit seiner Schrift Die Geburt der Tragödie aus
dem Geiste der Musik (1872). Dass Wagner auch den religiösen Stellenwert des athenischen
Dramas mit seinen Werken erneuern wollte, wurde zum Gegenstand heftiger Kritik.
20. Jahrhundert[Bearbeiten]
Brecht[Bearbeiten]
Bertolt Brecht (1898–1956) stellte sich mit seiner Dramentheorie gegen den Naturalismus, den er
als Inbegriff eines bürgerlichen Illusionstheaters empfand, das vor den aktuellen sozialen und
politischen Ereignissen die Augen verschließen wolle. Er sah die aristotelische Dramentheorie in
der Nähe der Einfühlungstheorie, die Ende des 19. Jahrhunderts populär war, und wollte sich
dagegen richten. Sein „nicht-aristotelisches Theater“ wendet sich weniger gegen Aristoteles
selbst als gegen dessen Deutungen in der damaligen Ästhetik.
Brechts Episches Theater ist ein Widerspruch in sich, weil das erzählerische Epos ein Gegenteil
des Dramas ist. Er macht den Widerspruch jedoch fruchtbar, indem er den Darstellern ein
illusionistisches Nachahmen verbietet und stattdessen ihre Distanz zum Dargestellten fordert. Sie
sollen sich ständig überlegen, ob die Handlungsweise ihrer Figur auch ihrem (sozialen)
Verantwortungsgefühl entspricht. Der Dramatiker fördert dies durch Verfremdungseffekte wie ein
Heraustreten der Darsteller aus der Handlung.
Dürrenmatt[Bearbeiten]
Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) stand unter dem Erlebnis des Zweiten Weltkriegs und
der Atombombe. Er widmet sich in seinen dramentheoretischen Texten (Theaterprobleme, 1955)
wiederum dem Gegensatz zwischen Tragödie und Komödie, setzt sich mit dem Epischen
Theater Brechts auseinander, befürwortet die Distanz des Darstellers und des Zuschauers zur
Handlung, widerspricht aber dem von Brecht betonten Lehrgehalt des Dramas.
Für Dürrenmatt gibt es keine Tragödien mehr, da es die Repräsentationsmacht des Adligen oder
des Feldherrn nicht mehr gebe, denn „die tragischen Helden sind ohne Namen“. Nur mit dem
hergebrachten Komödienpersonal, mit dem „kleinen Schieber“, dem „Kanzlisten“ oder dem
„Polizisten“ lasse sich die heutige Welt wiedergeben. Auch die eindeutige Schuldzuweisung der
Tragödie sei nicht mehr möglich: „Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt.“ Daraus
schließt er: „Uns kommt nur noch die Komödie bei“ – aber „wir können das Tragische aus der
Komödie erzielen“. Der Weg dazu sei das Groteske.
Esslin[Bearbeiten]
→Hauptartikel: Absurdes Theater
Die zahlreichen Strömungen der modernen Dramatik, die sich nach 1900 aus
der Avantgarde entwickelt hatten und sich sowohl gegen den Naturalismus als auch gegen
ein lehrhaftes, sinngebendes und damit autoritäres Theater wandten, wurden von Martin
Esslin (1918–2002) erfolgreich unter dem Begriff Das Theater des Absurden (1961)
zusammengefasst. Seine Dramentheorie ist eine wissenschaftliche Beschreibung der
kulturgeschichtlichen und philosophischen Strömungen, die hinter Autoren wie Eugène
Ionesco oder Samuel Beckett stehen.
Strukturalistische Ansätze[Bearbeiten]
In den strukturalistischen Ansätzen bis in die 70er Jahre wird versucht, die Struktur des
Dramas in einem Akt der genauen Lektüre eingehender zu analysieren. Dabei treten
verschiedene Aspekte vor allem des Dramentextes in den Vordergrund; gleichermaßen
werden unterschiedliche Editionsformen nach ihrer Bedeutung befragt ebenso
wie Paratexte (z.B. Mottos oder Widmungen). Weiterhin sind die strukturalistischen
Dramentheoretiker in ihren Analysen schwerpunktmäßig
aufHandlung, Sprache und Figuren des Dramas fokussiert. Ihnen zufolge steuert
beispielsweise die Gestaltung des Stoffes (Geschichte, story) in der Handlung des Dramas
(Fabel, plot) dessen Rezeption, indem sie anzeigt, welche Ereignisse besonders akzentuiert
werden. Typenhaft angelegte Figuren wie etwa der verblendete König oder der weise Narr
können Konstanten des menschlichen Daseins zum Ausdruck bringen,
während individuell angelegte Charaktere häufigpsychologisierende Deutungen erlauben.
Ebenso können Dialekt und Soziolekt die Handlung in bestimmten Milieus verankern und
sprachliche Charakteristika Figuren beispielsweise als impulsiv bzw. aufbrausend oder aber
geschwätzig kennzeichnen.[12]
Abwendung vom Drama als Text[Bearbeiten]
Um dem plurimedialen Charakter des Dramas gerecht zu werden, lenkt
die Theatersemiotik vor allem seit Beginn der 1980er Jahre verstärkt den Blick auf
dieAufführungssituation. Auf der Grundlage einer Lehre von den Zeichen rücken die
theatersemiotischen Ansätze die physische Realität der Aufführung in das Zentrum ihrer
Betrachtung. Diese materialisiert sich beispielsweise
in Gestik, Kostümen oder Choreografien und wird dann in einer Art semiotischer
Exegese alsinterpretierbare Zeichen- oder Textstruktur verstanden. Diese Art
Aufführungsanalyse geht in jüngere Ansätze über, die sich allgemeiner mit einer „Ästhetik
des Performativen“ (Fischer-Lichte) beschäftigen.[13]
In neueren Ansätzen wird nicht mehr wie in theatersemiotischen Konzepten die Position
vertreten, dass die theatralen Zeichen notwendig Bedeutungsträger sind. Sie betonen jedoch
die Dynamik und die Zufälligkeiten der Aufführung, die nicht in all ihren Aspekten planbar ist
und von den Zuschauerreaktionen oder denDarstellungsweisen der Schauspieler abhängt.
Die Schauspieler spielen nicht nur ihre jeweilige Rolle, sondern werden „in ihrer spezifischen
Körperlichkeit als Spielende wahrgenommen“. Die Bedeutung des Dramas entsteht
dementsprechend aus einem „Wechselspiel von Text und körperlichem Spiel“, das heißt
sowohl aus Geplantem als auch aus Ungeplantem.[14]
Die Beschäftigung mit der Ästhetik des Performativen weitet darüber hinaus den am Drama
geschulten analytischen Blick auf theatrale Ereignisse jenseits des Theaters aus. Dabei
werden zum Beispiel Formen des Alltagsverhaltens nach Ansätzen des Soziologen Erving
Goffman als Inszenierungen angesehen und auf ihre Theatralität hin analysiert.[15]
Auch die Auseinandersetzung mit dem „postdramatischen Theater“ verlässt den Boden der
klassischen Dramentheorie, indem sie sich in wachsendem Maße Inszenierungen zuwendet,
die nicht mehr auf einem Textsubstrat basieren – zum Beispiel der Performance-Art. Die
dramentheoretische Diskussion gegen Ende des 20. Jahrhunderts ist durch eine
zunehmende Abwendung von der Textanalyse und eine Hinwendung zur Aufführungsanalyse
gekennzeichnet.[16]
Literatur[Bearbeiten]