Boileau

9
Boileau[Bearbeiten ] Der wichtigste Dramentheoretiker der französischen Klassik war Nicolas Boileau (1636–1711) mit seiner in Versen gehaltenen Schrift L'art poétique (1669–74). Er formulierte die Forderungen der Hofgesellschaft während des Absolutismus an das Drama, das in diesem Rahmen zum barocken Regeldrama gemacht wurde. Das höfische Drama diente den Adligen als Verhaltensschule und als Diskussionsstoff für politische Ereignisse. Obwohl sich Boileau auf Aristoteles und Horaz beruft, wandelt er ihre Lehren stark ab. Weil sich das neue französische Drama mit Jean Racine oder Pierre Corneille gegenüber dem englischen und spanischen vonShakespeare oder Calderón behaupten musste, werden jene Autoren von Boileau als regellos und unvernünftig verurteilt. Den Bedürfnissen der Hofgesellschaft entsprechend, sollte das Drama angenehm, nicht zu emotional und nicht zu belehrend sein. Heftig diskutiert wurden die sogenannte Ständeklausel (dass Bürgerliche sich nicht als tragische Figuren eigneten) oder die Bienséance (dass nichts Kreatürliches auf der Bühne dargestellt werden sollte wie Kämpfe, erotische Berührungen, Alter oder Essen). Johann Christoph Gottsched versuchte diese Vorstellungen dem deutschsprachigen Bürgertum zu vermitteln, um ihm eine gesellschaftliche Aufwertung zu ermöglichen. Corneille[Bearbeiten ] Pierre Corneille (1606–1684) legte seine theoretischen Ansichten in den Trois discours sur le poème dramatique (1660) nieder. Seine Dramentheorie ist im deutschen Sprachgebiet gegenwärtig, weil sie ausführlich von Lessing diskutiert wurde. Angesichts christlicher Kritik am antiken Drama, an welchem vor allem die Gnadenlosigkeit der antiken Tragik bemängelt wurde, war es Corneille wichtig, die Dramentheorie mit der christlichen Sittenlehre zu verbinden und zu zeigen, dass es hier keinen Widerspruch gebe. Daher entwickelte Corneille seine Dramentheorie aus der Beschäftigung mit dem Märtyrer -Drama des Barocks . Diese Märtyrertragödien wiesen extrem polareFigurenkonstellationen auf: Einerseits waren sich die Helden ihres Heils so sicher, dass sie eigentlich gar nicht in eine Katastrophe gestürzt werden konnten. Andererseits waren ihre Gegenspieler dermaßen böse, dass der Untergang des Helden von vornherein für den Zuschauer voraussehbar wurde. Diese Problematik führte Corneille zum Gedanken, dass die von Aristoteles geforderte Katharsis durch das Hervorrufen von Furcht und

description

Schriftsteller Deutsch

Transcript of Boileau

Page 1: Boileau

Boileau[Bearbeiten]

Der wichtigste Dramentheoretiker der französischen Klassik war Nicolas Boileau (1636–1711) mit

seiner in Versen gehaltenen Schrift L'art poétique (1669–74). Er formulierte die Forderungen

der Hofgesellschaft während des Absolutismus an das Drama, das in diesem Rahmen zum

barocken Regeldrama gemacht wurde. Das höfische Drama diente den Adligen als

Verhaltensschule und als Diskussionsstoff für politische Ereignisse. Obwohl sich Boileau auf

Aristoteles und Horaz beruft, wandelt er ihre Lehren stark ab. Weil sich das neue französische

Drama mit Jean Racine oder Pierre Corneille gegenüber dem englischen und spanischen

vonShakespeare oder Calderón behaupten musste, werden jene Autoren von Boileau als

regellos und unvernünftig verurteilt.

Den Bedürfnissen der Hofgesellschaft entsprechend, sollte das Drama angenehm, nicht zu

emotional und nicht zu belehrend sein. Heftig diskutiert wurden die

sogenannte Ständeklausel (dass Bürgerliche sich nicht als tragische Figuren eigneten) oder

die Bienséance (dass nichts Kreatürliches auf der Bühne dargestellt werden sollte wie Kämpfe,

erotische Berührungen, Alter oder Essen). Johann Christoph Gottsched versuchte diese

Vorstellungen dem deutschsprachigen Bürgertum zu vermitteln, um ihm eine gesellschaftliche

Aufwertung zu ermöglichen.

Corneille[Bearbeiten]

Pierre Corneille (1606–1684) legte seine theoretischen Ansichten in den Trois discours sur le

poème dramatique (1660) nieder. Seine Dramentheorie ist im deutschen Sprachgebiet

gegenwärtig, weil sie ausführlich von Lessing diskutiert wurde. Angesichts christlicher Kritik am

antiken Drama, an welchem vor allem die Gnadenlosigkeit der antiken Tragik bemängelt wurde,

war es Corneille wichtig, die Dramentheorie mit der christlichen Sittenlehre zu verbinden und zu

zeigen, dass es hier keinen Widerspruch gebe.

Daher entwickelte Corneille seine Dramentheorie aus der Beschäftigung mit dem Märtyrer-Drama

des Barocks. Diese Märtyrertragödien wiesen extrem polareFigurenkonstellationen auf:

Einerseits waren sich die Helden ihres Heils so sicher, dass sie eigentlich gar nicht in

eine Katastrophe gestürzt werden konnten. Andererseits waren ihre Gegenspieler dermaßen

böse, dass der Untergang des Helden von vornherein für den Zuschauer voraussehbar wurde.

Diese Problematik führte Corneille zum Gedanken, dass die von Aristoteles geforderte Katharsis

durch das Hervorrufen von Furcht und Mitleid als „Reinigung von Leidenschaften“ zu verstehen

sei. Leidenschaft ist nach dem (religiösen) Verständnis der Zeit noch etwas Schlechtes. Deshalb

konnte es noch keine Spannungoder überbordende Heiterkeit im Drama geben.

Die Affekte treten auf, um vor ihnen zu warnen. Einerseits kann der Held ein Bösewicht sein, der

durch seine Leidenschaften Angst und Schrecken verbreitet. Mit ihm empfindet der Zuschauer

zwar kein Mitleid, kann sich jedoch vor dessen Leidenschaften fürchten. Andererseits kann der

Held auch ein Heiliger und Märtyrer sein, der durch seine Tugend über allen Leidenschaften

steht. Dieser wird vom Zuschauer bemitleidet und gleichzeitig auch für

seine Erhabenheit bewundert. Somit erweitert Corneille das Affektpaar „Furcht und Mitleid“ (eine

Page 2: Boileau

christliche Übersetzung von Phobos und Eleos), das den Zuschauer von seinen Leidenschaften

reinigen soll, um einen dritten Affekt, nämlich die Bewunderung.

Diderot[Bearbeiten]

In den Jahren vor der Französischen Revolution wurden die Privilegien des Adels, die sich im

Hoftheater spiegelten, in Frage gestellt. Die hoch angesehene Tragödie sollte nicht mehr dem

Adel vorbehalten bleiben, und die Nichtadeligen sollten nicht mehr in der Komödie verlacht

werden. Denis Diderot (1713–1784) entwarf in seinen Abhandlungen Entretiens sur le fils

naturel (1757) und De la poésie dramatique (1758) eine Theorie des bürgerlichen

Trauerspiels (er selbst nennt es genre sérieux), die großen Einfluss hatte und im deutschen

Sprachgebiet etwa von Lessing übernommen wurde.

Lessing[Bearbeiten]

Für Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) spielte die Emanzipation des Dramas von der

christlichen Sittenlehre nicht mehr die Hauptrolle wie noch für Corneille. Er forderte ein

bürgerliches Drama und gab einer positiv bewerteten Leidenschaft auf der Bühne und im

Zuschauerraum einen größeren Stellenwert. Lessing veröffentlichte seine Theorie in Form von

regelmäßig erscheinenden Magazinen, der Hamburgischen Dramaturgie (1767) im

Zusammenhang mit seiner Tätigkeit für die Hamburgische Entreprise.

Gustav Freytag erklärte später, Lessing habe eine „nationale Auffassung des dramatisch

Schönen“[8] begründet. Der Begriff des Nationalen (wie inNationaltheater) diente dazu, die

Rivalitäten zwischen Bürgern und Adligen abzuschwächen oder zuzudecken. Daher ist die

sozialkritische Komponente von Lessings Theorie seit dem 19. Jahrhundert heruntergespielt und

eine national „deutsche“ hervorgehoben worden, auch in der kulturellen Rivalität zu Frankreich,

das in der dramatischen Produktion nach wie vor führend war.

Wichtig war Lessing die Emanzipation des bürgerlichen Dramas vom Hoftheater, die in seiner

Zeit geschah. Daher stand für ihn die Überwindung der Ständeklauselim Zentrum seines

Bemühens, die sich seit der Renaissance als Abgrenzung zwischen „schlechten“ oder

„hässlichen“ bürgerlichen und „guten“ oder „schönen“ adligen Theaterfiguren entwickelt hatte. Er

kritisiert auch die eindimensionalen Charaktere des von Corneille verteidigten Märtyrerdramas,

die aus seiner Sicht in ihrem unerschütterlichen Glauben und ihrer Gewissheit auf Erlösung die

menschlichen Fähigkeiten bei weitem überschreiten und ihr Martyrium zu einer

Selbstverständlichkeit machen.

Lessing fordert Charaktere, die nicht stereotyp und polar wirken, sondern die Vielfalt

menschlicher Emotionen und Gedanken in sich vereinen, also ihrer gesellschaftlichen Stellung

entsprechend nicht nur böse oder nur gut sind. Dadurch werden ihre Motive psychologisch

begründbar und für den Zuschauer nachvollziehbar. Anstelle des zuvor im Mittelpunkt stehenden

Verhältnisses zwischen Mensch und Gott und zwischen den Ständen wird nun der

psychologische Prozess für den Handlungsverlauf ausschlaggebend.

Page 3: Boileau

„Ich frage nicht, ob ihn (den Zuschauer) der Poet so weit bringt, dass er diese Leidenschaft in der

spielenden Person billiget, sondern ob er ihn so weit bringt, dass er diese Leidenschaften selbst

fühlt, und nicht bloß fühlt, ein andrer fühle sie? (...) die Bestimmung der Tragödie ist diese: Sie

soll unsre Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern. (...) Der mitleidigste Mensch ist der beste

Mensch.“

– G. E. LESSİNG[9]

Aus diesem Zitat aus einem Brief Lessings an Moses Mendelssohn wird ersichtlich, dass Lessing

die Aufgabe des Trauerspiels in der Verbesserung des Menschen sieht, indem dieser mitleiden

„darf“. Das Mitleid als starke Emotion, die man auch als christliche Haltung ausgeben konnte, war

in der Empfindsamkeitgesellschaftsfähig geworden und wurde auch als öffentliches Weinen

zelebriert (siehe Rührstück). Mit diesem kreatürlichen Verhalten konnte man gegen die

höfische Schicklichkeit revoltieren.

Eine ähnliche Aufgabe sichert Lessing der Komödie zu, die dem Publikum zur Fähigkeit verhelfen

soll, Lächerliches leicht wahrzunehmen. Derjenige, der diese Fähigkeit besitzt, solle dadurch zu

einem wohlerzogenen und gesitteten Menschen werden. Die höfische Komödie dagegen hielt

den Bürgern ihre Lächerlichkeit vor, definierte das Lächerliche also nicht als allgemein-

menschliche, sondern als soziale Eigenschaft.

Schiller[Bearbeiten]

Friedrich Schiller (1759–1805) bemühte sich wie Goethe um eine neue Klassik, die der Antike

näher kommen sollte als die Französische Klassik. Gebundene Rede, didaktische Ziele und eine

Vermeidung des „Gemeinen“ zu Gunsten des Poetischen lagen ihm am Herzen. Als 25-Jähriger

versuchte er mit seiner Rede Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet (1784) die

Mitglieder der kurpfälzischen Tochter der Deutschen Gesellschaft für sich zu gewinnen. Ob die

starke Betonung des Lehrhaften in dieser Rede Schillers Ansichten wirklich entsprach und wie

weit sie auch für seine spätere Haltung zutrifft, ist umstritten.

In seinem Brief an Goethe vom 24. November 1797 erklärte Schiller, dass er die gebundene

Rede im Drama für würdiger halte als die Prosa. In seiner Vorrede zuDie Braut von

Messina (Über den Gebrauch des Chores in der Tragödie, 1803) verteidigte er den Chor in

modernen Bühnenstücken und verurteilt die „Dürftigkeit“ der französischen Tragödien, die auf ihn

verzichten und die Aristotelischen Einheiten im „gemeinsten empirischen Sinn“ verständen.

Goethe[Bearbeiten]

Für Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) war das bürgerliche Drama Realität geworden.

Die Wanderbühnen hatten eine akzeptable „deutsche“ Schauspielkultur hervorgebracht, und es

gab mittlerweile einige deutschsprachige Autoren von Bedeutung. Goethe brauchte sich nicht

mehr so sehr gegenüber Kirche und Adel oder gegenüber der italienischen Oper und dem

französischen Drama zu verteidigen, sondern bemühte sich um eine Aufweichung der

Gegensätze. So versuchte er mit der Weimarer Klassik den antiken Figuren, Handlungen und

höfischen Verhaltensregeln, die vom Theater der französischen Klassik herstammten, eine

Page 4: Boileau

Schlichtheit zu verleihen, die zumindest er selbst als „natürlich“ (das heißt: nicht gesellschaftlich

differenzierend) empfand. Die romanische und die deutsche Kultur sowie das Bürgertum und der

Adel sollten dadurch versöhnt werden.

Allerdings wandte sich Goethe von dem von Aristoteles bis Lessing in verschiedensten Varianten

geforderten Regeldrama ab. Er wollte die Fesseln der formalen Einheiten brechen und dem

Beispiel William Shakespeares folgen, den er als eine Art naiven Dramatiker beschrieb

(Shakespeare und kein Ende, 1813). Als Goethe seine antiken Figuren auf das kleine Weimarer

Hoftheater brachte, hatte sich die Theaterwelt allerdings schon fast vollständig von den

klassizistischen Stoffen und Deklamationsregeln abgewandt, die erst gegen Ende des 19.

Jahrhunderts wieder modern wurden.

19. Jahrhundert[Bearbeiten]

Freytag[Bearbeiten]

In der Reaktionsära war eine politisch-soziale Dramentheorie kaum möglich. Gustav

Freytag (1816–1895) verstand Dramentheorie als Gebrauchsanleitung und Bauplan für

Theaterstücke. Sein Ideal eines einheitlichen, geschlossen aufgebauten Dramas brachte er

jedoch ausdrücklich mit der nationalen Einheit der Deutschen in Zusammenhang (die mit

der Reichsgründung 1871 verwirklicht wurde).

Sein Buch Die Technik des Dramas (1863) ist als Lehrbuch für Dramatiker verwendbar und hatte

daher großen Einfluss. Freytag versuchte in der Zeit desHistorismus an die antiken und

klassizistischen neuzeitlichen Dramentheorien anzuknüpfen und entwarf eine stark

schematisierte und daher besonders gut verständliche Vorstellung vom „Drama“. Er prägte vor

allem die Vorstellung vom „pyramidalen Aufbau“ der Handlung. Er stellte das fünfaktige Drama

als Modell heraus und schilderte die Folge der Akte als Spannungsverlauf: I. Exposition, II.

Steigende Handlung mit erregendem Moment, III. Höhepunkt und Peripetie, IV. Fallende

Handlung mit retardierendem Moment, V. Katastrophe.[10]

Ob Freytags Darstellung tatsächlich vorbildlich ist und wie weit sie auf antike oder

zeitgenössische Vorbilder überhaupt zutrifft, ist kontrovers diskutiert worden.

In der Nachfolge Freytags wurde von verschiedenen Dramentheoretikern zudem die Einheit der

Zeit, der Handlung und des Schauplatzes gefordert. Nur wenn die Handlung nicht länger als

einen Tag in Anspruch nähme, könne sie wahrscheinlich genug erscheinen, um den Zuschauer

zu involvieren. Zahlreiche Dramen, beispielsweise die Shakespeares, Brechts oder des Theater

des Absurden, belegen jedoch, dass Zuschauer auch auf ganz andere Weise angesprochen und

beteiligt werden können.[11]

Wagner[Bearbeiten]

In der italienischen Tradition seit etwa 1600 war die Oper mehr oder weniger gleichbedeutend mit

dem Drama. Sie konnte das Schauspiel zuweilen auch außerhalb Italiens verdrängen. Nach 1800

verlor die italienische Oper jedoch an Einfluss. Dies ist der Ausgangspunkt von Richard

Page 5: Boileau

Wagners (1813–1883) Dramentheorie, die er in Oper und Drama (1852) sowie in weiteren

Schriften wie Das Kunstwerk der Zukunft darlegte. Im Unterschied zu Freytag betätigte sich

Wagner als Revolutionär, der nach dem Scheitern der Märzrevolution 1848 mit zahlreichen

politischen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Das von ihm entworfene Konzept

eines Gesamtkunstwerks war für ihn ein Gesellschaftsmodell, als „Genossenschaft“ von

Gleichrangigen und gleich Gesinnten, das sich der fortbestehenden feudalen Gesellschaft

entgegenstellen sollte.

Wagner verstand die Oper ebenso wie das Schauspiel als verunglückte Wiederbelebungen des

antiken Dramas. Seine eigenen Opern stellt er dagegen als das eigentliche erneuerte Drama dar,

in dem die Musik und vor allem der Chor wieder eine der griechischen Tragödie entsprechende

Rolle finden sollten. Den Chor machte er dabei zum melodramatisch kommentierenden

Orchester. Friedrich Nietzsche unterstützte ihn mit seiner Schrift Die Geburt der Tragödie aus

dem Geiste der Musik (1872). Dass Wagner auch den religiösen Stellenwert des athenischen

Dramas mit seinen Werken erneuern wollte, wurde zum Gegenstand heftiger Kritik.

20. Jahrhundert[Bearbeiten]

Brecht[Bearbeiten]

Bertolt Brecht (1898–1956) stellte sich mit seiner Dramentheorie gegen den Naturalismus, den er

als Inbegriff eines bürgerlichen Illusionstheaters empfand, das vor den aktuellen sozialen und

politischen Ereignissen die Augen verschließen wolle. Er sah die aristotelische Dramentheorie in

der Nähe der Einfühlungstheorie, die Ende des 19. Jahrhunderts populär war, und wollte sich

dagegen richten. Sein „nicht-aristotelisches Theater“ wendet sich weniger gegen Aristoteles

selbst als gegen dessen Deutungen in der damaligen Ästhetik.

Brechts Episches Theater ist ein Widerspruch in sich, weil das erzählerische Epos ein Gegenteil

des Dramas ist. Er macht den Widerspruch jedoch fruchtbar, indem er den Darstellern ein

illusionistisches Nachahmen verbietet und stattdessen ihre Distanz zum Dargestellten fordert. Sie

sollen sich ständig überlegen, ob die Handlungsweise ihrer Figur auch ihrem (sozialen)

Verantwortungsgefühl entspricht. Der Dramatiker fördert dies durch Verfremdungseffekte wie ein

Heraustreten der Darsteller aus der Handlung.

Dürrenmatt[Bearbeiten]

Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) stand unter dem Erlebnis des Zweiten Weltkriegs und

der Atombombe. Er widmet sich in seinen dramentheoretischen Texten (Theaterprobleme, 1955)

wiederum dem Gegensatz zwischen Tragödie und Komödie, setzt sich mit dem Epischen

Theater Brechts auseinander, befürwortet die Distanz des Darstellers und des Zuschauers zur

Handlung, widerspricht aber dem von Brecht betonten Lehrgehalt des Dramas.

Für Dürrenmatt gibt es keine Tragödien mehr, da es die Repräsentationsmacht des Adligen oder

des Feldherrn nicht mehr gebe, denn „die tragischen Helden sind ohne Namen“. Nur mit dem

hergebrachten Komödienpersonal, mit dem „kleinen Schieber“, dem „Kanzlisten“ oder dem

„Polizisten“ lasse sich die heutige Welt wiedergeben. Auch die eindeutige Schuldzuweisung der

Page 6: Boileau

Tragödie sei nicht mehr möglich: „Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt.“ Daraus

schließt er: „Uns kommt nur noch die Komödie bei“ – aber „wir können das Tragische aus der

Komödie erzielen“. Der Weg dazu sei das Groteske.

Esslin[Bearbeiten]

→Hauptartikel: Absurdes Theater

Die zahlreichen Strömungen der modernen Dramatik, die sich nach 1900 aus

der Avantgarde entwickelt hatten und sich sowohl gegen den Naturalismus als auch gegen

ein lehrhaftes, sinngebendes und damit autoritäres Theater wandten, wurden von Martin

Esslin (1918–2002) erfolgreich unter dem Begriff Das Theater des Absurden (1961)

zusammengefasst. Seine Dramentheorie ist eine wissenschaftliche Beschreibung der

kulturgeschichtlichen und philosophischen Strömungen, die hinter Autoren wie Eugène

Ionesco oder Samuel Beckett stehen.

Strukturalistische Ansätze[Bearbeiten]

In den strukturalistischen Ansätzen bis in die 70er Jahre wird versucht, die Struktur des

Dramas in einem Akt der genauen Lektüre eingehender zu analysieren. Dabei treten

verschiedene Aspekte vor allem des Dramentextes in den Vordergrund; gleichermaßen

werden unterschiedliche Editionsformen nach ihrer Bedeutung befragt ebenso

wie Paratexte (z.B. Mottos oder Widmungen). Weiterhin sind die strukturalistischen

Dramentheoretiker in ihren Analysen schwerpunktmäßig

aufHandlung, Sprache und Figuren des Dramas fokussiert. Ihnen zufolge steuert

beispielsweise die Gestaltung des Stoffes (Geschichte, story) in der Handlung des Dramas

(Fabel, plot) dessen Rezeption, indem sie anzeigt, welche Ereignisse besonders akzentuiert

werden. Typenhaft angelegte Figuren wie etwa der verblendete König oder der weise Narr

können Konstanten des menschlichen Daseins zum Ausdruck bringen,

während individuell angelegte Charaktere häufigpsychologisierende Deutungen erlauben.

Ebenso können Dialekt und Soziolekt die Handlung in bestimmten Milieus verankern und

sprachliche Charakteristika Figuren beispielsweise als impulsiv bzw. aufbrausend oder aber

geschwätzig kennzeichnen.[12]

Abwendung vom Drama als Text[Bearbeiten]

Um dem plurimedialen Charakter des Dramas gerecht zu werden, lenkt

die Theatersemiotik vor allem seit Beginn der 1980er Jahre verstärkt den Blick auf

dieAufführungssituation. Auf der Grundlage einer Lehre von den Zeichen rücken die

theatersemiotischen Ansätze die physische Realität der Aufführung in das Zentrum ihrer

Betrachtung. Diese materialisiert sich beispielsweise

in Gestik, Kostümen oder Choreografien und wird dann in einer Art semiotischer

Exegese alsinterpretierbare Zeichen- oder Textstruktur verstanden. Diese Art

Aufführungsanalyse geht in jüngere Ansätze über, die sich allgemeiner mit einer „Ästhetik

des Performativen“ (Fischer-Lichte) beschäftigen.[13]

Page 7: Boileau

In neueren Ansätzen wird nicht mehr wie in theatersemiotischen Konzepten die Position

vertreten, dass die theatralen Zeichen notwendig Bedeutungsträger sind. Sie betonen jedoch

die Dynamik und die Zufälligkeiten der Aufführung, die nicht in all ihren Aspekten planbar ist

und von den Zuschauerreaktionen oder denDarstellungsweisen der Schauspieler abhängt.

Die Schauspieler spielen nicht nur ihre jeweilige Rolle, sondern werden „in ihrer spezifischen

Körperlichkeit als Spielende wahrgenommen“. Die Bedeutung des Dramas entsteht

dementsprechend aus einem „Wechselspiel von Text und körperlichem Spiel“, das heißt

sowohl aus Geplantem als auch aus Ungeplantem.[14]

Die Beschäftigung mit der Ästhetik des Performativen weitet darüber hinaus den am Drama

geschulten analytischen Blick auf theatrale Ereignisse jenseits des Theaters aus. Dabei

werden zum Beispiel Formen des Alltagsverhaltens nach Ansätzen des Soziologen Erving

Goffman als Inszenierungen angesehen und auf ihre Theatralität hin analysiert.[15]

Auch die Auseinandersetzung mit dem „postdramatischen Theater“ verlässt den Boden der

klassischen Dramentheorie, indem sie sich in wachsendem Maße Inszenierungen zuwendet,

die nicht mehr auf einem Textsubstrat basieren – zum Beispiel der Performance-Art. Die

dramentheoretische Diskussion gegen Ende des 20. Jahrhunderts ist durch eine

zunehmende Abwendung von der Textanalyse und eine Hinwendung zur Aufführungsanalyse

gekennzeichnet.[16]

Literatur[Bearbeiten]