Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

208

Transcript of Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Page 1: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Rockmusik im Wohnmobil-1-16_Rockmusik im Wohnmobil 28.10.09 12:23 Seite 1

Page 2: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Rockmusik im Wohnmobil-1-16_Rockmusik im Wohnmobil 28.10.09 15:08 Seite 2

Page 3: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Holger Klaewer

Børreund die

Rentiermafia

ChristlicheLiteratur-Verbreitung e.V.

Postfach 11 01 35 33661 Bielefeld.

Rockmusik im Wohnmobil-1-16_Rockmusik im Wohnmobil 28.10.09 12:23 Seite 3

Page 4: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

1. Auflage 2009

© by CLV • Christliche Literatur-VerbreitungPostfach 11 01 35 • 33661 BielefeldInternet: www.clv.de

Umschlag: OTTENDESIGN.de, GummersbachZeichnungen und Satz: Holger KlaewerDruck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86699-130-9

Rockmusik im Wohnmobil-1-16_Rockmusik im Wohnmobil 28.10.09 12:23 Seite 4

Page 5: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Inhaltsprich: ø = ö; æ = ä; å = o

Rockmusik im Wohnmobil ......................

Rentiermist im Hinterhof ...........................

Stau am Skarvberg-Tunnel .......................

Fotofinish auf der Nordkap-Klippe .........

Stöpsel für die Einsamkeit .........................

Der Dogmusher von Bojobæski ...............

Mit Erdnussflips und Elchgeweih ...........

Losertyp mit Lorbeerkranz ........................

Radlerglück und Reisepech .......................

Katerstimmung in Karasjok ......................

Verliererneid in ›Sápmi-Land‹ ...................

Geschäftskontakt mit Saunagang ..........

Zoff im Zweier-Kajak ....................................

Schüsse aus dem Jagdgewehr .................

Patzerjob und Profiarbeit ............................

Wo ist Abrico?..................................................

Gefangen in der Hochlandhütte ..............

Lauschangriff im Dixi-Klo ..........................

»Big Bosse« tragen Nadelstreifen .............

Frischluftfahrt im Campingbus ...............

Seite 7

Seite 16

Seite 25

Seite 32

Seite 42

Seite 51

Seite 61

Seite 71

Seite 79

Seite 88

Seite 100

Seite 108

Seite 115

Seite 127

Seite 140

Seite 152

Seite 161

Seite 170

Seite 180

Seite 194

Rockmusik im Wohnmobil-1-16_Rockmusik im Wohnmobil 28.10.09 12:23 Seite 5

Page 6: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Dieses Buch handelt von den Rentieren.

–Rentiere, oder Rener, zählt man zu den Hirscharten. Sieleben in den weiten Tundren Lapplands, Nordamerikasund Sibiriens, wobei man die nordamerikanischen Rens›Karibus‹ nennt. Rentiere sind die einzigen Hirsche, bei de-nen Männchen und Weibchen Geweihe tragen, die zumTeil sehr groß ausfallen können. Rentiere sind Herden-tiere. Sie schließen sich in freier Wildbahn zu 10-20 Tie-ren zusammen, wobei es in Alaska auch Herden gibt, diedas 100-fache betragen können. Die Herden Lapplandshingegen gehören den Samen, die Fachleute in der Ren-tierhaltung sind. Die Felle der Rentiere sind sehr beliebt,und auch das Fleisch ist inzwischen als besondere Deli-katesse in weiten Teilen Europas anerkannt, da es sehrfettarm und nahrhaft ist. Ein Same, dem eine Herde vonetwa 1000 Tieren gehört, gilt schon als vermögend. Er be-aufsichtigt seine halb gezähmten Tiere auf den Sommer-und Winterweiden mit dem Snowscooter, dem Cross-Motor-rad oder, wenn möglich, sogar per Hubschrauber.

6

Rockmusik im Wohnmobil-1-16_Rockmusik im Wohnmobil 28.10.09 12:23 Seite 6

Page 7: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Rockmusik im Wohnmobil

Die Sonne meinte es gut am ersten Ferientag. Für den hohen Norden ungewöhnlich gut. Als Børre vor zehn Mi-nuten sein Trekking-Rad aus der Garage geholt hatte,stand die Quecksilbersäule des Thermometers, das an derHauswand neben dem Garagentor hing, schon bei 23° Cim Schatten. Der blonde Norweger sauste den Norskevei-en hinunter, spurtete um drei, vier Innenstadt-Ecken undnahm kurz darauf den Anstieg der Tromsøbro in Angriff.Børre schaltete die Gänge immer niedriger. Puh, dieseHitze! So lang war ihm der Brückenanstieg noch nie vor-gekommen. Das frische T-Shirt, das er sich am Morgenangezogen hatte, zeigte schon tellergroße Schweißflecken.Noch 200 Meter bis zum Treffpunkt. Børre wischte sich mitdem rechten Unterarm den Schweiß von der Stirn undsetzte zum Endspurt an.

»Welcome on the top of Tromsø«, rief ihm Flavio entge-gen, als Børre keuchend vom Rad stieg. »Ein Wetterchenheute wie auf Sizilien. Sag bloß, dir ist heiß, Børre. Duqualmst ja wie unser Punto, wenn ihm der Diesel nichtschmeckt!« Der schlanke Spross aus dem Hause Bruscoklopfte seinem Freund kameradschaftlich auf den Rücken.

»Dein Englisch macht sich«, lächelte Børre gequält. Heftigatmend begrüßte er die italienischen Geschwister, die ihmputzmunter entgegenstrahlten. »Morgen, allerseits. Mann,ist das heiß! Schätze, heute bekommen wir einen neuenHitzerekord.« Chiara nahm sein Bike entgegen und lehntees vorsichtig an das Brückengeländer. »Ich bin den erstenKilometer zu schnell angegangen«, stellte Børre selbstkri-tisch fest. »Das habe ich jetzt davon.« Er stemmte beideHände in die Seiten und atmete tief aus.

Børre Ålsen und seine südländischen Freunde hattensich zum Auftakt der langen Sommerferien eine Trainings-

7

Rockmusik im Wohnmobil-1-16_Rockmusik im Wohnmobil 28.10.09 12:23 Seite 7

Page 8: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

einheit mit dem Fahrrad verordnet, um ihre Beinmuskelnfür die anstehende Trekking-Tour in die Finnmark zu stär-ken. Als Tagesziel bot sich geradezu an, Chiaras Klassen-kameradin Yana Laska zu ihrer Tante zu begleiten, die ineinem kleinen Fischerort am Balsenfjord wohnte. Dortwollte Yanas Vater sie abholen, damit seine Tochter nachdem langen Internatsaufenthalt in Tromsø die Ferien da-heim auf dem Finnmarks-Vidda* verbringen konnte. Dassdie Sonne zur heutigen Muskelaufbau-Fahrt allerdings sobrannte wie meistens nur über der Adria, damit hatteauch der kräftige Bursche aus dem Norskeveien Nr. 8 nichtgerechnet. Jetzt hieß es eben Sonnenbrille auf und durch.Versprechen muss man halten.

»Hast du auch genug zu trinken mit?«, fragte Chiara undschob ihre schwarz glänzenden Haarsträhnen aus demGesicht. Mitfühlend sah sie Børre an.

»Trinkflaschen sind viel zu schwer«, winkte Flavio ver-ächtlich ab. »Unnützer Ballast! Ich schieb mir lieber anjeder Eisbude ’n Cornetto Erdbeer rein. Wie weit ist es ei-gentlich bis Yanas Tantchen, Børre?«

»25 Kilometer, mehr nicht.«Flavio zog die Stirn in Falten. »Was, so weit? Das sind

ja 50 stramme Meilen inklusive Rückfahrt!«»Die Tour ist gerade richtig als Aufwärmtraining für un-

sere große Sommerfahrt«, entgegnete Børre.»Hm«, brummte Flavio nachdenklich, »da dir von zwei

losigen Innenstadtkilometern ja schon warm gewordenist – wie wäre es mit Freibad anstatt Fahrrad? Schwim-men stärkt doch auch die Beinmuskulatur.«

»Nee, nee«, antwortete der inzwischen 16-jährige Børreentrüstet, »gekniffen wird nicht. Nicht bei nur 50 schlap-pen Kilometern auf ’ner tadellosen Asphaltstraße. Wir ha-ben Yana versprochen, sie wegzubringen, und dabei bleibtes. Wo steckt sie nur? Wir haben jetzt schon kurz nach9.00 Uhr. Ob sie nicht verstanden hat, dass wir uns hieroben auf der Tromsøbro treffen wollten?«

»Sie ist immer ein bisschen langsamer als andere«,

8

* karge Hochland-Ebene

Rockmusik im Wohnmobil-1-16_Rockmusik im Wohnmobil 28.10.09 12:23 Seite 8

Page 9: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

schaltete sich nun Chiara ein. »Trotzdem ist sie schwerin Ordnung. Mit Yana kann man Rentiere stehlen. Sieist mittlerweile meine beste Freundin.«

»Rentiere stehlen?« Flavio ließ seine braunen Italiener-augen funkeln. »Rentiere stehlen?«, wiederholte er. »Dasist ein Verbrechen! Noch nicht einmal den Eismann darfman plündern, und wenn es noch so heiß sein sollte.Will Yana etwa ...?«

»Sie meint wohl ›Pferde stehlen‹«, warf Børre schnell da-zwischen. »Ist doch nur so ein geflügeltes Wort. Und weiles nördlich des Polarkreises kaum Pferde gibt, dagegenaber über 300.000 Rentiere durch die Weltgeschichtetraben ...«

»... habe ich eben Rentiere gesagt«, fiel Chiara Børreins Wort. »Mann, Bruderherz, deine Gehirnströme ha-ben ja ein atemberaubendes Tempo drauf. Peil ich garnicht, dass du in Mathe so gut bist.«

»Da passt er bestens zu Yana«, grinste Børre. »Langsamplus langsam ergibt schnell, oder wie lautet die mathe-matische Formel? Ihr solltet heiraten.«

»Nein danke, ich heirate kein Lappen-Mädchen.«»Sie ist eine Sami, alter Kumpel. Wenn du sie heiratest,

wirst du der Schwiegersohn des Bürgermeisters von Ka-rasjok. Wie wär’s, Flavio, du wirst Rentierbesitzer mit al-lem Pipapo: Snowscooter, Rentierschlitten ...«

»Na ja«, schmollte der schmale Italiener. »Ist vielleichtbesser, als Schwiegersohn vom langen Løvke zu werden.Wenn ich mir vorstelle, ich müsste Maren heiraten ...«

»Da kommt sie!«, rief Chiara in diesem Moment.»Wer, Maren?« Flavio blickte erschrocken den Gehweg

der Tromsøbro hinab. »Nein, Yana. Ich sehe ihre blaue Mütze mit den vier

Zipfeln.« Børre fuhr herum und wischte sich über seine immer

noch feuchte Stirn. »Waaas, sie … sie hat ihre blaue Trach-tenmütze auf? Bei über 20° C im Schatten? Ich brech zu-sammen. Wenn’s wenigstens ein Fahrradhelm wäre!«

9

Rockmusik im Wohnmobil-1-16_Rockmusik im Wohnmobil 28.10.09 12:23 Seite 9

Page 10: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Das ist eben Yana«, kicherte Chiara. »Immer ein wenigextravagant und stolz auf ihre Herkunft. Selbst bei derZeugnisausgabe hat sie ihre Mütze aufgelassen.«

»Sieht ein bisschen verpeilt aus«, meinte nun auch Fla-vio und musterte das näher kommende Mädchen mit skep-tischem Blick. »Krasses Bike-Shirt, aber ’ne Mütze aufdem Scheitel wie die Freiheitsstatue von New York.«

Just in diesem Augenblick war Yana heran. Etwas un-beholfen sprang sie von ihrem schwer bepackten Draht-esel herab, nahm zur Begrüßung ihre Mütze ab, drücktesie an ihre Brust und verbeugte sich höflich. »Tusen takk,dass ihr mich begleiten wollt«, hob sie in ihrem samischenAkzent an. »Finde ikk sehr kameradenhaftlik.« Børre staun-te. Auf dem Gesicht der jungen Samin war nicht das ge-ringste Anzeichen von Anstrengung zu erkennen. Dabeihatte ihre altmodische Tretmühle noch nicht einmal eineGangschaltung. Børre begutachtete den vollgestopftenSack aus Rentierleder, den Yana auf dem Gepäckträgerfestgeschnallt hatte. An dem Lenker baumelten zwei selt-same Beutel aus rot-blauen Stoffresten.

»Äh, darf ich dir einen Teil deiner Ladung abnehmen?«,bot sich Børre kavalierhaft an. »Auf meinen Gepäckträgerpasst noch was drauf.«

»Gern«, lächelte Yana. »Du kannst den Ledersack ha-ben. Um ehrlik zu sein, ikk habe mit eurer Hilfsbereit-schaft gerechnet. Flavio kann die Satteltaschen mit denWinterklamotten übernehmen. Vielleicht passt auch nochder Fellbeutel mit den Schuhen obendrauf. Ikk habe dieSachen schon mal bis zum Anfang der Tromsøbro ge-schafft und sie hinter den Leitplanken versteckt.«

Flavio zog die Augenbrauen hoch. »Radeln mit Gepäck?Das stand nicht auf dem Trainingsplan.«

Børre kratzte sich verlegen am Kopf. Schließlich streck-te er Yana langsam die Hände entgegen, um ihr das Ge-päck abzunehmen. »Sag mal, Yana, wie viele Touren hastdu heute Morgen denn schon hinter dir?«

»Drei. Flavio kann schon mal losdüsen. Finde ikk sehr

10

Rockmusik im Wohnmobil-1-16_Rockmusik im Wohnmobil 28.10.09 12:23 Seite 10

Page 11: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

kameradschaftlik. Die Säcke liegen gleich bei der erstenLaterne.« Umständlich setzte Yana ihre Mütze wieder auf.

Flavio stöhnte. »Dann muss ich die Brücke ja noch malhochgurken. Hätten wir das nicht etwas anders organi-sieren können?«

»Nun mach schon«, sagte Chiara. »Sei ein Gentleman!Du kommst schließlich am besten mit der Hitze klar.«

»Lass ihn«, warf nun Yana ein. Ein breites Lächeln zogsich über ihr herbes Gesicht. »Für mich ist das kein Pro-blem. Ikk fahre noch mal runter.«

»Kommt nicht in die Tüte«, protestierte Børre. »Schließ-lich wollten wir ein bisschen fitter werden.«

Yana lächelte immer noch, schwenkte ihre Mütze undtrat energisch in die Pedalen. Børre war perplex. Dieseunverwüstliche Lady! Zäh wie Lederstrumpfs Schwester.Falls der eine hatte. »Sie wird einen Hitzschlag bekom-men«, jammerte Chiara, während ihr Bruder verlegen dieHände in die Taschen schob. Der Tag hatte so schönangefangen. Aber wer konnte ahnen, dass diese zäheBürgermeister-Tochter aus der Finnmark einen ganzenRentierschlitten voll Gepäck mit in die Sommerfrischeschleppen wollte!? Flavio sah zum Tromsesund hinab,dann in Richtung Innenstadt. Keine 50 Meter weiter ent-deckte er die Stelle, wo Mamma Brusco vor zwei Winternim Geländer festgesteckt hatte. Der Maler hatte nicht dasgleiche Blau getroffen, und so konnte man die Stelleleicht erkennen. Auf der Brücke herrschte heute Morgenkaum Verkehr. Nur ein Traktor mit einem Anhänger vollStroh kroch langsam den Anstieg herauf. Von Yana warnoch nichts zu entdecken.

»Du wirst nach dem ersten Hindernis aufgeben«, sagteChiara plötzlich. Flavio bemerkte, dass seine Schwesterihn vorwurfsvoll ansah. »Was meinst du?«

»Die Tour vom Nordkap nach Karasjok. Die ist nichts fürHängenlasser. Und Eisbuden gibt’s auf der Strecke auchnicht. Nur die absolute Einsamkeit.«

»Pah, die Piste strample ich auf einer Pedale ab«, tönte

11

Rockmusik im Wohnmobil-1-16_Rockmusik im Wohnmobil 28.10.09 12:23 Seite 11

Page 12: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Flavio. »Pass auf, dass du nicht auf der Strecke bleibst! ImOutback* zu übernachten, ist eh nichts für Mädchen.«

»Ich finde Trekking-Touren super«, antwortete Chiara.»Unter freiem Himmel schlafen, Sterne zählen und am La-gerfeuer Tee kochen. Voll krass! Und die Möglichkeit, an-schließend die Ferien bei Yana zu verbringen, bietet uns dasperfekte Sommerprogramm.«

»Ja, wird ’n richtiger Rundflug«, pflichtete Børre ihr bei.»Die erste Etappe bis zum Norkap genießen wir im Luxus-Reisebus von Onkel Lars, die zweite auf dem Fahrrad mitNatur-Klo, und dann lassen wir uns erst mal für ’ne Weilevon Yanas Mama verwöhnen.«

»Yeah, und den Rückweg bezwingen wir last but notleast in eurem klapprigen Campingbus«, ergänzte Flavio.»Voll die coole Idee, dass deine Eltern ihren Urlaub wiederbei den Samen in der Finnmark verbringen wollen.«

»Wo Yana nur bleibt?«, meinte Chiara und warf einenflüchtigen Blick auf den Traktor, der in diesem Momentden Scheitelpunkt der Tromsøbro erreicht hatte. Der jungeBauer trug eine blau-rote Kofter** und trat neben denwartenden Radfahrern derbe auf die Bremse. Grinsendzeigte er mit dem Daumen auf den Anhänger. »Los, raufmit euch. Ich kann hier nicht lange parken.«

Die drei Radler sahen den Traktorfahrer groß an. In die-sem Moment bewegte sich auf dem Anhänger das Stroh.Langsam kam eine sternförmige Karasjok-Mütze zum Vor-schein. Darunter ertönte eine Mädchenstimme mit einemsamischen Akzent: »Hu, hu, ikk bin der Elk von Samilu!«Yana warf lachend ein wenig Stroh in die Luft und fuch-telte heftig mit den Armen. »Los, ihr Radprofis! Was stehtihr da so herum wie die Ölgötzen? Mein Vetter Nicki bringtuns zur Tante. Flavio, reich mir mal dein Bike hoch!«

Das Gesicht des Italieners erhellte sich. »Wow, Yana,das ist ja ein dicker Tintenfisch! War doch meine Frage,ob man das Ganze nicht hätte besser organisieren kön-nen.« Flavio fackelte nicht lange und hob sein Rad an. Die aufgeweckte Samen-Lady hievte es auf den Hänger. Børre

12

* einsame Gegend, wo kaum jemand wohnt** Gewand der Samen

Rockmusik im Wohnmobil-1-16_Rockmusik im Wohnmobil 28.10.09 12:23 Seite 12

Page 13: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

zog die Stirn in Falten. »Äh … wir wollten eigentlich eineMuskelaufbaufahrt ma… «

»I wo«, lachte Yana, »nur ein paar Lebensmüde radeln beidieser Hitze mit so viel Gepäck durch die Gegend. Außer-dem fahre ich normalerweise Quad und kein Fahrrad!«

»Beeilt euch gefälligst!«, rief da der Vetter vom Traktor-sitz. »Auf der Brücke ist absolutes Halteverbot!«

Flavio warf Yanas Fellbeutel auf den Anhänger. Chiarakletterte vergnügt über die Ladekante und sprang in ho-hem Bogen in das Stroh. Kurz darauf zog das Gespann anund vier weich liegende Möchtegern-Radler rollten mit aus-gestreckten Armen und Beinen in einen hitzerekordver-dächtigen Tag hinein. »Da hast du uns ja ganz schön rein-gelegt«, meinte Børre und blinzelte zum wolkenlosen Him-mel hinauf. Yana drehte an dem Sender eines Radios.»Nicki hat an alles gedacht. Sogar an musikalische Unter-haltung. Auf die Organisation der Samen ist absolut Ver-lass.« Zehn Minuten später erreichte der Traktor die Ufer-straße am blau schimmernden Tromsesund. Die schwat-zenden Ausflügler genossen jede Kurve. Nach zwei Stun-den angenehmster Küstenfahrt fuhr das Strohgespann ge-mächlich in den Zielort ein, wo Bürgermeister Laska seineTochter Yana in Empfang nahm und nach einem Small-talk in Richtung Samen-Metropole Karasjok davonbraus-te. Børre sprang noch, ehe man sich auf den Heimwegmachte, zwecks Absenkung der Körpertemperatur, für zehnMinuten in den Balsenfjord. Unterdessen schleckte Flavioan einem Kiosk sein Erdbeereis Nr.1 und 2.

Dann endlich begann das inzwischen um die Hälfte re-duzierte Muskelaufbau-Programm. Schon nach wenigenKilometern wurde deutlich, dass nicht nur der ein oderandere Beinmuskel Schwächen aufwies, sondern auch derAllerwerteste Flavios. Als das Radler-Trio nach ca.16 Ki-lometern um eine recht scharfe Kurve am Tromsesundbog, wäre Børre, der die Gruppe anführte und gerade mitseinem Tacho beschäftigt war, fast auf ein halb auf derFahrbahn stehendes Wohnmobil aufgefahren. Gerade noch

13

Rockmusik im Wohnmobil-1-16_Rockmusik im Wohnmobil 28.10.09 12:23 Seite 13

Page 14: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

rechtzeitig gelang es ihm, den Lenker nach links zuschwenken. Er bremste und wandte sich entrüstet an denFahrer, der dabei war, mit einem schweren Wagenheberdie Hinterachse hochzubocken: »Gefährlicher Parkplatz,mein Herr. Wenn das nächste Auto kommt, wird’s lustig.«

Der Fahrer des Wohnmobils sah schwitzend auf. »Werdnicht frech, Kleiner! Du siehst doch, was hier los ist.«

»Und wie wäre es mit einem Warndreieck?«, fragte Børreunbeeindruckt. »Wollen Sie einen Crash riskieren?«

»Hab ich nicht. Los, schleicht euch vom Acker! Ich brau-che beim Radwechsel keine Zuschauer.« Der Tourist mach-te noch zwei pumpende Bewegungen mit der Hydraulik-stange des Wagenhebers, sodass das Wohnmobil in die ent-sprechende Schräglage geriet, um das Hinterrad vom Bo-den freizubekommen. Da hörte man im Innern des Mobilsein lautes Poltern. »Au weia«, tönte Flavio, »jetzt ist derKüchenschrank aufgegangen und die Kochtöpfe sind her-ausgepurzelt!« Der Fahrer wurde rot. Dicke Schweißperlenstanden auf seiner Stirn und die Gläser seiner Sonnen-brille wurden feucht. Doch bevor er Flavio eine passendeAntwort geben konnte, ertönte aus dem Wohnmobil lauteMusik. Eine Bassgitarre dröhnte auf den Tromsesund hin-aus und ein schräges Gekreische in englischer Sprachesetzte ein. Offensichtlich hatte die Frau des Fahrers dasRadio eingeschaltet. Børre zuckte zusammen. Rockmusik!In dieser Lautstärke brachten ihn solche Klänge gewöhn-lich auf die Palme. »Kommt, Leute, wir machen ’nen Abflug.Das ist ja Wahnsinn!«

»Wird auch langsam Zeit«, presste der Tourist unter sei-ner beschlagenen Sonnenbrille hervor und hob drohenddie Stange des Wagenhebers. Chiara zog unwillkürlich denKopf ein. Da quietschten hinter ihnen Autoreifen. Die Rad-ler sahen erschrocken auf. Mit blockierenden Rädern zogein roter Toyota eine Bremsspur bis zu den Bikes der jun-gen Leute. Aschfahl im Gesicht ließ der Fahrer die Fens-terscheibe herunter und rief dem Wohnmobilfahrer zu:»Sie Idiot! Parken Sie gefälligst woanders oder stellen Sie

14

Rockmusik im Wohnmobil-1-16_Rockmusik im Wohnmobil 28.10.09 12:23 Seite 14

Page 15: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

wenigstens ein Warndreieck auf!« Dann gab er Gas undraste kopfschüttelnd davon.

Børre und seine Freunde hatten genug. Sie schwangensich auf ihre Fahrräder, während die Frau auf dem Bei-fahrersitz sich immer noch an den Rhythmen der Rock-band ergötzte. Jetzt hämmerte der Schlagzeuger ein wildesSolo. Die Rockband hatte es drauf. Børre verzog das Ge-sicht und trat energisch in die Pedalen. Außer Sichtweitedes Wohnmobils hielten die drei Radler empört an. »Demknallt heute noch jemand hinten drauf«, sagte Børre er-bost. »Das ist so klar wie Kloßbrühe!«

»Ja«, meinte Chiara atemlos, »seine Frau müsste vor derKurve stehen und die Autofahrer warnen. Stattdessen hörtsie sich diese Tam-Tam-Musik an!«

»Aber das Wohnmobil war voll krass«, schwärmte Flavio.»Es hatte sogar getönte Scheiben.«

»Und ein grünes Kanu auf dem Dach«, ergänzte Børre.Flavio nickte. »Solche Power-Mobile sieht man selten.

Hinten hatte es Zwillingsreifen und sogar ein Cross-Mo-torrad auf dem Buckel. War voll dreckig das Teil!«

Chiara strich sich zum x-ten Mal ihre Haarsträhnen ausdem Gesicht. »Komischer Tourist. Die Sonnenbrille war jarosa!«

»Noch komischer ist, dass der Typ sie bei der Arbeit nichtabgesetzt hat«, grübelte Børre. »Ich spendiere euch ’nen Gel-Sattel mit Lammfellüberzug, wenn der Schwitzebär durchdie beschlagene Brille überhaupt was sehen konnte!«

»Seid mal still«, raunte Flavio in diesem Moment. Errutschte vom Sattel herunter und drehte das Ohr etwaszur Seite. »Hört ihr nichts?«

Die beiden Angesprochenen lauschten. »Alles still«, flüs-terte Chiara.

»Eben«, sagte Flavio.»Wieso ›eben‹?«, fragte Chiara verständnislos.»Ich höre keine Rockmusik«, stellte Børre fest. »Die Da-

me hat tatsächlich den Ausschaltknopf gefunden.«»Eben«, wiederholte Flavio. »Kaum tauchen wir am Wohn-

15

Rockmusik im Wohnmobil-1-16_Rockmusik im Wohnmobil 28.10.09 12:23 Seite 15

Page 16: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

mobil auf, dreht die Dame am Radio, dass den Omas in derFinnmark die Ohren wackeln. Sind wir hinter der nächstenKurve verschwunden, ist Schluss mit Rambazamba.«

»Da soll mal einer schlau draus werden«, sagte Chiara.»Kapierst du das, Børre?«

»Nee, kein Peil. Muss ich erst mal ’ne Nacht drüberschlafen. Los, Kameraden! Ich würde vorschlagen, dasswir zum Endspurt ansetzen!«

Die drei rollten los. Der Tromsesund zeigte sich noch ein-mal von seiner schönsten Seite. Doch weil die andere Seiteder Medaille sich inzwischen mit einem leichten Anflug ei-ner gewissen Erscheinung namens »Muskelkater« bemerk-bar machte, wurde aus dem Spurt nichts. Trotzdem legteFlavio die letzten Küsten-Kilometer ohne Sattelberührungzurück. An der Stadtgrenze meinte Flavio beiläufig: »AufStroh sitzt man irgendwie besser.«

Børre prüfte noch einmal den Tachostand. »24,3 Kilo-meter und schon ist dein Allerwertester hinüber. Ich ahneFürchterliches.«

»Ich besorge noch eine gute Sportsalbe«, versprach Chi-ara fürsorglich. »Sicher ist sicher!«

Kurz darauf strampelten drei müde Radfahrer zum zwei-ten Mal an diesem Tag den Anstieg der Tromsøbro hoch.Børre kochte. Flavios Hintern brannte. Der Anstieg in derheißen Spätnachmittagssonne war unbestritten der här-teste Kilometer ihrer Muskelaufbau-Tour. Als Børre seinTrekking-Rad in die Garage schob, stand die Quecksil-bersäule des Wandthermometers auf der neuen Rekord-marke von 28° C im Schatten. Flavio saß schon auf derGartenterrasse und leckte am Erdbeereis Nr. 3.

Rentiermist im Hinterhof

Nils Båtten betrieb seinen Wohnmobil-Verleih in Troms-dalen, einem farbenfrohen Vorort Tromsøs. Am Ende einer

16

Rockmusik im Wohnmobil-1-16_Rockmusik im Wohnmobil 28.10.09 12:23 Seite 16

Page 17: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Sackgasse, in der lauter Gewerbebetriebe angesiedelt wa-ren, hob sich die frisch gestrichene Fassade deutlich ge-genüber den verblichenen Fronten der Nachbargebäudeab. Neben dem großzügig gestalteten Eingangsbereich warein Schild mit der Aufschrift ›Båtten-Tours, Wohnmobil-Verleih‹ angebracht. Darunter hatte ein humorvoller Malereinen lustigen Elch gepinselt, der aus dem Fahrerfenstereines Wohnmobils seinen nach oben deutenden Daumenherausstreckte. Auf der Sprechblase, die zu seinem la-chenden Maul zeigte, war in roten Buchstaben »Besuchmich mal!« zu lesen. Nils Båtten war der Ansicht, dassman mit Humor die besten Geschäfte machen könne. Ge-rade wandte er diese Taktik bei einem älteren Ehepaaran, das soeben im Begriff stand, einen 14-tägigen Miet-vertrag für einen 6-Personen-Ducato zu unterzeichnen.Das 7-Meter-Gefährt hatte eine dicke Beule an der Beifah-rertür.

»Das war Eddy«, lachte Nils, als er dem weißhaarigenSenior die Papiere zur Unterschrift herüberschob. »DerElchbulle trabt jeden Abend kurz nach 7.00 Uhr überdie L 95 zwei Kilometer vor dem Nordkap. Ich hab’s demletzten Kunden extra gesagt. Aber nein, er hat’s nichtglauben wollen. Wie die meisten. Deshalb habe ich im-mer fünf Türen auf Lager. Beifahrertüren natürlich, Ed-dy kommt immer von rechts.« Nils schüttelte sich jetztvor Lachen. Die Frau des Senioren wurde unruhig. »Sol-len wir nicht lieber nach Süden fahren, Ed...?«

»Ganz meine Meinung, junge Frau«, nickte der flotteGeschäftsmann. »Rate ich jedem Kunden. Zum Nordkapwollen alle. Dabei gibt’s auf den Lofoten genauso schöneKlippen, wo man Fotos machen kann. Und den Nebelhaben sie auch.« Nils zwinkerte mit dem rechten Auge,griff zur knallblauen Krawatte und lockerte etwas denKnoten.

Verlegen drehte sich der weißhaarige Endsechziger zuseiner Frau um. »Seit 50 Jahren träume ich davon, ein-mal am nördlichsten Punkt Europas zu stehen, Schätz-

17

Rentiermist im Hinterhof_17-24_Rentiermist im Hinterhof 28.10.09 12:25 Seite 17

Page 18: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

chen. Die Mitternachtssonne soll dort wunderbar sein. Einpaar Urlauber, die das gleiche Ziel ansteuern, sind miregal. Zurück nehmen wir die Route durch die Finnmark.«

»Aber das Wohnmobil ist eigentlich viel zu groß für unsbeide, Ed...«

Nils wurde ernst. Nur nichts anbrennen lassen. DieserEinwand konnte auf einen Rückzieher hinauslaufen. Diekleineren Fahrzeuge waren alle unterwegs. Nur den gro-ßen Ducato hatte er noch nicht vermieten können. Undjetzt auch noch die Beule an der Fahrertür! Dieses Miss-geschick war Ole, diesem Deppen, beim Zurücksetzen mitdem Viehtransporter passiert. Gestern erst. Einfach zudumm! »Na ja«, sagte Nils schnell und ließ erneut sein ge-schäftstüchtiges Lächeln erstrahlen, »ich lasse Ihnen nocheinmal zehn Kronen pro Tag nach. Für die Beule. Einver-standen? Aber lassen Sie das Eddy nicht wissen, sonsttreibt er mich noch in den Konkurs!« Nils Båtten standauf und holte die Fahrzeugpapiere aus dem Schrank. Indiesem Moment tauchte draußen ein gewaltiges Wohn-mobil auf und hielt vor einem großen Rolltor. Auf dem sta-bilen Gepäckträger war ein dreckbespritztes Cross-Motor-rad festgeschnallt. Der Senior staunte. »Sie haben ja nochgrößere Fahrzeuge als den Ducato!«

Nils schüttelte den Kopf. »Das gehört uns nicht. Scheintein Fremder mit einem Problemchen zu sein.«

In diesem Moment hob das Schätzchen des Weißhaa-rigen schnuppernd die Nasenflügel und sah verlegen imRaum umher. »Riech mal, Eddy. Irgendwie riecht es hiernach Kuhstall, meinst du nicht?«

Der flotte Nils stockte. Dann lockerte er seine Krawattezum zweiten Mal. »D...Das ist unsere Toilette. Da müffeltan so heißen Tagen, wie heute, schon mal der Abfluss. Äh... heißen Sie wirklich E...Eddy mit Vornamen, Herr ...?«Nils blickte den weißhaarigen Kunden nervös an undhustete kurz.

»Gestatten«, nickte der Gefragte, »Eddy Ericson. Wie derVater, so der Sohn.«

18

Rentiermist im Hinterhof_17-24_Rentiermist im Hinterhof 28.10.09 12:25 Seite 18

Page 19: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»N...Na so was. Ist mir direkt peinlich, Herr Ericson. Äh,den Namen des Elches meine ich.«

»Nichts für ungut, Herr Båtten. Also zehn Kronen Ta-gesrabatt sagten Sie? Dann ist die Sache fix.« Nils atmeteauf. Das Schätzchen hatte auch nichts mehr einzuwen-den, und so vereinbarte man, den Ducato am übernächs-ten Abend abzuholen. Als das Ehepaar das Büro verließ,drückte der fremde Tourist gerade auf den Knopf desRolltores. Die Gattin des Senioren stutzte. »Der ist hiernie und nimmer fremd«, raunte sie ihrem Mann ins Ohr.»Den sollten wir mal im Auge behalten.« Unterdessennahm der verschwitzt aussehende Tourist seine rosaSonnenbrille ab und fuhr durch das offene Rolltor in dieWartungshalle der ›Båtten-Tours‹ ein. Während sich dasTor hinter ihm automatisch schloss, wendete er das Fahr-zeug und stellte es rückwärts vor einer Doppeltür ausStahl ab. Aus der Beifahrertür sprang eine zierliche Frauin engen Shorts heraus. Da betrat Nils Båtten die Halle.Lächelnd winkte die Zierliche ihrem Chef zu.

»Hei, Nils. Alles in Butter auf dem Kutter?«»Yeah. Habe gerade für 14 Tage den alten Ducato ver-

mietet. Hoffentlich schafft’s die Klapperkiste noch malbis zum Nordkap. Sie ist seit dem letzten Herbst nichtwieder bewegt worden.«

»Im Gegensatz zu unserem ›Rentierschlitten‹«, meinteder nun unbebrillte Tourist und streichelte liebevoll überdas eingeparkte Wohnmobil der Größe XXL. In dem hel-len Neonlicht der geräumigen Halle konnte man in sei-nem Sechs-Tage-Bart deutlich ein paar graue Stellen aus-machen. »Welcher Idiot hat mir eigentlich das Warndrei-eck geklaut?«

»Der Idiot war ich, Arne«, ertönte in diesem Augenblickeine Stimme am Ende der Halle. Durch eine Hintertür tratein untersetzter Mittvierziger mit einem stark pigmentier-ten Rundgesicht ein. Inmitten dieses Rundgesichtes be-fand sich eine rötlich schimmernde Knollnase. »Im ›Hy-mer 8‹ fehlte neulich die komplette Warnausrüstung. Da

19

Rentiermist im Hinterhof_17-24_Rentiermist im Hinterhof 28.10.09 12:25 Seite 19

Page 20: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

habe ich mir kurzerhand erlaubt, mir das Warndreieck des›Rentierschlittens‹ auszuborgen. Wir sollten besser jedesMal die Ausrüstung überprüfen, wenn uns die Kunden dieFahrzeuge zurückbringen. Manche Kunden scheinen ja zuklauen wie …«

»Überlass die Fahrzeuge mir und kümmere dich um dei-nen Mist«, brauste Arne auf. »Der Radwechsel am Trom-sesund war mordsgefährlich, weil ich halb auf der Straßestand. Genau in einer Kurve. Fast wäre mir so’n roter Ja-paner hinten draufgeknallt. Und das nur, weil du dieSchnauze nicht auf ...!«

»Ruhig Blut!«, griff jetzt der Firmenchef ein. »Wir sind einTeam und müssen zusammenhalten! Ein für alle Mal, wennirgendwo was fehlt, wendet euch an mich, ist das klar?Wofür haben wir denn Olafs Zubehörladen vor der Nase.Ein paar Schritte über die Straße und schon ist alles wie-der komplett!« Nils griff zum dritten Mal an diesem Abendzur Krawatte. Die Luft war stickig und heiß. Wahrschein-lich würde es in der Nacht noch ein Gewitter geben. Gewit-ter über dem Tromsesund waren ihm egal, aber dicke Luftin seiner Firma konnte er partout nicht leiden.

Nils Båtten war ein guter Chef. Meistens konnte er dieMitarbeiter mit seinem Humor in Schach halten. Nur sel-ten fuhr er aus der Haut. Arne Lindberg war Mechatroni-ker und kümmerte sich um die Pflege des Fuhrparks. Diezierliche Britta war seine Frau. Das war eine Lady! Am liebs-ten fuhr sie Cross-Motorrad. Mit ihrem Lasso fing sie ein-fach alles: vom Polarfuchs bis zum davonstürmenden Ren-tier-Hengst. Und Letzteres war für Nils Båtten einfach un-bezahlbar. Britta warf das Lasso mit links, weil sie mit derrechten Hand am Gashebel ihrer Cross-Suzuki drehenmusste. Ihr Geheimnis, wie sie gleichzeitig Lasso werfen undden Kupplungshebel ihrer ›Suzi‹ betätigen konnte, hütetesie wie einen Sack voll Flöhe. »Übrigens«, fing sie lächelndan, »die Masche mit der Rockmusik ist super, Nils. War eintoller Einfall. Bei dem Reifenplatzer am Tromsesund rück-ten uns ein paar Kinder zu dicht auf die Pelle. Die hätten

20

Rentiermist im Hinterhof_17-24_Rentiermist im Hinterhof 28.10.09 12:25 Seite 20

Page 21: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

die Tiere hinten drin scharren und treten hören können.Da hab ich kurzerhand die CD eingeschoben. Die wirktwie ’ne Stinkbombe. Alle Leute flüchten. Wenn hinten einTier gegen die Bordwand tritt, glauben alle, es sei dieBassgitarre im Radio.«

»Genauso habe ich mir das vorgestellt«, lachte Nils. »Wirmüssen den Viechern nur noch beibringen, im Takt zutreten und die Synkopen* zu beachten. Vielleicht könnenwir dann mal mit ’ner Rentier-Rock-Nummer im Zirkusauftreten.« Der Chef des Wohnmobil-Verleihs löste nunendgültig den Knoten seiner leuchtenden Krawatte undstopfte sie in die Hosentasche. »Los, Sven, lass die Ladungmal in den Hof. Arne, schließ die Eingangstür ab!«

Nils ging zum Heck des Wohnmobils. Da stutzte er. Sei-ne Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen.»Hör mal, meine liebe Lasso-Jane!«, wandte er sich anBritta Lindberg, »haben wir nicht ausgemacht, der braven›Suzi‹ jedes Mal das Regencape überzuziehen, wenn ihreuch auf öffentlichen Straßen bewegt? Die Maschinebraucht keiner sehen. Sollen die Leute lieber annehmen,ihr hättet Fahrräder dabei.«

»Keine Zeit«, entgegnete Arne mürrisch. »Wir musstenuns in Kautokeino schleunigst aus dem Staub machen.Die Lappen waren längst nicht alle auf den Sommerwei-den an der Küste, wie du behauptet hast.«

»Also dann beim nächsten Mal«, gab sich Nils mit derAntwort zufrieden. »Tauscht das Kanu noch aus. Bei dernächsten Tour nehmen wir das rote.« Arne betätigte amHeck des ›Rentierschlittens‹ einen Hebel und senkte denGepäckträger ab, während Britta schon anfing, ihre ›Suzi‹loszuschnallen. Sven öffnete die doppelflügelige Hinter-tür. Ein von Lagerhallen umschlossener Innenhof wurdesichtbar. Das war Svens Rentier-Reich. Sven Carlson warFleischermeister, ein alter Schwede, den es Ende der Neun-zigerjahre von Kiruna an die Küste Norwegens gezogenhatte. Sein Spezialgebiet war die Rentierverarbeitung. InNils’ Hinterhof konnte er sich frei entfalten. Die lebenden

21

* für die Rockmusik typischer Takt

Rentiermist im Hinterhof_17-24_Rentiermist im Hinterhof 28.10.09 12:25 Seite 21

Page 22: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Tiere, die für den Handel bestimmt waren, steckte er indie »Tiefgarage«. Mit anderen Worten, das war der Stall.In der »Werkstatt« schoss er den Tieren den Bolzen in denKopf und zerlegte sie in tausend Einzelteile. Deshalb nann-te Nils ihn nur den Bolzen-Sven. Im Ostflügel war das»Ersatzteillager« untergebracht. Hier stand die Tiefkühl-truhe. Außerdem stapelte Sven hier Felle und Geweihe.Nie im Leben würde jemand vermuten, dass sich hinterder Fassade eines Wohnmobil-Verleihs ein Schlachthof mitintegrierter Gerberei versteckte.

Jetzt, wo die Lindbergs mit dem ›Rentierschlitten‹ eineneue Lieferung brachten, war der Bolzen-Sven in seinemElement. Eilig ließ er das hydraulische, zur Ladeklappeumgebaute Wohnmobil-Heck hinunter. Dann begann er,die verstörten Tiere mit eigenartigen Rufen und Schnal-zern aus dem Transporter herauszulocken. Kurz daraufrannten zehn verschreckte Rentiere im Innenhof der Fir-ma ›Båtten-Tours‹ herum. Andauernd verhakten sich ih-re Geweihe oder sie schlugen mit den Hinterhufen gegendie Wand des »Ersatzteillagers«. »Wow«, nickte Sven zu-frieden. »Die Tierchen gefallen mir. Kräftig, schöne Felle!War’s schwer, sie einzufangen, Britta?«

»Mit der ›Suzi‹ wär’s einfacher gewesen«, antwortete dieGefragte. »Aber seitdem unser Chef in letzter Zeit immeröfter Sonderwünsche äußert ...« Britta warf Nils einenforschenden Seitenblick zu. »Warum sollte ich eigentlichdie sternförmige Karasjok-Mütze in Kautokeino liegenlassen?«

Nils Båtten zog die Augenbrauen zusammen. »Ich hoffe,du hast sie nicht mitten in die Rentierkoppel gelegt, mei-ne liebe Lasso-Jane.«

»Nee, aber mitten auf den Marktplatz«, brummte Arne.»Für wie doof hältst du meine Frau eigentlich, Nils?«

»Na Hauptsache, es war die richtige Koppel. Der Bür-germeister wird Augen machen, wenn er merkt, dass ihmeinige seiner besten Tiere fehlen.«

»Die zwei dunklen Hengste sind von ihm«, sagte Britta.

22

Rentiermist im Hinterhof_17-24_Rentiermist im Hinterhof 28.10.09 12:25 Seite 22

Page 23: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Seinen Tieren hat er ein kleines ›R‹ auf das Hinterteil ge-brannt. Du solltest den beiden Hengsten also schnells-tens das Fell über die Rippen ziehen, Sven, und die Din-ger anschließend verschwinden lassen.«

»Für wie doof hält mich deine Frau eigentlich, Arne?«,maulte der Kollege Carlson. »Gebrannte Felle sortiere ichimmer sofort aus!«

»Gut, gut, Leute.« Nils Båtten klatschte in die Hände.»Auf euch ist Verlass. So, Schluss für heute! Ach, HerrFleischermeister, eins noch – heute Nachmittag hat derRentiermist wieder so gestunken. War leider noch intensi-ver als der Lavendelduft von Madame Ericson. Entwedermusst du den Misthaufen öfter entsorgen oder ich mussanfangen, in den Geschäftszeiten Knoblauch zu futtern.«

Sven Carlson grinste. »Soll nicht wieder vorkommen,Chef. Will ja schließlich nicht, dass deine Wohnmobil-Kun-den dumme Fragen stellen.« Der Bolzen-Sven aus Schwe-den wackelte davon. Als Arne, der Mann von Britta, mitdem Besen ankam, um den ›Rentierschlitten‹ auszufegen,legte ihm Nils Båtten die Hand auf die Schulter.

»Komm gleich mal ins Büro, Arne. Wir müssen noch dieStrategie für die Hochsaison festlegen.«

Arne Lindberg nickte. »Okay, Boss, in zehn Minuten habeich den Wagen sauber.«

Auf die Minute genau erschien der Mechatroniker im Bü-ro seines Chefs. Auf seinem Schreibtisch standen zwei ge-kühlte Bierflaschen bereit. Nils Båtten kniepte die Deckelherunter und schenkte seinem Mitarbeiter ein Glas ein.»Prost, Arne! Mann, war das ein heißer Tag.«

»Kannste wohl laut sagen«, bestätigte Arne. »Wechsel mal ’nen Zwillingsreifen bei 28° C im Schatten. Da klebt dir dieZunge am Gaumen wie ’n Kaugummi unterm Turnschuh.«

»Tut mir leid, Arne«, sagte Nils und stellte die Bierflascheauf dem Schreibtisch ab. »Aber zur Sache. So langsam wer-den die Kautokeino-Samen doch kapiert haben, dass es dieKarasjok-Tölpel sind, oder, Arne?«

»Das will ich wohl meinen«, antwortete der Mechatroni-

23

Rentiermist im Hinterhof_17-24_Rentiermist im Hinterhof 28.10.09 12:25 Seite 23

Page 24: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

ker. »Die ›verlorene‹ Karasjok-Mütze war eindeutig. Der fal-sche Verdacht wird uns die nötige Luft verschaffen.«

»Das war meine Absicht«, nickte Nils Båtten zufrieden.»Die Kautos werden gegen die Karasjoks das Kriegsbeil aus-graben und keiner wird auf den ›Rentierschlitten‹ achten.Das nutzen wir aus und fahren bis September, wo es hiernur so von Wohnmobilen wimmelt, zwei Touren pro Woche.Das bringt Geld in den Sack. Danach treten wir kürzer unddüsen höchstens mal nach Finnland oder Schweden.«

»Yeah«, grinste Arne, »und im Winter kümmern wir unsum die Felle. Der Bolzen-Sven wird ’ne Menge Arbeit be-kommen.«

Nils Båtten rieb sich sein glatt rasiertes Kinn. »Übrigens«,fing er nachdenklich geworden an, »Mikkel hat mir neulichdieses Foto hier gegeben.« Der Wohnmobil-Verleiher legteein Zeitungsfoto auf den Tisch, auf dem eine Mädchen-gruppe abgelichtet war. Um eine etwa 14-jährige Samin inder zweiten Reihe war ein blauer Kreis gezogen. »Mikkel hatgefragt, ob du ihm die Kleine bringen kannst.«

Arne sah seinen Chef groß an. »Bringen? Warum?«»Frag ihn selber«, sagte Nils kurz und wirkte nun etwas

nervös. »Er meinte nur, dass wir ihm auch mal einen Ge-fallen tun könnten, weil er uns doch immer die Infos liefert,wo gerade die Herden der Samen weiden.« Nils hustete.»Ruf ihn mal an, Arne.«

Die beiden Männer sprachen nur noch kurz miteinander.Arne stellte keine weiteren Fragen. Was ihre eigenen Ange-legenheiten betraf, war ja auch schon alles klar. Arne be-griff immer ziemlich schnell. Und Britta musste gar nichtso viel wissen. Hauptsache, sie beherrschte ihre ›Suzi‹ undtraf mit dem Lasso. Und das gelang ihr fast immer! Na ja,dafür trainierte sie auch drei Stunden am Tag. Der Spitz-name, den Nils ihr verliehen hatte, passte: Lasso-Jane!Nicht schön, aber selten. Britta fühlte sich geschmeichelt.Arne Lindberg erhob sich. »Du kannst auf mich zählen,Chef. Schönen Abend noch!« Arne verließ das Büro. Nebendem Eingang grinste der Elch an der Wand.

24

Rentiermist im Hinterhof_17-24_Rentiermist im Hinterhof 28.10.09 12:25 Seite 24

Page 25: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Stau am Skarvberg-Tunnel

Auch Lars Jækesby, Linda Ålsens Bruder, führte sein Un-ternehmen in der Sackgasse am Tromsesund. Jedochstand die große Bushalle nicht am Ende der Straße, son-dern am Anfang. Neben der Eingangstür war eine große»Eins« aus blauem Kunststoff angebracht. Das Gebäudewar zwar alt, die Reisebusse dafür aber top. Lars Jækesbybesaß sechs Busse und alle entsprachen dem neuestenStandard. Lars war besonders stolz auf die vier goldenenSterne an der Heckscheibe, die auf den Reisekomfort derFahrzeuge hinwiesen. Orangene Nordkap-Sonnen leuch-teten auf einer dunkelblauen Lackierung. Børres Onkelverdiente sein Geld hauptsächlich mit den Touristen, wel-che die ›Hurtigruten‹ benutzten und in Honningsvåg zumNordkap-Trip an Land gingen. Die Fahrer holten die Rei-segruppen ab und brachten sie nach Bergen oder Oslozurück. Nur selten fuhren sie einmal nach Stockholmoder Helsinki. Einmal im Monat übernahm Lars Jækes-by wie heute die Nordkap-Tour höchstpersönlich.

Weder Fred und Linda Ålsen, noch Silvio und ArianaBrusco hatten es sich nehmen lassen, ihre Kinder bisnach Tromsdalen zu begleiten, um sich dort von ihnenzu verabschieden. Fred lud gerade die Bikes vom Fahr-radträger, als er den platten Reifen an Flavios Tourenradentdeckte. »Meine Güte, Flavio, hast du gestern keineEndkontrolle an deinem Fahrrad durchgeführt? Der Vor-derreifen ist ja so platt wie ’ne Briefmarke!«

Flavio bekam große Augen. »Platt? Einen Platten habich noch nie gehabt!«

»Bedeutet das etwa, du hast noch nie einen Fahrrad-schlauch geflickt?« Børre sah seinen Freund schief an.

»Nee, eigentlich nicht.«»Auweia.« Børre schluckte. »Hat Silvio ihm noch nicht beibringen können«, sagte

25

Stau am Skarvberg-Tunnel_25-32_Stau am Skarvberg-Tunnel 28.10.09 12:21 Seite 25

Page 26: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Ariana Brusco entschuldigend. »Er hat immer so viel Ar-beit im Institut.«

Børre drehte an den Flügelschrauben der Vorderachse,nahm das Rad heraus und drückte es Flavio in die Hand.»Hier, das nehmen wir mit in den Bus. Bis heute Abendmuss der Schluffen wieder okay sein. Ich zeig dir, wie’sgeht. Nimm die Luftpumpe auch mit.«

»Hat er nicht dabei«, spottete Chiara. »Garantiert.«»Ich nehm deine, Børre«, antwortete Flavio. »Die macht

einen soliden Eindruck.«Fred schob die Fahrradtaschen in den Kofferraum des

Reisebusses. Silvio reichte ihm die Schlafsäcke. »Wo istdas Zelt?«, fragte Ariana.

»Zu Hause im Wandschrank«, erwiderte Børre kurz. »Al-les unnützer Ballast. Wir schlafen unter freiem Himmel.«

Kurz darauf kletterten die drei Abenteurer in den Vier-Sterne-Bus. »Bis Freitag«, winkte Linda Ålsen. »Wir treffenuns bei Kiki Manski. Deckt euch nachts immer zu, damitihr nicht friert.«

»Grüßt mir die Wölfe«, lachte Fred. »Fahrt vorsichtig!«Ariana wurde bleich. »Wölfe? Gibt es dort ...?«Linda lächelte. »Fred macht gerne Scherze.«Punkt 6.00 Uhr ließ Lars den Motor an. »576 km, drei

Fähren. Um 19.00 Uhr sind wir da. Ich glaube, ich fahredie Strecke heute zum 48-sten Mal.« Lars drückte auf ei-nen Knopf und die automatische Tür ging zu. Die Nord-kap-Fahrer hockten vor den Seitenfenstern und winkten.Langsam verließ der Bus das Gewerbegebiet und bog aufdie Hauptstraße ab.

Im gleichen Augenblick, als der Busunternehmer Lars Jæ-kesby seine 48-ste Tour zum Nordkap startete, klingelteim Büro der Hafenpolizei von Tromsø das Telefon. Kom-missar Hasvold nahm den Hörer ab. Was dann geschah,passierte dem ergrauten Staatsdiener in seiner bereits34-jährigen Dienstzeit nördlich des Polarkreises zum al-lerersten Mal. Schnell griff er zum Kugelschreiber und

26

Stau am Skarvberg-Tunnel_25-32_Stau am Skarvberg-Tunnel 28.10.09 12:21 Seite 26

Page 27: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

machte sich eifrig Notizen. Der Anruf dauerte keine Mi-nute, dann brach die verstellte Stimme des anonymenAnrufers abrupt ab. Kommissar Hasvold legte auf undrieb sich nervös die Stirn. Zehn Sekunden zögerte er,dann trommelte er seine Mannschaft zusammen – ge-nauer gesagt, zwei Beamte, einen langen dünnen undeinen kleinen dicken.

»Das war ein Insider-Anruf«, erklärte er hastig. »EinInsider, ich habe sofort gewusst, worum es ging. Der Ha-schisch-Hardy soll in der Nähe sein – exactement, amNordkap, morgen. Da hat einer gesungen, ein angebli-cher Aussteiger aus der Rauschgiftszene. Diesmal müs-sen wir ihn schnappen … unbedingt!«

Der lange Beamte nickte. »Schnappen … unbedingt.Jawohl, Herr Hauptkommissar!«

Der kleine Beamte sah seinen Kollegen genervt an:»Dann kämst du hier oben noch zu Ruhm und Ehren.«

Kommissar Hasvold räusperte sich. »Geben Sie mirmal die Nummer der Kollegen in Hammerfest. Ich werdedie Festnahme sofort veranlassen. Diesmal werden wirihn kriegen … ich fühle es!«

Der lange Hafenpolizist schlug die rechte Faust in sei-ne flache Linke. »Jawohl, kriegen … ich fühle es auch!«

Inzwischen kurvte der blaue Luxusliner um die Buchtendes Kvænangen-Fjord herum. Chiara schlummerte seligauf der Rückbank, Børre achtete auf jedes Ortsschild:»Sørstraumen, Sekkemo, Burfjord. Sieh mal da, Flavio, einVerkaufsstand der Samen. Da kriegst du alles, vom Ren-tierfell bis zur gefütterten Unterhose.«

»Können wir da mal anhalten?«, fragte Flavio. »Ich könn-te mal ’n Cornetto Erdbeer gebrauchen.«

»Hat mein Onkel bestimmt in der Bordbar«, grinste Bør-re. »Aber zuerst werden wir jetzt mal den Reifen flicken.«

Der schlanke Italiener schüttelte den Kopf. »Ich pfeifeauf den schlappen Reifen, muss erst mal zum Cornettogreifen«, reimte er. Dann sprang er auf und flitzte zum

27

Stau am Skarvberg-Tunnel_25-32_Stau am Skarvberg-Tunnel 28.10.09 12:21 Seite 27

Page 28: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Busfahrer. Lächelnd erschien er drei Minuten später imhinteren Drittel des Busses. »Wo treibst du dich dennrum, Børre?«, fragte Flavio. »Eben hast du noch da vorngesessen. Willst du mit mir Verstecken spielen?«

»Wollte mal ’ne andere Perspektive ausprobieren. War dei-ne Anfrage bei der Reiseleitung erfolgreich?«

»Sehr. Hat er mir alle geschenkt.« Flavio hob eine Pa-ckung Eis in die Höhe. »Sind acht Stück drin.«

Als der Reisebus am frühen Nachmittag den Alta-Fjordumrundet hatte und den Anstieg zur Hochebene von Sen-na-Landet hochbrummte, meinte Lars Jækesby plötzlich:»Da kommen ein paar Spinner. Zieht mal die Köpfe ein,Leute.« Lars bremste ab und lenkte den Reisebus dicht anden Rand der Schotterpiste. »Ich lass sie lieber vorbei.« Imnächsten Augenblick bretterten in einer dichten Staub-wolke schwer bepackte Geländemotorräder an ihnen vor-bei. Steinchen flogen. Die Motoren heulten. Lars war wü-tend: »Die demolieren mir immer den Lack. Die Typen fah-ren auf Zeit. Nonstop von Trondheim bis zum Nordkap. An-schließend könnt ihr die platt gefahrenen Hasen auf-sammeln.«

»Das waren 18 Mororräder«, staunte Flavio. »Fast allesTransalp-Maschinen und Africa Twins. Die hatten be-stimmt 120 Sachen drauf!«

»Da fahre ich lieber Rad«, meinte die mittlerweile wie-der muntere Chiara. »Das staubt nicht so.«

Børre blickte zum Horizont. »Hmm, ich glaube, gleichfängt es an zu regnen. Seht euch mal die schwarze Wol-ke an.«

Die Nordkap-Fahrer wurden still. Tatsächlich schütte-te es bald wie aus Eimern. Børre zog seine Bibel hervorund vertiefte sich in eine spannende Geschichte aus demLeben Abrahams. Flavio schlurfte zur Bordtoilette. Seitein paar Minuten verspürte er ein unbehagliches Drü-cken in der Magengegend. Als er kurz darauf kreide-bleich zurückkehrte, stöhnte er: »Ich muss mich weitervorne hinsetzen. Hier hinten wird man ja seekrank.«

28

Stau am Skarvberg-Tunnel_25-32_Stau am Skarvberg-Tunnel 28.10.09 12:21 Seite 28

Page 29: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Seine Schwester sah ihn strafend an. »Du hast zu vielEis gegessen, gib’s zu. Wie viele Hörnchen hast du ei-gentlich verdrückt?«

»Nur eine Packung«, brummte Flavio.»Mit anderen Worten: Acht Hörnchen auf einen Streich.

Da habe ich kein Mitleid. Kannst du dich nicht mäßigen?«Børre sah seinem Freund fest in die Augen.

»Aber sie wären doch geschmolzen«, verteidigte sich dasSchleckermäulchen.

Børre sah im Bus umher. »Hinter welche Sitzreihe ha-ben wir eigentlich dein Vorderrad gelegt, Flavio? Jetzt müs-sen wir endlich mal den Reifen in Angriff nehmen.«

Der Angesprochene stöhnte. »Mit vollem Magen kann ichkeine Reifen flicken. Mir platzt gleich die Wampe!«

Børre machte ein genervtes Gesicht. »Bevor hier die Bom-be hochgeht, geh lieber noch mal auf die Bordtoilette. Ge-nieß noch mal den Komfort einer Klobrille, ehe du abmorgen hinter die Büsche musst.«

Flavio schlich sich davon. Børre hatte ja recht. Aber mitder Mäßigung war das nicht so einfach. Der magen- unddarmtraktgeschädigte Italiener hockte auf der Bordtoi-lette bis Lars vor dem Skarvberg-Tunnel auf die Bremseging. Fast wäre Flavio mit dem Kopf vor die Toilettentürgeknallt. »Stau!«, stellte Lars Jækesby sachlich fest. »Ichglaub, mein Reisebus frisst Kekse!«

Ungefähr zur gleichen Zeit erreichte ein protziges Super-Mobil mit Zwillingsreifen und rotem Kanu auf dem Dachdasselbe Hindernis. Der glatt rasierte Fahrer war noch we-niger erbaut als Børres Onkel. »Auch das noch!«, stöhnte erund setzte seine mintgrüne Sonnenbrille ab. »Stau in derPampa. Ich fasse es nicht!«

»Soll ich mal ’n bisschen Musik anmachen?«, lächeltedie zierliche Frau auf dem Beifahrersitz.

»Wenn’s nicht gerade Rockmusik ist«, brummte der Fah-rer. »Ich kann die CD bald nicht mehr hören.«

»Wir haben ja keine Tiere dabei«, entgegnete die Frau.

29

Stau am Skarvberg-Tunnel_25-32_Stau am Skarvberg-Tunnel 28.10.09 12:21 Seite 29

Page 30: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Der müde Fahrer gähnte. »Nee, aber bald was anderes.Wir müssen die Kleine fesseln und knebeln. ’Ne Musik-CD reicht da nicht.«

Die Beifahrerin wurde nachdenklich. »Die Sache gefälltmir nicht. Warum lassen wir uns da von Mikkel mit hin-einziehen? Was machen wir, wenn das Mädchen gar nichtda ist? Zeig mir noch mal das Gruppenfoto, Arne.« FrauLindberg sah ihren Mann unsicher an.

»Hat Mikkel am Telefon doch gesagt, dass sie sich inden Sommerferien am Nordkap aufhält. Dort hilft sie ih-rer Mutter an einem Verkaufsstand.«

Die Lindberg starrte zum x-ten Mal auf das Foto, wäh-rend sich ihr Super-Mobil Meter um Meter an den Stau-verursacher in der Tunnelröhre heranschob. Plötzlichfuhr Arne hoch. »Ich fasse es nicht! Ist das nicht unserDucato?«

Britta legte das Foto beiseite. »Mist! Wenn Nils ihn ab-schleppen muss, wird’s ein Verlustgeschäft.«

Arne setzte zum Überholen an. »Guck in eine andereRichtung, Britta.«

»Er kennt uns doch nicht«, entgegnete die Zierliche.»Und auf dem ›Rentierschlitten‹ steht kein Schriftzugdrauf.« Arne gab Gummi. Nach zwei Kilometern erreich-ten sie das Tunnelende. Arne setzte sich wieder seinemintgrüne Sonnenbrille auf.

Zehn Minuten vorher war auch Lars Jækesby wieder aufder Erdoberfläche erschienen, um eine Stunde spätererneut in der Tiefe zu verschwinden, diesmal unter derWasserfläche. Seit ein paar Minuten versuchte er seineMitreisenden seelisch darauf vorzubereiten. »Gleichkommt der große Seetunnel zwischen dem Festland undder Nordkap-Insel«, erklärte Lars geduldig. »Vor zwölfJahren noch musste man die Fähre nach Honningsvågbenutzen, da gab es den Tunnel noch nicht. Er ist 6,8km lang und führt 212 Meter unter dem Meer hindurch.Ja, und danach beginnt der eigentliche Nordkap-Wahn-

30

Stau am Skarvberg-Tunnel_25-32_Stau am Skarvberg-Tunnel 28.10.09 12:21 Seite 30

Page 31: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

sinn: schwindelerregende Zutrittsgebühren, Parkplatzsu-che und nervende Andenkenverkäufer. Die Samen habenihre Buden überall. Ihr müsst wissen, dass unser Busnur eins von 60.000 Fahrzeugen ist, die jedes Jahr zumNordkap düsen. Die Touristen kommen aus aller Welt.180.000 Neugierige, die mal eben für 48 Stunden Auf-enthalt am Klippenrand 350 Kronen locker machen müs-sen. Ich sag’s ja, der absolute Wahnsinn!« Der Nordkap-Kenner machte eine kleine Pause. Dann fügte er hinzu:»Und wenn der Nebel über dem Wasser hängt, solltet ihrmal die langen Gesichter der Leute sehen! Da haben diemeisten wenigstens 2600 knallharte Pistenkilometer hin-ter sich, nur um bei 6° C Außentemperatur in eine Nebel-wand zu starren. Na ja, trotzdem verdiene ich mit diesemVergnügen nicht schlecht.«

Die Brusco-Geschwister aus Italien hatten dem Bus-fahrer interessiert zugehört. »Unsere Family in Mondellowird Augen machen, wenn wir ’ne Ansichtskarte vomNordkap einfliegen lassen«, prahlte Flavio.

»Wir schicken ihnen eine Karte mit Nordkap-Stempel«,meinte Chiara aufgeregt. »Ist es noch weit, Herr Jækesby?«

»Noch ca. eine Stunde. Vielleicht etwas mehr, falls zuviele Rentiere die Straße kreuzen. Von denen gibt es näm-lich auf der nördlichsten Insel Europas über 3000 Stück.«

»Dann wollen wir jetzt schleunigst den Reifen flicken«,hob Børre an. »Gib mal her das Teil, Flavio.«

»Da rennt ein Elch!«, rief Chiara in diesem Augenblick.»Quatsch mit Himbeersirup!«, entgegnete Børre. »Das ist

ein stinknormales Rentier mit halb abgebrochenem Ge-weih. Elche sind doppelt so groß.«

Kurz darauf tauchte der Reisebus dann unter dem Meerab. Automatisch stellten die drei Busreisenden die Ge-spräche ein. Chiara wurde es etwas mulmig bei dem Ge-danken, so viel Wasser über ihrem Kopf zu wissen. Undda man sich mit diesem Wissen auch nicht auf eineReifenreparatur konzentrieren kann, blieb Flavios Vor-derrad eben weiter hinter dem Fahrersitz liegen. Und weil

31

Stau am Skarvberg-Tunnel_25-32_Stau am Skarvberg-Tunnel 28.10.09 12:21 Seite 31

Page 32: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

beim Auftauchen wieder die Sonne schien und Flaviobegann, Rentiere zu zählen, blieb das Vorderrad auch biszum Ziel unberührt. Am Straßenrand mehrten sich die Ver-kaufsstände. Da erschien am Horizont eine Staubwolkeund auf der Gegenfahrbahn bretterten 18 Transalp-Ma-schinen und Africa Twins nach Süden. Lars’ Busfahrerge-sicht verfinsterte sich. Als er kurz darauf den nördlichstenParkplatz Europas erreichte, wurde seine Miene noch erns-ter. Nach drei Ehrenrunden quetschte er seinen Bus ineine frei gewordene Lücke. In diesem Augenblick sprangauch der Ducato im Skarvberg-Tunnel endlich wieder an.

Fotofinish auf der Nordkap-Klippe

Børre trat in die frische Nordkap-Luft und reckte sich. Nach der kurzen Nacht im Vier-Sterne-Reisebus spürte eralle Knochen. Er hatte auf dem harten Fußboden geschla-fen und dem jüngeren Geschwisterpaar aus Sizilien dieweichen Polster auf dem langen Rücksitz überlassen. DieMitternachtssonne über dem Meer war ein tolles Erlebnisgewesen. Lange noch hatten die Freunde am 307 Meterhohen Klippenrand gesessen und auf das Meer in Rich-tung Nordpol geblickt. 79 Tage im Jahr blieb die Sonneüber dem Horizont und verwandelte den Himmel in einintensives Orangegelb. Børre wusste dieses Naturschau-spiel zu schätzen, denn der größte Teil der Nordkap-Tou-risten sahen auf dem windigen Steinplateau bei 71° 10’21’’ nördlicher Breite nicht viel mehr als nur vorbeizie-hende kalt-graue Nebelschleier. Da Børre um diese Tat-sache wusste, hatte er schon lange vor ihrer geplantenTrekking-Tour durch die endlose Weite des Viddas ange-fangen, Gott um gutes Reisewetter zu bitten. Die fantasti-sche Sicht von der Nordkap-Klippe war ein echtes Ge-schenk Gottes gewesen.

32

Stau am Skarvberg-Tunnel_25-32_Stau am Skarvberg-Tunnel 28.10.09 12:21 Seite 32

Page 33: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Børre sah sich auf dem weitläufigen Gelände um. Ver-schlafene Touristen kletterten aus ihren Wohnmobilen unddie Andenkenverkäufer breiteten ihre Waren auf den Stän-den aus. Dort vorn, an der Meridian-Säule* mit der gro-ßen Weltkugel aus Stahlrohr, stellten sich schon die ers-ten Frühaufsteher zum Morgenfoto auf.

»Morgen, Neffe«, begrüßte ihn Lars, der gerade im Jog-ginganzug hinter Børres Rücken erschien. »Bevor die Ja-paner kommen, drehe ich noch ein paar Runden auf derKlippe. Sitzen muss ich heute noch lange genug.«

Børre nickte. Dann weckte er Flavio. »Koch schon mal’nen Caro-Kaffee, du sizilianische Eidechse. Brauchst wohlnoch ein paar zusätzliche Sonnenstrahlen, um auf Tou-ren zu kommen, was? Ich nehme mir inzwischen deinenPlattfuß vor.« Børre schnappte sich das Vorderrad undsetzte sich auf einen dicken Stein, der als Parkplatzbe-grenzung diente. Dann löste er das Ventil und kniepte miteinem Schraubendreher den Fahrradmantel über den Fel-genrand. Ein paar Minuten später streckte Flavio seineNase zur Bustür heraus: »Der Kaffee ist fertig, äh … ichmeine, das Wasser kocht.«

Børre ließ den Schlauch fallen, und weil sich in diesemMoment auch der Onkel anschickte, seinen Dauerlauf umden Nordkap-Parkplatz zu beenden, begab er sich in denVier-Sterne-Bus.

Nach dem Frühstück entdeckte Lars Jækesby seine ja-panische Reisegruppe. Eilig stand er auf. »Los, Freunde,bringt eure Sachen nach draußen. Chiara kann noch dieKrümel auffegen und den Tisch abwischen. Ich gehe malzum Kofferraum und hol die Fahrräder heraus. Gleichgibt’s hier ’ne Japaner-Invasion.«

Kurz darauf wurde es am Reisebus lebendig. Die Japa-ner schleppten Koffer und Reisetaschen herbei, dass demarmen Lars Hören und Sehen verging. Im Gang des Bus-ses entstand ein Schieben und Drängen wie auf einemAmeisenhaufen. Bald waren alle 50 Sitzplätze reserviert.Dann erschien die aufgeregt schwatzende Touristengrup-

33* Meridian: (geograf. Fachbegriff) Längenkreise der Erde

Fotofinish auf der Nordkap-Klip_33-42_Fotofinish auf der Nordkap-Klip 28.10.09 12:53 Seite 33

Page 34: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

pe wieder im Freien. Einige Japaner klappten sich die Kra-gen ihrer Windjacken hoch. Kameras surrten und ersteFotos mit lachenden Gesichtern vor einem dunkelblauenReisebus mit Nordkap-Sonne entstanden.

Das war der Augenblick, auf den ein etwa 13-jährigesSamen-Mädchen seit einer Viertelstunde gewartet hatte.Unauffällig gab sie einem vorüberlaufenden Knirps imJogginganzug ein Zeichen. Dann nahm sie das Halftereines niedlichen Rentierkalbes in die Hand und schrittlächelnd auf die wartende Reisegruppe zu. Da hatte sieder erste Japaner auch schon entdeckt und schwenkteihr mit einem entzückten Ruf seine Filmkamera entge-gen. Im Nu war die Kleine mit ihrem Rentierkalb von ei-nem Dutzend fotohungriger Asiaten umringt.

»Möchten Sie gerne mal ein Gruppenfoto machen?«,fragte die kleine Rentierbesitzerin. In ihrer blau-rotenKautokeino-Tracht sah sie einfach reizend aus. »Gernestelle ich mich mit Ruppi dazu. Kostet nur drei Kronen.«

Die Japaner sahen sie verständnislos an. Lars erfasstedie Lage und übersetzte ins Englische. Sofort erhelltensich ihre Gesichter. Lachend zückte ein Tourist die Geld-börse. Die Kleine schüttelte den Kopf und zeigte auf denSockel mit der Weltkugel. »Sie meint, der Globus mussmit aufs Bild«, übersetzte der Busfahrer. »Und ich solldie Fotos machen, damit keiner auf dem Bild fehlt.« DieJapaner lachten. Dann nickten sie und die farbenfroheKleine marschierte los. Die Reisegruppe klemmte sichauf ihre Fersen. »Pass mal so lange auf den Bus auf,Børre«, sagte Lars. »Muss mal eben zum obligatorischenFotofinish* zur Weltkugel. Bin gleich wieder da.«

Der Onkel eilte der Gruppe hinterher. Chiara schlosssich ihm an. Børre packte sich Flavios Vorderrad undbrachte die Flickerei in wenigen Minuten zum Abschluss.Dann winkte er seinen Freund herbei. »Los«, befahl er,»das Rad wieder einsetzen, das machst du.«

Flavio nahm das Rad und begutachtete den Reifen. Nachmehreren Anläufen traf er schließlich die Führung der

34* Foto, das beweist, ein bestimmtes Ziel erreicht zu haben

Fotofinish auf der Nordkap-Klip_33-42_Fotofinish auf der Nordkap-Klip 28.10.09 12:53 Seite 34

Page 35: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

35

Fahrradgabel und schob die Achse ein. »Und jetzt?«, frag-te er. Betreten sah Flavio seine Fingerspitzen an.

»Na, Flügelschrauben anziehen, herunterdrücken, fer-tig.« Børre wurde ungeduldig. »Mann, Flavio, bei der ›Tourde France‹ wechseln die Mechaniker ein Rad in 30 Se-kunden.«

»Bei der ›Tour de Finnmark‹ nicht«, brummte Flavio. »Ziehdu mal die Schrauben fest. Hinterher mach ich was falschund ich klemme mir die Finger.«

Børre erwiderte nichts. Wortlos zog er die Flügelschrau-ben fest und begann, sein Trekking-Rad zu beladen.

In diesem Augenblick wurde der blonde Norweger von ei-nem Fernglas erfasst. Der Betrachter gab einen erstauntenRuf von sich: »Den Burschen habe ich schon mal gesehen.Ich weiß nur nicht mehr, wo.«

»Achte lieber auf die Kleine mit dem Rentier«, sagte sei-ne Beifahrerin. »Hast du schon ’ne Idee, wie wir’s ma-chen?«

»Nee, hier springen einfach zu viele Leute rum. Ver-dächtig viele Leute. Wenn wir hier im Kino säßen, würdeich behaupten, dass im Film mindestens 20 Typen rum-stehen, die nur so tun, als seien sie Touristen, in Wirk-lichkeit aber zu irgendeinem Sonderkommando gehören.«

»Jetzt geht aber wieder deine berühmte Fantasie mit dirdurch, Arne. Soll ich die ›Suzi‹ nehmen und die Kleine mitdem Lasso einfangen?«

»Spinnst du? Das Girl ist doch kein Rentier!«»Was anderes fällt mir zurzeit nicht ein.«»Hohlkopf.«»Selber!« Britta rollte ihre Zeitschrift zusammen und

gab ihrem Mann einen Klaps auf den Hinterkopf.Arne grinste. »Das hat gewirkt. Soeben füllt sich mein

Gehirn mit ’nem brauchbaren Input.«»Und? Ist mein Lasso dran beteiligt?«»Nee. Aber deine ›Suzi‹.«Die Zierliche lächelte. »Auch gut.«

Fotofinish auf der Nordkap-Klip_33-42_Fotofinish auf der Nordkap-Klip 28.10.09 12:53 Seite 35

Page 36: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Während also ein Tourist mit einem Fernglas in derHand seiner Frau einen geistigen Input erläuterte, tratChiara auf das bunte Samen-Fräulein mit dem niedli-chen Rentierkalb zu. Soeben hatte dieses fürs Modell-stehen an der Meridian-Säule drei Kronen in die Taschegesteckt: »Darf ich dein Rentier mal streicheln?«, fragteChiara.

»Von mir aus«, nickte die junge Samin geistesabwe-send und blickte suchend in die Richtung, wo Lars Jæ-kesby seinen Reisebus geparkt hatte. Chiara berührtedie Nüstern des kleinen Rens. »Fühlt sich weich an«, lä-chelte Chiara. »Wie heißt er denn?«

»Ruppi.«»Und du?«, fragte Chiara neugierig.Die junge Samin sah Chiara schief an. »Warum willst

du das wissen?«»Nur so«, antwortete Chiara und schob ihre schwarzen

Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Ich heiße jedenfalls Chi-ara und stamme von Sizilien.«

Die farbenfrohe Samin musterte Chiara von der Seite.»Du sprichst ja Norwegisch. Bist du kein Tourist?«

»Ein halber«, lächelte die Südländerin. »Ich will mitdem Fahrrad nach Karasjok, meine Freundin besuchen.Das Nordkap ist nur eine Zwischenstation.«

Die kleine Samin warf Chiara einen bösen Blick zu.»Du lügst! Niemand fährt mit dem Fahrrad von Siziliennach Karasjok, um eine Freundin zu besuchen.«

Chiara lachte. »Da hast du recht. Ich wohne in Trom-sø und meine Freundin Yana geht mit mir in eine Klas-se. Sie ist die Tochter des Bürgermeisters von Karasjok.«

»Yana Laska?«»Genau. Kennst du sie?«Das Samen-Mädchen stampfte mit dem Fuß auf, so-

dass ihr kleiner Ruppi erschrocken zur Seite sprang.»Und ob. Sie ist meine Feindin!«

»Ich finde sie nett«, meinte Chiara etwas verlegen.»Sie hat mich schon dreimal beim Rentierschlitten-Ren-

36

Fotofinish auf der Nordkap-Klip_33-42_Fotofinish auf der Nordkap-Klip 28.10.09 12:53 Seite 36

Page 37: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

37

Fotofinish auf der Nordkap-Klip_33-42_Fotofinish auf der Nordkap-Klip 28.10.09 12:53 Seite 37

Page 38: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

nen geschlagen.« Die junge Samin lief rot an und ballteihre freie Hand zur Faust. »Aber warte es ab, ich schlagesie im Lassowerfen!«

Chiara machte eine Pause. Schließlich sagte sie halb-laut: »Du kommst aus Kautokeino, stimmt’s? Da tragensie solche Mützen wie du, nicht wahr? Hat Yana mir malerklärt.«

»Pah«, brauste die Kleine auf, »die Samen von Karasjokwollen was Besonderes sein. Die mit ihren Zipfelmützen.Lächerlich! Dabei sind sie gemeine Rentierdiebe.«

Chiara horchte auf. »Rentierdiebe? Das glaube ich nicht.Die Karasjok-Samen sind ehrliche Leute. Mein Vater kenntsie genau.«

»Doch, gemeine Diebe sind sie! Bei uns fehlten neulichzwei unserer besten Zuchthengste. Und weißt du, was wiram Koppeltor gefunden haben? Eine Karasjok-Mütze!«

»D…Das kann nicht sein«, stammelte Chiara.»Doch. Die Karasjoker stehlen. Unsere Bekannten aus

Mázi sagen das auch. Mehrere Rentierzüchter aus ihremOrt vermissen Tiere. Die Karasjoker sind Diebe. Wir ha-ben Zeugen.«

»E…Es hat sie jemand gesehen?«»Ja, Mikkel! Der Dogmusher* von Bojobæski.« Die braunen Augen der Italienerin weiteten sich. Doch ge-

rade als sie eine weitere Frage stellen wollte, trat einschlanker Tourist mit einer großen Fototasche und einemStativ auf sie zu. Leicht verunsichert blickte er sich um.»He, du«, sagte er und deutete mit seinem knochigen Zei-gefinger auf Chiara, »kannst du mir einen Gefallen tun?Siehst du dort hinten den Reisebus aus Holland? Da war-tet meine Freundin auf mich, eine große blonde. Wenn sienicht da sein sollte, gib die Tasche und das Stativ bittedem Busfahrer. Ich komme gleich nach, muss nur kurzauf die Toilett…« Der Urlauber stockte. Seine Augen zogensich zu schmalen Schlitzen zusammen. In diesem Augen-blick ließ der schlaksige Mann das Stativ fallen. Auch dieFototasche entglitt seinen Händen. Dann machte er einen

38* Schlittenhunde-Führer und Husky-Züchter

Fotofinish auf der Nordkap-Klip_33-42_Fotofinish auf der Nordkap-Klip 28.10.09 12:53 Seite 38

Page 39: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Satz, hechtete über den unruhig gewordenen Ruppi hin-weg und rempelte zwei, drei verdutzte Touristen an, so-dass binnen Sekunden ein heilloses Durcheinander vonstürzenden Menschen, schreienden Kindern und einemum sich schlagenden Rentierkalb entstand. Chiara er-starrte. Plötzlich stand ein Mann neben ihr und packte sieunsanft am Arm. In der anderen Hand hielt er eine Pis-tole. Chiara wurde blass. Im Nu war sie von zahlreichenTypen umgeben, die aufgeregt gestikulierten. Rufe erschall-ten. Touristen liefen zusammen. Japaner fotografiertenund schwatzten wild durcheinander. Das Chaos auf demFelsplateau war perfekt. Chiara sah ängstlich umher. Diejunge Samin war weg, Ruppi auch. Der schlaksige Foto-mensch hatte sich ebenfalls in Luft aufgelöst. »Was wollteder von dir?«, fragte der Mann, der Chiara am Arm fest-hielt. Ohne eine Antwort abzuwarten, bückte er sich unduntersuchte die im Gras liegende Fototasche. Dann wand-te er sich dem Stativ zu. »Möchte wetten, dass das Pulverin den Beinen versteckt ist«, sagte er zu einem Kollegen.Chiara erklärte er: »Das war ein lange gesuchter Rausch-gifthändler. Schon mal was vom Haschisch-Hardy gehört?Bestimmt wollte er dich für irgendeinen Deal* einspan-nen.« Vorsichtig entsicherte der Mann, der offensichtlichein Kripobeamter war, seine Waffe und schob sie in diePistolentasche. Dann meinte er: »Hoffentlich erwischen dieKollegen ihn noch.« Anschließend fragte er der verunsi-cherten Italienerin Löcher in den Bauch.

Unterdessen trafen sich das fotogene Samen-Mädchenund ein Knirps im Jogginganzug in einem dunklen Win-kel einer Lappen-Kåte**, die direkt neben einem überla-denen Verkaufsstand aufgebaut war. Draußen am Ein-gang war ein Rentierkalb festgebunden. »Hat es ge-klappt?«, fragte die junge Samin gerade.

»War diesmal gar nicht so leicht«, entgegnete der Knirps.»Wieso? Hat der Busfahrer die Tür abgeschlossen?«Der Kleine schüttelte den Kopf. »Nee, aber vor dem Bus

39* Rauschgiftgeschäft ** Samenzelt

Fotofinish auf der Nordkap-Klip_33-42_Fotofinish auf der Nordkap-Klip 28.10.09 12:53 Seite 39

Page 40: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

saßen zwei Jungs. Die haben einen Fahrradreifen ge-flickt.«

»Also war mein Ablenkungsmanöver umsonst. Mist! DieJapaner haben so schön mitgespielt.«

»Nee, nicht umsonst. Plötzlich fing da hinten an derMeridian-Säule der Radau an. Keine Ahnung, was da loswar. Jedenfalls haben alle hingeguckt. Die beiden Jungsauch. Die Gelegenheit habe ich mir nicht entgehen las-sen. Guck mal in den Rucksack.«

Die kleine Kautokeino-Samin warf einen Blick in dieTasche, die ihr Bruder ihr entgegenhielt. »Wow, Silber-schmuck! Armreifen! Die Japaner waren also schon ir-gendwo im Andenken-Shop. Bravo, Brüderchen.«

»Lag in einer Handtasche«, lachte der kleine Dieb. »Ichhab’s so gemacht wie immer: Hinten rein, hinten wiederraus. Es hat mich keiner gesehen.«

Die kleine Samin nickte. »Gut, das war’s für heute. Einzweiter Versuch ist zu gefährlich. Hier wimmelt es heutenur so von Polizisten. Alle in Zivil. Die wollen hier ir-gendwen kriegen. Da halten wir uns lieber zurück. Alsozieh dich um und hilf Mama brav am Stand. Ich lassmich noch ein paar Mal fotografieren.«

Die junge Rentierbesitzerin verdiente an diesem Tag 36Kronen. Vielleicht war’s auch Ruppi, der verdiente. Je-denfalls zückten die Touristen bereitwillig ihre Porte-monnaies und lachten dabei. Die Polizeieinheit durch-kämmte inzwischen das ganze Plateau und drehte jedenStein um. Sie durchsuchten das Nordkap-Restaurant,die Champagner-Bar und einige Übereifrige klapptenauf der Toilettenanlage sogar die Klodeckel hoch. Nichts.Der Haschisch-Hardy blieb verschwunden. Entweder warer ein Meister in perfekter Tarnung oder er besaß einSpray, mit dem er sich unsichtbar machen konnte. Vor-sichtshalber kontrollierten die Beamten jedes Fahrzeug,das den Parkplatz verlassen wollte.

Am Spätnachmittag, als in der Ferne dunkle Wolken-

40

Fotofinish auf der Nordkap-Klip_33-42_Fotofinish auf der Nordkap-Klip 28.10.09 12:53 Seite 40

Page 41: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

bänder heranzogen, erreichte ein Motorrad den Nordkap-Parkplatz. Suchend sahen sich die Ankömmlinge um.Der Mitfahrer stieg ab und reckte sich. Dann zog er sei-ne Handschuhe aus und setzte den Helm ab. Da ent-deckte der Ledertyp das Samen-Mädchen in ihrer buntenTracht. Lächelnd zog er eine Kamera aus seiner Leder-jacke heraus. »Darf ich mal?«, fragte er die Kleine.

»Mit Ruppi oder ohne?«, kam die Antwort.»Meinst du dein süßes Rentier?«Das Mädchen lächelte. »Ja.«Der Ledertyp lächelte zurück. »Ich mach ein Foto von

euch beiden. Leg Ruppi mal den Arm um den Hals, ja?«»Macht drei Kronen.«»Wie bitte? Ach so.« Der Motorradfahrer sah die aufge-

haltene Hand der Kleinen. Umständlich zog er sein Porte-monnaie aus der Innentasche. Dann ging er in die Hockeund nahm die Samin mit ihrem Ren ins Visier. »Sag Rup-pi, er soll mal ›cheese‹ sagen«, grinste er. Der Typ standauf und sah sich nach seinem Kumpel um. Dann winkteer ihn heran. »Für drei Kronen steigst du doch auch malauf die Karre, oder?«, fragte er die Kleine lächelnd. »Einkrasses Motiv: Ein Lappen-Mädchen auf unserer ›Suzi‹!«

Die Kleine strahlte. »Bin zwar Samin, mach ich aber trotz-dem.« Sie band Ruppi an einen Pfosten und kletterte aufdie Maschine. Der Fahrer drehte am Gashebel und ließ denMotor aufheulen. »Irrer Sound, was?«, meinte der Mitfah-rer. »Leg meinem Kumpel mal die Hände um den Bauch.Dann grins rüber, und ich drück ab.« Die Kleine gehorch-te. In diesem Moment ließ der Fahrer die Kupplung kom-men, fuhr an, drehte eine halbe Runde und verließ denParkplatz. Die Beamten ließen ihn unkontrolliert passie-ren. Auf der Straße drehte er auf und jagte davon.

»Entführung?«, fragte eine neugierige Seniorin.»Nee«, grinste der zurückgebliebene Mitfahrer. »Ist unse-

re Art, Fotokosten zu erstatten. Mein Kumpel dreht lie-ber ’ne Runde mit ihr, anstatt ihr Knete zu geben.«

Die Seniorin lächelte und schlenderte zu einem 6-Per-

41

Fotofinish auf der Nordkap-Klip_33-42_Fotofinish auf der Nordkap-Klip 28.10.09 12:53 Seite 41

Page 42: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

sonen-Ducato herüber. Kurz darauf verließ ein Touristmit einer mintgrünen Sonnenbrille die Herrentoilette desNordkap-Cafés. In seinem Rucksack war ein Motorrad-anzug verstaut. Gelangweilt schlurfte er an den Beamtenvorbei und wanderte fröhlich pfeifend in die weite Tundrahinaus.

Vor gut einer Stunde hatte ein allseits gesuchter Rausch-gifthändler ebenfalls das Nordkap-Plateau verlassen – un-ter dem roten Kanu eines protzigen Power-Mobils. Wenigspäter hatte er alle Zeit der Welt, über die Heckleiter desabseits der Hauptstraße parkenden Fahrzeugs herabzu-klettern und hinter den Sträuchern zu verschwinden.

Stöpsel für die Einsamkeit

Børre und seine Freunde waren losgeradelt, kurz nach-dem Lars Jækesby mit seiner japanischen Reisegruppedas Nordkap verlassen hatte. »Wir wollen heute schließ-lich noch das Festland erreichen«, meinte Børre.

»Kleinigkeit«, tönte Flavio. »Diese Zwergeninsel stram-ple ich auf einer Pedale ab. Auf in die Einsamkeit!«

»Wird auch langsam Zeit«, seufzte Chiara. »Am Nord-kap war ja der Bär los. Sogar Drogenhändler treiben sichda oben herum. Wer hätte das gedacht!«

»Na ja«, sagte Børre, »das war wohl der absolute Su-per-Gau. Es wird wahrscheinlich Tage geben, da triffstdu dort keine müde Blattlaus an.«

Flavio probierte seine Fahrradklingel aus. Dann mein-te er: »Okay, das Kap war ’n Besuch wert. Tourenauftaktgelungen, würde ich sagen. Aber jetzt beginnt der Ernstdes Lebens. Für meinen Hintern jedenfalls.«

Børre drehte sich lachend um und zeigte auf FlaviosFahrradsattel. »Bei dem Polster hält dein Hintern bis Pa-lermo«, grinste er.

Flavio senkte verlegen den Kopf. »Hab ich mir noch

42

Fotofinish auf der Nordkap-Klip_33-42_Fotofinish auf der Nordkap-Klip 28.10.09 12:53 Seite 42

Page 43: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

nach unserer Muskelaufbau-Tour angeschafft«, sagte erzögernd. »Ist … ist ein Gelsattel.«

Børre klopfte sich mit der rechten Hand auf seinenOberschenkel. »Und das Ding darüber? Sieht ja auswie ’ne Satteldecke der Apachen!«

»Ist ja schließlich mein Hintern«, maulte Flavio undzupfte ein wenig an seinem Sattelüberzug herum. »Ist einLammfell. War übrigens ein Tipp von dir.«

»Er hat zwei Tage nicht richtig sitzen können«, nahmChiara ihren Bruder in Schutz.

»Schon gut, schon gut!«, nickte der blonde Norweger, »konzentrieren wir uns mal auf unsere Reiseroute anstattauf unsere Körperteile. Sollen wir noch ’nen Blick durchdie ›Kirkeporten‹ bei Skarsvåg werfen, oder gleich zumgroßen Seetunnel fahren?«

»Kirkeporten?« In Chiaras braunen Augen leuchtetendrei Fragezeichen auf.

»Ist ein Felsenloch mit einer besonderen Aussicht aufdie Nordkap-Klippe«, erklärte Børre.

Flavio winkte ab. »Völlig uninteressant. Löcher bestehendoch aus Luft, oder?«

»Also nicht«, stellte Børre fest und erhöhte ein wenig dasTempo. »War nur ein Vorschlag.«

Die nächsten Kilometer verliefen recht schweigsam. DieRadler konzentrierten sich auf die Fahrbahn. Nur ab undzu hoben sie ihre Köpfe, um in die unwirtliche Tundra-landschaft hineinzublicken. Die karge Hochfläche war vonvielen kleinen Seen, Bächen und Schneefeldern überzo-gen, die selbst bei dauernder Sonneneinstrahlung nichtrestlos abgetaut waren. Flavio fing wieder an, Rentiere zuzählen. Manchmal grasten die Tiere so dicht am Fahr-bahnrand, dass man im Vorbeifahren ihre mächtigen Ge-weihe hätte anfassen können. Auf einmal machte Børre,der mal wieder als Erster fuhr, einen Schwenker nachlinks. »Vorsicht, Rentiermist!«, rief er. Chiara reagierte so-fort. Mit einem eleganten Schwung zog sie an der unap-petitlichen Hinterlassenschaft vorbei. Flavio, der inzwi-

43

Stöpsel für die Einsamkeit_43-50_Stöpsel für die Einsamkeit 28.10.09 12:20 Seite 43

Page 44: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

schen lustig pfeifend das Schlusslicht bildete, sah die Cho-se zu spät. Der Mist blieb an seinen Stollenreifen klebenund spritzte zusammen mit den Steinchen der Schotter-piste unter die Schutzbleche. Erst das Geräusch der klap-pernden Steinchen ließ Flavios Pfeifkonzert verstummen.Hart ging er in die Eisen und sprang vom Sattel. »Warumwarnt mich denn keiner?«, schimpfte er. Børre wendeteund sah den jungen Italiener mit großen Augen an. Ausseinen Ohren baumelten zwei lange schwarze Kabel, diein seiner rechten Jackentasche verschwanden. Flavio be-merkte den fragenden Blick seines blonden Freundesund fing an zu grinsen. Eilig zog er die Stöpsel aus denOhren. »Ist ’ne Vorsichtsmaßnahme gegen Nordkap-Kol-ler«, schmunzelte er. »Oder anders ausgedrückt, ein Mit-telchen gegen die Einsamkeit. Auf gut Norwegisch sagtman auch MP3-Player dazu.«

Børre fuhr sich mit der Hand durch die blonden Lo-cken. »Mensch, Flavio. Da glaub ich die ganze Zeit, dugenießt die nordische Flora und Fauna, dabei hörste Mu-sik! Kein Wunder, dass man dann in den Mist brettert.«

»Musik?« Flavio schüttelte den Kopf. »Wieso denn Mu-sik? Ich höre gerade die Staunachrichten. Man muss hieroben im Norden immer auf dem Laufenden sein, was aufden Straßen so los ist.«

Børre verdrehte die Augen. »Ganz meine Meinung, duNordkap-Apache«, erwiderte er vorwurfsvoll. »Das giltbesonders für das Naheliegende, Rentiermist zum Bei-spiel.«

»Ich fahr gleich mal durch ’ne Pfütze«, schmollte Fla-vio. Dann schwang er sich auf sein Fahrrad und klap-perte los. Die nächste Pfütze tauchte allerdings erst kurzvor Honningsvåg auf. Die zahllosen Stein- und Holzhäu-ser des Ortes zogen sich am Ufer eines Steilhanges umdie ganze Bucht herum. Im Fischereihafen lagen dichtgedrängt die Finnmarks-Kutter. In der Ferne hörte mandas Signalhorn eines Fährschiffes.

»Bis zum Seetunnel sind es noch 12 Kilometer«, sagte

44

Stöpsel für die Einsamkeit_43-50_Stöpsel für die Einsamkeit 28.10.09 12:20 Seite 44

Page 45: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Børre, als sie den Ortsausgang erreichten. »Wir müssenmal einen Zahn zulegen, wenn wir heute noch von derInsel runterwollen.« Børre trat in die Pedalen und zog dieanderen im Windschatten hinter sich her. Die Uferstra-ße war gut ausgebaut und in rascher Fahrt nähertensich die drei der Unterwasserröhre. Da stöhnte Chiaraauf. »Seht mal, was dort auf dem Schild steht!«

Børre fixierte eine Tafel neben dem Tunneleingang.»›Betreten für Fußgänger und Radfahrer verboten‹. Ich kriegdie Pimpanellen!«

»Information ist alles«, meinte Flavio gelassen. »In einerReportage haben sie es vorhin extra gesagt.«

Børre fuhr herum. »Was haben sie gesagt?« »Na, dass der Tunnel nur für motorisierte Fahrzeuge frei

ist. Direkt nach den Staunachrichten. Personen und Fahr-radfahrer müssen die Fähre in Honningsvåg benutzen.«

»Ich krieg die Krise«, stöhnte Børre und fasste sich anden Kopf. »Warum hast du uns das nicht eher gesagt? Jetztmüssen wir die ganze Strecke zurückstrampeln.«

Flavio schwieg. Børre sah auf seine Armbanduhr. Dannschwang er sich auf sein Rad und dampfte wortlos ab.»Los, hinterher!«, sagte Chiara geknickt. »Jetzt ist er sauerauf dich.«

»Bin ich auch auf ihn«, sagte Flavio keuchend. »Immermacht er sich lustig über mich, wenn ich mal ’ne origi-nelle Idee habe. Børre fand den Player doof!«

»Deshalb sagst du nichts und fährst lieber 24 Kilometerumsonst?« Chiara fing nun auch an zu pusten. »Das Tem-po halte ich nicht durch. Børre kriegen wir nie!«

»Ich habe nichts gesagt, weil ich dachte, wir könntenvielleicht ’nen Lastwagen oder ’n Wohnmobil chartern, dasuns mit durch den Tunnel nimmt. Das wäre immer nochgünstiger gewesen als die Fähre.«

»Kein schlechter Gedanke«, stimmte ihm Chiara zu. »Mankönnte ihn immer noch umsetzen, wenn Børre mal end-lich anhalten würde. Sieh mal, so ein Wohnmobil hättebestimmt Platz für drei Fahrräder!« Chiara zeigte auf ein

45

Stöpsel für die Einsamkeit_43-50_Stöpsel für die Einsamkeit 28.10.09 12:20 Seite 45

Page 46: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

entgegenkommendes Fahrzeug mit rotem Kanu auf demDach. Flavio bremste und sah dem vorüberfahrendenWohnmobil neugierig hinterher. »Weißt du, wer das war?«,fragte er überrascht.

»Nein, woher denn?« Chiara zuckte mit den Schultern.»Das war das Rockmobil vom Tromsesund!«»Das hatte ein grünes Kanu dabei.«Flavio nickte. »Aber der Fahrer war’s!«»Der hätte uns nie mit durch den Tunnel genommen.

Ob er auch am Nordkap war?«»Kann sein. Aber da standen mindestens 60 Wohnmo-

bile und 20 Reisebusse herum. Ich hab’s nicht gesehen.«Flavio schwang sich auf seinen Gelsattel mit Lammfell-überzug. »Los, auf die Gäule! Zurück nach Honigs-dingsda. Børre wird schon warten.«

Der »Ritt« zurück war beschwerlich. Die Uferstraße zogsich in die Länge wie Kaugummi. Vom Wasser her wehtezu allem Überfluss ein unangenehmer Gegenwind unddie Geschwister atmeten auf, als sie in der Ferne das Orts-schild von Honningsvåg erblickten. Børre fanden sie amFähranleger zum Festland. Er saß auf einer Bank undverzog keine Miene, als die verschwitzten Pedaltreter an-kamen. »Die Fähre fährt in 25 Minuten«, bemerkte erkurz. »Und auf dem Festland müssen wir uns sofort ’neÜbernachtungsmöglichkeit suchen.« Dann starrte er nach-denklich in das schmutzige Hafenwasser.

Flavio lehnte sein Touren-Rad an eine Fahnenstangeund sah zum Himmel hoch. Das dunkle Wolkenband,das sie schon vom Nordkap aus gesehen hatten, warjetzt direkt über ihnen. Und der Wind blies. In der letz-ten Viertelstunde war er noch frischer geworden. Flaviozog den Reißverschluss seiner Windjacke hoch undschlenderte ein wenig am Hafenbecken entlang. In eini-ger Entfernung waren vier Fischkutter festgemacht. Aufeinem von ihnen waren zwei Fischer zu sehen, die mitdem Sortieren einiger Netze beschäftigt waren. Flavioschlurfte hin. Nachdem er ihnen eine Weile zugesehen

46

Stöpsel für die Einsamkeit_43-50_Stöpsel für die Einsamkeit 28.10.09 12:20 Seite 46

Page 47: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

hatte, sprach er den Älteren der beiden an. »Laufen Sieheute noch aus?«

Der bärtige Fischer sah auf. »Meinst du mich, Bubi?«Flavio nickte. »Wo angeln Sie denn? Im Polarmeer?«Auf dem Gesicht des bärtigen Seemanns erschien ein

breites Grinsen. »Angeln, Bubi? Pass auf, wenn du malwissen willst, was beinharte Seefischerei ist, dann fahrmal mit! Wir fischen mit Schleppnetzen.«

»Und wo?«, bohrte Flavio nach.»Wir schaukeln heute Nacht den ›Porsangen‹ runter.«

Der Fischer fing jetzt an, in einer Kiste mit Tauen herum-zuwühlen. »Bis Lakselv. Ist ganz am Ende.«

Flavio überlegte. »Hmmm«, fing er vorsichtig an, »kommtman von dort nach Karasjok, werter Herr Fischer?«

Der Seemann fing an zu lachen. Flavio bemerkte, dassdem Bärtigen der rechte Schneidezahn fehlte. »Ha, ha, ha!›Werter Herr Fischer!‹ Klingt gut, Bubi. Du solltest unsmal in Aktion erleben. Wir sind beinhart im Geschäft.«

»Dürfen wir mit?«, fragte Flavio kurz entschlossen. »Wirsind zu dritt. Zwei Jungs, ein Mädchen und drei Fahr-räder.«

»So, so«, stellte der Seebär fest. »Ein Mädel ist auch da-bei. Ei, ei, ei! Und nach Karasjok wollt ihr?«

»Das sind von Lakselv nur noch 80 Kilometer«, mischtesich jetzt der andere Fischer ein. »Lass sie mitfahren, Ha-rald. Sie können in der Kajüte schlafen. Wir sind eh dieganze Nacht draußen.«

»Gut, Bubi«, lachte der Fischer. »Dann dürft ihr uns malbeim ›Angeln‹ zugucken. Hol die anderen. Ich garantiereeuch ’ne beinharte Nacht.« Der andere Fischer zwinkerteFlavio zu: »Mein Chef übertreibt gerne. Es wird nur einbisschen Wind geben, Windstärke ›10‹ oder so!«

Flavio flitzte los. Er erreichte den Schiffsanleger gerade,als in der Ferne die Fähre auftauchte. »Ich hab euch ’neEtappe zur Entspannung anzubieten«, tönte Flavio los. »DerTrawler dahinten nimmt uns bis Lakselv mit. Kostenlos.Überfahrt mit Kajüte. Ist doch sahnemäßig, oder?«

47

Stöpsel für die Einsamkeit_43-50_Stöpsel für die Einsamkeit 28.10.09 12:20 Seite 47

Page 48: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Super«, strahlte Chiara. »Da haben wir ja ein Dachüber dem Kopf. Es wird bestimmt Regen geben.«

»Wir wollten eine Trekking-Tour mit dem Fahrrad ma-chen und keine Seereise«, brummte Børre.

»Wir sparen uns aber einen ganzen Tag im Sattel«, ent-gegnete Flavio. »Da können wir uns zwischen Lakselv undKarasjok lieber noch ’n paar Stunden in die Sonne legen.«

»Ich lass mich nicht mehr auf fremde Schiffe locken«,sagte Børre jetzt etwas energischer. »Hinterher landen wirwieder auf den Shetlandinseln wie vor zwei Jahren.«

»I wo, Børre-Bubi. Es lockt uns niemand auf ein Schiff.Ich habe doch gefragt, höchstpersönlich.«

Børre sah Flavio schief an. »Børre-Bubi? Was soll dasdenn heißen?«

»Na ja«, meinte Flavio und ruderte ein wenig zurück,»ich finde, du solltest auch mal meine Meinung akzep-tieren. Ich bin schließlich kein Baby mehr.«

»Genau«, hakte Chiara ein, »die Ideen von Flavio sindmeistens gar nicht so schlecht. Immerhin ist er schonvierzehn!«

»Und kann immer noch keine Reifen flicken«, ergänzteBørre sarkastisch. Doch weil in diesem Moment das Sig-nalhorn der einlaufenden Fähre durch den Hafen dröhn-te, hörte Flavio die Bemerkung nicht. Langsam schobsich das Schiff an den Anleger heran. Børre stand aufund ging zu seinem Fahrrad. »Ich nehme die Fähre«,sagte er in entschlossenem Ton.

»Und wir den Trawler«, entgegnete Flavio. »Mach’s gut.In Lakselv warten wir auf dich.« Flavio und seine Schwes-ter schnappten sich ihre Tretmühlen und machten sichin Richtung Fischerboot davon. Børre sah ihnen entgeis-tert nach. In diesem Augenblick stieß die Autofähre anden Anleger. Der Ruck brachte Børre zur Besinnung.Hastig schwang er sich auf sein Bike und spurtete denbeiden hinterher. »Halt, wartet auf mich. Ich komme mit!«In diesem Moment klatschten die ersten Regentropfen aufdas Hafenpflaster. Die beiden Fischer nahmen seelenru-

48

Stöpsel für die Einsamkeit_43-50_Stöpsel für die Einsamkeit 28.10.09 12:20 Seite 48

Page 49: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

hig die Räder in Empfang und hießen ihre Fahrgäste miteinem breiten Lächeln willkommen. Chiara erschrak, alssie die Zahnlücke des alten Seebären sah. Schnell ver-schwand sie in der Kajütentür. Mittlerweile trommelte derRegen auf das Deck und ließ große Pfützen auf den Plan-ken entstehen. Die beiden Fischer in ihren Gummistiefelnstörte das nicht. Nach einer halben Stunde schaukelte derFinnmarks-Kutter zum Hafen hinaus. Eine dichte Wol-kendecke hüllte den Porsangen-Fjord in ein schummri-ges Abendlicht. In der mollig warmen Bootskajüte lagendrei müde Radfahrer in ihren Schlafsäcken und hörtensich die Schauermärchen eines beinharten Fischers an.Sein Kollege stand am Steuerrad und lenkte den Kuttermit tätowierten Seemannsarmen. Chiara fiel schnell in ei-nen ruhigen Tiefschlaf. Später dann, als der Kahn mittenauf dem 120 Kilometer langen ›Porsangen‹ schaukelte, ver-ließen die Fischer die Kajüte, um die großen Schleppnetzeins Wasser zu lassen. Da stieß Børre Flavio in die Seite.»Schläfst du schon, Flavio?«

»Zu 70 Prozent«, gähnte der Angestoßene.»Tut dir der Hintern wieder weh?«»Nee, ich spüre nur meine Handgelenke.«»Ich auch.«»Du? Dir geht’s doch sonst immer blendend.«»Heute Abend nicht.«»Nicht?«Børre drehte sich in seinem Schlafsack um. »Ich habe

mich falsch verhalten. Ich bin euch einfach mit dem Raddavongefahren.«

»Stimmt. Wir hätten einen Lastwagen anhalten können.Der hätte uns kostenlos durch den Tunnel befördert.«

»Äh … ja. Da bin ich nicht drauf gekommen.«»Oder ein Wohnmobil. Jetzt fahren wir halt mit einem

Fischkutter. Ist wahrscheinlich die wärmste und trockens-te Lösung für diese Nacht.«

Børre schwieg. Auf dem Deck hörten die beiden Jungsdie Fischer hantieren. Monoton schlugen die Wellen ge-

49

Stöpsel für die Einsamkeit_43-50_Stöpsel für die Einsamkeit 28.10.09 12:20 Seite 49

Page 50: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

gen die Bordwände. Nach einer ganzen Weile meinte dernachdenkliche Norweger: »Du, Flavio?«

»Ja?«»Warum hast du Børre-Bubi zu mir gesagt?«Flavio gähnte wieder. »Ja, weil … weil du immer so er-

wachsen tust und …«»… und ich dich nicht für voll nehme, stimmt’s?« Børre

zog den Reißverschluss seines Schlafsacks ein Stück her-unter und wechselte wieder die Seite.

»Genau«, antwortete Flavio. »Ich kann zwar nicht so vielwie du, aber dass meine Ideen nicht immer schlecht sind,könntest du ruhig mal zugeben.«

»Deine Idee, mit dem Fischkutter zu fahren, war su-per. Voll die gute Hirnschaltung.«

»Danke für die Blumen.«Børre atmete tief aus. »Ja, wirklich. Durch den Skarv-

berg-Tunnel wären wir mit dem Fahrrad nämlich auchnicht durchgekommen. Ist mir eben erst eingefallen.«

»Siehste!« Flavio gähnte erneut.»Du, Flavio?«»Was ist denn noch? Ich will schlafen.«»Ich will mich bei dir entschuldigen.«»Ja, mach mal.«»Vergibst du mir mein falsches Verhalten? Mein Weg-

fahren und meine schlechte Laune?«»Klaro.«»Dann sind wir wieder richtige Freunde?«»Ist noch nie anders gewesen, Kumpel.«Børre knuffte Flavio in die Seite. »Okay, dann gute

Nacht, alter Nordkap-Apache.«»Gute Seereise, träum schön.« Flavio drehte sich zur

Kajütenwand. Nach ein paar Minuten »sägte« der müdeItaliener einen ganzen nordischen Kiefernwald um. Un-terdessen nahm die Schaukelei auf dem ›Porsangen‹ be-trächtlich zu. Als der beinharte Seemann kurz daraufdas Steuerruder übernahm, zeigte er wieder einmal seinlöchriges Gebiss.

50

Stöpsel für die Einsamkeit_43-50_Stöpsel für die Einsamkeit 28.10.09 12:20 Seite 50

Page 51: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Der Dogmusher von Bojobæski

Zur gleichen Zeit, als drei jugendliche Radfahrer eigent-lich ihre erste Nacht unter dem Sternenzelt des Finn-marks-Viddas verbringen wollten, kauerte ein Samen-Mädchen auf einem kalten Wohnmobilfußboden, der ziem-lich streng nach Rentiermist roch. Auf dem davonbrau-senden Motorrad noch hatte sie in ihrer Panik vorgehabt,sich einfach vom Sitz fallen zu lassen. Aber die Angst wardoch zu groß gewesen. Dann, als der Ledertyp nach einpaar Kilometern in einen schmalen Seitenweg einbog undauf ein parkendes Wohnmobil zusteuerte, hatte sie ge-merkt, dass der Motorradfahrer sehr schmächtig war. Alser kurz darauf anhielt und sie aufforderte, keine Muckenzu machen, war ihr klar gewesen, dass sie es mit einerFrau zu tun hatte. Und was für einer! Wahrscheinlichkonnte sie Gedanken lesen. Als sich nämlich die Möglich-keit bot, einen Fluchtversuch zu wagen, war ein Lassodurch die Luft gesaust. Die Schlinge hatte den Oberkör-per der jungen Samin erwischt und sie mit einem Ruck zuBoden geschleudert. Daraufhin hatte die zierliche Motor-rad-Lady sie mit eisernem Griff über eine Heckklappe ge-zerrt, ihr einen Knebel in den Mund geschoben und sie indas Innere des Wohnmobils gestoßen. Das war’s. SeitStunden lag sie nun gefesselt in der Dunkelheit und wur-de durch die nördlichste Provinz Europas geschaukelt.Der harte Bretterboden sorgte schnell für erste blaue Fle-cken. Und es stank. Nur im Dach dieses eigenartigen Wohn-mobils konnte sie eine kleine Luke entdecken, durch dieein wenig Frischluft in das rollende Gefängnis strömte.Vorn im Führerhaus hörte sie schwaches Gemurmel.

»Wow!«, sagte Britta in diesem Moment. »Ich habe dasLasso doch noch einsetzen können. Die Kleine wollte sichaus dem Staub machen. Ist wieselflink, das Girl, aber ichwar schneller.«

51

Der Dogmusher von Bojobæski_51-60_Der Dogmusher von Bojobæski 28.10.09 12:54 Seite 5

Page 52: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Na siehste«, schmunzelte Arne, »dann ist die Welt jawieder in Ordnung.«

»Nee, ist sie nicht!«»Nicht?« Arne zog die Stirn in Falten.»Ich fange lieber Rentiere. Auf kleine Samen-Mädchen

habe ich keinen Bock.«»Jetzt hör mal endlich auf, dir wegen der Tussi den Kopf

zu zerbrechen. Mikkel wird schon wissen, was er tut.«»Ich arbeite für Nils«, sagte Britta. »Er ist der Chef. Mik-

kel ist nur unser Guide*, der uns mit den Infos über dasVidda versorgt.«

»Und? Ist das nichts?« Der Wohnmobil-Fahrer verzogdas Gesicht. »Ohne Mikkel könnte Nils einpacken. Der istimmer auf dem Laufenden und kennt die Finnmark wieder alte Trapper Geierschnabel seine Rocky Mountains.«

Britta Lindberg machte eine abschätzige Handbewe-gung. »Pah, der Mikkel trifft mit dem Lasso keinen Zaun-pfahl. Noch nicht mal aus drei Meter Entfernung!«

»Dafür hat er schon sechsmal den ›Finnmarksløpet‹ ge-wonnen«, verteidigte ihn Arne. »Das ist das härteste Schlit-tenhunde-Rennen Europas. Für die Samen ist er so waswie ein Nationalheld.«

»Für mich nicht«, sagte Britta grimmig. »Mikkel ist ’nearmselige Steppenlaus. Er soll die Kleine in Ruhe lassen.«

Arnes Hände verkrampften sich am Lenkrad. »Das istseine Sache. Wir tun ihm den Gefallen und damit basta!Gleich sind wir in Skoganvarre, da wartet er mit dem Jeepauf uns.«

Die zierliche Lindberg starrte vor sich hin. Erst nach ei-ner geraumen Zeit sagte sie mehr zu sich selbst als zuihrem Mann: »Du klärst mich immer erst dann auf, wenndie Sache schon läuft und es kein Zurück mehr gibt.«

Arne biss sich auf die Unterlippe. Erst Minuten später,als an einem Abzweig ein wartender Jeep auftauchte, be-kam er den Mund wieder auf: »Da ist er!« Arne bremstedas Wohnmobil ab und hielt an. Ein wenig steif sprang erauf die Straße und sah sich um.

52

* Fremdenführer, Scout

Der Dogmusher von Bojobæski_51-60_Der Dogmusher von Bojobæski 28.10.09 12:54 Seite 52

Page 53: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Hi, Mikkel, alter Steppenwolf. Wie geht’s deinen Hun-den?«, begrüßte Arne den breitschultrigen Mann mit Lö-wenmähne, der lässig an seinem Jeep lehnte. Der Guideverzog sein blondes Bartgesicht zu einer raubtierähnli-chen Grimasse.

»Da erwischst du mich auf falscher Fußsohle«, knurr-te der Angesprochene. »Heute Morgen ist mir eins mei-ner Leittiere krepiert. Einfach so. Lag in der Sonne und… grrr, war wirklich kein Heldentod!«

Arne kratzte sich verlegen am Ohr. »Mist!«»Das kannste laut sagen«, brummte Mikkel und fuhr

sich mit seiner Pranke durch das wilde Haar. »Der Nach-wuchs braucht noch ’ne Saison, um an seine Qualitätenheranzukommen. Mistwetter, es ist einfach zu heiß fürdie Huskys!« Der Dogmusher blickte zum Wohnmobil her-über. »Wo haste denn dein Püppchen?«

»Britta? Im ›Rentierschlitten‹. Sie hat schlechte Laune.«»Dann lass sie sitzen«, knurrte der Guide. »Wenn zwei

mit schlechter Laune aufeinanderprallen, dann … grrr,ich hoffe, du hast wenigstens Mytsi dabei.« Mikkel hobdrohend die Faust zum Himmel.

Arne Lindberg zog den Kopf ein. Bei Mikkel konnteman nie wissen. Dafür hatte er schon zu viele Ausrastermiterlebt. Das kühle nordische Temperament hatte sichbei diesem Steppenwolf jedenfalls nicht durchgesetzt. Eswar wohl besser so, dass dieser Hüne sein Dasein in derweiten Einsamkeit des nordischen Hochlandes fristete.Dort, wo er meistens keinen Menschen traf und sein Le-ben den Hunden widmen konnte. Eine Frau hatte Mikkelnie gesucht – und hätte wohl auch nie eine gefunden.Britta war immer nur das Püppchen für ihn.

»Die Kleine ist hinten drin«, antwortete Arne vorsich-tig. »Ist alles glatt gelaufen.«

»Na bitte! War doch nicht zu viel verlangt, oder?« Arne lächelte schwach. »Für ’nen Gefallen haben wir

uns ganz schön weit aus dem Fenster gelehnt. Du hastvon uns Menschenraub verlangt. Deshalb ist Britta sauer.«

53

Der Dogmusher von Bojobæski_51-60_Der Dogmusher von Bojobæski 28.10.09 12:54 Seite 53

Page 54: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Der Dogmusher fing an, wild mit den Augen zu rollen.»Sag deinem Püppchen, dass das meine Angelegenheit ist.Sie soll bloß die Klappe halten, sonst … grrr, ich dreh ihrden Hals um!«

Der Mechatroniker der ›Båtten-Tours‹ hörte auf zu lä-cheln. »Sieh dich vor, Mikkel! Mein Püppchen ist nichtohne. Was sie mit dem Lasso kann, weißt du. Sie ist auchschon ganz wild aufs Armdrücken mit dir.«

»Armdrücken? Mit mir?« Dem Hünen mit der Löwen-mähne fiel die Kinnlade herunter. »Dein Püppchen ist wohllebensmüde, was?«

Arne atmete tief durch. »Na ja, spuck jedenfalls nicht sogroße Töne, Mikkel. Wir sind ein Team und müssen zu-sammenhalten. Ist jedenfalls die Meinung vom Chef.«

Der Dogmusher machte ein Gesicht zum Fürchten. »Soso, ein Team sind wir, sagt der Chef. Wüsste nicht, dassich jemals einem Team angehört habe. Es sei denn, dumeinst meine Huskys. Wenn ich Nils schon mal ’nen Tippgebe, wo die Rentiere der Kautos gerade herumgaloppie-ren, dann heißt das noch lange nicht, dass ich ihn als Chefüber mir akzeptiere, ist das klar?«

Arne zuckte mit den Schultern. »Von mir aus. Dannbiste eben ein freier Mitarbeiter oder so. Willste die Kleinenun übernehmen oder nicht?«

»Mytsi? Ach ja, her mit dem Püppchen!«Arne schlurfte zum Wohnmobil zurück. »Fahr den Jeep

mal näher an die Heckklappe ran!«, rief er Mikkel über dieSchulter hinweg zu.

Der Guide hob seine buschigen Augenbrauen. »Hast duMytsi etwa im Laderaum transportiert, Kollege?«

Arne zuckte mit den Schultern. »Ja, wie denn sonst?Meinst du etwa, ich kidnappe kleine Mädchen und fahresie dann offen im Wohnmobil spazieren?« Arne entferntedie Abdeckplane des festgeschnallten Motorrades. »Siehdich mal um, ob die Luft rein ist, Mikkel.« Da stand derDogmusher neben ihm. Seine Augen blitzten wie die aufge-regten Pupillen seiner Schlittenhunde vor dem Start zum

54

Der Dogmusher von Bojobæski_51-60_Der Dogmusher von Bojobæski 28.10.09 12:54 Seite 54

Page 55: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

›Finnmarksløpet‹. »Wie kannst du es wagen, Kollege, mei-ne Nichte wie ein Rentier zu behandeln! Wenn das meinBruder erfährt, bist du geliefert.«

Arne ließ den Hebel los. Mit offenem Mund starrte erden bärtigen Guide an. »Sie … sie ist deine Nichte?«

»Na, wer denn sonst.«»D...Die Tochter v...von deinem Bruder?«Mikkel fuhr mit der Hand in seine blonde Löwenmäh-

ne. »Glaubst du etwa, ich würde fremde Püppchen ent-führen lassen? Los, heraus mit ihr! Sag nicht, du hastsie auch noch gefesselt und geknebelt … grrr, ich werfedich meinen Huskys zum Frühstück vor!«

Arne Lindberg schnallte die ›Suzi‹ los und schob dasMotorrad zur Seite. Wie in Trance ließ er die Heckklappeherunter. Mikkel sprang mit drei Sätzen in den dunklenLaderaum hinein. Dann hörte Arne ein Gebrüll, wie eseigentlich nur in den Savannen Afrikas zu hören ist. Ar-ne rannte zum Führerhaus. »Komm mal sofort raus,Britta. Nimm das Lasso mit. Ich glaub, der Steppenwolfbekommt wieder einen Ausraster!« Kurz darauf erschiender Löwe in der gelben Mitternachtssonne. Auf seinenkräftigen Armen trug er ein verängstigtes Samen-Mäd-chen – gefesselt und geknebelt. Der Guide legte das ver-schnürte Paket ins Gras und zog der Kleinen den Knebelaus dem Mund. Dann erstarrte er. Sein bärtiges Löwen-gesicht, das soeben noch puterrot gewesen war, verlordie Farbe. Aschfahl stand er auf und schritt langsam aufden verständnislos dreinblickenden Arne Lindberg zu.Plötzlich sprang er vor und griff mit beiden Händen nachseinem Hals. »Du Narr! Das ist sie nicht! Das ist nichtMytsi … grrr, ich werfe dich …«

In diesem Augenblick schwirrte ein Lasso durch dieLuft. Der Hüne landete krachend auf dem Boden. Überihm stand Britta. Auf ihrem zierlichen Gesicht warenzwei deutliche Zornesfalten zu erkennen. »Nichts wirstdu werfen, du armselige Steppenlaus! Wir haben getan,was du gewünscht hast.«

55

Der Dogmusher von Bojobæski_51-60_Der Dogmusher von Bojobæski 28.10.09 12:54 Seite 55

Page 56: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Der Dogmusher fing an, sich wild im Gras herumzu-wälzen, um die Lassoschlinge zu lockern. Keine Chance,Britta ließ nicht locker. »Habt ihr nicht«, presste Mikkelzwischen den Zähnen hervor.

»Doch!« »Ich wollte Mytsi, meine Nichte.«»Du hast das Mädchen, das du auf dem Foto eingekreist

hast.« Britta zog das Lasso strammer.Der bezwungene Löwe ließ ein gefährliches Knurren hö-

ren. »Von Kidnapping war keine Rede. Ich habe nur ge-sagt, ihr sollt sie mir bringen, und ihre Familie darf esnicht mitkriegen. Jetzt habt ihr ein Problem!«

»Ich heiße nicht Mytsi«, sagte da die Kleine, die immernoch gefesselt im Gras lag.

»Nicht?« Arne zog das Gruppenfoto aus der Jackentasche.»Ist etwas unscharf«, stellte Britta fest. »Wie heißt du

denn?«, fragte sie die junge Samin.»M…Merle Raaki«, antwortete sie zögernd. »Mein Vater

ist der Bürgermeister von Kautokeino.«»Waaaas?« Arne und Britta sahen sich an. Dann starr-

ten sie auf Mikkel. »Kennst du deine eigene Nichte nichtmehr?«

Mikkel schluckte. »Na ja, i…ich habe sie zum letztenMal gesehen, als sie vier Jahre alt war.«

»In zehn Jahren kann sich ein Kleinkind erheblich ver-ändern«, brauste Arne auf. »Du hast schlichtweg die Fal-sche eingekreist!«

»Binden Sie mich jetzt los?«, fragte Merle.»Mich auch!«, sagte Mikkel zerknirscht. Arne fing an, an Merles Fesseln zu zupfen. Britta ließ

den Dogmusher aus der Schlinge. Verlegen rieb er sichdie Oberarme. Als die junge Samin ihre Freiheit wieder-hatte, zeigte sie auf das Gruppenfoto. »Darf ich mal se-hen?« Arne reichte es ihr. Kurz darauf meinte die Kleine:»Mytsi Jakobson steht in der dritten Reihe ganz links. Sieist meine Freundin. Im Sommer hilft sie ihrer Mutter amStand, der ganz vorn am Nordkap-Parkplatz steht.«

56

Der Dogmusher von Bojobæski_51-60_Der Dogmusher von Bojobæski 28.10.09 12:54 Seite 56

Page 57: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Mikkel, der Dogmusher von Bojobæski, erhob sichschwerfällig. »Pass auf, Püppchen. Das Ganze ist ein irrekomisches Missverständnis. Weißt du, seit Jahren hau-sen wir allein auf dem Vidda, mein Husky-Kennel* undich. Niemand sonst lässt sich blicken. Mein Bruder warschon zehn Jahre nicht mehr da. Deshalb habe ich ge-dacht, wenn ich erstmal Mytsi bei mir habe, dann …grrr, ich brauche auch mal ein wenig Gesellschaft!«

Merle nickte verständnisvoll. »Wir Samen haben es nichtleicht auf dem Vidda. Fast alle kämpfen irgendwie gegendie Einsamkeit. Wenn die Touristen nicht kämen, sähenwir alt aus.«

»Pass auf, Püppchen«, fing der einsame Steppenwolfwieder an, »ich bring das wieder in Ordnung. Wenn duwillst, fahre ich dich heute Nacht noch zurück zum Nord-kap.«

Merle Raaki überlegte. »Ich will lieber nach Kautokeinozu meinem Vater. Der braucht mich dringender. Sie wis-sen ja, Herr Jakobson, dass die Karasjoker uns Rentieregestohlen haben.«

Arne und Britta sahen sich erschrocken an. Der Guidejedoch lächelte zum ersten Mal an diesem Tag. »Du kennstmich, Püppchen?«

Die junge Samin strahlte. »Alle Samen kennen MikkelJakobson, den Dogmusher von Bojobæski. Sie habenschon sechsmal den ›Finnmarksløpet‹ gewonnen. Wir Kau-tokeino-Samen sind stolz auf Sie.«

»Wow, Püppchen«, sagte Mikkel erfreut, »das hören dieOhren eines einsamen Steppenwolfes gerne.«

Merle lachte. »Ich wollte immer schon mal gern den be-rühmten Onkel meiner Freundin kennenlernen. Es wä-re furchtbar nett von Ihnen, wenn Sie mich nach Kauto-keino bringen könnten.«

Nun lachte auch Mikkel Jakobson. »Mach ich, Püpp-chen. Übrigens, sag ruhig Mikkel zu mir.«

»Gerne.« Merle strahlte über das ganze Gesicht. AuchArne und Britta fingen an, ein wenig zu schmunzeln.

57* Schlittenhunde-Gespann

Der Dogmusher von Bojobæski_51-60_Der Dogmusher von Bojobæski 28.10.09 12:54 Seite 57

Page 58: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Dann nimmst du meinen Bekannten den Irrtum nichtübel?«

»Wenn sie mir ’nen Abzug von dem Foto machen, wie ichauf dem Motorrad sitze, nicht«, grinste Merle.

»Und der Knebel?«»Schon vergessen!«»Wow, Püppchen. Du bist eine der Schärfsten. Mit dir

könnte man was anfangen.«Die anderen zogen sich zurück. Langsam legte sich die

Spannung. Arne fing an, die ›Suzi‹ zu verladen. Brittastreifte ihr die Abdeckplane über. Mit vielsagenden Blickenverabschiedeten sich die Kollegen der ›Båtten-Tours‹ vonihrem freien Mitarbeiter. Merle Raaki kletterte stolz in sei-nen parkenden Jeep. Dabei missachtete sie tapfer ihreblauen Flecken. Ein paar Minuten später arbeitete sichder schwere Jeep über ausgewaschene Hochlandwege indie endlose Weite Lapplands hinein. Schon bald ver-schwamm das graugrüne Fahrzeug in den Farben dermatt leuchtenden Mitternachtssonne.

»Die könnte uns gefährlich werden«, sagte Arne späterzu seiner Frau, als sie bei Lakselv den ›Porsangen‹ erreich-ten. »Sie kennt jetzt unseren ›Rentierschlitten‹!«

»Macht nichts«, erwiderte Britta. »Mikkel, diese armseli-ge Steppenlaus, hat ihr den Kopf verdreht. Er lässt sie maldie Huskys streicheln, und schon hat sie den Transpor-ter vergessen.«

»Hoffen wir das Beste«, sagte Arne nachdenklich. »ZuHause müssen wir unbedingt das Kanu wechseln.«

Merle schwebte auf Wolke sieben. Trotz der stundenlangenFahrt durch die Eintönigkeit des nordischen Hügellandeswar sie nicht müde. Im Gegenteil, so gesprächig und auf-gekratzt war sie seit Monaten nicht mehr gewesen. Siesaß neben Mikkel Jakobson, dem berühmten Onkel ihrerFreundin Mytsi! Na ja, Freundin stimmte vielleicht nichtganz … aber eventuell war es ein Vorteil, wenn Mikkeldas glaubte. Mikkel, der krasse Dogmusher von Bojobæs-

58

Der Dogmusher von Bojobæski_51-60_Der Dogmusher von Bojobæski 28.10.09 12:54 Seite 58

Page 59: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

ki, und Mari Aksla, die mit ihrer lauten Stimme den letz-ten ›Sami-Grand-Prix‹ gewonnen hatte, waren seit Lan-gem schon ihre Idole. Den Mik, wie ihn die Mädchen un-ter sich nannten, hatte sie bisher nur von Weitem gese-hen, beim Schlittenhunde-Rennen in Alta. Aber jetzt saßer leibhaftig neben ihr im Jeep. Welch ein Zufall! Merlewar selig.

»Wie viele Huskys hast du eigentlich, Mikkel?«, fragteMerle, als sie schon länger als eine Stunde unterwegswaren. Die junge Samin hielt sich die Hand über die Au-gen, weil die grelle Morgensonne jetzt direkt von vornedurch die Windschutzscheibe schien.

»Sechs Damen für die Zucht und achtzehn Herren fürdie Schlitten«, lachte Mikkel. Doch in der nächsten Se-kunde wurde seine Miene finster. »Moment mal … nee,seit gestern nur noch siebzehn … grrr, war mein stärks-ter Rüde.«

Merle senkte den Kopf. »Ist einer gestorben?«, fragte sieleise.

Mikkel nickte. »War zu warm. Huskys lieben Schneeund Kälte.«

»Hmm«, sagte die junge Samin mitfühlend, »wenn meinRuppi sterben würde, wäre ich auch traurig.«

»Wer ist denn das? Haste ’ne Vidda-Rennmaus ge-zähmt?«

»Nein«, lächelte die Bürgermeister-Tochter, »Ruppi istmein kleines Ren. Wir lassen uns am Nordkap immerzusammen fotografieren. Für drei Kronen.«

»Nicht schlecht, Püppchen«, grinste Mikkel. »Da ver-dienste dir bestimmt ’n schönes Taschengeld.«

»Ich kann nicht klagen.«Der Dogmusher musterte die kleine Samin aus den

Augenwinkeln. In ihrer Kautokeino-Tracht war die Klei-ne wirklich fotogen. »Steht dir gut, dein Silberschmuck«,meinte er nach einer Weile. »Haste aus Laras Silber-schmiede in Kautokeino, stimmt’s? Ich kenne das De-sign. Ist typisch für Lara.«

59

Der Dogmusher von Bojobæski_51-60_Der Dogmusher von Bojobæski 28.10.09 12:55 Seite 59

Page 60: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Merle sah verlegen auf ihre silbernen Armreife. »Wennich ehrlich sein soll, ich hab eigentlich noch nicht daraufgeachtet, wer der Hersteller ist.« Auf ihren Wangen er-schien eine leichte Röte.

Mikkel sah sie erstaunt an. »Trägst Schmuck aus derbekanntesten Silberschmiede Kautokeinos und weißt esnicht? Hat dir also dein Freund gekauft, oder?«

Merles Wangen wurden noch röter. »Nein, mein Bruder.«Mikkel pfiff durch die Zähne. »Alle Achtung! So ’nen Bru-

der, der mir solche Geschenke macht, hätte ich auch ger-ne«, sagte er anerkennend. »Aber meiner stellt nur Forde-rungen. Dabei sind wir doch Zwillingsbrüder!«

Merle Raaki rieb sich verlegen die Nase. »Na ja, h…hater ja eigentlich nicht gekauft.«

»Nicht?« Der Dogmusher horchte auf.»W…Wir haben da noch ’ne kleine Nebenerwerbsquelle«,

sagte Merle leise.»Verstehe«, schmunzelte der Steppenwolf. »Sonst kä-

men wir Hochland-Samen auch kaum über die Runden.Wirtschaftet dein flinkes Brüderchen in die eigene Tascheoder klaut er für andere?« Mikkel wich einer großen Pfüt-ze auf dem steinigen Hochlandweg aus.

Merle fing an zu schwitzen. »Bitte Mikkel, b…behalte esfür dich! Mein Vater w…will es so.«

»Aber Püppchen«, grinste der Guide, »wir sind doch guteFreunde, oder? Du kannst mir vertrauen. Ich bin ein ein-samer Steppenwolf und keine Plaudertasche. Gleich sindwir in Bojobæski, da zeig ich dir mal meine Husky-Welpenvom letzten Wurf, soll ich?«

»O ja«, lächelte Merle erleichtert. »Ich mag junge Hus-kys.« Bewundernd blickte sie den Dogmusher an. Der Mikwar einfach ein krasser Typ. Mit zwölf Hunden war er da-mals in Alta an ihr vorbeigerauscht – und hatte das Ren-nen schließlich gewonnen. Jetzt saß sie neben ihrem Idol,ganz dicht. Ein tolles Gefühl. Da tauchten einige Hüttenauf. Im grellen Morgenlicht hörte man Hundegebell.

»Sie müssen mal wieder laufen«, sagte Mikkel finster. »Im

60

Der Dogmusher von Bojobæski_51-60_Der Dogmusher von Bojobæski 28.10.09 12:55 Seite 60

Page 61: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Sommer rosten ihre Knochen ein. Oder sie krepieren so-gar. Wenn es nicht bald schneit … grrr, ich hasse denSommer!« Mikkel trat auf die Bremse. Mit blockierendenRädern und fliegenden Steinchen kam der Jeep vor sei-ner Hochlandbude zum Stehen. Merle sah sich erschro-cken um.

Mit Erdnussflips und Elchgeweih

Als Merle Raaki aus Kautokeino in der kleinen Fjellsied-lung Bojobæski ankam, weckte gerade ein bärtiger See-mann drei schlummernde Nordkap-Radler aus ihren Mor-genträumen. »Aufstehen, ihr Landratten! Wir haben ’nebeinharte Nacht hinter uns, und ich dachte, ihr hättetuns mal in Aktion erleben wollen. Stattdessen pennt ihrwie die Murmeltiere!«

Flavio steckte seine Italiener-Nase zum Schlafsack her-aus. »Morgen«, sagte er gähnend, »wünsche wohl ge-fischt zu haben, werter Herr Seemann.«

Der Fischer zeigte sein lückenhaftes Gebiss. »WerterHerr Seemann! Ha, ha, ha! Klingt gut, du Waldarbeiter.Du hast mir ja heute Nacht den halben Laderaum vollBrennholz gesägt. Es passten kaum noch Heringe dazu.«

»Wenn man mit Schnarchen Geld verdienen könnte,wäre mein Freund schon Millionär«, gähnte Børre. »Mor-gen allerseits.«

»In einer Viertelstunde legen wir an«, sagte der Fischerund verließ lachend die Kajüte. Die »Murmeltiere« und»Waldarbeiter« krabbelten aus ihren Schlafsäcken. Alsdie drei kurz darauf ihre Tourenräder auf den Kai hiev-ten, kam der Kutterkapitän mit einem flachen Päck-chen angelaufen, das in Zeitungspapier eingewickelt war.»Hier«, sagte er grinsend, »euer Abendbrot. Es sind zweigewürzte Seelachse. Schmecken am Lagerfeuer gebratenbesser als ’ne fette Weihnachtsgans.«

61

Mit Erdnussflipps und Elchgewei_61-70_Mit Erdnussflipps und Elchgewei 28.10.09 12:43 Seite

Page 62: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Flavio bedankte sich und klemmte die Fische hinter sei-nem Schlafsack auf dem Gepäckträger fest. »Vielen Dank,werter Herr Fischer, wir wissen das Ergebnis Ihrer bein-harten Arbeit sehr zu schätzen.«

Der Seebär winkte dem davonradelnden Trio lachendhinterher. »Werter Herr Fischer! Ha, ha, ha! Klingt gut. Bisdann, ihr Landratten. Und denkt daran … morgen schmecktder Lachs nicht mehr!«

Die Radler verschwanden zwischen den Häuserzeilen vonLakselv. Der Ort war nicht sehr groß und schnell war die-ser kleine Stützpunkt menschlicher Zivilisation durch-quert. Was nun folgte, war wieder Natur pur. Børre mach-te den Vorschlag, die ca. 30 Kilometer bis zu den Seen beiSkoganvarre zügig durchzufahren, um dort einen geeig-neten Lagerplatz zu suchen, wo sie den Nachmittag unddie Nacht verbringen könnten. Flavio meinte wieder ein-mal, dass er diesen Anfängerkurs auf einer Pedale ab-strampeln würde. Doch nach einigen Kilometern schonbemerkte er, dass diese Strecke einen Haken hatte: DiePiste führte ständig bergauf und weil der Gegenwind hin-unter in das Tal wollte, war die Geschichte doch nichtganz so easy, wie sich der smarte Italiener das gedachthatte. Auch Chiara stand mächtig unter Dampf. Doch er-staunlicherweise gelang es ihr, gerade noch im Wind-schatten Børres mitzuhalten. Nach 18 Kilometern müh-samen »Anfänger-Gegenwind-Bergauf-Kurses« hatten siees endlich geschafft. Jetzt folgte ein mehr oder wenigergewelltes Teilstück zur Entspannung. Børre ließ das Radlaufen. Vom letzten Fahrer hörte man ein lustiges Pfeifen.Die Sonne kam hinter den Wolken hervor und das Trek-king-Wetter wurde nahezu ideal. Børre und Chiara radel-ten nun nebeneinander. Weit und breit war kein Auto zusehen.

Plötzlich zog Chiara ihr Rad nach links, und Børre mach-te einen Schwenker zum rechten Fahrbahnrand. Zwi-schen den beiden tauchte etwas Schwarzes auf der Schot-terpiste auf. Børre drehte sich blitzschnell um, um einen

62

Mit Erdnussflipps und Elchgewei_61-70_Mit Erdnussflipps und Elchgewei 28.10.09 12:43 Seite

Page 63: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Warnruf von sich zu geben. Da blieb ihm das Wort imHals stecken. Aus Flavios Ohren hingen schwarze Kabelheraus und seine linke Hand hielt nicht etwa den Len-ker seines Tourenrades umschlossen, sondern eine ge-öffnete Erdnussflips-Tüte. Gerade löste er auch die rech-te Hand vom Lenker, um genüsslich in den gelben Wür-mersegen hineinzugreifen. Da war es schon passiert!Flavios Tourenrad machte den Abflug. Børre schloss dieAugen und ging auf die Bremse. Chiara stieß einen lau-ten Schrei aus und sprang von ihrem Fahrrad. Die Knieder kleinen Italienerin zitterten. Da hörte sie das ärger-liche Schimpfen ihres Bruders. »Hinten fahren ist jalebensgefährlich! Warum warnt mich denn keiner, wennÄste auf der Straße liegen?«

Børre sah sich suchend um. Sein Freund musste wohlhinter dem flachen Gebüsch einige Meter weiter rechtsliegen. Er kletterte über die weichen Moosflächen nebender Straße, bog die Zweige eines Strauches zur Seiteund blickte direkt in das zerkratzte Gesicht des gelan-deten Italieners. In der Hand hielt er unverdrossen seineErdnussflips-Tüte. »Bist du verletzt, Flavio?«

»Nee«, grinste Flavio, »die Straßenränder sind hier inder Finnmark gut gepolstert. Hat der Seelachs den Saltoüberlebt?« Umständlich zog sich Flavio die Stöpsel ausden Ohren.

Børre schluckte. »Glaube schon. Aber deine Tretmühlekannste wohl vergessen.« Børre packte den Gestürztenam Handgelenk und zog ihn aus dem Gebüsch hervor.Chiara nahm ein Taschentuch und tupfte vorsichtig aufFlavios Schrammen herum. »D…Das war ein d…dreifa-cher Salto«, stotterte sie noch ganz außer Atem.

»In der Schule habe ich nur einen halben geschafft«,antwortete Flavio trocken. Dann langte er in die Tütehinein und schob sich einige Flips in den Mund.

In Børre stieg der Zorn hoch. Plötzlich griff er nach derTüte, drehte sie um und verstreute die restlichen Flipsauf dem Moos. Dann zerknüllte er die Tüte und steckte

63

Mit Erdnussflipps und Elchgewei_61-70_Mit Erdnussflipps und Elchgewei 28.10.09 12:43 Seite

Page 64: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

sie wütend in die Tasche. »So’n Zeug kann man abendsam Lagerfeuer futtern«, sagte er streng. »Wahnsinn,auf ’ner Schotterpiste freihändig zu fahren! Haste wiederStau-nachrichten gehört?«

Flavio sah Børre groß an. »Staunachrichten? Dabei es-se ich nie Erdnussflips. Nur wenn ich ’ne Oper mit mei-nem Lieblings-Tenor Pavarotti höre. Ist gemütlicher.«

Børre schlug sich mit der rechten Hand vor die Brust.»Herz bleib stark! Du hörst dir so ’nen Müll an?«

»Sind doch meine Ohren, Børre-Bubi«, maulte Flavio.»Ich hör mir lieber ’nen italienischen Weltklasse-Tenor an,als so ’nen komischen Joik*, wie ihn die Samen trällern.«

Børre zog die Stirn in Falten. »Schon gut, schon gut.Jedem das Seine. Aber freihändig fahren ist lebensge-fährlich!«

»Ist ja noch mal gut gegangen«, mischte sich jetzt Chiaraein. »Los, wir holen Flavios Bike aus dem Graben.« Børresah sich nach dem Flugobjekt um. Flavio klopfte seineHose ab und schielte zur Straße hinüber. »Ich seh malnach der Abschussrampe«, sagte er grinsend.

»Da liegt der Fisch«, bemerkte Chiara. Børre hob das bepackte Tourenrad an. »Und wo ist der

Schlafsack?«»Auf dem Mond«, lachte Chiara.Da kam Flavio angelaufen. Seine Wangen glühten vor

Aufregung. »Seht mal, worüber mein Bike gestolpert ist!«Stolz hob er ein dunkles Teil hoch, das wie eine knorrigeAquarium-Dekoration aussah.

»Das ist ja ein Elchgeweih!«, staunte Børre. »Jedenfallseine Hälfte.«

»Ich nehme es als Souvenir mit!«, strahlte Flavio. »Wo-für so ein Fahrradsturz nicht alles gut ist. Wir wären acht-los daran vorbeigeradelt!«

Børre grinste. »Du warst so in deinen Weltklasse-Tenorvertieft, dass du wahrscheinlich auch ein Geweih mit Elchdarunter verpasst hättest.« Børre musterte Flavios Bike.»Die Reifen sind in Ordnung«, stellte er fest. »Auweia, die

64

* samischer Traditionsgesang

Mit Erdnussflipps und Elchgewei_61-70_Mit Erdnussflipps und Elchgewei 28.10.09 12:43 Seite

Page 65: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

65

Mit Erdnussflipps und Elchgewei_61-70_Mit Erdnussflipps und Elchgewei 28.10.09 12:43 Seite

Page 66: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

rechte Pedale ist futsch!« Børre kratzte sich am Kopf. »Ab-gebrochen. Jetzt kannst du den Rest der Tour tatsächlichauf einer Pedale abstrampeln!«

Flavio machte ein langes Gesicht. »Mist, wie soll das dennfunktionieren?«

»Darüber machen wir uns heute Nachmittag Gedanken«,bestimmte Børre. »Wir schlagen uns noch bis nach Sko-ganvarre durch und suchen uns ’nen schönen Übernach-tungsplatz am See. Alles Weitere später.«

»Hier ist der Schlafsack«, sagte Chiara in diesem Augen-blick. »Ich habe ihn gefunden.«

»Na, dann los! Auf die Pferde, Ladys and Gentlemen.«»Moment«, brummte Flavio. »Ich muss meine Sattelde-

cke noch gerade ziehen.«»Hast du den Fisch, Chiara?«, fragte Børre.»Hab ich.« »Und das Geweih?«»Logo«, antwortete Flavio. Børre nickte zufrieden. »Na, dann hü!«Fünf Minuten später hörten Børre und Chiara hinter

sich ein Stöhnen. »Hast du kein Seil mit, Børre?«»Nein. Warum?«»Du musst mich abschleppen«, jammerte Flavio. »Wenn

ich nur mit links trete, bekomme ich Muskelkater.«»Halt die Ohren steif, alter Nordkap-Apache. Zum See

ist es nicht mehr weit.«Tatsächlich tauchte nach zwei Kilometern ein idyllisch

gelegenes Gewässer auf. Sein flaches Ufer war teilweisemit Gebüsch bewachsen. Überall lagen dicke Felsbrockenherum. Die Sonne schien warm auf das Vidda herab.Børre stellte sein Rad ab und erkundete den Uferbereich.Nach einer Weile winkte er seine Freunde herbei. »DieseStelle ist ideal«, sagte er zufrieden. »Sie ist direkt am Was-ser und von der Straße nicht einzusehen.«

Flavio schob sein Tourenrad zu besagter Stelle und ließsich ins Gras fallen. »Mein rechtes Bein ist arbeitslos, unddas linke überlastet«, stöhnte er.

66

Mit Erdnussflipps und Elchgewei_61-70_Mit Erdnussflipps und Elchgewei 28.10.09 12:44 Seite

Page 67: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Da hilft nur eins«, erwiderte Børre trocken. »Geh malHolz für das Lagerfeuer suchen. Dafür brauchst du beideBeine. Ich seh mir inzwischen deinen defekten Steigbügelan.« Flavio erhob sich schwerfällig und schlug sich indie Büsche. Børre schlug nach einer Mücke. Dann be-sah er sich Flavios abgebrochene Pedale. Mit einer Kom-bizange drehte er das Endstück aus dem Gewinde. Su-per! Das Gewinde war unbeschädigt. Falls sich in Ka-rasjok also eine neue Pedale auftreiben ließ, war der Fallerledigt. Aber bis dahin musste ein Ersatz herbei. Børresah sich suchend um. Chiara hatte schon angefangen,Steine für die Lagerfeuerbegrenzung zusammenzulegen.Irgendwann kam Flavio angejoggt. Unter seinem linkenArm klemmte ein halber Kiefernwald. Mit der rechtenHand hob er strahlend ein ausgefallenes Wurzelstückhoch. »Der Ast ist die ideale Ergänzung zu meinem Sou-venir«, erklärte er gut gelaunt. »Jetzt habe ich ein voll-ständiges Elchgeweih, voll krass!«

Der Nachmittag verging wie im Flug. Die quirligen Trek-king-Radler genossen die Freiheit der weiten Hochflächewie drei Kälber, die nach dem langen Winter zum erstenMal auf die Weide gelassen werden. Børre sprang im Stun-dentakt in den kühlen Hochlandsee und Chiara suchteWaldbeeren. Flavio sorgte für eine gleichmäßige Arm-und Beinmuskelbelastung, indem er sich auf dem Rü-cken ins Gras legte und »Tretboot« fuhr. Danach veran-staltete er noch Kickboxen mit seinem zusammengeroll-ten Schlafsack und probte an immer dicker werdendenÄsten, die er mit den Enden auf zwei Steinbrocken legte,Karate.

Etwa zur gleichen Zeit kraulte 40 Kilometer westlich vonSkoganvarre ein fotogenes Samen-Mädchen zum letztenMal den Hals eines 8 Wochen alten Husky-Welpen. Ne-ben ihr stand Mikkel Jakobson und setzte sein krassesSteppenwolf-Lächeln auf. »Gefällt er dir, Püppchen?«

Merle strahlte. »Ja, der hier ist so süß.« Noch einmal

67

Mit Erdnussflipps und Elchgewei_61-70_Mit Erdnussflipps und Elchgewei 28.10.09 12:44 Seite

Page 68: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

nahm sie ihn auf den Arm und drückte das Fellbündel anihr Gesicht.

»Pass auf, Püppchen. Ich mach dir einen Vorschlag.«Der Dogmusher nahm Merle den Husky ab und kraulteihm das Fell. »Bevor wir gleich losfahren, tauschen wirnoch Andenken aus, ja? Das war nämlich ein toller Tagmit dir. Ich wünsche mir dein Silberarmband, und dubekommst dieses kleine Wollknäuel, willst du?« Lächelndstreckte Mikkel der Bürgermeister-Tochter den Husky ent-gegen.

Merle war hin und weg. »Wirklich?«»Würde mich freuen, Püppchen.«Merle Raaki streifte ihren Silberreifen vom Handgelenk.

»Hier, Mik, für dich.« Der Dogmusher von Bojobæski drückte der jungen Sa-

min den Husky in den Arm und nahm ihr Armband ent-gegen. »Jetzt sind wir so was Ähnliches wie Blutsbrüder«,grinste er. »Vergiss mich nicht, Püppchen, sonst … grrr,das war eine irre gute Verwechslung!« Merle sah den Guideirritiert an. Dann kletterte sie in seinen Jeep.

Am frühen Abend flackerte am See bei Skoganvarre einlustiges Lagerfeuer. Auf langen Ästen, die Børre von Zeitzu Zeit ersetzte, weil sie durchzubrechen drohten, brut-zelte ein dicker Porsangen-Lachs. Flavio lag mit einge-schaltetem MP3-Player im Gras und wackelte eigenartigmit dem Kopf. »Hörste wieder Pavarotti?«, fragte Børre,nachdem er ihn eine Weile beobachtet hatte.

Flavio zog einen Stöpsel aus dem Ohr und drehte einwenig den Kopf. »Wie bitte?«

»Pavarotti?«, wiederholte Børre fragend.Flavio schüttelte den Kopf. »Nee, Wetterbericht. Ich hab

ja schließlich keine Flips mehr.«»Dafür gibt’s jetzt Seelachs aus dem Porsangen«, sagte

Chiara und nahm den Fisch vom Feuer. »Hol ihm mal dieGräten raus, Flavio.«

»Ich?« Flavio sah auf seine Fingerspitzen.

68

Mit Erdnussflipps und Elchgewei_61-70_Mit Erdnussflipps und Elchgewei 28.10.09 12:44 Seite

Page 69: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Heißt hier sonst noch jemand Flavio?«, entgegnete Chi-ara spitz.

Flavio zog nun auch den anderen Stöpsel aus dem Ohrund schob die Kabel in die Tasche. »Ach ja, Børre, wasich noch fragen wollte, ist eigentlich mein Bike wiederfit?«

Chiara verdrehte ihre braunen Augen und entferntemit geschickten Händen selber die Gräten. Der Seelachsschmeckte vorzüglich. Der beinharte Fischer verstandetwas vom Würzen. Nachdem der Fisch in den Mägender hungrigen Radler verschwunden war, legte Børrenoch einmal Holz auf das Lagerfeuer. Die Sonne standschon tief über dem See und reflektierte das rötlicheAbendlicht. Über dem ruhigen Wasser tanzten die Mü-cken. Flavio war der Erste, der schließlich müde in sei-nen Schlafsack kroch. Børre zog seine Taschenbibel ausdem Gepäck und las die Geschichte Abrahams zu Ende.Über dem See wurde es still. Nur ab und zu hörte mandas Knistern des Feuers. Eine dünne Rauchfahne stiegin den Nachthimmel empor. Und dann fing Flavio wiederan, »Brennholz zu sägen«. Børre stieß ihn in die Seite.»Mach die ›Motorsäge‹ aus. Das geht hier auf dem Viddanicht!« In diesem Moment heulte irgendwo ein tierischesWesen los. Flavio fuhr hoch. »Was war das?«, rief er er-schrocken. »Ein Wolf?«

»Schon möglich«, sagte Børre und blätterte in seinerBibel wieder eine Seite um.

»Gibt’s hier welche?«, fragte Flavio leise.»Mach dir nicht in die Hose«, flüsterte Chiara. »Wir ha-

ben ein Feuer an. Da kommen sie nicht.«»D…Das geht gleich aus, wenn wir schlafen.« In die-

sem Augenblick heulte es wieder. Die tierischen Lauteschallten schaurig durch die Dämmerung. Flavio bekameine Gänsehaut. Børre klappte seine Abendlektüre zu undschloss die Augen.

»Du, Børre?«»Was ist denn? Ich will schlafen.«

69

Mit Erdnussflipps und Elchgewei_61-70_Mit Erdnussflipps und Elchgewei 28.10.09 12:44 Seite

Page 70: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Greifen Wölfe Menschen auch im Sommer an?« Flaviosaß jetzt kerzengerade in seinem Schlafsack.

Børre verzog das Gesicht. »Ist mir nicht bekannt. Viel-leicht ist’s ja auch nur ein Polarfuchs.« Flavio erwidertenichts. Der blonde Norweger sah zum Himmel hoch. Hierund da konnte er ein schwaches Funkeln erkennen. Dahörte er ein leises Rascheln. Børre drehte sich um und be-merkte, dass Flavio langsam aus dem Schlafsack kroch.

»Wo willst du hin?«, fragte Børre argwöhnisch.»I…Ich hole nur mein Elchgeweih.«»Dein Elchgeweih?«Flavio druckste herum. »Ja, ich … ich meine … falls er

kommt, kriegt er was auf die R…Rübe.«»Schlaf endlich«, sagte Børre ärgerlich. »Oder steck die

Stöpsel in die Ohren und hör deinen Star-Tenor!«Flavio sagte nichts. Über dem Vidda wurde es mucks-

mäuschenstill. Nur ein leiser Windhauch strich über dieendlose Weite der Tundra. Da heulte es wieder und ausder Ferne kam eine leise Antwort. Plötzlich fuhr Børre hoch.Dort, wo Flavios Kickbox-Schlafsack gelegen hatte, erkann-te er ein eigenartiges Gebilde. Es waren offensichtlich dieUmrisse seines ängstlichen Freundes, der im Gras knieteund sich beide Enden eines Elchgeweihes an die Schläfendrückte. Dabei schnaubte er seltsam in die Nacht hinaus.Børre schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn.»Flavio? Was ist denn in dich gefahren?«

Der Schatten hörte auf zu schnaufen und drehte sichverlegen um. »Ich … Ich dachte … Ich habe mal gelesen,dass Wölfe sich vor Elchen fürchten, weil … weil sie mitihren Hufen mächtig austreten können.«

Børre holte tief Luft. Aber weil er die Freundschaft mitFlavio nicht weiter strapazieren wollte, hielt er den Mundund sparte sich eine Bemerkung. Und das war nach die-sem schönen Tag auch wohl das Beste, was er machenkonnte. Kurz darauf »sägte« Flavio so laut in die Nacht hin-ein, dass diesmal sämtliche Steppenwölfe der FinnmarkGrund hatten, sich zu fürchten.

70

Mit Erdnussflipps und Elchgewei_61-70_Mit Erdnussflipps und Elchgewei 28.10.09 12:44 Seite

Page 71: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Losertyp mit Lorbeerkranz

Mikkel Jakobson grübelte vor sich hin. Die dreistündi-ge Fahrt mit dem Jeep nach Kautokeino war immer eineeinzige Grübelei. Eigentlich bestand das ganze Leben nuraus Grübeln, Nachdenken und – na ja, und Arbeiten.Außer, wenn er mal irgendwo auf dem Siegertreppchenstand. Da konnte man auch mal lachen, den Zuschau-ern zuwinken und das Bad in der Menge genießen. Abersonst – das Püppchen auf dem Beifahrersitz schlief. Undder Husky-Welpe auf ihrem Schoß auch. Es war ein schö-nes, friedliches Bild. Gerne hätte er sich mit seiner Zu-falls-Bekanntschaft noch ein wenig unterhalten. Zufalls-Bekanntschaft – ja, eine irre gute Verwechslung – aberim Endeffekt hatte er wieder einmal versagt. Er hatte Myt-si haben wollen! Wenn er die Nichte in seiner Gewalt ge-habt hätte, dann hätte er seinen Bruder unter Drucksetzen können. Seinen Zwillingsbruder, der immer den›Big Boss‹ markierte, ihm, dem einsamen Steppenwolf, sei-nen Willen aufzwang und seinen Anteil am Gewinn nachBelieben veränderte. Mikkel war nur Guide, um nicht zusagen, Laufbursche, im »Unternehmen«. Mikka demütig-te ihn, wo er nur konnte. Von ihm stammte auch der Be-griff ›armselige Steppenlaus‹, den Britta irgendwann ein-mal aufgeschnappt und übernommen hatte.

Mikkel kratzte sich am Oberarm. Die roten Streifenvon Brittas Lasso konnte man immer noch sehen. Er hat-te es am Morgen bemerkt, als er sein Hemd anzog. Die-ses Wahnsinnsweib! Sie hatte ihn, den Hünen, zu Bodengeschleudert wie ein mageres Rindvieh von der ShilohRanch. Dass sie ihn zum Armdrücken herausforderte,war nur eine ihrer Gehässigkeiten. Grrr, Lasso-Jane! Da-mit hatte Nils, dieser Weichling, allerdings recht. DerSpitzname passte. Aber eines Tages würde er es ihnenbeweisen, allen! Er konnte mehr als nur Hunderennen

71

Losertyp mit Lorbeerkranz_71-78_Losertyp mit Lorbeerkranz 28.10.09 12:45 Seite 71

Page 72: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

gewinnen. Er würde keinen Chef über sich dulden undmehr sein als nur der Dogmusher von Bojobæski. Nilswar nicht das Problem. Der mit seiner Team-Philosophie!Er war auch nur ein Handlanger seines Zwillingsbruders,ein Warenlieferant, mehr nicht. Und das Püppchen …grrr, er würde sie eines Tages an seine Huskys verfüttern.Oder sie im Armdrücken kleinkriegen … vielleicht ihr ein-fach aus dem Wege gehen. Mal abwarten.

Mikkel sah erneut zu seiner Beifahrerin herüber. DieKleine war süß, wirklich fotogen. Mikkel seufzte. Das Püpp-chen himmelte ihn an, das spürte er. Aber das war ja nor-mal in diesem Alter. Die Samen-Mädchen dieser Alters-klasse rannten alle hinter ihm her und wollten Auto-gramme. Oder ein Bild. Aber er würde keins zu nahe kom-men lassen. Auch die älteren nicht. Niemals würde erseine Freiheit verschenken und heiraten! Sein Leben wa-ren die Hunde, und der Schnee, die unendliche Weite derTundra. Allerdings, mit dieser Verehrerin war er eine Art»Blutsbrüderschaft« eingegangen – aber das hatte ja einenganz bestimmten Grund. Mikkel griff in die Tasche undtastete nach dem silbernen Armreif. Klar war der aus La-ras Silberschmiede! Aber gekauft hatte ihn dort irgendeinTourist. Der Sohn des Bürgermeisters von Kautokeinoklaute. Mikkel schmunzelte. Mal sehen, ob man mit die-sem Wissen nicht was anfangen konnte. Aber zuerst muss-te er in die Silberschmiede. Zur Bestätigung. Alles Weiterewar Pipifax. Nein, nein, er konnte wirklich mehr als nurden ›Finnmarksløpet‹ gewinnen …

In der Ferne tauchten die ersten Holzhäuser der Samen-Hochburg Kautokeino auf. Locker verteilt standen die bun-ten Bauten an einer Biegung des breiten, zu dieser Jah-reszeit nur mäßig Wasser führenden Kautokeinoelva. DasStädtchen mit seinen wenig mehr als 3000 Einwohnernlag wie ausgestorben in der Abendsonne. Nur einige Tou-risten schlenderten am Fluss entlang. Einige angelten.Mikkel zupfte die kleine Schläferin am Ärmel: »Wach auf,Püppchen. Gleich bist du zu Hause.«

72

Losertyp mit Lorbeerkranz_71-78_Losertyp mit Lorbeerkranz 28.10.09 12:45 Seite 72

Page 73: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Merle sah sich verschlafen um und strich ihrem Wel-pen sanft über das Fell. »Willst du bei uns übernachten,Mikkel? Mein Vater würde sich bestimmt freuen.«

Der Guide kraulte seinen blonden Bart und grinste.»Das bezweifle ich, Püppchen. Nee, ich schlafe lieber imJeep. Mach ich immer so.«

»Du, Mikkel?«»Was haste denn?«»Was soll ich meinem Vater sagen, wenn er mich fragt,

wieso ich da bin? Die Wahrheit?«Der »Löwe« kratzte sich am Lockenkopf. »Hmmm, gute

Frage, Püppchen. Pass auf, ich glaube, es ist besser …sag einfach so, wie’s war. Und sag ihm, dass ich ihn mor-gen unbedingt sprechen muss. Ich warte um 9.00 Uhr inBodos Backshop auf ihn.«

Merle Raaki nickte. Zwei Minuten später hielt Mikkelvor ihrer Haustür. Fragend sah Merle ihn an: »Bekommeich noch ein Autogramm von dir, Mik?«

Der Dogmusher zeigte sein krasses Lächeln. »Du hastdoch einen Husky von mir, Püppchen. Der ist mehr wertals 100 Unterschriften.«

»Stimmt«, entgegnete die kleine Samin. Dann wurde sienachdenklich. »Du, Mikkel?«

»Was haste denn noch?«»Sagst du zum Abschied mal Merle zu mir? Nur ein

Mal. Bitte!«Der Dogmusher mit der Löwenmähne zog seine Stirn

in Falten. »Habe ich das noch nie gesagt, Püppchen? Istschön, dein Name. So, jetzt aber hinein ins Haus. Undwerde mir ein gutes Frauchen. Wie soll denn der kleineWuschelbär heißen?«

Merle öffnete die Tür. »Weiß ich noch nicht«, sagte sieleise. »Sehen wir uns mal wieder, Mik?«

Der Guide legte den Gang ein. »Komm zum nächstenHunderennen, Püppchen.« Merle schlug die Autotür zu.Der ›Finnmarksløpet-Winner‹ gab Gas. Über Merles Wan-ge kullerte eine Träne.

73

Losertyp mit Lorbeerkranz_71-78_Losertyp mit Lorbeerkranz 28.10.09 12:45 Seite 73

Page 74: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Kurz darauf klopfte Mikkel an der Hintertür zu LarasSilberschmiede. Es dauerte eine ganze Weile, bis er Schrit-te hörte und die Tür einen Spaltbreit geöffnet wurde. »Ichbin’s, Mikkel … der Jakobson vom Outback«, grinste er inden Spalt hinein. »Kannste mich mal kurz reinlassen, duSilbervogel? Ich hab nur eine Frage.«

Die Angeredete öffnete die Tür. Kurzes Palaver. Woherund wohin. Mikkel liebte es kurz. Dann zog der Guide denSilberreifen aus der Tasche. »Kennste den, Vögelchen?«

Lara warf nur einen flüchtigen Blick auf das Schmuck-stück. »Von mir«, sagte die Künstlerin. »Frühjahrskollek-tion 2009. War teuer.«

»Mehr wollte ich nicht wissen«, entgegnete Mikkel unddrehte sich zur Tür um. Lara hielt ihn am Arm fest. »Kannmich nicht erinnern, dass du ihn bei mir gekauft hast, duGeizkragen. Wäre ja auch ein Weltwunder, wenn du ’nerFrau mal ein Geschenk …«

»Papperlapapp«, fiel Mikkel ihr ins Wort. »Hab ich von demBürgermeister-Püppchen.«

Lara sah den Guide fragend an. »Von Merle? Die hat beimir auch nichts gekauft.«

»Eben«, nickte Mikkel. »Hat das Brüderchen ihr besorgt.So!« Der Husky-Züchter machte eine drehende Bewegungmit der Hand und ließ sie gleichzeitig in seiner Jacken-tasche verschwinden.

Laras Augen verfinsterten sich. »Der Raaki-Junior klaut?«»Im Auftrag des Vaters«, sagte Mikkel energisch. »Ich geh

der Sache mal nach.« »Nicht zu glauben«, antwortete die Silberdame und schüt-

telte ihr schulterlanges Haar. Mikkel ging zur Hintertür. »Behalt’s für dich, Vögelchen.

Geht vorerst niemanden was an, okay?«Die Silberschmuck-Herstellerin nickte schwach. Der Dog-

musher von Bojobæski verschwand im Hof.

Drei Minuten später klingelte beim Bürgermeister vonKautokeino das Telefon. Ascak Raaki nahm den Hörer ab.

74

Losertyp mit Lorbeerkranz_71-78_Losertyp mit Lorbeerkranz 28.10.09 12:45 Seite 74

Page 75: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Raaki. Bürgermeister von Sápmi-Land*. Womit kann ichzu so später Stunde noch dienen?«

»Hi, Ascak. Lara von der Schmiede. Kannste mal ’nenMoment ungestört reden?«

Der Bürgermeister von Kautokeino runzelte die Stirn.»Ist machbar, Moment.« Ascak nickte Merle zu. »Geh malGassi mit dem Hündchen.« Die unverhoffte Heimkehre-rin erhob sich.

»So, schieß los, Lara. Was gibt’s denn? … Ach, derMikkel war bei dir? … Mist, dann hat Merle geplaudert.Ich werde ihr den Hintern versohlen … Und jetzt? … Ja,er will mich morgen früh sprechen. Hat Merle schon ge-sagt … Wie? … Schweigegeld? Du meinst, er will micherpressen? Mist! … Hmmm, eigentlich traue ich ihm dasgar nicht zu. Sie hängen ihm zwar ab und zu ’ne Gold-medaille um, aber in Wirklichkeit ist er ein Versager …Ja, okay, das ist ein guter Vorschlag … Danke für dieWarnung, Lara … Wie? Na klar, wenn mal wieder wasSilbernes dabei ist, bekommst du’s zum Einschmelzen… Gute Nacht, Lara … Tschau!«

Ascak Raaki legte den Hörer auf. Ärgerlich zog er densilberverzierten Gürtel stramm, an dem sein langes Sa-men-Messer baumelte. Ascak war einer der wenigen Amts-träger von Kautokeino, der seine Tracht nicht nur zumsonntäglichen Kirchgang trug. »Na warte, Töchterchen,jetzt kannst du was erleben!«

Mikkel Jakobson wartete in Bodos Backshop vergeblich.Nachdem der Herr Bürgermeister nach einer Stunde im-mer noch nicht erschienen war, bezahlte er seinen Kaf-fee und räumte das Feld. Mikkel war ärgerlich. Die unter20-Jährigen, besonders die Mädchen, rannten ihm allehinterher, aber die Erwachsenen gingen ihm aus demWeg. So war das meistens. Der Bürgermeister würdebestimmt einen wichtigeren Termin vorschieben. Na gut,dann würde er ihm seine Forderungen eben schriftlichnachreichen. Mit gepfefferten Worten! Ohne Wenn und

75* so nennen die Samen ihre Heimat

Losertyp mit Lorbeerkranz_71-78_Losertyp mit Lorbeerkranz 28.10.09 12:45 Seite 75

Page 76: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

aber. Der Bürgermeister saß in der Zwickmühle undwürde zahlen, mit Sicherheit – wenn ihm sein Job alsStadtoberhaupt etwas wert war. Sollte er 20.000 oder50.000 Kronen fordern? Mal sehen. Er würde das spontanentscheiden. Mikkels Blick fiel auf eine Schaufensterschei-be. In dem Glas spiegelte sich seine blonde Löwenmähne.Der Dogmusher entschied, den Aufenthalt in der Zivilisa-tion noch mit einem Besuch in Hugos Haarsalon zu ver-binden. Der war nur drei Häuser weiter. Mikkel betrat dasGeschäft. Hinter der Kasse lächelte ihm eine kesse Bienezu: »Morgen, Mik. Na, lässt du mich heute mal an deinenLockenkopf ran?«

Der Dogmusher zog eine Grimasse. »Ruf mal den Chef,Mäuschen. Mein Lockenkopf bleibt ’ne Angelegenheit fürMänner.«

Die »Biene« machte ein schnippisches Gesicht und ver-schwand im Nebenzimmer. Kurz darauf erschien der Sa-loninhaber. Mikkel saß schon auf dem Frisierstuhl undsah ihn im Spiegel kommen. »Morgen, Mikkel. Na, wie geht’sdeinen Hunden?«

»Miserabel«, antwortete der Dogmusher. »Vorgestern istmir eins meiner Leittiere krepiert. Einfach so. Lag in derSonne und … grrr, war wirklich kein Heldentod!«

»Mist!« Der Friseurmeister griff betreten zu seinem Ra-sierapparat. »So wie jedes Jahr?«

Mikkel brummte. »Yeah, alles weg. Drei Millimeter.«»Den Bart auch?«»Nee, mach ich selber.«Der Haarschneider rasierte los. In drei Minuten war die

Matte weg. »Mein Rekord bei den Schafen liegt bei 1 Mi-nute 34 Sekunden«, grinste der Friseur.

Mikkel erhob sich und ging zur Kasse. Die »Biene« lä-chelte nicht mehr. »Die Locken standen dir besser, Mikkel.«

»Wen interessiert das«, antwortete der Kahlkopf. »MeineHuskys mögen mich auch so.«

Kurz darauf stand Mikkel auf der Straße. Mit der Handrieb er sich über seinen glatt rasierten Schädel. Dann trab-

76

Losertyp mit Lorbeerkranz_71-78_Losertyp mit Lorbeerkranz 28.10.09 12:45 Seite 76

Page 77: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

te er zu seinem Jeep zurück. In seinem Handschuhfachkramte er nach einem Kugelschreiber. Nach längerem Su-chen fand er nur einen Bleistiftstummel. Er klappte seinNotizbuch auf und fing an zu schreiben. Nach drei Sät-zen brach er ab und fing auf dem nächsten Blatt vonvorn an. Als er nach zehn Minuten immer noch nichtweitergekommen war, öffnete er wieder das Handschuh-fach. »Hab ich überhaupt einen Briefumschlag dabei?«,fragte er sich. Mikkel sah auf die Uhr. »Gleich muss icherst mal das Weichei vom Wohnmobil-Verleih anrufen.«Da klopfte es an die Autoscheibe. Neben dem Jeep standein etwa fünfzehnjähriges Samen-Mädchen. Mikkel kur-belte die Scheibe herunter. »Bekomme ich ein Autogrammvon dir, Mik?«

Der Dogmusher fuhr mit seiner Hand über seine Stop-pelfrisur. »Du erkennst mich, Püppchen? Ich war dochgerade beim Friseur.«

Die junge Dame lächelte: »Steht doch auf der Seiten-tür, Mik.«

Der haarlose Guide nickte. »Haste recht, Püppchen.«Er klappte sein Notizbuch auf und schmierte seine Un-terschrift hinein. Da brach beim letzten Buchstaben derBleistift ab. Mikkel riss die Seite heraus und reichte denZettel durch das Fenster. Die Kleine strahlte. Der Dog-musher kurbelte die Scheibe hoch. Dann stieg er ausund machte sich auf den Weg zum Postamt. Zurückblieb ein verdutztes Samen-Mädchen, das etwas irritiertauf einen Zettel in der Hand blickte. Darauf war zu lesen:

Sehr geerter Herr Bürgermeister!!!

Auf dem Vidda munkelt man, das Ihr sohn zum Klauenbefohlen wird, nähmlich von seinem eigenen Vater. Dafür

habe ich Beweise, die ich Ihnen zeigen kann. Wenn das inKautokeino keiner erfaren soll, dann …

Die junge Samin kratzte sich am Kopf und las die Zeilennoch einmal. Dann drehte sie den Zettel verlegen um.

77

Losertyp mit Lorbeerkranz_71-78_Losertyp mit Lorbeerkranz 28.10.09 12:45 Seite 77

Page 78: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Aha, da stand das Gewünschte! Mikkel hatte eine krasseHandschrift. Nachdenklich faltete sie das Blatt zusammenund schob es in die Tasche.

Unterdessen fand im Postamt von Kautokeino ein Telefo-nat mit einer Nummer in Tromsdalen statt. Der Mann amanderen Ende führte einen Wohnmobil-Verleih, an dessenHauswand ein lachender Elch gepinselt war.

»Hi, Nils! Mikkel hier.«»Hi, Mikkel, alter Steppenwolf. Wie geht’s deinen Hun-

den?«»Frag mal was anderes«, brummte der Guide. Nils Båtten stutzte. »Stimmt was nicht?«»Pass auf, du Möchtegern-Teamchef. Am besten lassen

sich momentan die Karasjok-Tiere einsammeln. Direkt ander E 06 bei Klemetstad. Schätze, dass sie dort noch ’nehalbe Woche am Viddagras nagen. Sag das deinem Schlit-tenfahrer mit der grünen Sonnenbrille. Wenn ihr euch be-eilt …«

»Wir nehmen zurzeit nur Kauto-Rentiere«, unterbrachNils den Guide. »Haste uns nichts an der E 47 anzubie-ten?«

Mikkel hustete in den Hörer. »Nee, warum?«»Die Kauto-Rener stehen gewöhnlich an der Hauptstra-

ße und halten die Daumen raus«, lachte Nils. »Da brau-chen wir nicht einmal ein Lasso.«

Der »geschorene Löwe« zog wieder einmal eine Grimasse.»Pass auf, Nils, wenn du mich vergackeiern willst, dann …grrr, ich such mir woanders einen Job!«

»Damit wäre dein Zwillingsbruder aber gar nicht einver-standen«, antwortete Nils Båtten mit warnendem Unter-ton. »Warum wolltest du übrigens seine Tochter ha…?«

»Wer hat dir das geflüstert?«, explodierte Mikkel. »DasPüppchen?«

»Ruhig Blut«, entgegnete Nils schnell. »Ist doch egal,wer. Wir sind ein Team und …«

»In einem Team sollten alle gleich bezahlt werden!«, wet-

78

Losertyp mit Lorbeerkranz_71-78_Losertyp mit Lorbeerkranz 28.10.09 12:45 Seite 78

Page 79: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

terte Mikkel in das Telefon. »Wenn ich nicht bald dieNachzahlung kriege, steig ich aus.«

»Na gut, Mikkel, ich werde beim Boss mal ein Wörtchenfür dich einlegen«, sagte Nils.

Der Dogmusher kochte. »Vielleicht ist Mikka dein Boss,aber nicht meiner!«

»Sag ihm das mal, Mikkel. Ich halte mich da raus. Fürmich ist dein Zwillingsbruder ein exzellenter Geschäfts-partner.«

»Und ich bin für ihn der letzte Dreck! Sein Laufbursche,sein … grrr, er ist nur sieben Minuten älter als ich!«

Der Wohnmobil-Verleiher am anderen Ende der Leitungseufzte. »Pass auf, du Steppenwolf. Bald wird es wiederWinter. Da kannste wieder Rennen fahren und Lorbeer-kränze gewinnen. Ist das nichts?«

Mikkel atmete tief aus. »Yeah – Winter! Wenn es nichtbald schneit … grrr, mein bestes Leittier ist krepiert!«

Nils horchte auf. »Tut mir leid, Mikkel. Sag mal, wiegeht’s denn den Welpen vom Mai ...?«

Die beiden Männer schwatzten noch eine ganze Weile.Nils war wirklich Meister im Schönwetter-Reden. Zehn Mi-nuten später saß Mikkel wieder im Jeep und nahm denBleistift zur Hand. »Mist, der war ja abgebrochen!« DerDogmusher warf den Stummel zum Fenster heraus undsah auf die Uhr. »Noch tanken, und dann los«, brummteer. »Dann bekommt der Bürgermeister den Brief eben beider nächsten Gelegenheit …«

Radlerglück und Reisepech

Als Mikkel Jakobson noch in Bodos Backshop seinenKaffee schlürfte, lud ein unausgeschlafener Forschersohnbei Skoganvarre ein Elchgeweih auf sein Fahrrad. Als Er-satz für seine abgebrochene Pedale steckte ein Ast in demdafür vorgesehenen Gewinde. Flavio besah sich das Pro-

79

Radlerglück und Reisepech_79-88_Radlerglück und Reisepech 28.10.09 12:40 Seite 79

Page 80: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

visorium mit skeptischem Blick. »Das soll halten?«, kriti-sierte er den Reparaturversuch seines Freundes.

»Ich übernehme keine Garantie«, antwortete Børre. »Imschlimmsten Fall musst du die letzten 48 Kilometer bisKarasjok schieben.«

»Tolle Wurst«, maulte Flavio. »Das sind ja hervorragen-de Tagesprognosen.«

»Ich freu mich schon auf Yana«, warf Chiara ein undschwang sich auf den Sattel.

»Auf ins Land der sternförmigen Fahrradhelme«, grins-te Børre.

Flavio zog sein Lammfell gerade. »Ich wünschte, ich wärschon da.«

»Die Etappe ist nur unwesentlich länger als die Muskel-aufbau-Tour von letzter Woche«, stellte Børre sachlich fest.

»Aber heute ist es wesentlich kühler«, meinte Chiara. Das Radlertrio setzte sich in Bewegung. Børre vorn,

Chiara in der Mitte und Flavio mit seinem Elchgeweihhinten. Alles in gewohnter Reihenfolge. Die Ersatzpedaleaus Holz hielt exakt drei Kilometer. Genauer gesagt, biszum nächsten Anstieg, wo Flavio kräftiger treten musste,um mithalten zu können. »Tolle Wurst«, brummte Flavio.»Hab ich ja kommen sehn. Abgebrochen.«

»48 Kilometer geteilt durch drei macht nur sechzehn Äs-te«, meinte der nüchterne Norweger. »Vielleicht halten eini-ge ja auch länger als nur drei Kilometer.«

Flavio sah Børre fragend an. »Sechzehn Äste? Wo soll ichdie denn hernehmen? Da bräuchten wir eine Säge.«

»Haben wir nicht«, stimmte Børre zu. »Fahr also mit einerPedale weiter.«

»Dann bekomme ich noch mehr Muskelkater«, entgegne-te Flavio mit jammervollem Gesicht.

Børre überlegte. »Wir könnten alle zehn Kilometer dieSeite wechseln. Dann schrauben wir die Pedale um.«

»Dann kommen wir heute nie mehr an«, bemerkte Chiaraaltklug.

»Kannst du mir nicht eine von deinen Pedalen borgen?«,

80

Radlerglück und Reisepech_79-88_Radlerglück und Reisepech 28.10.09 12:40 Seite 80

Page 81: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

fragte Flavio unverhofft. Sehnsüchtig starrte er auf Bør-res Trekking-Rad.

Børre sah seinen Freund groß an. »Meine?«»Ich weiß was«, rief Chiara jetzt. »Wir tauschen unsere

Pedalen im fliegenden Wechsel. Jeder muss ’ne halbeStunde auf einem Bein radeln. Das wäre gerecht.«

»Na ja«, meinte Børre kopfschüttelnd, »dann wären wirauch pausenlos am Schrauben.«

»Hauptsache, es geht überhaupt mal weiter«, sagte dieschwarzhaarige Italienerin. »Wir diskutieren hier schonfünf Minuten.«

»Ohne Erdbeereis läuft gar nichts«, maulte Flavio. »Wisstihr was? Ich warte hier!«

Børre verdrehte die Augen. »Worauf? Hier fährt keinLinienbus!«

»Vielleicht nimmt mich ’n freundlicher Lappe mit.«»Ich hab’s geahnt!«, lächelte Chiara spöttisch. »Du gibst

auf halber Strecke auf.«»Nee, erst ganz am Ende.«»Genau genommen sind wir erst 72 Kilometer mit dem

Rad gefahren«, sagte Børre nun. »Den ganzen ›Porsangen‹waren wir auf dem Schiff. Trekking-Tour kann man zudiesem Kindergarten-Ausflug wohl nicht mehr sagen.«

»Ich kann doch nichts dafür«, brummte Flavio.»Doch!«, entgegnete Børre verstimmt. »Man fährt in die-

ser Gegend nicht freihändig. Erst recht nicht, um Erd-nussflips zu futtern!«

Flavio sah betreten zu Boden. Dann hob er langsamden Kopf. »Fahrt allein weiter. Los, haut ab!«

Børre sah Flavio bestürzt an. »Nein!« »Ich pfeife auf eure Gesellschaft.«»Wir bleiben zusammen«, sagte Chiara entrüstet.Der Südländer setzte sich an den Straßenrand und

verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich fahre keinenMeter mehr. Mit euch nicht!«

Børre schluckte. »Mit meinem Rad auch nicht?«Flavio hob die Augenbrauen. »Wie? Was?«

81

Radlerglück und Reisepech_79-88_Radlerglück und Reisepech 28.10.09 12:40 Seite 81

Page 82: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Wir tauschen einfach unsere Fahrräder«, bot Børre groß-zügig an. »Dann sparen wir uns auch die umständlicheSchrauberei mit der Pedale.«

Flavio rieb sich das Kinn. »Originelle Idee«, meinte erschließlich. »Könnte von mir sein.«

»Also fährst du mit uns?«»Klaro«, grinste der Sizilianer. »Mach mal deinen Sattel

etwas niedriger.«Ein paar Minuten später war das Trio endlich wieder

unterwegs. Nur die Reihenfolge hatte sich geändert. Fla-vio fuhr vorn. In seinen Ohren steckten schwarze Stöpsel.Børre biss die Zähne zusammen. Das Treten auf einemBein kostete wirklich viel Kraft. Jedes Mal, wenn nach ei-ner halben Umdrehung die Pedale unten stand, zog Børredas Teil mit den Zehenspitzen wieder nach oben. Derblonde Norweger freute sich über jeden Hügel, nach dem erdas Fahrrad einfach rollen lassen konnte. Nach einigerZeit bemerkte Chiara, die mit Børre auf einer Höhe blieb,große Schweißflecken auf seinem T-Shirt. »Geht’s einiger-maßen?«, fragte sie ihn von der Seite.

Børre grinste. »Das Lammfell ist schön weich, aber dasElchgeweih ist ziemlich schwer.«

Unterdessen wurde der Abstand zwischen Flavio undden beiden anderen immer größer. Der junge Italiener wa-ckelte eigenartig mit dem Kopf und schien wieder einmalin seinen ›Pavarotti‹ oder sonstige Weltklasse-Tenöre ver-sunken zu sein. Vielleicht faszinierten ihn auch der Wet-terbericht oder die Staunachrichten. Jedenfalls, was hinterihm vorging, schien nicht mehr im Bereich seiner Wahr-nehmungsfähigkeit zu sein. Endlich ließ Børre sein Radan einem Hang ausrollen und stieg ab. »Ich brauch maleine Pause«, pustete er. »Haben wir noch Butterkekse?«

Chiara stellte ihre Gepäckträgertasche auf den Kopf.»Hier«, sagte sie schließlich und setzte sich neben Børre indas Gras. Ihr Bruder war inzwischen hinter einer Hügel-kuppe verschwunden. Børre massierte sich den linkenOberschenkel und machte einige Dehnübungen. Dann griff

82

Radlerglück und Reisepech_79-88_Radlerglück und Reisepech 28.10.09 12:40 Seite 82

Page 83: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

er nach Flavios Fahrradflasche. »Leer«, stellte er fest. Ent-täuscht drehte er die Plastikflasche um und ließ den Restdes Inhalts auf das Moos tropfen.

»Nimm meine«, sagte Chiara. »Da ist noch Früchteteedrin.« Børre nickte dankbar und legte sich nach einigenSchlucken in die weiche Grasfläche. Gedankenvoll starr-te er in den blauen Finnmarks-Himmel.

Keine zwei Kilometer von den beiden müden Radfahrernentfernt näherte sich ein 6-Personen-Ducato mit einerverbeulten Tür. Die Gattin des weißhaarigen Fahrers mach-te ein sorgenvolles Gesicht. »Erst bleiben wir im Tunnelhängen, dann will die Kiste nicht von der Autofähre her-unter. Wenn wir auch noch in dieser Einöde liegen blei-ben, muss ich meine Dosis Beruhigungspillen verdop-peln, Eddy!«

Der Angesprochene nickte. »Die Rappelkiste gehört aufden Schrottplatz, ich weiß, Erna. Ich habe mich von die-sem Nils Båtten einwickeln lassen. Sein Humor gehörtzu seiner Verkaufstaktik!«

»Deine Spürnase war mal besser, Eddy. Seitdem duRentner bist, hat dein kriminologisches Gehirn krasseAussetzer.«

»Danke, Schätzchen! Dein Nervenkostüm war auch nochbesser, als du in Amt und Würden warst! Hast damalsden ›Bingo-Boss‹ zur Strecke gebracht, als wenn es nurein kleiner Hinterhof-Ganove gewesen wäre. Und heut-zutage geht dir schon die Sause, wenn wir mal ’nen mo-bilen Urlaub in Lappland machen!«

»Ja früher«, seufzte die Agenten-Gattin Erna, »das wa-ren noch Zeiten! Da hat mir ’n kleiner Schusswechselnichts ausgemacht, aber heute …«

»… machen wir Urlaub«, ergänzte der weißhaarige Ed-dy. »Wir genießen die Ruhe, die Nordkap-Sonne …«

»… und die Wohnmobil-Romantik«, fügte Erna zynischhinzu. »Dieser Båtten lügt. Ich wiederhole es zum hun-dertsten Mal: Ein Abfluss riecht nicht nach Kuhstall!«

83

Radlerglück und Reisepech_79-88_Radlerglück und Reisepech 28.10.09 12:40 Seite 83

Page 84: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Stimmt«, erwiderte der Rentner Ericson, »und das Po-wer-Mobil mit dem Kanu auf dem Dach gehört ihm auch.Mit Sicherheit! Kein hausfremder Wohnmobil-Fahrer öffnetso selbstverständlich Rolltore. Wenn’s wirklich ein unbe-kannter Tourist gewesen wäre, hätten die Angestellten der›Båtten-Tours‹ das Tor geöffnet.«

»Genau, Eddylein. So gefällt mir deine Hirnaktivitätschon besser. Nils wollte so tun, als ob er mit dem Riesen-Mobil nichts zu tun hat. Ich sag dir’s, mit dem Teil stimmtwas nicht! Der Kerl hat sich in derselben Weise verdäch-tig gemacht wie damals der Juwelen-Joe aus der Oslo-Szene.«

»Mir egal«, gähnte Eddy. »Ich bin Rentner.«Die Wangen der Ericson-Gattin fingen an zu glühen.

»Wir sollten in der Karre mal ’ne Wanze liegen lassen unddem lustigen Nils ein bisschen auf die Finger klopfen.«

Der Senior schüttelte leicht den Kopf. »Sag bloß, du hastdie Dinger mit in den Urlaub genommen!«

Erna rieb sich die Hände. »Wanzen kann man überallgebrauchen! Ich klebe eine in den Aschenbecher.«

»Nein, wirst du nicht, Schätzchen!«»Nicht? Warum?«»Wir sind Rentner. Sagte ich doch.«»I wo! Ein bisschen schnüffeln darf man auch noch mit

fast siebzig.«Eddy Ericson verzog den Mund. »Aber nicht im Urlaub.«»Schade!«, lenkte die Agenten-Omi ein. »Wäre mal ’ne klei-

ne Abwechslung in dieser Mondlandschaft gewesen.«»Du schluckst schon genug Beruhigungspillen, Erna.

Mehr ist wirklich nicht mehr drin.« Die Gattin des Weißhaarigen starrte enttäuscht auf die

Fahrbahn. Weit und breit war kein weiteres Fahrzeug zuentdecken. Die Einöde war menschenleer – nein, was wardas? Dort vorn saßen ja zwei Jugendliche am Straßenrand!So ganz allein? Das konnte nichts Gutes bedeuten! »Siehstdu die beiden?«, fragte sie ihren Mann. »Halt mal an. Diehaben bestimmt einen Platten.«

84

Radlerglück und Reisepech_79-88_Radlerglück und Reisepech 28.10.09 12:40 Seite 84

Page 85: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Eddy Ericson bremste. Schon kurbelte Erna die Schei-be herunter. »Na, ihr beiden. Ihr seht ja aus wie Hänselund Gretel. Habt ihr euch verirrt?«

»Nee«, grinste Børre. »Pedal-Probleme.«Erna musterte die beiden Fahrräder. Dann nickte sie

verständnisvoll. »Sieht nicht gut aus«, meinte sie nach-denklich. »Was meinst du, Eddy, sollen wir sie bis Ka-rasjok mitnehmen?«

»Ist nicht nötig«, antwortete Børre schnell und standauf. »Wir schaffen das schon.«

Da fiel ihm Chiara ins Wort. »Wir sind aus Tromsø undmöchten in Karasjok eine Freundin von mir besuchen.Sie heißt Yana Laska und ist die Tochter des Bürger-meisters. Wenn Sie uns mitnehmen könnten, hätten wirein Problem weniger.«

Herr Ericson war schon ausgestiegen und öffnete dieSeitentür des Wohnmobils. Wir hätten noch Platz fürvier Personen«, schmunzelte er. Dann packte er ChiarasRad und schob es in den Ducato hinein. Ehe Børre peil-te, wie ihnen geschah, waren die beiden Fahrräder indem Wohnmobil verstaut. Inklusive Elchgeweih. Børrefing an zu stottern. »Wir … wir … eigentlich …«

»Nichts eigentlich!«, sagte der Senior streng und pack-te Børre am Arm. »Hinein mit euch. Ihr seid von zu Hau-se weggelaufen, stimmt’s? Ein Teenie und ’ne kleineMieze allein auf dem Vidda! Das rafft mein pensioniertesAgentenhirn noch, dass da was faul ist!«

Børre entgegnete nichts. Mitgenommen zu werden, wareigentlich nicht verkehrt, da hatte Chiara schon recht.Wenigstens ein Stück. Børre dachte an Flavio. Der hatteeigentlich auch eine Lektion verdient. Kurz darauf saßenzwei müde Radfahrer in einem 6-Personen-Ducato undklapperten mit verdächtigen Motorgeräuschen über dieE 06 nach Süden. Da tauchte in der Ferne ein einsamerRadler auf. Als ihn der Ducato überholte, zogen Børreund Chiara kichernd die Köpfe ein. Der schwarzhaarigeBursche sah noch nicht einmal auf. Sein Blick wirkte ein

85

Radlerglück und Reisepech_79-88_Radlerglück und Reisepech 28.10.09 12:40 Seite 85

Page 86: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

wenig verklärt und aus seinen Ohren ragten lange Kabelheraus. Nach einigen Kilometern hielt der inzwischen gutinformierte Senior an einem dichten Gebüsch an. »Hier«,lächelte er, »die Stelle ist gut. Und bis nach Karasjok sindes auch nur noch zwölf Kilometer. Wär schön, wenn wiruns bald mal wiedersähen.«

Børre hievte die Bikes aus dem Ducato und verabschie-dete sich. »Vielen Dank, Herr Ericson. Sie haben uns sehrgeholfen. Und wie gesagt … den Rest strample ich aufeiner Pedale ab!«

Das verbeulte Wohnmobil dieselte mit stinkenden Aus-puffgasen davon. Børre und Chiara schlugen sich in dieBüsche. »Er darf uns erst im letzten Moment entdecken«,grinste Børre. Chiara nickte und legte ihr Bike hinter ei-nem Strauch in das Gras. Børre blickte die gut einsehba-re Straße entlang. Die Minuten vergingen. Schließlichmeinte Chiara aufgeregt: »Und wenn er sich doch malumgedreht hat, Børre?«

»Dann wird er sich an den Straßenrand setzen und war-ten. Wenn er also in zehn Minuten nicht hier ist, habenwir Pech … Achtung, das ist er!« Børre zog sich hinter dasGebüsch zurück. »Wenn er nur noch 20 Meter entferntist, wirfst du den Ast auf die Straße, okay?« Chiara strichihre schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht und nick-te. Ihre Wangen glühten vor Spannung.

Während also hinter einem Gebüsch heimliche Vorkeh-rungen für einen Überfall getroffen wurden, setzten dieBerliner Philharmoniker per MP3 gerade zum letzten Satzdes Oratoriums* an. Flavio war hin und weg. Die Klänge,die durch das schwarze Kabel in seine Ohren drangen,waren einfach atemberaubend. Der radelnde Südländer warbesonders von der 2. Geige angetan. Ob seine tränendenAugen eine Folge des Fahrtwindes waren oder ob dieserfeuchte Gemütszustand von der Klangfülle des Orches-ters herrührte, war schwierig auszumachen. Jedenfallsflog in diesem Moment ein knorriger Ast in seine Andachthinein. Flavio sah erschrocken auf. Was war das? Wo war

86

* eine bibelbezogene Operette in mehreren Teilen

Radlerglück und Reisepech_79-88_Radlerglück und Reisepech 28.10.09 12:40 Seite 86

Page 87: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

er überhaupt? Wie in Trance ging er auf die Bremse undsah sich um. Wo war Børre? Wo war seine SchwesterChiara? Hastig zog er sich die Stöpsel aus den Ohren.War der Ast einfach vom Himmel gefallen? Da hörte ervon rechts ein wütendes Schnauben. Flavios Augen wei-teten sich. Auf seiner Stirn erschienen Schweißperlen.Dort, keine fünf Meter entfernt, hockte ein menschen-ähnliches Wesen mit einem Elchgeweih im Gras. Dakonnte sich der schnaubende »Elch« nicht mehr beherr-schen und brach in ein schallendes Gelächter aus. Fla-vio ließ Børres Trekking-Rad fallen. Seine Knie zitterten.Da huschte eine schlanke Südländerin heran, schlangdie Arme um Flavios Hals und drückte ihm einen wohl-tuenden Schmatzer auf die nasse Wange.

»W…Wo k…kommt ihr denn h…her«, stotterte Flaviound wischte sich über die Stirn. Børre ließ das Elchge-weih fallen und sprang prustend auf den bleichen Ka-meraden zu. »Hi, Flavio, wo bleibst du denn so lange?«

Der junge Italiener ließ sich ins Gras plumpsen. »I…Ihr wart doch g…gerade noch hinter mir.«

»Das war gestern«, feixte Børre. »Mann, Flavio, kommmal wieder zur Besinnung!«

Es dauerte eine ganze Weile, bis Flavio sich halbwegserholt hatte. Børre klärte seinen Freund auf. Chiara ver-teilte weitere Küsschen. »Das kommt davon, wenn mannur mit sich selber beschäftigt ist«, sagte sie sanft.

»War ich doch gar nicht«, flüsterte Flavio. »Wirklichnicht.« Langsam legte sich sein Zittern.

»Nicht? Womit denn?«Flavio schluckte. »Mit … mit der Schöpfung.«»Mit der Sch…Schöpfung? Sag bloß, du hast von bun-

ten Schmetterlingen geträumt!« Børre sah Flavio ver-ständnislos an.

»Nee, n…nicht gerade davon.«Børre wurde ungeduldig. »Wovon denn?«»Ich hab mir die ›Schöpfung‹ von Joseph H…Haydn an-

gehört. Ich glaub, da spielt sogar ’ne Stradivari* mit.«

87

* eine der wertvollsten Geigen der Welt

Radlerglück und Reisepech_79-88_Radlerglück und Reisepech 28.10.09 12:40 Seite 87

Page 88: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Børre fuhr sich mit den Fingern in seine blonden Lo-cken. Doch ehe er reagieren konnte, sagte Chiara schnell:»Sei still, Børre. Kein unüberlegtes Wort mehr, bitte! DerTag war hart genug.«

Børre atmete tief aus und sah die kleine Italienerin er-staunt an. Dann nickte er kaum merklich mit dem Kopf.»Voll der g’scheite Input, Miss Italia. Ehrlich.«

Die wiedervereinten Freunde richteten ihre Drahtesel aufund setzten sich langsam in Bewegung. Børre hatte sichwortlos den »Esel« mit dem Lammfell-Sattel geschnappt.Flavio hatte nichts dagegen und fuhr zum ersten Mal aufihrer Tour in der Mitte. Ohne Stöpsel. Sein Gesicht warnachdenklich. Chiara dachte an Yana. Das Ziel war greif-bar nahe. Nur noch wenige Kilometer und dann hatten siees geschafft. Da sah das Trio den Ducato. Mit hochgeklapp-ter Motorhaube. Das Teil qualmte wie ein verbrannterToast. Ein weißhaariger Senior stand mit einem Feuer-löscher daneben. Vorsichtshalber. Als die drei stehen blie-ben, sagte der Senior: »Wenn ich keine weißen Haare hät-te, bekäme ich jetzt graue. Das war’s. Der Motor ist hin-über. Jetzt kann sich Nils was einfallen lassen. Wenn ihrin Karasjok ankommt, schickt uns bitte ein Taxi oder soetwas Ähnliches, okay?« Børre nickte. »Selbstverständlich!Ich sag meinem Vater Bescheid, Herr Ericson. Der lässtniemanden auf der Strecke liegen.« Der Weißhaarige lä-chelte matt und hob dankend die Hand. Seine Gattin kram-te in einer Tasche herum und suchte Beruhigungspillen.

Katerstimmung in Karasjok

Die Häuser der Kleinstadt Karasjok verteilten sich am Uferdes ›Karasjokka‹ ohne erkennbaren Ortskern. Wenngleichauch kein bauliches Zentrum auszumachen war, war dieStadt doch unbestritten das wichtigste samische Kultur-zentrum der Finnmark. Ari Laska, Bürgermeister und Ab-

88

Radlerglück und Reisepech_79-88_Radlerglück und Reisepech 28.10.09 12:40 Seite 88

Page 89: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

geordneter des ›Sameting‹, des Parlaments der Samen,war besonders stolz auf die ortsansässige Schule, in derauch Rentierzucht gelehrt wurde. Überhaupt hielt manhier große Stücke auf die samische Tradition, gab einesamische Zeitung heraus und betrieb eine eigene Rund-funk- und Fernsehstation. Auch ein Museum gab es inKarasjok. Ja, man konnte als Stadtoberhaupt wirklichstolz auf die samischen Errungenschaften sein. Doch indiesem Moment war Ari Laska in seiner Tracht alles an-dere als stolz. Er war wütend. Mit Schwung knallte erden Telefonhörer auf die Gabel und ging in die Küche.Seine Frau sah ihn fragend an. »Wer war das?«

»Da hört doch alles auf!«, gab Ari Laska lautstark vonsich. »Der Raaki hat ’ne Macke.«

»Ascak Raaki? Dein Kollege aus Kautokeino?«Ihr Mann nickte. »Wie kommt er dazu, so etwas zu be-

haupten?«»Was behauptet er denn?« Vimme Laska legte das Schäl-

messer auf den Küchentisch.»Wir Karasjoker klauen angeblikk Rentiere!«»Wie bitte?«Der Bürgermeister schluckte und griff zu seinem Sa-

mendolch. »Den Kautos fehlen mehr als 30 Rener. DenLeuten aus Mázi mindestens 12, und den Vesterdalen-Sami angeblikk 28. Ascak selbst sind zwei seiner bestenZuchthengste gestohlen worden.«

»Ja und? Was haben wir damit zu tun?« Die Hausfrauzog ein Taschentuch aus ihrem Rock.

Ari Laska ging nun in der Küche auf und ab. »Sie ha-ben eine Karasjok-Mütze auf seiner Koppel gefunden undhaben angeblikk Zeugen!«

Vimme schniefte in das Taschentuch. »Zeugen?«»Ja, Mikkel, den Dogmusher von Bojobæski.«»So, so … der.«Der Karasjok-Bürgermeister blieb am Fenster stehen.

»Raaki will uns die Polizei auf den Hals hetzen.«Mama Laska zuckte mit den Schultern. »Rentiere steh-

89

Katerstimmung in Karasjok_89_100_Katerstimmung in Karasjok 28.10.09 12:48 Seite 89

Page 90: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

len würde ikk nur dem Gerre zutrauen. Hängt in denKneipen herum und schießt mit seiner Flinte durch dieGegend.«

»Hör auf, Vimme!« Ihr Mann fuhr herum. »Es wird nochniemand verdächtigt, ist das klar? Das wollen die Kau-tos doch nur. Wir wissen doch, dass sie uns nicht grünsind und das Wasser reichen können. Seitdem wir den›Sami-Grand-Prix‹ und die ›Snowscooter Championship‹für uns entschieden haben, sind sie neidisch auf uns.«

Mama Laska nahm wieder das Schälmesser zur Hand.»Was nun, Ari-Schatzi?«

»Abwarten«, sagte der Bürgermeister bestimmt. »Entwe-der kommt die Polizei oder sie kommt nicht. Karasjok-Mützen kann man überall kaufen und überall liegen las-sen.«

In diesem Augenblick stürmte Yana in die Küche. »Siekommen! Chiara ist da! Ikk werde ihnen einen würdigenEmpfang bereiten.« Die Eltern sahen sich an undschmunzelten. »Ja, mach das, Yana. So, wie sich das füreine gute Karasjok-Samin gehört.« Yana rannte in denFlur zurück und setzte sich ihre sternförmige Trachten-Mütze auf. Kurz darauf hörte man im Hausflur ein selt-sames Trällern. »Sie empfängt ihre Gäste mit einem Be-grüßungs-Joik«, stellte Mama Laska zufrieden fest. Dannhörte man laute Stimmen. Die Tür flog auf und Yanabetrat die Küche. An ihre bunte Mütze drückte sie einElchgeweih. »Seht mal, was Flavio gefunden hat«, kicher-te sie in einer sonderbaren Stimmlage. »Hu, hu. Ikk binder Elk von Samilu!« Die Ankömmlinge standen etwasverlegen hinter ihr. Endlich bequemte sich Yana, dieFreunde ihren Eltern vorzustellen.

»Herzlikk willkommen in Karasjok, der Kulturhaupt-stadt von Sápmi«, begrüßte sie der Bürgermeister in sei-ner Kofter. Dann wandte er sich an Børre. »Du bist alsoBørre Ålsen. Deinen Vater kenn ikk ja schon. Wir habenuns mal unterhalten – über Gott und die Welt. Ist ’nganz netter Mensch. Wüsste aber nicht, dass ich jemals

90

Katerstimmung in Karasjok_89_100_Katerstimmung in Karasjok 28.10.09 12:48 Seite 90

Page 91: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

einem Italiener die Hände geschüttelt hätte.« Der würdi-ge Same blickte in die braunen Augen der sizilianischenGeschwister.

»Danke für die Einladung«, tönte Flavio los. »Wüsstenicht, dass ich schon mal ’nem Bürgermeister mit ’nemMesser im Gürtel die Hand geschüttelt hätte. Macht sichgut, Herr Laska. Wo ist die Suite, wo ich mein müdesHaupt hinlegen kann?«

Der Bürgermeister lächelte. »Meine Frau wird die ita-lienischen Gäste in ihre Gemächer einführen. Bitte ent-schuldigt mich, ikk habe noch eine amtlikke Verpflichtungbei der örtlikken Zeitung.« Das Kleinstadt-Oberhaupt ver-beugte sich leicht. Dann fror das Lächeln auf seinemGesicht ein. Ari Laska verließ mit eiligen Schritten dieStube. Seine Frau schleppte kühle Erfrischungsgetränkeherbei. Nach einem flüchtigen Plausch gingen Flaviound Chiara nach draußen und entluden ihre Bikes.

Børres Eltern waren schon vor zwei Tagen in Karasjokangekommen. Sie wohnten immer bei dem alten KikiManski, der vor Jahren bei einem Wohnungsbrand sei-nen rechten Arm verloren hatte. Durch dieses tragischeErlebnis aufgewühlt, hatte er schließlich Freds Gott ken-nen und auf ihn vertrauen gelernt. Seitdem lud er denBiolehrer immer wieder ein, bei ihm Station zu machen.Es war ein einfaches Quartier, aber die Ålsens fühltensich bei ihm pudelwohl. Vorhin waren Børre und dieBrusco-Kinder eingetrudelt. Na ja, die Tour war zwar et-was anders verlaufen als geplant, aber egal. Den dreienhatte sie Spaß gemacht. Beim Entladen seines Rades hat-te Børre den Ducato erwähnt und ihn gebeten, die Un-glücklichen abzuholen. Na klar, wenn man irgendwo hel-fen konnte, musste man hin. Fred hatte seinen Camping-bus gestartet, während Børre Flavio und Chiara zu Ya-nas Eltern begleitete. Er traf den weißhaarigen Ericsoninmitten eines Kleiderberges an, den seine nervös wir-kende Gattin schon am Straßenrand aufgestapelt hatte.

91

Katerstimmung in Karasjok_89_100_Katerstimmung in Karasjok 28.10.09 12:48 Seite 91

Page 92: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Fred stopfte die beiden Rentner mit ihrer Freizeitaus-rüstung ohne viel Federlesens in seinen Campingbus undstartete in Richtung ›Norkap-Hotel‹, Karasjok. Erna sahsich verstohlen um. »Du meine Güte, Herr Ålsen! Ichfürchte, Ihr Büschen macht’s auch nicht mehr lange.«

»Das dachte ich vor fünf Jahren auch schon mal«, lach-te Fred. »Aber jedes Mal, wenn ich glaubte, es sei so weit,gab Gott ihm noch ’ne Gnadenfrist.«

Die Agenten-Gattin rümpfte die Nase. »Der Scherz wargut, Herr Ålsen. Um unseren Ducato jedenfalls hat Gottsich nicht geschert. Zum Teufel mit dem lustigen Nils!Er hat garantiert gewusst, dass diese Kiste ihren Geistbald aufgeben würde.«

Freds Miene verdüsterte sich. »Mit Gott und dem Teu-fel mache ich keine Scherze, Frau Ericson.«

»Nicht? Aber ich dachte … äh, Eddy, weißt du zufällig,wo ich meine Beruhigungspillen hingepackt habe?«

»Nee, Schätzchen. Brauchste welche?«»Na, na«, meinte Fred jetzt ein wenig heiterer. »Ist’s so

schlimm, Frau Ericson? Der Motor läuft noch wie ge-schmiert. Wir kommen bestimmt sicher ans Ziel.«

Eddy lächelte den Fahrer von der Seite an. »Früher hatmeine Frau Fluchtautos gerammt und Straßensperreneingerichtet, aber heute braucht sie schon Pillen, wennmal der Keilriemen quietscht. Ja, ja, man wird alt. Abernett von Ihnen, dass Sie uns aus der Patsche helfen,Herr Ålsen.«

»Ich helfe gern«, sagte Fred. »Und außerdem … wennich mal auf der Strecke liegen bleiben sollte – ich wäreja auch froh, wenn mir jemand … Moment mal.« DasGetriebe des VW-Busses machte ein schleifendes Ge-räusch. Fred beugte sich vor und fing an, mit der rech-ten Hand an einer der Pedalen zu zerren. »So, wieder al-les okay.« Der Samen-Missionar richtete sich auf. »Abund zu hakt schon mal das Kupplungspedal.«

Erna Ericson tastete nach ihrem Herzen. »Ich räumdie Klamotten nicht noch mal um, Eddy.«

92

Katerstimmung in Karasjok_89_100_Katerstimmung in Karasjok 28.10.09 12:48 Seite 92

Page 93: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Bitte, Schätzchen!« Eddy drehte sich zu seiner Frauum. »Hör doch mit diesem Katzengejammer auf.«

Frau Ericson seufzte. »Pannen gehören einfach nichtins Urlaubsprogramm.«

»Wanzen auch nicht«, konterte der Rentner. »Lässt du mich gleich wenigstens mit dem Gauner vom

Wohnmobil-Verleih telefonieren, Eddy? Ich meine … so’nkleines Verhör würde mir bestimmt guttun.«

Jetzt seufzte auch der Senior Ericson. »Von mir aus,Erna. Wenn’s dich beruhigt …«

Eine halbe Stunde später saß eine pensionierte Agen-ten-Gattin in einem Hotelzimmer in Karasjok und war-tete darauf, dass in einer Sackgasse in Tromsdalen derTelefonhörer abgenommen wurde. Das mehrmalige Tu-ten in der Leitung ließ ein gewisses Kribbeln im Bauchder Seniorin entstehen. Da ertönte die Stimme des lusti-gen Nils. Offensichtlich war ein Anrufbeantworter akti-viert: Liebe Wohnmobil-Freunde! Da zurzeit alle Fahrzeu-ge, die uns zur Verfügung stehen, on tour sind, gestattenSie uns bitte eine wohlverdiente Geschäftspause von Frei-tag, dem blabla blabla …« Erna knallte den Hörer auf dieGabel. »Ausgeflogen! Tippe auf ’nen Flug in den sonnigenSüden, Teneriffa, oder so. Na, dann eben nicht, alterGauner!«

»Keiner da?«, fragte Eddy.»Nee, Betriebsferien. Nachdem er uns seine letzte Kiste

vermietet hat, hat er den Laden einfach zugemacht.«Eddy zog eine Grimasse. »Na bravo! Pannen und Re-

klamationen sind offensichtlich Fremdwörter für ihn.« Erna atmete heftig. »Siehste, Eddy! Pannen gehören ein-

fach nicht ins Urlaubsprogramm … Hmm, möchte trotz-dem wissen, was Nils momentan so treibt.«

»Ist mir egal«, antwortete der Senior gereizt. »Ich binRentner. Ich möchte, dass du ...«

»Langeweiler!«, brummte Erna. »Im Urlaub ist einfachnichts mehr mit dir anzufangen. Sollen wir abbrechenund nach Hause fahren?«

93

Katerstimmung in Karasjok_89_100_Katerstimmung in Karasjok 28.10.09 12:48 Seite 93

Page 94: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Eddy Ericson schüttelte sein weißes Haupt. »Ich find’sschön hier. Nette Kleinstadt. Schön ruhig …«

Erna verdrehte die Augen. »Ich wette, dass es hier nochnicht einmal ein Kino gibt, wo man sich mal ’nen Bond-Film reinziehen kann!«

»Ein Glück!« Eddy legte die Füße hoch und schaute ausdem Fenster. »So, und jetzt ist Schluss mit dem Katzen-gejammer. Morgen lassen wir den Ducato abschleppenund dann sehen wir weiter.« Er nahm eine Zeitung zurHand und fing an zu lesen. Erna räumte die Regenjackenin den Schrank.

Am nächsten Morgen trafen sich Børre und Flavio nachdem Frühstück und machten sich auf den Weg zu ›MattisMotorshop‹. »Der hat bestimmt auch Fahrradpedalen«,meinte Yana etwas unsicher. »Jedenfalls steht auf seinerFirmenwerbung in der Zeitung immer ›motors and more‹.Die Jungs schlurften also hin. Sie fanden den Laden di-rekt neben einer Tankstelle. Auf die Frage Børres erwi-derte ein spindeldürrer Boy mit einem ölverschmiertenGesicht: »Ham wa nich! Könn wa abba bestelln.«

»Und wie lange dauert das?«, fragte Børre.»Hmm«, machte der lange Boy in seinem Blaumann,

»wie lange seita denn hier? Die ›Hurtigruten‹ schippannich so schnell.«

Flavio kratzte sich am Kopf. »Was, Pedalen werden hierper Schiff geliefert? Das ist ja ein dicker Tintenfisch!«

»Is abba so. Von Trondheim bis Hammafest mitn Schiffund von da bis hier mitte Flaschenpost.« Der Boy zogsein ölverschmiertes Gesicht breit.

»Gibt’s hier keinen Bike-Shop, der Pedalen auf Lagerhat?«, fragte Børre.

Der Lange schüttelte den Kopf. »Fahrräder gehn hiernich. Wir fahn ’n halbes Jahr Snoscuuter und ’n halbesJahr Mopped. Wozu solln wa uns da so was lagern?«

Børre und Flavio hatten genug gehört. Sie gaben dieBestellung auf und verließen das Geschäft. Auf der Stra-

94

Katerstimmung in Karasjok_89_100_Katerstimmung in Karasjok 28.10.09 12:48 Seite 94

Page 95: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

ße schlenderte gerade ein ungepflegter Mittfünfziger vor-bei, der zwei Plastiktüten trug. Offensichtlich hatte ersoeben die Tankstelle verlassen, denn da ging in diesemMoment die Ladentür auf und der Kassierer brüllte:»Komm sofort zurück, du Dieb! Gib die Flaschen her.«Der Mittfünfziger wurde schneller. Da ging auf der ge-genüberliegenden Straßenseite noch eine Tür auf. Herrund Frau Ericson verließen gut ausgeschlafen das Hotelzum Morgenspaziergang. Das Gebrüll aus der Tankstelleerreichte die Ohren der Agenten-Gattin. Sie schaltete so-fort und ehe ihr Mann sie aufhalten konnte, flitzte sielos. Børre hielt den Atem an. Mann, war die Omi schnell!In diesem Augenblick erwischte sie den Kragen des un-gepflegten Tütenträgers. Da entdeckte sie die beidenJungs. »Was steht ihr da so rum wie die Ölgötzen!«, riefsie. »Helft mir mal.« Doch da war auch schon der Tank-wart zur Stelle. Soeben traf auch ein weißhaariger Rent-ner an dem Ort des Geschehens ein. In seiner Handschwenkte er ein Döschen mit Beruhigungspillen. »Lassdas, Erna, wir haben doch Urlaub!«

Der Tankwart nahm dem Mann die Tüten ab. »Machdas nicht noch mal, Gerre! Beim nächsten Mal zeig ichdich an. Alter Gauner! Bestimmt klauste auch die Rensder Kautos!«

Der Gestellte drehte sich schwerfällig um. »Ich? Ren-tiere klauen? Sag das noch mal, du Dieseldepp, du Tank-stellenreporter. Ich hol meine Flinte und …«

»Bitte beruhigen Sie sich, meine Herren«, sagte EddyEricson beschwichtigend.

Seine Frau spitzte die Ohren. »Den Samen in Kauto-keino werden Rentiere gestohlen? Wer behauptet das?«Mittlerweile war der Flaschendieb von etlichen Passantenumstellt. Børre zählte schon fünf Personen.

»Steht in der Zeitung«, erwiderte der Tankwart undstellte die Plastiktüten zwischen seinen Füßen ab. »DerBürgermeister hat ’nen Anruf von den Kautos bekommen.Sie beschuldigen uns, dass wir ihnen Rentiere stehlen.«

95

Katerstimmung in Karasjok_89_100_Katerstimmung in Karasjok 28.10.09 12:48 Seite 95

Page 96: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Waaaas?«, brauste einer der Umstehenden auf. »Wir?Stehlen? Die Karasjoker sind die ehrlichsten Menschenin ganz Lappland! Unerhört!«

»Frechheit!«, sagte eine dicke Samin. »Die haben wohlnoch nicht verdaut, dass Pulle schneller mit dem Scoo-ter war, was?«

Erna zog einen Notizblock aus der Tasche. »Sehr inter-essant, Herr Tankwart. Fassen Sie bitte noch einmal zu-sammen …«

Eddy Ericson räusperte sich. »Wir wollten einen Spa-ziergang machen, Erna.« In diesem Moment verschwandein ungepflegter Mittfünfziger hinter der nächsten Haus-ecke. In seinen Händen trug er zwei Plastiktüten. »Prost,Leute!«, grinste Gerre und steppte gut gelaunt davon.

Unterdessen erreichten Yana und ihre italienische Freun-din eine Rentierkoppel am Ortsrand von Karasjok. Zahl-reiche Ställe aus roh zusammengezimmerten Bohlen um-gaben den Pferch. Nur wenige Tiere grasten auf der Wei-de. Yana stieß einen seltsamen Zungenschnalzer aus.Ein Rentier hob augenblicklich die Lauscher. »Das istAbrico!«, sagte Yana stolz und zeigte mit dem Finger aufdas herantrabende Ren.

»Wow!«, rief Chiara erstaunt. »Das ist ja schneeweiß!«»Ja«, sagte Yana mit erhobener Stimme, »Abrico ist ein

Albino-Hengst. Eine absolute Seltenheit.« Die kleine Ren-tierbesitzerin streckte die Hand aus und strich dem Tierüber die Nüstern. Chiara berührte vorsichtig das mäch-tige Geweih.

»Abrico ist sehr lieb«, strahlte Yana. »Aber auch sehrstark. Ikk habe mit ihm schon dreimal das Rentierschlit-ten-Rennen in Kautokeino gewonnen.«

»Ich weiß«, nickte Chiara. »Und deshalb hast du eineFeindin.«

»Eine Feindin? Ikk?« Yana bekam große Augen. »Ja, ich habe sie am Nordkap kennengelernt.«»Wen?«

96

Katerstimmung in Karasjok_89_100_Katerstimmung in Karasjok 28.10.09 12:48 Seite 96

Page 97: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

97

Katerstimmung in Karasjok_89_100_Katerstimmung in Karasjok 28.10.09 12:48 Seite 97

Page 98: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Die Tochter des Bürgermeisters von Kautokeino.« Chi-ara kletterte auf den Querbalken der Umzäunung undsetzte sich.

Yana hob die Augenbrauen. »Merle?«»Keine Ahnung. Ihren Namen hat sie mir nicht verra-

ten.«Chiaras Klassenkameradin senkte nachdenklich den

Kopf. Schließlich sagte sie leise: »Merle hat auch einenHengst. Trotzdem hat sie keine Chance, weil er nicht hört.Andauernd bricht er aus.«

Chiara nickte verständnisvoll. »Sag mal, Yana«, fragtesie nach einer Weile, »würdest du Merle auch als Feindinbezeichnen?«

Yana überlegte. »Sie hat mir ja nichts getan.«»Merle ist stocksauer und will dich unbedingt im Lasso-

werfen schlagen.«»Das ist kein Kunststück. Lassowerfen kann ikk nicht

gut.«Chiara setzte noch einmal an. »Und wenn sie dich als

Rentierdieb bezeichnen würde?«»Bin ikk nicht.«»Hmm«, machte die junge Italienerin nun, »du reagierst

eigentlich wie eine richtige Christin.«»Ikk? Wieso?«»Die Christen sollen ihre Feinde lieben.«Yana klopfte Abrico den Hals. »Ikk habe keine Feinde.«Chiara sprang vom Zaun herunter. »Das freut mich, Ya-

na. Also ist das nur Merles Problem. Sie ist neidisch. Lasssie doch beim nächsten Rennen mal gewinnen. Vielleichtlegt sich dann ihr Hass.«

Yana sah Chiara groß an. »Sie gewinnen lassen? Ein-fach so?«

»Ja, warum denn nicht. Wenn man auf diese Weise eineneue Freundin bekommen könnte …«

»Pah, kein Interesse«, sagte Yana. »Die Kautos sind Kon-kurrenten. Rennen sind zum Gewinnen da. Und so langeikk Abrico habe, werde ikk gewinnen!«

98

Katerstimmung in Karasjok_89_100_Katerstimmung in Karasjok 28.10.09 12:48 Seite 98

Page 99: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

In diesem Augenblick klingelte bei einem anderen Ge-winner das Handy. Dieser Siegertyp spannte keine Ren-tiere vor den Schlitten, sondern Huskys. »Hi, Mikkel, alteSteppenlaus!«

Der Dogmusher von Bojobæski schluckte. »Hi. Dassdu mich mal anrufst. Hat Nils dich mal angesprochen …äh, wegen der Knete?«

»Welche Knete, Brüderchen?«»Na, die Nachzahlung eben.«»Ach so. Ja, da ist leider was dazwischengekommen.«Mikkel stöhnte auf. »Schon wieder? Ich brauch unbe-

dingt neue Piepen. Die Huskys lassen sich im Momentschlecht verkaufen … grrr, es ist einfach zu heiß drau-ßen. Was ist denn jetzt schon wieder dazwischengekom-men?«

»’Ne Nachricht von meiner Tochter, alte Steppenlaus.«Mikkel ließ sich auf den Stuhl plumpsen. »Von Mytsi?

Was hat die denn mit der Nachzahlung zu tun?«»Sie behauptet, du habest sie entführen wollen.«Auf der Stirn des Guide entstanden kleine Schweiß-

perlen. »Mytsi entführen? Wer hat ihr das gefl…?«»Pass auf, du armselige Steppenlaus«, donnerte Mik-

ka los. »Machen wir’s kurz! Mytsi hat ’nen Anruf gekriegtvon einer gewissen Merle Raaki, Tochter des B-Meistersvon Kautokeino. Die beiden kennen sich gut. Na, klin-gelt was in deinem Kasten, Brüderchen?«

Mikkel schwitzte wie ein Beduine vor dem Kachelofen.»N…Nee, eigentlich n…nicht.«

»Na gut«, zischte Mikkels Zwillingsbruder, »machen wir’snoch kürzer. Du wolltest Mytsi entführen, um mich un-ter Druck zu setzen, ich bin doch nicht blöd. Zu däm-lich, die Verwechslung. Pass auf, du armselige Steppen-laus! Dafür streiche ich dir kurzerhand die Nachzah-lung. Ich warne dich, Brüderchen! Wenn du aus der Rei-he tanzt, lass ich dich auf dem Vidda verhungern, istdas klar? … Mikkel? … Bist du noch dran?«

»J…Ja, B…Boss.«

99

Katerstimmung in Karasjok_89_100_Katerstimmung in Karasjok 28.10.09 12:48 Seite 99

Page 100: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Mikka knurrte jetzt wie ein Hund. Nach einer nochma-ligen Drohung drückte er abrupt die Ausschalttaste.

Es dauerte lange, bis Mikkel sein Handy in die Tascheschob. Er war weiß wie eine Wand, von einem Ausrastermeilenweit entfernt. »Boss« hatte er gesagt! Nur langsamwurde er sich der Tragweite dieses Anrufs bewusst. SeinZwillingsbruder hatte wieder einmal einen Weg gefunden,das Geld, das er diesmal so dringend benötigte, nicht her-ausrücken zu müssen. Das war das Ende. Sein finanziel-les jedenfalls. Ächzend erhob er sich vom Stuhl und schrittauf eine verblichene Anrichte zu. Mikkel zog die mittlereSchublade heraus. Seine Hände zitterten. Unter einemBlätterstapel lag sie. Es war eine ›Walther P99 Compact‹.Ein Schuss in die Schläfe, oder … sein Blick wanderte zurStubenwand. Da hingen die Siegerurkunden – wertlosesPapier, das auch kein Geld einbrachte. Mikkel schloss dieSchublade und zog sein Portemonnaie aus der Tasche.Müde ließ er die wenigen Scheine durch die Finger glei-ten. 350 Kronen. Das reichte gerade einmal für zwei Tank-füllungen Sprit. Und ein paar Tafeln Schokolade. Viel-leicht. Mikkel schlurfte nach nebenan. Hier bewahrte erdie Lebensmittel auf, die kühl gelagert werden mussten.Nun gut, verhungern würde er nicht so schnell. Patronenfür sein Jagdgewehr hatte er auch noch genug. Streich-hölzer. Salz. Mikkel schloss die Tür und blickte aus demFenster. Die Sonne stand tief über dem Horizont. Gold-gelb. Er war eigentlich noch zu jung, um sein Leben zubeenden. 38 Jahre. Viel zu früh. Mikkel Jakobson schlichin die Küche und kochte sich einen Fencheltee.

Verliererneid in ›Sápmi-Land‹

Ascak Raaki schloss stirnrunzelnd die Haustür und gingin die Küche zurück. Am hölzernen Tisch saß Merle undschnitt sich eine Scheibe von der Rentiersalami ab. »Das

100

Katerstimmung in Karasjok_89_100_Katerstimmung in Karasjok 28.10.09 12:48 Seite 100

Page 101: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

war Per Petterson, der Tierarzt.« Merle erwiderte nichts.Seitdem ihr Vater ihr nach Laras Anruf eine saftige Ohr-feige verpasst hatte, sprach sie mit ihm nur das Nötigste.»Sein Bruder hat angerufen. Der Pit von Storslett.«

Merle biss in ihr Salamibrot. »Ja und?«»Auf den Sommerweiden in der Nähe der E 47 ver-

schwinden immer mehr Tiere.«»Ja und«, sagte Merle wieder. Der Bürgermeister sah seine Tochter ernst an. »Da

läuft irgendwas in größerem Stil. Mehrere Züchter kla-gen über Verluste. Aber keiner kann sich erklären, wiedie Karasjoker das machen. Donner, Blitz und Rentier-pest!« Der Bürgermeister haute mit der flachen Hand aufdie Tischplatte. »Es müssen aber Karasjoker gewesen sein!Mikkel hat sie doch gesehen!«

»Karasjoker sind gemeine Diebe!«, presste Merle jetzthervor. »Mit Sicherheit. Und Angeber, Hochstapler, arro-gant. Man müsste ihnen mal ’ne Lektion erteilen. Unddem Laska-Töchterchen auch. Ich werde sie auf jedenFall im Lassowerfen schlagen.«

Merles Vater kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zu-sammen. »Jedenfalls muss ich jetzt an die Küste. PerPetterson hat mir ausgerichtet, dass sein Bruder unddie Geschädigten erwarten, dass ich auf den Sommer-weiden mal nach dem Rechten seh. Bei der Gelegenheitfahren wir am Nordkap vorbei und sehen mal nach, wasMamas Geschäfte machen. Dich nehm ich mit. Du bistam Nordkap nützlicher als zu Hause.«

Merle verzog ihren Mund. »Ich will aber nicht.«»Nicht? Du hast dich doch sonst immer auf die Nord-

kap-Monate gefreut!« »Ich hab keinen Bock mehr, Fotomodell zu spielen.«Ascak rieb sich mit den Fingern die Nase. »Darüber dis-

kutieren wir nicht. Wir brauchen den Zusatzverdienst.«»Den ganzen Tag muss ich ›cheese‹ sagen. Das stinkt

mir so langsam. Klauen ist außerdem doof.«Der Bürgermeister von Kautokeino erhob sich und trat

101

Verliererneid in ›Sápmi-Land‹_101-108_Verliererneid in ›Sápmi-Land‹ 28.10.09 12:18 Seite 10

Page 102: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

auf seine Tochter zu. »Hör mal, Merle! Red nicht so oftvom Klauen. Wenn du noch mal was ausplaudern soll-test, dann …«

»Was dann? Willst du mich etwa noch mal schlagen?«Merle stieß ihr Messer mit voller Wucht in die Salami.»Ich bin vierzehn und nicht acht. Ich bleibe hier!«

Ascak Raaki atmete tief ein. »Nein, du fährst mit undtust, was ich sage! Sonst krieg ich Ärger mit dem Boss.«

»Mit dem Boss?« Merle zog das Küchenmesser langsamaus der Wurst.

Ihr Vater seufzte. »Ja, mit dem Boss. Der Kerl, der un-ser Diebesgut weiterverkauft. Der kann ganz schön un-gemütlich werden. Wenn du nicht mitmachst, bekommeich den größten Ärger!«

»Der Typ kann mich mal …«, entgegnete Merle trotzig. »Ich bin aber der Dumme«, sagte Ascak nervös. »Er ist

unberechenbar, ein richtiger Mafiosi. Er hat mir sogargedroht, und … und dabei ’ne Pistole an die Brust ge-drückt. Wenn ich ihm nicht genug Handys, Kamerasund Schmuck liefere, ist es gut möglich, dass du einesTages k…keinen V…Vater mehr h… hast.« Ascak begannzu stottern. Wieder fuhr er mit den Fingern zur Nase. Daklingelte das Telefon. Der Bürgermeister besann sichund schlurfte in das Nebenzimmer. Merle stopfte sicheine letzte Scheibe Salami in den Mund und besah sichdie scharfe Messerklinge. »Ich habe aber trotzdem kei-nen Bock mehr auf Fotomodell«, murmelte sie vor sichhin. »Ich muss mich mehr um meinen Rentier-Hengstkümmern. Und um den Husky-Welpen, um Minimik.Außerdem muss ich Lassowerfen üben. Ich werde Yanaschlagen und sie demütigen. Ich werde sie … Momentmal, wie würde Mik sagen? Grrr, ich werde ihren Abricoden Huskys zum Frühstück vorwerfen!«

Im gleichen Augenblick, als in Kautokeino üble Gedan-ken gesponnen wurden, wie man ein weißes Konkurren-ten-Rentier aus Karasjok beseitigen könnte, streichelte

102

Verliererneid in ›Sápmi-Land‹_101-108_Verliererneid in ›Sápmi-Land‹ 28.10.09 12:18 Seite 102

Page 103: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

dessen Besitzerin ihrem Albino-Ren zum Abschied liebe-voll über die weichen Nüstern. »Wir werden weitersiegen«,sagte Yana leise. »Als Nächstes treten wir gegen die Ina-ri-Jugend aus Finnland an.« Die junge Samin aus derKulturstadt am Karasjokka klopfte ihrem Liebling zumletzten Mal den Hals. Chiara lächelte verträumt. »Abricohat ›ja‹ gesagt. Hast du gesehen, wie er mit dem Kopf ge-nickt hat?«

»Wir verstehen uns bestens«, strahlte Yana. »Mach’sgut, mein Süßer. Nun lauf zu den anderen.«

Yana Laska und Chiara verließen die Rentierkoppelund schlenderten schwatzend zur Stadt zurück. Als diebeiden das Ortsschild erreichten, war die junge Saminbestens darüber informiert, wie viel Bäume in Opa Anto-nios Olivenhain standen und wer in der Brusco-Sippedie besten Melonen züchtete. Die beiden Freundinnenschritten an der Holzkirche vorüber und erreichten daskleine Optikgeschäft von Jule Linsgren. Da ging die La-dentür auf und ein etwa fünfzehnjähriges Samen-Mäd-chen trat auf die Straße. Yana erkannte sie sofort. »Duhier? Was machst du denn in Karasjok, Lilli?«

Die Angesprochene hob verlegen ihre geschminktenAugenbrauen. »Hi, Yana. Ich brauchte neue Kontaktlin-sen und weil wir in Kautokeino keinen Optiker haben,musste ich wohl oder übel zu euch …«

»Verstehe«, nickte Yana. Dann drehte sie sich zu Chi-ara um. »Das ist Lilli Føster aus Kautokeino. Sie hat einewunderschöne Stimme und ist beim letzten ›Sami-Grand-Prix‹ Zweite geworden.«

»Gratuliere«, sagte Chiara. »Ich kann leider nicht sin-gen. Wer hat denn gewonnen?«

Lilli Føster verzog ihre rot gemalten Lippen. »Eine vonhier. Wie immer.« Lilli zog ihre Kautokeino-Mütze ausder Tasche, weil heute ein recht frischer Wind durch dasKarasjokka-Tal fegte. In diesem Moment steppte ein Mitt-fünfziger mit zwei Plastiktüten an ihnen vorbei. Als erLilli sah, schüttelte er unwirsch den Kopf. »Würde ich

103

Verliererneid in ›Sápmi-Land‹_101-108_Verliererneid in ›Sápmi-Land‹ 28.10.09 12:18 Seite 103

Page 104: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

nicht aufsetzen, die Mütze. Wenn die da unten dichsehn, kriegste Kloppe.«

Yana sah dem Ungepflegten hinterher. »Kloppe, wieso,Gerre?«

»Da unten an der Tankstelle tun sie gerade verbreiten,dass die Kautos uns beschuldigen, Rentiere zu mopsen.Ist nicht gerade gut, die Stimmung. Schätze, dass Kautoshier nicht mehr gut ankommen. Setz lieber die Mützeab.« Gerre schlurfte um die nächste Ecke.

Lilli griff verlegen zu ihrer Kopfbedeckung. »Ich be-zichtige niemanden, zu stehlen. Ich nicht. Höchstensder Mik. Der behauptet das. Der weiß immer das Neusteaus der Gegend. Hier, das auch.« Die junge Sängerin zogeinen Zettel aus der Tasche.

Yana pfiff durch die Zähne. »Wow, ein Autogramm vonMik Jakobson. Cool!«

»Dreh mal um«, sagte Lilli. Die Tochter des Karasjok-Bürgermeisters starrte auf

die Rückseite. Schließlich zupfte sie unsicher an ihremÄrmel herum. Das, was sie las, war einfach zu komisch:

Sehr geerter Herr Bürgermeister!!!

Auf dem Vidda munkelt man, das Ihr sohn zum Klauenbefohlen wird, nähmlich von seinem eigenen Vater. Dafürhabe ich Beweise, die ich Ihnen zeigen kann. Wenn das inKautokeino keiner erfaren soll, dann …

Yana sah auf. »Woher stammt dieser Zettel? Meint deretwa meinen Vater?«

Lilli Føster schüttelte ihren Wuschelkopf. »Nee, unse-ren Bürgermeister, den Raaki. Den Zettel hat Mik ausseinem Notizbuch herausgerissen. Er hat wohl nichtgemerkt, dass auf der Rückseite schon was stand.«

»Das ist ja der Vater von Merle«, sagte Chiara erstaunt.»Und Mik behauptet, dass Merles Bruder klaut«, er-

gänzte Yana versonnen. »Mannomann, von uns Karas-jokern behauptet er, wir stehlen Rentiere, und von dem

104

Verliererneid in ›Sápmi-Land‹_101-108_Verliererneid in ›Sápmi-Land‹ 28.10.09 12:18 Seite 104

Page 105: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Raaki-Sohn, er klaue weiß nicht was. Woher er das allesnur weiß?«

»Wer ist denn dieser Mik?«, fragte Chiara jetzt.»Der Dogmusher von Bojobæski«, lächelte Lilli. »Sieht

voll krass aus.«Chiara befeuchtete mit ihrer Zunge die Lippen. »Kenn

ich nicht.«»Er hat schon sechsmal den ›Finnmarksløpet‹ gewon-

nen«, erklärte Yana. »Seine Huskys sind die besten inganz ›Sápmi-Land‹.«

»Ist er ein Karasjoker?«, bohrte Chiara weiter.»Nein, vom Outback«, antwortete die junge Sängerin

mit dem roten Mund. »Alles gewinnen die Karasjok-Sa-men nun auch wieder nicht. Ich sage euch: Den nächs-ten Grand-Prix gewinne ich, ich schwör’s euch!« LilliFøster nahm ihre Kautokeino-Mütze ab und stopfte siein die Tasche. »Ich muss gehen«, sagte sie. »Mein Vaterwird schon warten.« Die Mädchen verabschiedeten sich.Chiara fing wieder an, von Sizilien zu erzählen. YanaLaska hörte schweigend zu.

Kurz nach den 20.00 Uhr-Nachrichten klingelte in Kauto-keino ein Telefon. Wieder einmal. Ärgerlich nahm AscakRaaki den Hörer ab. »Ach, Herr Kollege. So spät führeich eigentlich keine Amtsgespräche mehr.«

»Drei Minuten haben Sie bestimmt noch für michübrig, Herr Raaki«, sagte Ari Laska am anderen Endeder Leitung. »Folgendes: In unserer Stadt wird gemun-kelt, dass der Bürgermeister von Kautokeino seinemSohn befiehlt, zu stehlen. Hat meine Tochter heute aufder Straße aufgeschnappt. Na, was sagen Sie dazu, HerrKollege?«

Ascak Raaki holte tief Luft. »Wer behauptet das? Dasist ja eine bodenlose Unverschämtheit!«

Ari Laska blieb cool. »Die gleiche Person, die angeblikkgesehen hat, dass wir Karasjoker Rentiere stehlen.«

»Mikkel, der Dogmusher von Bojobæski?«

105

Verliererneid in ›Sápmi-Land‹_101-108_Verliererneid in ›Sápmi-Land‹ 28.10.09 12:18 Seite 105

Page 106: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Jawohl, der. Sie sind doch auch der Meinung, dassHerr Jakobson eine glaubwürdige Person ist, oder?«

Der Bürgermeister von Kautokeino fing an zu schwit-zen. »Ja natürlich … äh, nein.«

Ari Laska setzte nach. »Was nun, Herr Kollege, ja odernein?«

»Falls Mikkel Jakobson behauptet, ich würde meinenSohn zum Stehlen anstiften, lügt er wie gedruckt«, stießAscak in den Hörer.

»Und falls derselbe Herr behauptet, die Karasjok-Sa-men würden Ihre Rentiere stehlen, lügt er ebenso.« DerBürgermeister von Karasjok kratzte sich am Kinn. »Hö-ren Sie, Raaki. Ikk bin dafür, diesen Husky-Züchter nichtso ernst zu nehmen. Behaupten kann man alles. Von miraus, dass Rentiere lila sind. Beweise hat Mikkel nochnicht geliefert. Lassen Sie uns als Stadtvorsteher undAngehörige der Sami-Minderheit dafür sorgen, dass dieGerüchteküche aufhört zu brodeln. Sie in Kautokeinound ikk in Karasjok. Was sagen Sie dazu?«

»Es wird wohl das Vernünftigste sein, Laska. Ich werdealles daransetzen, dass das Gerede unter meinen Leutenaufhört.« Ascak Raaki schluckte.

»Gut«, sagte Ari Laska. »Damit sind die drei Minutenum. Ikk wünsche Ihnen noch eine gute Nacht.« In derLeitung tutete es. Ascak ließ den Hörer auf die Gabel fal-len und setzte sich auf einen Stuhl. Puh, das war knapp!War der Dogmusher wahnsinnig geworden? Der setztetatsächlich diese Story in Umlauf. Wenn er nun dochBeweise hatte? Ascak Raaki fuhr sich mit der Hand überdie feuchte Stirn. Mist! Vielleicht hätte er sich doch inBodos Backshop sehen lassen sollen. Dann könnte erwenigstens einordnen, was der Husky-Züchter wirklichalles wusste. Zu dumm! Und wieder einmal hatte er ge-genüber seinem Amtskollegen in Karasjok den Kopf ein-ziehen müssen. Die Karasjoker waren einfach mit demGlück verbündet! Ascak Raaki nahm das Küchenmesserund rammte es in die Salami.

106

Verliererneid in ›Sápmi-Land‹_101-108_Verliererneid in ›Sápmi-Land‹ 28.10.09 12:18 Seite 106

Page 107: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Am Abend dieses Tages saßen Kiki Manski und seineFreunde aus Tromsø in der behaglich eingerichteten Stu-be bei einem Glas Wein zusammen. Sie waren in eineangeregte Unterhaltung vertieft.

»Ich weiß nicht, was in die Kautokeino-Leute gefahrenist«, sagte der einarmige Kiki in diesem Moment. »Bloß,weil dieser Dogmusher gesehen haben will, dass Karas-joker Rentiere stehlen, gehen sie auf uns los wie Hundeauf die Katzen. Dieser Vorwurf ist wirklich heftig!«

Fred nickte andächtig mit dem Kopf. »Hinter unbegrün-deten Anschuldigungen verbirgt sich oftmals Neid.«

»Der Sache sollte nachgegangen werden«, hob Linda Ål-sen an und zuckte mit den Schultern. »Die Wahrheit mussans Licht, damit dieses Gerede aufhört! Wenn ich Bür-germeister wäre, ich hätte diesen Artikel nicht in dieZeitung gesetzt. Damit hat er die ganze Stadt gegen dieKautos aufgebracht.«

»Ja, war nicht klug«, pflichtete der alte Kiki Manski ihrbei. Auf seiner Stirn waren tiefe Falten zu sehen.

»Neid, Missgunst, Streit«, sagte Fred. »Immer dieselbeReihenfolge.« Der Lehrer aus Tromsø nippte an seinemWeinglas. »Hoffentlich weitet sich diese Geschichte nichtzu einem Samen-Krieg aus. Kautos gegen Karasjoker. Daswäre ja fürchterlich!«

»Glückselig sind die Friedensstifter«, meinte Linda ver-sonnen. »Steht in der Bibel. Sprich doch mal mit Ari undversuch, ihn zur Besonnenheit zu bewegen, Fred.«

»Ja, Ruhe und Nüchternheit könnten Schlimmeres ver-hindern«, nickte Fred. »Aber ich weiß nicht, ob ich michda einmischen soll, Linda.« Der Biolehrer sah nach-denklich in sein Weinglas. »Schmeckt gut, Kiki. Dass duhier oben sogar ’ne Spätlese aus Südfrankreich hast!«

Der Angesprochene schmunzelte. »Habt ihr noch Ap-petit auf ein Eis?«, fragte er seine Gäste. »Aus Italien?«

»Danke«, antwortete Linda. »Lasst uns lieber zu Bettgehen. Es war ein langer Tag.« Die Männer nickten. Kurzdarauf löschte der Gastgeber das Licht in der Stube.

107

Verliererneid in ›Sápmi-Land‹_101-108_Verliererneid in ›Sápmi-Land‹ 28.10.09 12:18 Seite 107

Page 108: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Geschäftskontakt mit Saunagang

Sven Carlson drückte ab. Mit einem dumpfen Geräusch drang der Bolzen in die Stirn. Das Rentier-Weibchen ver-drehte die Augen und röchelte. Dann sackte es zur Seiteweg. Sven zog an der Kette. Ein paar Sekunden späterbaumelte das Tier mit den Hinterläufen unter der De-cke. Ein schneller Stich in die Halsschlagader. Das Renwar Nummer zwölf. Der Bolzen-Sven schwitzte. Eigent-lich brauchte er einen Gehilfen beim Schlachten. ZweiLieferungen pro Woche konnte er kaum noch bewälti-gen. Im »Ersatzteillager« stapelten sich die Geweihe undFelle. Wenigstens zum Gerben benötigte er jemanden,der ihm unter die Arme greifen konnte. Einen Fachmann,nicht so einen Wald- und Wiesen-Heini. Und verschwie-gen musste er auch sein. Verständlicherweise. Doch derChef stellte sich quer. Der wollte das Team nicht vergrö-ßern. Der kaufte lieber ein neues Wohnmobil, als dieGerberei oder den Schlachthof zu erweitern. Der Flei-schermeister seufzte. Wenn er ehrlich sein sollte – seinGeld mit dem Verleih von Wohnmobilen zu verdienen,war erheblich einfacher, da musste er dem Chef rechtgeben. Das war ein lockerer Schreibtischjob, aber Ren-tiere schlachten, Felle gerben … Sven sah gedankenvollin das Auffangbecken, das sich langsam mit Blut füllte.Da ging die Tür zur »Werkstatt« auf. »Hi, Carlson. DerNachschub ist da!« Arne nahm seine schwarze Sonnen-brille ab und hielt sich die Nase zu. »Pfui, stinkt dashier. Lüfte mal, Sven.«

Der Bolzen-Sven atmete auf. »Gut, dass du da bist, Ar-ne. Bevor du die neuen Tiere in den Hof lässt, muss ichnoch zwei Hengste schlachten. Sind ziemlich groß undwild. Pack mal mit an.«

Arne Lindberg verzog das Gesicht. »Ich bin Fahrer undkein Metzger. Schlachten ist nichts für mich.«

108

Verliererneid in ›Sápmi-Land‹_101-108_Verliererneid in ›Sápmi-Land‹ 28.10.09 12:18 Seite 108

Page 109: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Der Schwede grinste. »Du brauchst mir nur dabei hel-fen, die beiden Burschen in die Box zu treiben. Wenn ichden Bolzen setze, kannste ja weggucken.«

Arnes Blick fiel auf den Behälter mit dem Rentierblut.Augenblicklich verlor er seine gesunde Gesichtsfarbe. »Ichhol Britta«, sagte er schnell und machte eine abwehren-de Geste. »Die steht auf Rot. Außerdem hat sie die bei-den Tiere ja auch schon in den ›Rentierschlitten‹ bug-siert. Und zwar allein!«

»In die Todesbox wollen sie aber nicht«, erklärte Sven.»Die wittern, dass darin ihr letztes Stündchen geschla-gen hat.«

»Nein danke«, wehrte Arne erneut ab. »Ist der Chef da?«Der Sven mit der Knollnase schüttelte den Kopf. »Nee,

der bringt ’ne Lieferung zum Großhändler. Ist am spätenVormittag losgefahren. Höchstpersönlich, weil ihr nochnicht da wart. Habt ihr mal wieder eine Reifenpanne ge-habt?«

Arne Lindberg spuckte aus. »Wir sind in eine Polizei-kontrolle geraten. Sie haben nur die Wohnmobile ange-halten. Ist doch irgendwie komisch, oder?«

Sven sah auf. »Nur die Wohnmobile? Meinst du, da istwas im Busch?«

»Will hoffen, dass es nur ein dummer Zufall war. Wirhaben die Rock-CD angemacht und … die waren ruck-zuck fertig. Aber dann sind wir vorsichtshalber nur nochNebenstrecken gefahren. Aha, da kommt Britta. Bis nach-her, ich brauch erst mal ’ne Tasse Kaffee.« Arne Lind-berg schlurfte davon. Ein paar Minuten später erloschendie Lichter eines prächtigen Rentier-Hengstes. Der Bol-zen-Sven sägte sein kapitales Geweih ab.

Unterdessen erreichte der Chef des FleischermeistersSven Carlson den Stadtrand der Finnmarks-MetropoleAlta. Nils war platt. Die Tour war mörderisch gewesen.Sieben Stunden für 320 Kilometer. Viel zu lange. Doch eswar mal wieder dringend nötig gewesen, persönlich bei

109

Geschäftskontakt mit Saunagang_109-116_Geschäftskontakt mit Saunagang 28.10.09 12:49 S

Page 110: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Mikka vorbeizuschaun. Gute Kundenkontakte wolltengepflegt sein. Telefongespräche allein reichten da nichtaus. Ab und zu musste man den Großkunden schon malins Auge sehen, miteinander ein Bierchen trinken oderangeln gehen. Nils Båtten erreichte das Firmengebäudeund parkte das umgebaute Wohnmobil mit der Kühlvor-richtung in Nähe der Laderampe. Im Eingangsbereichleuchteten einzelne Deckenstrahler und im Lager brann-te auch noch Licht. Wie abgesprochen. Nils wurde er-wartet. Nach dem Klingeln öffnete eine blonde Dame imMiniröckchen.

»Herr Båtten?«Nils grinste trotz der späten Stunde. »Ja, genau! So

hieß mein Vater. Fand ich gut, den Namen, und hab ihnwiderstandslos übernommen!«

Die Dame wirkte etwas irritiert. »Mein Name ist SilkeSander. Ich bin die neue Sekretärin von Herrn Jakob-son. Der Chef erwartet Sie in der Kellerbar. Der Ofen istbereits an.«

Nils trat in den Flur. »Kellerbar hört sich gut an, Fräu-lein Silke. Die besten Geschäfte schließt man eh nichtim Chefbüro ab.« Nils lachte lauthals in das schallendeTreppenhaus hinein.

Die Miniröckchen-Dame stolzierte davon. Nils folgte ihrin kurzem Abstand. Am Treppenabsatz blieb die Sekre-tärin Silke Sander verlegen stehen. »Dort hinunter, bit-te«, nickte sie. »Dritte Tür links. Ich wünsche Ihnen ei-nen angenehmen Abend.« Nils Båtten tauchte ab undklopfte an der Kellertür mit dem Schildchen »privat«.

Der wartende Mann in der Kellerbar hatte es für einenSamen weit gebracht. Seine kulturelle Herkunft interes-sierte ihn kaum noch. Aber seine Frau war da anders.Niemals würde sie zum Beispiel auf den Nordkap-Ver-kaufsstand im Sommer verzichten. Sollte sie ihn haltweiterführen, obwohl es aus finanzieller Sicht nichtmehr nötig gewesen wäre. Mikka Jakobson war Groß-

110

Geschäftskontakt mit Saunagang_109-116_Geschäftskontakt mit Saunagang 28.10.09 12:49 S

Page 111: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

händler. Der Ein- und Verkauf von Fleisch- und Wurst-waren war sein Hauptgeschäft. Aber auch der Handelmit den technischen Kleingeräten war nicht zu verach-ten. Das war zwar ein völlig anderes Fachgebiet, aberhier oben im äußersten Norden musste man schon mehr-gleisig fahren, wenn man weiterkommen wollte. So wiesein Geschäftspartner Nils Båtten, der ja auch zwei ver-schiedene Ziele verfolgte. Er hatte den lustigen Nils vorsechs Jahren kennengelernt, als sein Zwillingsbruderzum ersten Mal den ›Finnmarksløpet‹ gewonnen hatte.Damals war die Welt zwischen den beiden Brüdern nochin Ordnung gewesen. Aber dann war Mikkas Großhandelregelrecht explodiert, und Mikkel war in seinen Augenzur armseligen Steppenlaus herabgesunken. Es warauch an der Zeit, dass der butterweiche Nils, der bislangein gleichwertiger Partner gewesen war, zum Lieferantendegradiert wurde. Um noch weiter zu kommen, mussteer halt etwas rauere Geschäftsmethoden anwenden. Sowie in der Techniksparte. Da nahm er auch schon malden Revolver zur Hand. Heute würde er dem Nils malzeigen, wo in Zukunft der Hase entlanglief. Zunächst ein-mal ohne Revolver, aber dafür mit Schlitzohrigkeit. Mik-ka zutzelte an seinem Kaltgetränk herum. Die Tempe-ratur in der Kellerbar stimmte schon. Die war nämlichTeil seiner Strategie für die anstehende Geschäftsver-handlung. In diesem Moment klopfte es. Mikka öffnetemit Schwung die Tür. »N’ Abend, Nils. Komm rein!«

Die müden Augen des Ankömmlings weiteten sich. Vorihm stand ein vitaler Typ im Bademantel. Nils senkte ver-legen den Blick und bemerkte zwei nackte Füße in rotenGummisandalen. »H…Hi, Mikka. Ich habe zwar nicht da-mit gerechnet, dass du mich in Anzug und Krawatte emp-fängst, aber so leger … also wirklich, ich bin baff!«

Mikka klopfte Nils kameradschaftlich auf die Schulter.»Leg ab, alter Gauner. Willste was trinken?«

Nils zog seine Sommerjacke aus. »Haste ’n Wasser da?Junge, für ’ne Kellerbar ist es ganz schön heiß hier.«

111

Geschäftskontakt mit Saunagang_109-116_Geschäftskontakt mit Saunagang 28.10.09 12:49 S

Page 112: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Mikka grinste. »Ist der Saunaofen. Vor vierzehn Tagenist mein Traum in Erfüllung gegangen. Da hab ich mireine echt finnische Blockbohlen-Sauna einbauen lassen.Knöpf ruhig dein Hemd auf, Nils. Mir macht das nichtsaus.« Mikka reichte seinem Geschäftspartner ein GlasWasser und setzte sich auf die Eckbank.

Nils sah sich um. »Ist schön geworden, die Bar. TolleHolzverkleidung. Dein Betrieb scheint zu laufen.«

»Wie geschmiert«, entgegnete Mikka. »Die neuen Liefe-ranten besorgen mir ausgezeichnete Qualität. Willste deinHemd nicht ganz ausziehen?«

Der Wohnmobil-Verleiher vom Tromsesund kratzte sichverlegen am Kopf. »Ich kann Wärme ganz gut vertragen.Neue Lieferanten hast du, Mikka? Für Rentierfleischauch? Ich dachte, ich sei bisher der einzige …«

»Na ja«, lächelte der Großhändler im Bademantel, »Kon-kurrenz belebt das Geschäft, das weißt du doch, mein lie-ber Nils. Übrigens, da vorn ist die Umkleidekabine unddie Dusche. Alles nagelneu. Deine Schuhe kannste aufdie Gummimatte dort stellen.«

Auf Nils’ Stirn erschienen erste Schweißperlen. »W…Was hast du mit mir vor, Mikka? Kann ich noch ein Was-ser bekommen?«

»Klaro, Nils. Apfelschorle ist auch gut vor einem Sau-nagang.«

Nils fing an zu husten. »E…Es ist schon ziemlich spät,Mikka. Ich bin verschwitzt und … und müde.«

»Eben«, lächelte Mikka. »Du glaubst nicht, wie wohltu-end und entspannend so ein Saunagang ist. Komm, Nils,lass dich nicht lumpen. Nach so einer Tour ist Saunaba-den erfrischender als Duschen.«

»Meinst du? Ich weiß nicht.«Mikka stand auf. »Kühler Kopf in heißer Bude. In einer

Sauna lassen sich die besten Geschäfte machen, Nils.Wirklich! Warum sollten wir oben im kalten Büro ver-handeln? Übrigens, ich brauche noch 30 Tiere mehr vondir als ursprünglich geplant …«

112

Geschäftskontakt mit Saunagang_109-116_Geschäftskontakt mit Saunagang 28.10.09 12:49 S

Page 113: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Nils rutschte von der Eckbank und nahm den letztenSchluck aus dem Wasserglas. »Wenn du meinst. Viel-leicht tut’s meinem Rücken gut.«

»Hundertprozentig«, nickte Mikka und zog ein Handyaus der Bademanteltasche. »Ich ruf den Per aus der Spät-schicht an, der kann schon mal die Ware reinholen.«

Eine Viertelstunde später saßen zwei spärlich beklei-dete Geschäftspartner in einer finnischen Blockbohlen-Sauna und schwitzten wie zwei Brathähnchen auf demTurbogrill. Dem einen von ihnen, der nun zum Liefe-ranten abgestempelt werden sollte und an diesem Tagschon 320 Anreise-Kilometer hinter sich hatte, fielenfast die Augen zu.

»Der erste Gang sollte nicht länger als zehn Minutendauern«, erklärte Mikka Jakobson, der auf der unterenSitzbank der Sauna Platz nahm. »Mehr als zwei bis dreiGänge sind gesundheitlich nicht ratsam.«

»Dann haben wir nicht viel Zeit für die Verhandlun-gen«, lächelte Nils matt. »30 Tiere brauchste? Bis wann?«

»Am besten bis vorgestern«, lachte Mikka.»Natürlich«, nickte Nils, »bis vorgestern. Wie immer.

Nee, sag mal ehrlich, bis wann? Der Bolzen-Sven ist näm-lich schon gewaltig im Stress.«

Mikka sah auf das Thermometer. »30 Stück bis Endenächster Woche. Die deutschen und österreichischenKunden bieten im Oktober immer Wildwochen an. Ichwill pünktlich liefern.«

Nils lief das Wasser von der Stirn. »Ende nächster Wo-che? Das schaffe ich nicht.«

»Dann frage ich den Lieferanten aus Ivalo. Der ist ab-solut zuverlässig. Der liefert innerhalb von einer Woche,wie ich’s brauche: vakuumverpackt oder tiefgefroren.«

»Na … gut«, lenkte Nils schwerfällig ein, »ich sprechemal mit dem Sven.« Nils legte den Kopf an die Bohlenund schloss langsam die Augen.

Mikka sah den Geschäftspartner verstohlen an. Aufder höher gelegenen Sitzbank war es noch heißer als auf

113

Geschäftskontakt mit Saunagang_109-116_Geschäftskontakt mit Saunagang 28.10.09 12:49 S

Page 114: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

der Bank, wo er saß. Das hatte er schon getestet. Nacheiner Gedankenpause meinte er: »Wie hoch liegt bei dirzurzeit der Kilopreis, Nils?« Der Angesprochene reagier-te nicht. Der Großhändler sah auf. »He, Nils! Ich fragtedich nach dem Kilopreis.«

Der Schläfer hob ruckartig den Kopf. »W…Wie bitte?«»Der Kilopreis«, wiederholte Mikka.»32,50 g…glaub ich. Kronen.« Nils hielt sich die Hand

vor den Mund und gähnte. »Ein Preisnachlass ist nichtdrin. Sven wird den Überstundentarif verlangen.«

Mikka schielte zur Uhr und erhob sich. »Kurze Ver-handlungspause. Kalte Dusche, etwas trinken.Magste ’n Eis mit Eierlikör, Nils?«

Nils nickte. »Irgendwas. Hauptsache kalt.«Mikka öffnete die Saunatür. »Jetzt wäre ’ne Massage

ideal. Ein bisschen durchkneten lassen. Dann Öl aufden Body und wieder rein in die Bude. Herrlich!«

Nach 20 Minuten schwitzten die beiden Handelspart-ner weiter. Der Kilopreis war inzwischen auf 28 Kronenherabgesunken. Nils war fix und fertig. Diese Hitze! Sau-nabaden gut und schön – aber doch nicht mitten imSommer! Na ja, der Kunde war König und wenn ein Kö-nig eben Saunabaden mochte, dann …

»22 Kronen. Zum letzten Mal.« Nils hörte die StimmeMikkas nur noch schwach. Das Wasser lief ihm aus al-len Poren. Das Eis hatte seine Wirkung längst verloren,der Eierlikör dagegen nicht. Diese Preisverhandlung wardie reinste Folter. »Vakuumverpackt, damit ich nur nochwiegen und etikettieren muss. Abgemacht, Nils?« DerBrummschädel nickte. Bloß raus hier. Mikka erhob sichund reichte seinem Geschäftsfreund die Hand. »Ist dochtop, die Sauna, oder? Ich find’s super entspannend. Sol-len wir noch ’nen dritten Durchgang starten?«

Nils versuchte zu lächeln. »Ich glaube, für den Anfangreicht’s. Auf welchen Kilopreis haben wir uns denn nunfestgelegt?« Der Fleischlieferant gähnte erneut.

Mikka stieß die Saunatür auf und schnappte sich den

114

Geschäftskontakt mit Saunagang_109-116_Geschäftskontakt mit Saunagang 28.10.09 12:49 S

Page 115: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Bademantel. »19 Kronen, unverschämt teuer! Du treibstmich noch in den Ruin. Willste noch ’n Wasser?«

»Lieber ein Bett«, hauchte der butterweiche Nils.Mikka lachte. »Ich dachte, wir trinken noch ’ne Klei-

nigkeit. Wir haben doch erst 23.00 Uhr.«Nils schüttelte den Kopf. »Ich muss morgen wieder

früh zurück, Mikka. Vielleicht beim nächsten Mal.« Nils,der heute Abend gar nicht lustig war, sondern nur nochmüde, trocknete sich ab und schlüpfte in seine Hose.

Eine Stunde später rief Mikka den Per von der Spät-schicht an. »Hast du’s so gemacht, wie ich es dir gesagthabe?«

»Ja, Boss. 100 Kilogramm habe ich verschwinden las-sen und stattdessen Gammelfleisch dazugelegt.«

Mikka nickte zufrieden. »Dann mach Schluss, Per. Bismorgen. Gute Nacht.« Der Großhändler rieb sich die Hän-de. Das würde morgen ein Donnerwetter geben. Er wür-de den ahnungslosen Nils beschuldigen, verdorbene Wa-re geliefert zu haben. Der brave Wohnmobil-Verleiherwürde kuschen, sich entschuldigen und bei der nächs-ten Lieferung den Schaden wiedergutmachen. Die Ma-sche funktionierte zwar nur einmal, aber damit würde erNils kleinkriegen. Lieferanten waren halt verpflichtet, dasAusladen der Ware zu überwachen, selbst wenn dieChefs persönlich lieferten. Wenn sie das eben versäum-ten, war das ihr Problem … Mikka ging zum Wand-schrank, öffnete eine hübsch verzierte Blechschachtelund nahm eine dicke Zigarre heraus.

Zoff im Zweier-Kajak

»Was steht heute auf dem Ferienprogramm?«, fragte Chi-ara am nächsten Morgen.

»Ich bin für ’ne Strandkorbparty am Karasjokka«, gähn-te Flavio und streckte seine Arme aus, bis es in den Ge-lenken knackte.

115

Geschäftskontakt mit Saunagang_109-116_Geschäftskontakt mit Saunagang 28.10.09 12:49 S

Page 116: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Chiara zog eine Grimasse. »Ich bin für Bewegung«, ant-wortete sie. »Von mir aus im Karasjokka.«

Yana schüttelte den Kopf. »Schwimmen geht in demFluss nicht. Ist zu flach.«

»Und zu kalt«, ergänzte Flavio. »Wenn schon Bewegung,dann bin ich für Beach-Volleyball. Damit wäre Børre be-stimmt auch einverstanden.«

Yana zog die Augenbrauen hoch. »Einen Volleyball ha-be ikk, aber leider keinen Beach. Wie wäre es mit Ka-jakfahren?«

»Kajakfahren?« Flavio bekam große Augen. »Mit Eski-mo-Rolle* und so? Das ist mir zu gefährlich.«

»Wir haben zwei Zweier«, erwiderte Yana. »Die sind völ-lig harmlos. Vorne sitzt der Anfänger und hinten derErfahrene. Der lenkt.«

Chiara strich sich ihre schwarzen Haarsträhnen ausdem Gesicht. »Au fein! Ich fahre mit Yana, und Flaviomit Børre. Er wird begeistert sein.«

Børre war begeistert. Ruck, zuck war die Tour organi-siert. Yanas Vater erklärte sich bereit, die vier samt Boo-ten, Paddeln und Verpflegung zur Einsetzstelle zu fah-ren. Vimme Laska stapfte in die Küche und plündertedie Speisekammer. Innerhalb einer halben Stunde wardie komplette Ausrüstung im Jeep verstaut und die bei-den Kajaks auf dem Dach festgezurrt. Ari Laska hupteund winkend fuhren die Wassersportler aus dem Hof.Die Fahrt durch den Ort war ein einziges Hupkonzert,denn immer dann, wenn jemand den Bürgermeister hin-ter dem Steuer erkannte, winkte er ihm zu. Ari huptezurück. Die Straße führte dicht am Karasjokka entlang.»Hier geht’s nach Kautokeino«, erklärte der ortskundigeBürgermeister. »Ich fahre euch ca. 20 km flussaufwärtsund werfe euch dann ins Wasser. Dann könnt ihr euchbis Karasjok zurücktreiben lassen.« Gesagt, getan. AriLaska schaltete das Radio ein und peste mit seinemschweren Jeep über die Uferstraße Richtung Westen.Schweigend beobachteten vier Augenpaare den Verlauf

116* Unterwasser-Salto mit Kajak

Geschäftskontakt mit Saunagang_109-116_Geschäftskontakt mit Saunagang 28.10.09 12:49 S

Page 117: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

des harmlos plätschernden Hochlandflusses. Nur ab undzu lagen dicke Felsbrocken im Wasser und sorgten füreine weiß schäumende Strömung. Flavio bekam ein un-gutes Gefühl in der Magengegend. »Das ist ja ’ne richti-ge Wildwasserstrecke«, meinte er. »’Ne Paddeltour auf ei-nem ruhigen See wäre mir lieber gewesen.«

»Gleich kommt ein Parkplatz, wo man die Boote gutins Wasser lassen kann«, entgegnete der Bürgermeisterund bremste auch schon ab. Ari ließ den Jeep ausrollenund hielt vor einem in entgegengesetzter Richtung par-kenden Landrover mit einem Pferdeanhänger. Durch dieFrontscheibe blickten ihm die überraschten Augen einesbekannten Gesichtes entgegen. »Potz Blitz!«, entfuhr esdem Stadtoberhaupt aus Karasjok. »Mein Amtskollegeaus Kautokeino! Was macht der denn hier?« Ari Laskaöffnete die Fahrertür und stieg aus. Die jungen Freizeit-Paddler folgten.

»Donner, Blitz und Rentierklau!«, begrüßte ihn der Kau-to-Kollege. »Sie hier? Wie ist denn die Stimmung in Ka-rasjok? Kann man sich durch die Höhle des Löwen wa-gen? Wir sind auf dem Weg zum Nordkap.«

Ari Laska kniff die Augen zusammen. »Höhle des Lö-wen? Das haben Sie gesagt! Karasjoker sind so zahm wieLämmer.«

»Und so schnell wie der Wind«, ergänzte Yana stolz undsetzte sich ihre sternförmige Trachtenmütze auf. MerleRaakis Gesicht wurde rot. Dann stampfte sie mit demFuß auf und biss sich auf die Lippen.

»Hi, Merle«, sagte Chiara freundlich. »Schön, dich wie-derzusehen. Wie geht’s Ruppi?« Die Bürgermeister-Toch-ter aus Kautokeino drehte sich wortlos um und klettertein den Landrover. Knallend schlug sie die Beifahrertürzu.

»Meine Tochter ist heute Morgen mit dem falschen Beinaufgestanden«, entschuldigte Ascak seine Merle. »Wolltihr Kajak fahren?«, wandte er sich an das betreten drein-schauende Gefolge des Amtskollegen.

117

Zoff im Zweierkajak_117-128_Zoff im Zweierkajak 28.10.09 12:16 Seite 117

Page 118: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Sieht so aus!«, tönte Flavio wieder einmal recht unbe-sonnen los. »Haben Sie ein wenig Zeit für ’ne kleine Wett-fahrt? Kautos gegen Karasjoker. Die Väter hinten, dieTöchter vorne. Ich stoppe die Zeit.« Jetzt bekam auchBørre, der neben seinem italienischen Freund stand,rote Wangen. Seine blauen Augen wurden glasig.

»Wir müssen leider weiter«, entgegnete Ascak Raakischroff. »Wir haben hier nur ’ne kurze Frühstückspausegemacht.« Der Kauto-Bürgermeister drehte sich um undging zum Wagen. »Schönen Tag noch, allerseits.« Dannstartete er den Motor und das Gespann rollte vom Park-platz. Zurück blieb ein sich am Kopf kratzender Karas-jok-Bürgermeister. »Das waren die falschen Worte zur fal-schen Zeit«, sagte er sichtlich erregt. »Einem Verlierermuss man seine Unterlegenheit nicht auch noch auf dasButterbrot schmieren. Das wirkt wie Öl ins Feuer gie-ßen.«

»Aber vielleicht hätten die beiden das Kajakrennen jagewonnen«, meinte Flavio kleinlaut. »Das hätte dann ge-wirkt wie Wasser auf das Feuer.«

»Quatsch mit Currysoße!«, brummte Børre. »Der Vor-schlag war kindisch. Völlig ohne Hirn!«

»Danke für das Lob«, sagte Flavio mürrisch. »Ikk muss jetzt los«, hob Ari Laska an. »Auf mich war-

ten noch einige Termine.« Zehn Minuten später saß ernachdenklich hinter dem Steuer und knatterte zurückin seinen Amtsbereich. Im Wagen seines Kollegen ließman Dampf ab. »Angeber, Prahlsusi, Quatschtante!« Mer-le hatte sich kaum im Griff. »Man muss ihnen unbedingteinen Denkzettel verpassen!«

»So langsam glaub ich das auch«, hakte Ascak ein.»Diese Überflieger! Man sollte sie mal wieder auf denTeppich zurückholen.«

»Ich werfe einen Stein auf ihr Kajak«, zischte Merle.»Von der Brücke weiter unterhalb!«

»Na, na, Töchterchen. Nicht so rabiat!« Ascak gab Gas.In der Ferne tauchte der Kirchturm von Karasjok auf.

118

Zoff im Zweierkajak_117-128_Zoff im Zweierkajak 28.10.09 12:16 Seite 118

Page 119: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Unterdessen beluden zwei Jungen und zwei Mädchenziemlich lustlos die Stauräume ihrer Kajaks. Da sah Bør-re, wie sein italienischer Freund ein weißes Lammfellaus der Tasche zog. Børre verdrehte die Augen. »He, Fla-vio! Brauchste wieder was Weiches unterm Allerwer-testen?« Der smarte Italiener antwortete nicht. »Die Apa-chendecke wird doch nass im Kajak!«

»Ist doch mein Hintern«, sagte Flavio und zog sich dieKapuze seiner Regenjacke über den Kopf. Seine Schwes-ter passte in die wasserdichte Hose von Yanas kleinemBruder. Yana selbst schoss in puncto Wassersportbe-kleidung den Vogel ab: schicker Neopren-Anzug mit stern-förmigem »Karasjok-Helm«. »Das sieht ja noch dämlicheraus als auf dem Fahrrad«, grinste Børre. Dann zog ersein T-Shirt aus und präsentierte seinen Waschbrett-bauch.

»Ikk starte für Karasjok«, sagte Yana stolz.»Okay«, tönte Flavio, »Boot 2 startet für Mondello.«

Børre schob den Zweier in das Wasser. Flavio kletterteauf sein Lammfell und machte es sich bequem. Dannstieß Børre das Kajak vom Ufer ab und nahm den Platzdes Lenkers ein. Das Boot glitt langsam auf die Fluss-mitte zu. Die Mädchen waren schon 50 Meter vorausund Yana winkte mit ihrer blauen Trachtenmütze. Chi-ara kreischte bei jedem Wasserspritzer. Ihr Bruder fum-melte an der Kapuze herum. Børre ließ seine Muskelnspielen und haute das Paddel in die Fluten, um die Mäd-chen einzuholen. Langsam besserte sich die Laune derPaddler und die bunte Truppe genoss die warmen Strah-len der Finnmarks-Sonne. Unter ihnen plätscherte daseiskalte Hochlandwasser, das die Boote in den erstenRisikoabschnitt mit einigen Felsbrocken und munterenSchwällen hineinzog. Flavio machte den Reißverschlussseiner Jackentasche auf und zog ein Paar gelber Gum-mihandschuhe hervor. Da entdeckte Børre die Kabel.Gut getarnt verschwanden die schwarzen Enden in derKapuze seines Vordermannes. Børres Gesichtsausdruck

119

Zoff im Zweierkajak_117-128_Zoff im Zweierkajak 28.10.09 12:16 Seite 119

Page 120: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

verfinsterte sich. Schon wieder! Hatte dieses elende Dingnicht schon genug Streit hervorgerufen? Børre drehtedas Paddel und haute es schräg in das Wasser. Über sei-nen Vordermann in seiner Regenkleidung ergoss sicheine Sturzflut wie von fünf Gewittern.

Just in diesem Moment erreichte Ascak Raaki eine Tank-stelle in der »Höhle des Löwen«. Im gleichen Augenblickverließ ein ungepflegter Mittfünfziger, der auf seine Wei-se zu »tanken« pflegte, denselben Laden. Wieder trug erzwei gefüllte Plastiktüten. Als Ascak den Tank-Shop be-treten wollte, prallte er mit dem herausstürmenden Kas-sierer zusammen. »Da hört doch alles auf!«, brüllte er.»Der Kerl bringt mich noch zur Weißglut. Komm sofortzurück, Gerre! Diesmal gibt’s ’ne Anzeige.«

»Verzeihung«, murmelte Ascak ein wenig benommen.»Komme ich im falschen Moment?«

Der Tankwart musterte den Fremden mit kurzem Blick.Dann fiel sein Blick auf das Nummernschild des an derZapfsäule parkenden Landrovers. »Auch das noch!«, press-te er hervor. »Ein Kauto! Ja, Sie kommen im falschen Au-genblick. Sie versperren mir den Weg.«

Ascak Raaki schwoll der Kamm. »Haben Sie etwa et-was gegen mich und meine Leute?«, fragte er mit heraus-forderndem Unterton.

»Nicht das Geringste«, antwortete der Tankwart grim-mig. »Bis auf die Tatsache, dass Sie einem Dieb zurFlucht verholfen haben. Jetzt ist er weg!«

Der Kauto-Bürgermeister bekam rote Ohren. »Ich solleinem Dieb … Sie haben mich doch gerammt! Ich forde-re eine Entschuldigung.«

Der Kassierer stemmte die Hände in die Seite. »Ent-schuldigung? Entschuldigung? Wird Zeit, dass ihr euchmal bei uns entschuldigt! Für die Behauptung, dass wirDiebe sein sollen. Karasjoker klauen nicht.«

»Das sieht man ja«, höhnte Ascak Raaki jetzt. »Warumbrüllste denn dann dem Tütenträger hinterher?«

120

Zoff im Zweierkajak_117-128_Zoff im Zweierkajak 28.10.09 12:16 Seite 120

Page 121: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Schnauze, Kauto!« Der Tankwart fing an, mit den Ar-men zu fuchteln. »Fahr nach Hause und pass auf deineRentierchen auf, sonst fehlen heute Abend wieder wel-che.«

Ascak Raaki ballte die Faust. Dann drehte er wortlosum und ging zu seinem Wagen. »Halt!«, rief da der erbos-te Tankwart. »Willste nicht zahlen?«

Der Kauto-Bürgermeister stieg ein und zeigte dem ver-dutzten Tankwart einen Vogel. Dann gab er Gas undpreschte auf die staubige Hauptstraße. Ascak Raaki koch-te. Die Karasjoker waren übergeschnappt! Das mussteman ihnen irgendwie begreiflich machen. Auch Merlestand kurz vor der Explosion. Jetzt oder nie! Das hattediese Angeberin wirklich verdient. »Schnell wie der Wind«,hatte sie behauptet! Ich werde dir den Wind aus denSegeln nehmen, Yana Laska, ich werde … grrr, ich werfedeinen Abrico den Huskys zum Frühstück vor! Immernoch wütend hielt Ascak Raaki ein paar Minuten späterneben einem ungepflegten Mittfünfziger, der gut gelauntan der Kirche vorbeisteppte. »He, Sie!«

Der Tütenträger blieb stehen. »Hä? Meinen Se mich?«»Wen denn sonst! Kennen Sie sich hier aus?«»Logo!« Der Ungepflegte grinste. »Wohne schon seit fünf

Jahrzehnten in diesem Kaff.«»Willste dir ’n paar Pullen Schnaps verdienen?«Der Mittfünfziger grinste noch mehr. »Aber immer.

Schieß los, Kumpel! Für ’ne Pulle Schnaps tut der alteFlinten-Gerre fast alles …«

Flavio zuckte zusammen. Das kalte Wasser rann an sei-ner Regenjacke herunter und erreichte das Lammfell.Plötzlich hockte Flavio mit seiner Jeans in einer Pfütze.Der smarte Italiener ließ das Paddel fallen und stemmtesein Hinterteil nach oben. Ein lang gezogener Schrei über-tönte das Plätschern des Karasjokka: »Iiiiiih!« Der Zweierbegann zu wackeln und legte sich quer zur Strömung.Nur das nicht! Ein paar Meter vor ihnen tauchte ein Fels-

121

Zoff im Zweierkajak_117-128_Zoff im Zweierkajak 28.10.09 12:16 Seite 121

Page 122: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

brocken auf. Børres Bizepse wurden hart. Seine Händeverkrampften sich um das Paddel. Mit einer mächtigenKraftanstrengung stemmte er das Teil in die Fluten, umden Bug wieder in Fahrtrichtung zu pressen. Da wurdedas Boot von einem Schwall erfasst und seitlich an demHindernis vorbeigedrückt. Flavio krallte sich mit denFingern am Süllrand* des Kajaks fest. Klatschend prall-te der Zweier auf den nächsten Wellenberg. Eine kalteGischt fegte über das Boot hinweg. Der wasserscheueSüdländer schnappte nach Luft. Prustend fuchtelte Fla-vio mit seinen gelben Gummihandschuhen. Da erreich-te der Jungen-Zweier ruhigeres Fahrwasser. Børres Ober-körper glänzte in der frischen Sommerluft. Aus den Au-genwinkel heraus sah er, wie Yana soeben Flavios Pad-del aus dem Wasser fischte. Keuchend lenkte er dasBoot an das Mädchen-Kajak heran. »Schätze, unsereChancen, zu siegen, stehen nicht schlecht«, empfing siedas Boot, das für Mondello an den Start gegangen war.Lachend reichte sie Flavios Paddel herüber. Der triefendeSizilianer fand nur langsam die Sprache wieder. Er zogdie Stöpsel unter seiner Kapuze hervor und drehte sichzu seinem Hintermann um. »Wa…Warum hast du michbespritzt? Wenn jetzt mein MP3-Player kaputt ist, bistdu schuld. Der … Der ist nicht wasserdicht!«

»Eben«, antwortete Børre. »Technik gehört nicht in dasWasser. Dein Musi-Tick bringt mich noch zur Raserei!«

Flavio wischte sich die Wassertropfen von der Nase.»Ich hab keine Musik gehört«, entgegnete er.

»Dann eben Staunachrichten von der Wasserschutz-polizei!«, sagte Børre ärgerlich.

»Nee, auch nicht. Das Teil war gar nicht an.«Børre bekam große Augen. »Nicht an? Ja, wieso …?«»Ich hab die Dinger nur aufgesetzt, damit ich mir nicht

ständig deine blöden Bemerkungen anhören muss. Vor-hin haste gesagt, ich sei kindisch, hätte kein Hirn … Dasstinkt mir so langsam. Im Fischkutter auf dem ›Porsan-gen‹ hast du mir noch versprochen, nicht so erwachsen

122

* Ablaufrinne für Spritzwasser

Zoff im Zweierkajak_117-128_Zoff im Zweierkajak 28.10.09 12:16 Seite 122

Page 123: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

123

Zoff im Zweierkajak_117-128_Zoff im Zweierkajak 28.10.09 12:16 Seite 123

Page 124: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

tun zu wollen und mich für voll zu nehmen. Wenn dudas schon wieder vergessen hast, stecke ich mir lieberStöpsel in die Ohren.«

Børre steuerte das Kajak wieder in die Strömung. Diebeiden Mädchen verschwanden gerade hinter der nächs-ten Biegung. Der breitschultrige Norweger blinzelte be-klommen in das glitzernde Gegenlicht hinein. Peilte Fla-vio denn wirklich nicht, dass er mit den Stöpseln eineGefahr nach der anderen heraufbeschwor? Nun gut, aufdem Rad hatte er sich selbst gefährdet. Aber jetzt saßensie zu zweit im Boot! Wenn man nicht kentern wollte,musste man in einem Zweier-Kajak auf Zuruf reagierenkönnen. Egoisten und solche, die ihre Ruhe haben woll-ten, sollten lieber Einer fahren! Wieder hatte ihm seinFreund den schwarzen Peter zugeschoben. Wie sollte erreagieren? Wieder klein beigeben? Vor die Sonne schobsich eine dunkle Wolke. Børre fröstelte. Schweigend glit-ten die beiden Kajakfahrer den Fluss hinab. Flavio, derkeine Stöpsel mehr verbergen musste, hatte seine Ka-puze abgesetzt. »Du, Flavio«, sagte Børre plötzlich, »ver-sprichst du mir, den MP3-Player für den Rest der Ferienim Rucksack zu lassen?« Der nasse Sizilianer reagiertenicht. »Das Teil gefährdet unsere Freundschaft«, hakteBørre nach. »Hörst du?« Børre bemerkte, wie sein Vor-dermann die Lippen aufeinanderpresste. Der Norwegerseufzte. Wie ein Pimpf, der keinen Grießbrei mag, dach-te er. Irgendwie waren diese Ferien kompliziert gewor-den. Lag das wirklich nur an dieser Technik namensMP3? Oder hing das vielleicht mit dem Älterwerden zu-sammen? Børre sah verstohlen auf seine nasse Brustherab, auf der schon einige Haare wuchsen. Vor ihm saßFlavio. In Regenjacke und gelben Gummihandschuhen.Lächerlich. Eigentlich trugen solche Dinger nur die Gärt-ner. Oder seine Mam, wenn sie im heißen Wasser spülte.Der blonde Norweger tauchte seine Hand in den Flussund ließ das kühle Nass an seinem Brustkorb hinunter-laufen. Er war ja schließlich nicht aus Zucker!

124

Zoff im Zweierkajak_117-128_Zoff im Zweierkajak 28.10.09 12:16 Seite 124

Page 125: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Während die beiden Jungs schweigsam ihre Fahrt fort-setzten, wurde die Zweisamkeit im Mädchen-Kajak infröhlicher Weise ausgenutzt. Chiaras schwarze Haare hin-gen in nassen Strähnen herunter und auf Yanas Wu-schelkopf klebte eine pitschenasse Trachtenmütze mitvier Zipfeln. Wasserspritzer landeten mal hier, mal dort.Das lustige »Seegefecht« wurde von Kreischen und heite-rem Gekicher begleitet. Plötzlich schob sich eine dunkleWolke in die Ausgelassenheit der beiden Freundinnenhinein. Yana sah zum Himmel auf. »Sieht nicht gut aus«,meinte sie, »daraus könnte sich ein Gewitter entwi-ckeln.«

»Gewitter mag ich nicht«, antwortete Chiara. »Die sindhier in Norwegen viel lauter als auf Sizilien.«

»Lauter?« Yana lachte. »Daran ist ›Hora Galles‹ schuld.«Chiara hörte auf zu paddeln. »Was ist denn das? Hat

das was mit dem Nordlicht zu tun?«»Nee«, grinste Yana, »das ist der Donnergott der alten

Samen. Meine Tante glaubt noch an ihn.«Chiara schüttelte ihre nassen Haare. »Und du?«Yana senkte ihr Paddel. »Ikk? Ikk halte mich zu dem

Christentum. Von Naturgöttern und Steinbildern halteikk nichts.«

»Was hältst du denn von dem Gott der Bibel?« Chiaradrehte sich auf ihrem Sitz um.

»Hab ikk doch eben gesagt, dass ikk mich zu den Chris-ten halte. Also glaube ikk auch an Gott und geh manch-mal in die Kirche. Unser Pastor ist ganz okay. Guck nachvorne, Chiara, sonst prallen wir noch vor einen Stein.«

Chiara machte einige Paddelschläge. Dann strich sieihre nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht und drehtesich erneut zu ihrer Mitfahrerin um. »Und Jesus? Wiefindste den?«

Yana zuckte mit den Schultern. »Vielleicht brauchensie den weiter im Süden. Hier oben ist der total out. AberGott finde ikk gut. Pass auf, da kommen wieder Felsen.«

Chiara konzentrierte sich auf den Flussverlauf. Nach

125

Zoff im Zweierkajak_117-128_Zoff im Zweierkajak 28.10.09 12:16 Seite 125

Page 126: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

einigen Minuten war die Gefahrenstrecke gemeistert. DerHimmel wurde unterdessen immer dunkler.

»Morgen spricht Børres Dad über Gott«, fing Chiaradas Gespräch wieder an. »Macht er ja immer, wenn erhier im Urlaub ist. Ich glaube, im Hotel, wo die Ericsonswohnen. Sollen wir beide mal hingehen?«

»Mal sehen«, sagte Yana. »Vielleicht komme ikk mit,wenn ihr alle geht. Ikk glaub, gleich gibt’s Regen.«

»Hmmmm«, entgegnete Chiara mit sorgenvoller Miene,»dann werden wir ja nass!«

Yana wurde ernst. »Nass sind wir eh schon. Aber wenn’sein Wolkenbruch wird, müssen wir raus aus dem Was-ser. In null Komma nichts wird unsre liebe Karasjokkaziemlik ungemütlik.«

»Wie weit ist es denn noch bis nach Hause?«, fragteChiara unruhig.

»Fünf bis sechs Kilometer«, antwortete die Bürgermeis-ter-Tochter. »Aber gleich kommt die Brücke. Darunter hal-ten wir mal an und warten auf die Jungs.«

»Die haben wir voll abgehängt!«, meinte Chiara ein we-nig verwundert. »Hätte ich Børre gar nicht zugetraut.«

Kurz darauf zogen die beiden Mädchen ihr Kajak aufden Kies. Über ihnen klatschten die ersten Regentropfenauf die Bohlen der Holzbrücke. Endlich erschien auch dasVerfolger-Kajak auf der Bildfläche. Flavios Gummihand-schuhe leuchteten von ferne. Børre hatte inzwischen sei-ne Regenjacke angezogen. Eine klare Niederlage für Mon-dello. Wie zwei begossene Pudel krabbelten die beidenStreithähne an Land.

Am Abend schüttete es über der Finnmarks-Vidda wieaus Eimern. Blitze zuckten und warfen bizarre Schattenauf das Land. Yana und ihre Gäste hatten die Kajak-Tour am Nachmittag abbrechen müssen. Der Regen hat-te die Menschen in die Häuser getrieben und die Stra-ßen leer gefegt. Für einen Karasjoker war das ideal. Aufkeinen Fall durfte er erkannt werden. In einen dunklen

126

Zoff im Zweierkajak_117-128_Zoff im Zweierkajak 28.10.09 12:16 Seite 126

Page 127: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Regenmantel gehüllt, den Hut tief im Gesicht, steppte erim Schutz der Häuserfronten zur Stadt hinaus. Der Kau-to hatte ihm drei Flaschen Korn in die Hand gedrückt.35% Alkohol. Wow, das Zeug ging runter wie Schmier-seife. Drei Klare hatte er sich direkt in den Hals gekippt.Als Vorbeugung gegen Erkältung. So ein Mistwetter. Aberideal. Der Regen lief ihm mittlerweile in die Stiefel. Auchvon der Fußsohle her drang Feuchtigkeit ein. Der rech-te Absatz hatte ein Loch. Völlig durchnässt erreichte erdie Koppel. Die grauen Regenstreifen wirkten wie eineundurchdringliche Mauer. Lautlos öffnete er das Gatter.Jawohl, er hatte sein Ehrenwort gegeben. Für drei Pul-len Korn. Der Mittfünfziger stieß einen leisen Pfiff aus.Noch einmal. Er wartete. Dann hörte er das eigenartigeKlicken der Hufe und die ersten Geweihe tauchten auf.Die Rentiere kamen näher, witterten die Freiheit. Plötz-lich drängten sie zum Gatter. Zehn, fünfzehn Stück.Auch ein Albino-Hengst war darunter. Dann preschtendie Tiere freudig schnaubend in die Nacht hinaus. Zu-frieden starrte der Durchnässte ihnen nach. Er hattesein Wort gehalten – sein ehrloses »Ehrenwort«.

Schüsse aus dem Jagdgewehr

Mikkel Jakobson untersuchte die Fächer in seinem Por-temonnaie. Irgendwo musste der Schein doch stecken!100 Kronen. Sein letztes Geld. Mikkel wühlte und blät-terte. Nichts. Also musste er doch hin. Zur Bank. Siewürden ihm keinen neuen Kredit geben. Mikkel wusstedas. Der Direktor hatte es ihm höchstpersönlich mitge-teilt. Aber was sollte er machen? Geld brauchte man,um leben zu können. Auch auf dem Vidda.

Eine halbe Stunde später saß Mikkel im Wagen undholperte in Richtung Karasjok. Er würde dort einmal vor-sprechen. Bei der Sparkasse. Die kannten seine finanzi-

127

Zoff im Zweierkajak_117-128_Zoff im Zweierkajak 28.10.09 12:16 Seite 127

Page 128: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

elle Situation nicht. Der Dogmusher starrte auf die Fahr-bahn. Das Unwetter der letzten Nacht hatte große Pfüt-zen hinterlassen. Mikkel fing wieder an zu grübeln. Wieimmer. Aber was sollte er dagegen machen? Er wollteden kennenlernen, der nicht ins Grübeln geriet, wenn erpleite war. Sein Zwillingsbruder – ja, der war fein raus.Geldsorgen kannte der nicht. Ihm was abgeben? Völligundenkbar für ihn, seinen nur sieben Minuten älterenBruder. Stattdessen setzte er ihn unter Druck. MieserTyp, elendes Hundeleben auf dem Vidda. Einsamkeit …grrr, er hätte dieses Püppchen aus Kautokeino einfachnicht nach Hause bringen sollen. Mit der hätte man wasanfangen können. Und die Hunde? Na ja, besser als keinLeben um sich herum. Aber reden konnten sie nicht. Sei-ne Geldprobleme waren den Huskys auch wurscht. Nur»Wurscht« fressen, das konnten sie, und zwar nicht we-nig! Was hatte die ganze Hundezüchterei eigentlich füreinen Sinn? Oder die Schlittenhunde-Rennen? Das cooleGefühl auf dem Siegertreppchen war nach einer Stundewieder futsch. Mikkel steuerte auf eine Pfütze zu, die sogroß war wie sein Ententeich neben dem Huskyzwinger.Mit Vollgas rauschte er durch die braunen Fluten. Ir-gendeinen Sinn musste dieses Scheißleben doch haben!Hätte er doch heiraten sollen? Kinder in die Welt setzen?Pah! Dann wäre er ja auch noch für deren Leben ver-antwortlich. Mikkel schaltete das Radio ein und suchteeinen Sender mit Musik. Er musste jetzt irgendeine Stim-me hören, eine schöne. Am besten eine Frauenstimme.Mikkels Grübelei ging in Träumen über. Die Fahrt nachKarasjok wurde lang. Erst am frühen Nachmittag er-reichte er die ersten Häuser der Stadt. Endlich Men-schen. Hoffentlich würde ihn dieser Sparkassen-Direk-tor nicht hochkant auf die Straße werfen.

Der Krawattenträger tat es doch. Zwar nicht mit ei-nem Fußtritt, aber mit einem bedauerlichen Lächeln.Raus. Kein Kredit. Sein berühmter Name und die Sieger-urkunden hatten nicht geholfen. Im Gegenteil, als Mikkel

128

Zoff im Zweierkajak_117-128_Zoff im Zweierkajak 28.10.09 12:16 Seite 128

Page 129: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

seinen Namen nannte, hatte ihn der Herr Direktor fins-ter angesehen. Einem einfachen Hundezüchter trauteman nicht. Was er denn für ein Monatseinkommen ha-be? Mikkel ballte die Hand zur Faust und sah sich aufder Straße um. Er war froh, wenn er irgendwie durchsJahr kam. Monatseinkommen! Das hatte sein Brudervielleicht. Wahrscheinlich sogar ein Tageseinkommen.Mikkel schlenderte zu einer Sitzbank, die in Sichtweitedes Gebäudes stand, das er soeben verlassen hatte. Wosie ihm zugelächelt hatten, scheinheilig ihr Bedauernausgedrückt hatten … Diese gut angezogenen Leute ori-entierten sich an einem Monatseinkommen. So, jetztwusste er Bescheid! Der Dogmusher setzte sich und ver-grub das Gesicht in seinen Händen.

»Hi! Schön, dass ich dich treffe.« Mikkel schreckte zu-sammen. Bitte … jetzt nur keine Autogramme! Bloß kei-ne Plauderei mit irgendeiner Fünfzehnjährigen … Aberwar das nicht eine Männerstimme gewesen? Mikkel sahauf. Vor ihm stand ein einarmiger Mann. »Kennste mich?«,fragte der niedergeschlagene Hundezüchter.

»Nein«, sagte der Einarmige. »Trotzdem schön, dich zutreffen.«

»Quatsch nicht rum!«, fuhr ihn Mikkel an. »Kein Menschfreut sich, mich zu treffen. Was willste denn von mir?«

»Ich will dich einladen«, sagte Kiki Manski lächelnd.Mikkel fiel die Kinnlade herunter. »Einladen? Mich?«»Hast du heute Abend Zeit?«, fragte der alte Kiki wei-

ter. »Ein Freund von mir startet ’ne Diskussionsrundedarüber, ob’s Sinn macht, an Gott zu glauben oder nicht.20.00 Uhr im ›Nordkap-Hotel‹.«

»Kostet das was?« »Nein. Ist ’ne gemütliche Gesprächsrunde mit Gebäck.«Mikkel kratzte sich am kahl rasierten Schädel. »Das Ei-

sen ist mir zu heiß«, entfuhr es ihm unbedacht. »Wenn dierauskriegen, wer ich bin, hängen sie mich auf.«

Kiki Manskis Blick wurde ernst. »So schlimm? Was has-te denn verbrochen?«

129

Schüsse aus dem Jagdgewehr_129-140_Schüsse aus dem Jagdgewehr 28.10.09 12:22 Seite

Page 130: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Lassen wir das«, winkte Mikkel ab. »Ist eh nicht wie-dergutzumachen.«

Kiki Manski schluckte. Armer Kerl. Der Mann schlepp-te offensichtlich irgendeine Last mit sich herum. So hober freundlich an: »Man kann und braucht im Leben auchnicht alles wiedergutmachen. Man kann sich aber allesvergeben lassen. Von Gott nämlich.«

Mikkel hob die Augenbrauen. »Vergeben? Jetzt wirsteaber sentimental, Alter. Warste früher mal Psychologeoder Pastor?«

»Nein, Rentierzüchter.«»Akzeptiert. Ich bin Dogmusher.«»Etwa von Bojobæski?«Mikkel legte den Zeigefinger an die Lippen. »Pssst. Be-

halt’s für dich, Alter. Ich hab heute keine Lust auf Au-togramme.«

»Keine Sorge«, entgegnete Kiki Manski leise. »In Karas-jok wirst du keins mehr los. Seitdem du als angeblicherKronzeuge in Sachen Rentierklauen auftrittst, sind dieKarasjoker fertig mit dir.«

»Sag ich doch, dass die mich hängen würden.« Kiki legte Mikkel die Hand auf die Schulter. »Dogmusher,

stimmt deine Anschuldigung, oder nicht?« Aus seinenAugen leuchtete ein ernster, aber warmherziger Blick.

Mikkel stand von der Bank auf. »W…Würdest du michauch hängen, Mann?«

Der alte Manski schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein,mein Freund. Ich würde dir verzeihen. So, wie Gott mirverziehen hat. Ich bin nicht besser als du.«

Um Mikkel Jakobsons Mund zuckte es leicht. SeineAugen bekamen einen feuchten Schimmer. Dann braches stockend aus ihm hervor: »Ich … ich bin un…unterDruck gesetzt worden«. Mikkel machte eine ruckartigeBewegung und hastete davon. Kiki Manski blickte ihmtraurig nach. Dann sah er sich suchend um. Dort, vordem Metzgerladen, stand eine junge Samin. Er würdehingehen und seine Einladung wiederholen.

130

Schüsse aus dem Jagdgewehr_129-140_Schüsse aus dem Jagdgewehr 28.10.09 12:22 Seite

Page 131: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Mikkel erreichte sein Fahrzeug und drehte den Zünd-schlüssel um. Die Nadel auf der Tankanzeige kletterteauf halbe Höhe. Mikkel überlegte. Mit einer halben Tank-füllung kam er gerade bis nach Hause. Dann war Ebbe.Dann hing er fest. Ohne Sprit in der Einsamkeit. DerDogmusher schüttelte sich und startete den Jeep. Undjetzt? Mikkel sah in den Rückspiegel. Da tauchte einkastenförmiges Fahrzeug im Spiegel auf. Ein dunkel-braunes. Der Kleintransporter kam näher. Als er anMikkel vorbeifuhr, hämmerte es in seinem Kopf. SeineWangen wurden knallrot. In Mikkels Hirn zündete eineIdee. Natürlich. Geld! Deshalb war er ja nach Karasjokgekommen, hatte seine letzte Tankfüllung für diese Tourverplempert. Aber die Bank hatte ihm kein Geld gege-ben. Die Bank nicht. Mikkel schielte dem Geldtranspor-ter hinterher. Da fuhr genau das an ihm vorbei, was erbrauchte: Geld! In einem Kleintransporter. Ob das Fahr-zeug gepanzert war? Wahrscheinlich. Mikkel sah zumRücksitz. Unter dem Rentierfell lag sein Jagdgewehr.Geladen. Das hatte er auf jeder Tour über das Vidda da-bei. Der Kleintransporter hielt vor der Bank. Mikkel mach-te den Motor wieder aus. Die Beifahrertür öffnete sichund ein Mann mit einer Pistolentasche stieg aus. Es wa-ren also zwei Security-Beamte. Mikkel wartete. Sein Herzklopfte. Einen Geldtransporter überfallen hatte er nochnie. Nur Infos weitergegeben. Wo sich entsprechende Ren-tierherden herumtrieben. Mehr nicht. Natürlich würdeer die Typen nicht erschießen. Aber bedrohen. Geld her,oder … oder was? Leben? Klaro, das sagten die Ganovenimmer. Mikkel zog ein Leinentuch unter dem Fahrersitzhervor. Das würde er sich als Maske um den Kopf wi-ckeln. In diesem Moment kam der Beamte aus der Bankzurück. In seiner Hand trug er ein Köfferchen. Mikkelrieb sich die Hände. Wie viel Knete da wohl drin war?10.000 Kronen? 20.000? Der Pistolentyp stieg ein. Daging Mikkels Beifahrertür auf. Verflixt und zugenäht,wer …? »Bekomme ich ein Autogramm von dir, Mik?«

131

Schüsse aus dem Jagdgewehr_129-140_Schüsse aus dem Jagdgewehr 28.10.09 12:22 Seite

Page 132: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Durch die Beifahrertür lächelte eine blonde Fünfzehn-jährige herein. Mikkel rastete aus. »Woher kennst dumich?«, giftete er die Kleine an.

»Steht doch auf der Seitentür«, entschuldigte sich dieBlonde.

»Mach die Luke zu!«, fauchte Mikkel. »Ich dachte, fürKarasjoker bin ich Luft!«

Die Blonde wich erschrocken zurück. »Entschuldige,Mik, ich …«

»Herr Jakobson gefälligst! Ist das klar, Püppchen?«Mikkel schwitzte wie ein Pinguin unter dem Solarium.Die Fünfzehnjährige drückte schnell die Tür ins Schloss.Der Hundezüchter startete den Jeep und sah nach vorn.Donner, Blitz und Geldkassette! Wo war denn der Trans-porter? Weg!!! Mikkel kochte. Diese Fünfzehnjährigen …grrr, man sollte sie teeren und federn! Man sollte sie …ja, wo war der Geldsegen denn nun hin? Mikkel gabGas. Nach 300 Metern schon kam die Kreuzung. Lakselvlinks, Tana geradeaus. Donner, Blitz und … Mikkel rissdas Lenkrad nach links. Instinktiv. Dann preschte erzur Stadt hinaus. Mit funkelnden Augen starrte er nachvorn. Doch schon nach drei Minuten erlosch das Feuer.Das konnte nicht sein. Normalerweise hätte er dasschwerfällige Kastenfahrzeug schon erreichen müssen.Mikkel ging auf die Bremse, wendete und raste zurück.Die Kreuzung, links. Das war eigentlich auch die besse-re Strecke für einen Überfall. Hügel, Kurven, wenig Ver-kehr. Normalerweise. Er müsste den Geldtransporterüberholen und ihn noch vor dem Fluss abfangen. EinSchuss in die Reifen würde reichen. Geld her, den Kofferübernehmen und tschüss … Natürlich würde er auf Um-wegen nach Hause zurückschleichen. Wege kannte ergenug. Schließlich war er der Dogmusher von Bojobæs-ki! Mikkel jagte über eine Hügelkuppe. Da sah er ihn,den dunkelbraunen Geldtransporter. Die Türen sperr-angelweit auf. Plattfuß total! Der Wagen mit dem Pan-zerglas hing auf den Felgen. Mikkel ging auf die Bremse

132

Schüsse aus dem Jagdgewehr_129-140_Schüsse aus dem Jagdgewehr 28.10.09 12:22 Seite

Page 133: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

und kam gerade noch vor dem quer zur Fahrbahn lie-genden Nagelbrett zum Stehen. Wahnsinn! Was war hierlos? Da hörte er die Schüsse. Diesen Hall kannte er. Ge-nauso knallte sein Jagdgewehr. Am Fenster der davon-rasenden Limousine stieg Rauch auf. Pulverdampf. Mik-kels Birne dröhnte. Zitternd öffnete er die Fahrertür undstieg aus. Da, noch ein Schuss. Die Kugel pfiff über sei-nen Kopf hinweg. Mikkel sackte vor Schreck auf den Bo-den. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.

»Wie geht es Ihnen?« Mikkel hörte eine schwache Stim-me. »Sind Sie verletzt?« Die Worte klangen so unnatür-lich, so leise. Eine Hand tastete seinen Brustkorb ab. »Ichkann kein Blut erkennen«, hauchte die Stimme jetzt.Mikkel stöhnte. Träumte er? An seiner Hand kitzelte et-was. Mühsam schlug Mikkel die Augen auf und drehteden Kopf nach rechts. Seine Finger umfassten einigeGrashalme. »Der war nur ohnmächtig«, sagte der Mann,der vor ihm kniete. »Gut. Entwarnung. Ich telefonierejetzt«, sagte der andere Security-Beamte. Mikkel richtetesich auf und sah sich um. Er saß am Straßenrand.

»Ganz ruhig, Herr Jakobson«, sagte der Mann.Mikkel schielte zu der Pistole des Beamten hinüber.

»Woher kennen Sie mich?«, fragte er leise.Der Beamte zeigte auf die Fahrertür von Mikkels Jeep.

»Steht doch da drauf.«Mikkel fasste sich an den Kopf. Natürlich. Auf der Wa-

gentür! Da stand sein Name. Seine Adresse. MikkelsStirn wurde feucht. Ein kalter Schauer lief ihm über denRücken. Wie hatte er das nur vergessen können! Washätte die Maske genützt, wo doch der Name auf der Türstand! Schwarz auf grünem Lack. Die Security-Beamtenhätten sich totgelacht. Er wäre in die Kriminalgeschichteeingegangen als der Ganove, der gleich die Adresse mit-lieferte, wo die Polizei ihn abholen konnte. Einfach nurpeinlich. Mikkel erhob sich ächzend und wischte sichden Schweiß von der Stirn. »Was war denn hier los?«

133

Schüsse aus dem Jagdgewehr_129-140_Schüsse aus dem Jagdgewehr 28.10.09 12:22 Seite

Page 134: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Überfall«, sagte der Beamte cool. »Kommt mindestenszwei Mal im Jahr vor.«

»U…Und wie viele B…Banditen waren es?«»Zwei Typen. Maskiert.«»H…Haben sie was mitgenommen?«Der Beamte grinste. »Leider. War ein bisschen mehr,

als nur ’n paar Piepen für ’ne Currywurst.«Mikkel versuchte etwas zu lächeln. »Waren es Profis

oder Anfänger?«»Hmm«, machte der Pistolenträger. »War nicht schlecht

gemacht. Nagelbrett, kurze Befehle, hohes Tempo …Wird ’n Weilchen dauern, bis wir sie erwischen. WerdenSie Zeugenaussagen machen, Herr Jakobson?«

Mikkel wuselte in seinem Bart. »Natürlich. War aller-dings nicht viel, was ich gesehen habe.«

Der Beamte nickte. »Bleiben Sie noch ’ne Weile sitzen.Sie sind ja noch ganz blass.«

Mikkel gehorchte. Langsam trocknete der Schweiß.Wenn die Fünfzehnjährige ihn nicht aufgehalten hätte,dann … grrr, die anderen waren schneller gewesen. DieProfis. Die zählten bestimmt schon die Geldscheine. Ausdieser Sicht sollte man die Fünfzehnjährige tatsächlichteeren und federn. Aber – ach ja, der Name auf der Tür!Spätestens morgen wären sie da gewesen. Und dann?Grrr, im Gefängnis wäre es bestimmt noch einsamer alsauf dem Vidda! Und aus dieser Sicht betrachtet, sollteman die Fünfzehnjährige eigentlich abknutschen. Mik-kel atmete tief aus. In diesem Moment traf der Polizei-wagen aus Karasjok ein. Einen zweiten hatten sie dortnicht. Der Provinz-Sheriff war mit der Spurensicherungvollkommen überfordert. Erst zwei Stunden später konn-te Mikkel sich auf den Heimweg machen. Seinen letzten.Denn dann war der Tank leer.

Gegen 23.00 Uhr öffnete Erna Ericson die Tür zu ihremHotelzimmer. Nummer 10: Die Zahl konnte man sich zumGlück gut merken. Man wurde langsam vergesslich. Die

134

Schüsse aus dem Jagdgewehr_129-140_Schüsse aus dem Jagdgewehr 28.10.09 12:22 Seite

Page 135: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

freundliche Einladung von Herrn Ålsen zu der Ge-sprächsrunde in der Stammtischecke hatten sie nichtausschlagen können. Wo er ihnen doch so unkompliziertgeholfen hatte, als ihnen der Ducato unter den Füßenweggequalmt war. Na ja, der Abend war nicht schlechtgewesen. Man konnte sich über diese Themen ruhig malunterhalten. In ihrem Alter. Aber die Nachricht vom Spät-nachmittag war natürlich von ganz anderem Kaliber ge-wesen. Überfall auf einen Geldtransporter. Direkt vor ih-rer Stadt. Wow! »So langsam wird’s interessant in die-sem Kaff«, bemerkte die Seniorin beim Betreten des Zim-mers. Ihr Gatte nickte. »Ja, Herr Ålsen hat einige inter-essante Argumente gebracht. Haben wir eigentlich eineBibel?«

Die Agenten-Gattin schüttelte den Kopf. »Ich meine dochden Überfall, Eddy.«

»Halt dich bloß da raus, Erna. Glaub nur nicht, hierden Hilfs-Sheriff spielen zu müssen!« Herr Ericson schlossdie Zimmertür. »Wenn ich jetzt eine Bibel hätte, würdeich mal reinschauen. Die Sache mit dem Verhör interes-siert mich.«

Erna zog die Vorhänge zu. »Welches Verhör?«»Na, die Gerichtsverhandlung, wo sie Jesus zum Tod

verurteilt haben.«»Das war doch gar kein richtiges Verhör.« »Eben«, sagte Eddy Ericson. »Jesus war unschuldig.

Das haben sie von vornherein gewusst. Das Ganze warnur Theater, ein Scheinprozess.«

Erna zog ihre Schuhe aus und klappte die Bettdeckezurück. »Haben wir ja auch schon oft genug erlebt, Ed-dy. Den Schuldigen lassen sie laufen, und den Unschul-digen sperren sie weg. Die rothaarige Gerti war’s damalsbestimmt nicht. Garantiert hat ihr Mann den Kleinen er-würgt.«

Eddy rieb sich nachdenklich das Kinn. »Diesen Jesushaben sie aber gleich gekreuzigt! Für nichts. Herr Ålsenmeinte allerdings, dass sein Tod trotzdem sinnvoll war.«

135

Schüsse aus dem Jagdgewehr_129-140_Schüsse aus dem Jagdgewehr 28.10.09 12:22 Seite

Page 136: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Ist ja allgemein bekannt, dass Jesus für andere ge-storben sein soll«, sagte Erna. »Hat der Biolehrer ja auchso erklärt.« Erna knipste die Nachttischlampe an undzog die Schublade auf.

»Und genau das habe ich nicht so ganz nachvollziehenkönnen«, sagte der weißhaarige Senior.

»Ich auch nicht, Eddy. Für andere stirbt niemand frei-willig.« Frau Ericson wühlte in der Schublade herum.»Hier habe ich gestern ein Buch gesehen … aha, hier istes. Dachte ich mir schon, dass das eine Bibel ist.«

Eddy sah auf. »Zeig mal her, Schätzchen.« Erna reich-te sie ihm. Der Rentner schlug die ersten Seiten um.»Tatsächlich. Ein Neues Testament. Von den ›Gideons‹ …Scheint ’ne internationale Bibelgesellschaft zu sein.« HerrEricson blätterte weiter. Matthäus, Markus, Lu… Wenner doch nur diese Kreuzigungsgeschichte finden würde.Bis spät in die Nacht leuchtete heute im HotelzimmerNr.10 das Licht.

Mikkel erreichte seine Hochlandhütte kurz nach Mitter-nacht. Die Rückfahrt war ätzend gewesen. Er war in dieEinsamkeit zurückgegurkt mit dem Wissen, seinen Jeepmit leerem Tank hinter dem Husky-Kennel verrotten las-sen zu müssen. Ohne Moos nichts los. Ohne Kitt keinSprit. Jetzt saß er auf dem Vidda fest wie ein ausgeboo-teter Seeräuber auf der Palmeninsel. Der Dogmusherkurvte um seine Bojobæski-Bude herum – und wäre demparkenden Wagen fast auf den Kofferraum geknallt.Mikkel zog die Notbremse. Der Jeep stellte sich quer. In-stinktiv langte der Dogmusher nach hinten und ergriffsein Jagdgewehr. »Lass mal stecken, Bruderherz. Schön,dich zu treffen!«

Mikkel fuhr herum. »Mikka! Was machst du …?«»Schnauze! Nimm ihm mal die Schrotflinte ab, Per!« Der Dogmusher fing an zu schwitzen. Neben seinem

Zwillingsbruder stand ein Typ mit einer Zigarette zwi-schen den Zähnen. Offensichtlich hieß er Per. Mikkel hat-

136

Schüsse aus dem Jagdgewehr_129-140_Schüsse aus dem Jagdgewehr 28.10.09 12:23 Seite

Page 137: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

te ihn noch nie gesehen. Mikka hier? Mit diesem Typen?Das konnte nichts Gutes bedeuten. Der Kerl warf die Zi-garette auf den Boden und trat sie mit dem Schuh aus.»Gib mal her, dein Pusterohr.«

Mikkel bekam eine Gänsehaut. »Was … Was wollt ihrhier? Mi…Mitten in der Nacht!«

»Wollte dich eigentlich früher treffen«, gähnte Mikka.»Warste mal wieder in Kautokeino beim Friseur?«

»N…Nein. In Karasjok.«»So, so. Da muss es heute ’ne kleine Schießerei gege-

ben haben.«Mikkel fuhr sich mit der Hand über seine Stoppelfri-

sur. »Haben sie es schon in den Nachrichten gebracht?«Per fummelte an Mikkels Jagdgewehr herum und grins-

te schelmisch. »Wir sind bestens informiert. Die Schuss-waffe der Gangster war eine ›Blaser Kipplaufbüchse K 95‹.«

Mikkel sah den Zigaretten-Per groß an. »Sind die Ty-pen etwa schon gefasst worden?«

»Glaube nicht«, entgegnete Mikka stattdessen. »Schließmal die Haustür auf.«

Der Dogmusher zog den Schlüssel aus der Tasche.Kurz darauf betraten die drei Männer die Hütte. Mikkelmachte das Licht an. Im Zwinger heulten die Huskys.

»Ich muss sie noch füttern«, sagte Mikkel.»Schnauze! Zuerst sind wir dran. Haste noch ’n paar

Konserven da oder müssen wir ’nen Welpen zerlegen?«In Mikkel stieg die Wut hoch. »Lasst bloß die Hunde in

Ruhe! Erklärt mir mal so langsam, was hier vorgeht.«Mikka setzte sich an den Küchentisch. »Also gut, Bru-

derherz, pass auf! Ich brauch ’ne Garage. Für meinenVolvo. Da habe ich an deinen Schuppen gedacht.«

Mikkel kniff die Augen zusammen. »Kannste verges…«»Nicht so schnell, Bruderherz. Ich bin noch nicht fer-

tig.« Mikka gähnte gelangweilt. »Also, mein Volvo bleibthier, dafür leihe ich mir deinen Jeep aus. Für ca. 6 bis 8Wochen, bis so langsam Gras über die Sache wächst.«

Der Dogmusher riss die Augen auf. »Welche Sache?«

137

Schüsse aus dem Jagdgewehr_129-140_Schüsse aus dem Jagdgewehr 28.10.09 12:23 Seite

Page 138: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Der Großhändler Mikka Jakobson rieb sich die Nase.»Pass auf, du armselige Steppenlaus! Damit es nicht nochspäter wird … Wir waren es!«

Mikkel schluckte. »Wa…Was wart ihr?«»Peng, peng, Geld und tschüss … Mann, bist du schwer

von Begriff. Wir haben den Transporter überfallen!«»N…Nein, das darf …!« Mikkel sackte auf einen Stuhl.Sein Zwillingsbruder gähnte wieder. »Hat reibungslos

geklappt. Beim nächsten Mal können es meine Leute al-lein machen.«

»Ich … ich dachte, du wärst Großhändler! Für Fleisch.«»Will ich aber nicht für alle Zeiten bleiben«, grinste

Mikka. »Wenn du Karriere machen willst, musst du alleSparten ausschöpfen.«

Mikkel war jetzt leichenblass. »Du Schuft!«»Schnauze! Sag das nicht noch mal.«»Du hast auf mich geballert!«»Was?«»Ich war’s, der mit dem Jeep am Tatort ankam. Fast

hätte die Kugel mich getroffen!«Mikka zog eine Grimasse. »Dann bist du also ein Au-

genzeuge, oder? Na ja, das ändert nichts an der Sache,armselige Steppenlaus. Ab heute kriegste eh Hausar-rest.«

Mikkel stand der Schweiß auf der Stirn. »Hausarrest?«»Pass auf, Bruderherz. So habe ich mir die nächste Zeit

vorgestellt: Der Volvo bleibt im Schuppen, bis ich ihnumgespritzt habe. Rot oder so. Den Schlüssel nehm ichmit. Per und ich fahren mit deinem Jeep nach Hause.Wenn die Polizei aufkreuzen sollte, spiele ich für ’ne ZeitDogmusher von Bojobæski.« Mikka fing jetzt laut an zulachen. »Hallo Double! Ich muss nur noch zum Friseur.«

Mikkel ballte die Faust in der Tasche. »Du wirst nichtweit kommen«, presste er hervor.

»Vorsicht, Bruderherz!« Mikka zog einen Revolver ausder Tasche. »Droh mir nicht noch mal!«

»Doch, maximal 20 Kilometer, dann ist Schicht!«

138

Schüsse aus dem Jagdgewehr_129-140_Schüsse aus dem Jagdgewehr 28.10.09 12:23 Seite

Page 139: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Mikka hob den Revolver und zielte auf Mikkels Brust.»Ich warne dich, Steppenlaus!«»Im Tank ist kaum noch Sprit.«Mikka ließ den Revolver sinken. »Ach so. Danke für

den Tipp. Füll mal was nach, Per.« Der Angesprochenenickte und verließ die Hütte. Mikka lehnte sich zurück.»Einigen wir uns gütlich«, fing er wieder an. »Du spielstmit und bleibst brav auf dem Gelände. Dafür bekomms-te 1000 Piepen von der Beute, abgemacht?«

Mikkel horchte auf. »1000 Kronen?«»Klaro, ich bin großzügig. Haste noch genug zu fut-

tern hier? Wenn die Luft rein ist, stell ich dir den Jeepwieder vollgetankt auf den Hof. Komm, Bruderherz, deinSchuppen ist das ideale Versteck für ein Fluchtauto.Zier dich nicht so!« Mikka spielte ein wenig am Abzugs-hahn seines Revolvers und steckte ihn schließlich in dieTasche.

Die Augen Mikkels leuchteten auf. »1500, Boss! 1500und ich habe von dem Überfall nichts mitgekriegt, habekeinen Volvo gesehn … nichts … absolut nichts!«

Mikka streckte seinem Zwillingsbruder die Hand ent-gegen. »Top! 1500. Bist doch ein echter Steppenwolf,Mikkel.«

Der Habenichts Mikkel Jakobson lachte. »Wo hastedenn die Beute überhaupt versteckt, Mikka?«

Der Zwillingsbruder legte den Zeigefinger auf die Lip-pen. »Pssssst, Bruderherz. Die haben wir unterwegs ge-nial entsorgt. Die findet keine Steppenlaus.«

Nachdem die Gauner noch ein mageres Konserven-mahl eingenommen hatten und der Volvo im Schuppenstand, startete Mikka den Jeep seines Bruders. Hinterder nächsten Kurve klopfte sich der »Nicht-mehr-nur-Großhändler« lachend auf die Schenkel. »Das Versteck istoptimal, Per. Selbst, wenn die Polizei mit dem Hubschrau-ber suchen sollte – in dem Schuppen ist das Geld absolutsicher. Armselige Steppenlaus. Wenn du wüsstest, wieviel Knete in dem Kofferraum liegt!«

139

Schüsse aus dem Jagdgewehr_129-140_Schüsse aus dem Jagdgewehr 28.10.09 12:23 Seite

Page 140: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Patzerjob und Profiarbeit

Die Stimmung am nächsten Morgen war ziemlich ge-drückt. Flavio saß mit seiner Schwester allein am Früh-stückstisch. Børre, der bei Kiki wohnte, frühstückte im-mer mit seinen Eltern und kam erst anschließend insBürgermeisterhaus. Aber auch Yana glänzte durch Ab-wesenheit. »Sie ist schon in der Frühe zur Koppel gegan-gen«, erklärte Vimme Laska den jungen Gästen aus Trom-sø. »Weil sie Abrico schon zwei Tage nicht mehr strei-cheln konnte. Vorgestern wart ihr mit dem Kajak unter-wegs und gestern habt ihr das Samen-Museum besucht.Jetzt war erst mal wieder ihr Rentier-Hengst an der Rei-he.« Mama Laska lächelte, reichte die Frühstückseiernach und verschwand wieder in der Küche. Chiara sahihren Bruder nachdenklich an. »Sie hätte uns doch mit-nehmen können. Stattdessen dampft sie einfach ab. Weg.Ohne vorher ein Wort zu sagen.«

»Vielleicht hat ihr der Gesprächsabend im Hotel nichtgefallen«, meinte Flavio trübe.

»Oder das Klima zwischen dir und Børre«, entgegneteChiara. »Habt ihr gestern überhaupt ein Wort miteinan-der gesprochen? Was war denn da los im Kajak?«

Flavio seufzte. »Børre macht wieder einen auf ›erwach-sen‹ und will mir verbieten, den MP3-Player anzuma-chen. Das geht zu weit.«

»Verbieten?« Chiara sah ihren Bruder schief an.»Na ja«, ruderte Flavio ein wenig zurück, »er hat mich

gefragt, ob …«»Aha«, warf Chiara dazwischen, »fragen klingt schon

anders als verbieten.«»… ob ich den Player für den Rest der Ferien im Ruck-

sack lassen kann.« Flavio fing an, sein Ei zu pellen.Chiara strich ihre schwarzen Haarsträhnen aus dem

Gesicht. »Wenn das Teil eure Freundschaft gefährdet,würde ich’s tun.«

140

Schüsse aus dem Jagdgewehr_129-140_Schüsse aus dem Jagdgewehr 28.10.09 12:23 Seite

Page 141: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Flavio nahm sich den Salzstreuer. »Einfach so? DasTeil einpacken und alles ist wieder Wonne und Grieß-schmarrn? Nee, nee, das funktioniert nicht.«

»Aber wenn’s die Freundschaft doch fördert? Gib ein-fach mal nach.«

Flavio schüttelte den Kopf. »Außerdem bin ich kin-disch und hab kein Hirn. Hast du doch gehört!«

Chiara sah ihrem Bruder fest in die Augen. »BeleidigteLeberwurst! Man muss sich auch mal was sagen lassenkönnen. Von Freunden jedenfalls.«

Der smarte Sizilianer schluckte. »Biste auch schon aufdem Erwachsenen-Trip? Das ist ja ein dicker Tinten-fisch!« Flavio musterte sein Frühstücksei von allen Sei-ten. »Wetten, dass ich das mit einem Bissen runterkrie-ge?«, prahlte er gedankenlos.

Chiara machte mit gespreizten Fingern »Scheibenwi-scher«. »Bist du übergeschnappt? Ein komplettes Hüh-nerei? Das weiß doch jedes Kind, dass …«

»Papperlapapp«, tönte Flavio. »Geht runter wie Vanille-pudding. Außerdem ist’s ja kein Straußenei!« Flavio rissden Mund auf wie eine Pythonschlange, die ein Nilpferd-junges verspeisen will. Dann stopfte er das Ei mit beidenHänden in die Futterluke. Seine Backen wurden kugel-rund. So, jetzt langsam zubeißen. Die Kiefernknochenknackten. Flavios Stirn wurde feucht. Tränen schossenin seine Augen. Der »Eierheld« sah sich suchend um unddrückte mit beiden Fäusten gegen seine Pustebacken.Dann sauste er los. Zum Fenster. Ein Griff, ein Würgen,ein Drücken. Endlich! Das gekochte Hühnerprodukt ei-erte in den Gemüsegarten, wie eine verunglückte Sil-vesterrakete. Da war auch Chiara schon zur Stelle undklopfte ihrem Bruder mit der flachen Hand auf den Rü-cken.

»A…Alles o….okay«, prustete Flavio mit erstickter Stim-me. »A…Alles h…halb so w…wild!«

Chiara war kreidebleich. »F…Flavio, bimbo*. Man musssich auch mal was sagen lassen können«, schluckte sie.

141

* dummer Junge

Patzerjob und Profiarbeit_141-152_Patzerjob und Profiarbeit 28.10.09 12:42 Seite 141

Page 142: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

In diesem Augenblick ging hinter den beiden die Zim-mertür auf. Yana trat ein. Ihr Haar war zerzaust, die Au-gen feucht. Da tauchte auch Børre auf. Als er Yana sah,hörte er auf zu pfeifen. »Yana, was ist los?« Drei Augen-paare richteten sich auf das schluchzende Mädchen.Dann schlug sie ihre Hände vors Gesicht. »Weg«, flüs-terte sie. »Einfach … weg.«

Chiara machte ein bestürztes Gesicht. »Wer ist weg?«»A…Abrico«, schluckte Yana.

Erna Ericson hatte das Hotel durch die Hintertür ver-lassen. Kurz nach 5.00 Uhr. Sie musste zurück sein, be-vor Eddy aufwachte. Der würde sonst einen Mordsradauveranstalten von wegen Urlaub und so. Glücklicherwei-se hatte ihr Mann bis spät in die Nacht in dieser Gideon-Bibel gelesen. Das hieß, Eddy würde bis in die Puppenschnarchen. Bis 10.00 Uhr wahrscheinlich oder nochlänger. Erna hatte sich ein Fahrrad geborgt. Vom Koch.Der hatte nur gegrinst. Die »Möhre« hatte zwar keinenRücktritt und die rechte Handbremse war auch im Ei-mer, aber egal. Sie war fast da. Ein Tatort war etwasHerrliches. Nur ein bisschen herumschnüffeln. Der Ka-rasjok-Sheriff hatte bestimmt was übersehen. Vielleichtsogar die Tatwaffe. Meistens fuhren die Ganoven einpaar Meter und warfen dann die Dinger einfach aus demAutofenster. Erna erreichte die Hügelkuppe. Laut Zei-tungsbericht war der Überfall ca. vier Kilometer hinterdem Ortsschild passiert. Da entdeckte die Agenten-Omidie Bremsspuren. Aha, hier also. Erna sah sich um. Hierhätte sie das auch gemacht. Der Fahrer des Flucht-autos hatte ja nur mal eben auf das Gaspedal tippenmüssen, um hinter dem nächsten Hügel abzutauchen.Erna legte die »Möhre« vom Koch in den Straßengrabenund zog die Digitalkamera aus der Tasche. Klick! DieBremsspuren waren gut getroffen. Nagelbrett, vier schlap-pe Reifen. Erna hatte sich die Dinger schon in der Ka-rasjoker Autowerkstatt angesehen, als Eddy gerade in

142

Patzerjob und Profiarbeit_141-152_Patzerjob und Profiarbeit 28.10.09 12:42 Seite 142

Page 143: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

der Apotheke war, um neue Beruhigungspillen zu besor-gen. Erna versuchte, den Tathergang zu rekonstruieren,machte Skizzen und krabbelte eine halbe Stunde im Ge-büsch herum. Nichts. Die Jungs mussten Profis sein.Noch nicht einmal eine Patronenhülse ließ sich auftrei-ben. Also war der Dorfschupo doch auf Zack und muss-te alles eingesackt haben, was üblicherweise bei einemÜberfall so auf der Strecke bleibt. Etwas enttäuscht mach-te sich Oma Ericson auf den Heimweg. Aber immerhin,so langsam wurde der Urlaub interessant. Vielleicht fandsie ja noch einen Anhaltspunkt auf den Fotos. 150 Bil-der hatte sie auf jeden Fall im Kasten. Erna trampelteüber eine Hügelkuppe. Holla, wer fuhr denn da so frühmit dem Fahrrad durch die Prärie? Ein Samen-Mäd-chen? Die Agenten-Gattin spurtete los. In diesem Mo-ment drehte Yana den Kopf. Sie hatte richtig gehört. Daverfolgte sie jemand. »Morgen, Kleines! Stehste immer sofrüh auf?«, fragte Erna. »Ganz schön früh für dein Alter.Biste schon sechzehn?«

»Nein, vierzehn.«»Irgendwo hab ich dich schon mal gesehen«, sagte die

radelnde Erna.Yana nickte. »Gestern Abend. Ikk war auch im Hotel

bei Herrn Ålsen. Mit meinen Freunden.«»Stimmt«, entgegnete die Agenten-Omi. In diesem Mo-

ment bemerkte sie die Tränen in Yanas Augen. »Na, na,in deinem Alter heult man doch nicht mehr. Haste ’nenSechser in Mathe geschrieben?«

»Nein«, keuchte die Bürgermeister-Tochter im Fahren,»mein Rentier ist weg!«

»Ausgebüchst?« Erna radelte jetzt auf Yanas Höhe.»Geklaut wahrscheinlik. Das Gatter war auf.« Die junge

Samin rieb sich die Nase. Ihre Haare wehten im frischenMorgenwind. »Achtzehn Stück waren auf der Koppel. Erst-klassige Tiere … und mein Albino-Ren.«

»Halt mal an«, rief Erna. »Geklaut sagst du? Wo istdenn eure Koppel?«

143

Patzerjob und Profiarbeit_141-152_Patzerjob und Profiarbeit 28.10.09 12:42 Seite 143

Page 144: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Yana zeigte nach rechts. »Dahinten. Etwa ein Kilome-ter entfernt.«

»Bringste mich hin?«, fragte Erna Ericson. »Ich seh mirdie Geschichte mal an. Wäre ja ’n Ding, wenn jetzt dieKautos zum Gegenangriff blasen würden.«

Fünf Minuten später erreichten die beiden Frühauf-steher die Koppel des Bürgermeisters. »Das ist heuteMorgen schon meine zweite Tatortbesichtigung«, lachtedie Siebzigjährige. »Bist du dir auch ganz sicher, dassdas Gatter wirklich zu war?«

Yana nickte. »Wir achten immer auf den Riegel.«Erna musterte die Hufabdrücke in dem weichen Bo-

den. »Sie sind nicht geklaut worden«, sagte die pensio-nierte Agentin. »Die Tiere scheinen zusammen aus derKoppel gestürmt zu sein. Dann sind sie nach Norden ge-laufen. Es muss sie jemand herausgelassen haben. EinAnfänger, ein Blödmann!«

Yana hob fragend den Kopf. »Ein Blödmann? Wieso?«Erna lachte. »Siehst du diesen Stiefelabdruck? Der Ab-

satz hat ja ein Loch, so groß wie ein ›Fußballtor‹! DieserPatzer wird sich rächen. Ich schätze, dass der Typ ganzschön nasse Socken bekommen hat.«

»So doof können nur die Kautos sein«, schimpfte Yana.Doch im nächsten Moment stieß sie einen Seufzer aus.»Jedenfalls irrt Abrico jetzt irgendwo auf dem Vidda her-um. Oder es hat ihn doch schon jemand abgeknallt.«Aus Yanas Augen flossen wieder Tränenbäche herab.

»Na, na«, sagte Erna nun, »flennen sollte man den Jungsüberlassen. Wir finden deinen Abrico schon. Habt ihrkeinen Hubschrauber?«

»Einen Hubschrauber?«»Ja, zum Suchen. Von oben hat man doch ’ne tolle

Übersicht. Mein Eddy hat ’nen Pilotenschein. Das Pro-blem ist nur, dass er gerade Urlaub macht …«

Eddy machte zwar gerade Urlaub, aber leider schlief ernicht bis 10.00 Uhr. Als er kurz vor 7.00 Uhr zur Toilettemusste, war Erna weg. Der weißhaarige Senior suchte das

144

Patzerjob und Profiarbeit_141-152_Patzerjob und Profiarbeit 28.10.09 12:42 Seite 144

Page 145: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Appartement ab, schielte in den Kleiderschrank und indie Dusche. Dann bemerkte er, dass Ernas Schuhe fehl-ten. Zum ersten Mal in seinem Leben schluckte EddyEricson eine Beruhigungspille. In letzter Zeit war seinSchätzchen doch schon so vergesslich, suchte ihre Brilleauf der Anrichte, obwohl sie auf der Nase klemmte. MitSicherheit die ersten Anzeichen von Alzheimer. Der Pen-sionär schlüpfte ächzend in seinen Jogginganzug undschlappte zur Rezeption. Die war um diese frühe Mor-genstunde noch nicht besetzt. Da traf er das Zimmer-mädchen. Seine Frau? Nein, leider nicht gesehen. Dannlief ihm der Koch über den Weg. Der grinste nur. Der Weiß-haarige sah ohne Gebiss ja auch zum Anbeißen aus. Ed-dy tigerte zum Telefon. Nervös blätterte er im Telefon-buch und rief die Polizei an. »Guten Morgen, Herr Wacht-meifter! Ericfon, mein Name, ich muff eine Vermifften-anfeige aufgeben …«

Im gleichen Augenblick also, als ein zahnloser Gebiss-träger eine Vermisstenanzeige bei der Polizei aufgab, warnur wenige Hundert Meter von der Polizeistation entferntein gekochtes Hühnerprodukt in einen Gemüsegartengeeiert. Doch das war einige Sekunden später schonwieder Nebensache, weil die Nachricht, dass Abrico wegwar, einschlug wie eine Granate. Nun trauerte ein weiß-haariger Senior seiner vermissten Erna hinterher undein Samen-Mädchen ihrem flüchtigen Albino-Hengst Ab-rico. Daran, dass ja auch noch siebzehn Rentiere ihresVaters irgendwo auf dem Vidda umherirrten, dachte Ya-na nicht. Abrico war weg und das wog schwerer als 100Rener aus dem Familienbesitz. »Wir starten eine Such-aktion«, sagte Børre in diesem Moment.

»Und wie?«, fragte Flavio. Immer noch rang er ein we-nig nach Luft. »Mit … mit dem Fahrrad? Meine Pedale istnoch mit der Flaschenpost unterwegs.«

»Habt ihr keine Pferde?« Chiaras Augen fingen an zuleuchten. »Rentiersuche auf dem Pferderücken, cool!«

145

Patzerjob und Profiarbeit_141-152_Patzerjob und Profiarbeit 28.10.09 12:42 Seite 145

Page 146: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Am besten wäre die Suche aus der Luft«, sagte Børre.Gibt’s hier keine Rentierzüchter, die Hubschrauber ein-setzen?«

»Ikk glaube, die Kautos haben zwei oder drei«, sagteYana. »Die sind technisch fortschrittliker. Wir Karasjokerbenutzen im Sommer Cross-Motorräder, um die Herdenzu überwachen.«

»Und die Helme haben vier Zipfel, stimmt’s?«, grinsteBørre. »Also muss dein Dad mit dem Jeep los.«

Yana zeigte dem blonden Norweger eine lange Nase.»Für besondere Fälle haben wir auch noch zwei Quads.«

Børre fing an zu strahlen. »Zwei Quads? Wow! Und dassagst du uns jetzt erst?«

»Na ja«, entgegnete die Samen-Tochter, »Dad rückt dieDinger nur im Notfall raus. Meistens stehen sie in derScheune und stauben vor sik hin.«

»Eine Albino-Suche ist der absolute Mega-Notfall!«, tön-te Flavio los. »Ich red mal mit dem Trachtenbürgermeis-ter.«

»Halt dich zurück, du Trampeltier!«, warnte Chiara.»Der Schuss könnte auch nach hinten losgehen. Lassdas lieber Yana mit ihrem Dad regeln.«

Børre nickte. »Ist besser, wir halten uns bescheiden imHintergrund.«

»Ikk frag Dad heute Mittag«, sagte Yana. »Wir müssenAbrico so schnell wie möglik finden. Er ist schon viel zuzahm für die Wildnis. Da kann ganz schnell etwas schief-gehen.« Yana machte ein sorgenvolles Gesicht.

»Wird die Herde zusammenbleiben?«, fragte Chiara.»Wahrscheinlik«, antwortete die junge Samin. »Sie sind

gut aneinander gewöhnt.« »Rentiersuche auf dem Quad, voll krass!« Børre geriet

richtig ins Schwärmen. »Hoffentlich sagt dein Dad ›Ja‹!Wir müssen ein Lasso und ein Fernglas mitnehmen. Miteiner Tankfüllung kommt man bestimmt 200 Kilometerweit. Wenn wir heute Nachmittag schon losfahren könn-ten, wäre sogar ’ne Nacht im Outback möglich.«

146

Patzerjob und Profiarbeit_141-152_Patzerjob und Profiarbeit 28.10.09 12:42 Seite 146

Page 147: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»An eine Nacht im Freien habe ich schlechte Erinne-rungen«, sagte Flavio kleinlaut. »Können wir die Suchenicht morgen früh starten?«

»Auf keinen Fall«, entgegnete Yana. »Abrico ist wahr-scheinlik schon zwei Tage weg. Länger zögern dürfen wirnicht.« Die anderen nickten stumm. Die Zeit, bis AriLaska aus der Amtsstube zum Mittagessen heimkam,verging quälend langsam.

Eine Stunde später saß Eddy Ericson in der Nähe derHotelrezeption. Vor ihm auf dem Tischchen stand einDöschen mit Beruhigungspillen. Da schlang ihm jemandvon hinten die Arme um den Hals und hielt ihm die Au-gen zu. »Rat mal, wer ich bin«, flüsterte drohend eineverstellte Frauenstimme.

Eddy wurde bleich. »D…Der Killer m…mit dem rotenTu…Tuch? Das ist mein Ende.« Eddy sackte in sich zu-sammen wie ein Luftballon, dem die Puste ausgeht.

Der »Killer« fing schallend an zu lachen. »Denk nichtso viel an früher, Eddylein, genieß das Rentnerleben!«

Der Senior drehte sich um. »Sch…Schätzchen, Liebes!«Erna drückte ihrem Gatten einen Kuss auf die Wange.

»Deine Nerven waren schon mal besser, Eddy.«»Puh«, stöhnte der Rentner Ericson, »ich habe schon

geglaubt, du findest nie zurück. Warste joggen oder nurwalken, Erna?«

»Ich hab ’ne Runde mit dem Rad gedreht.« Erna ließsich neben ihrem Mann nieder.

»Hat dir jemand ein Rennrad geliehen?«Erna schmunzelte. »Ja, der Koch.«Eddy atmete tief aus. »Heute Nachmittag unterneh-

men wir aber was gemeinsam, ja, Schätzchen?«Die Agenten-Gattin nickte. »Machen wir!«

Am Mittagstisch fiel Ari Laska aus allen Wolken. Nicht,weil etwa das Essen so außerirdisch schmeckte, son-dern weil die Nachricht wirklich Anlass zu den wildesten

147

Patzerjob und Profiarbeit_141-152_Patzerjob und Profiarbeit 28.10.09 12:42 Seite 147

Page 148: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Spekulationen gab. »Was? Unsere Zuchttiere sind weg?Hoffentlich geht jetzt der Spuk nicht auch noch bei unslos. Wäre ja ein Ding, wenn die Kautos dahintersteckensollten.« Die Idee, die Herde mit den Quads zu suchen,fand er gut. »Fahrt mal«, sagte er. »Ikk kann vor Samstagnicht aus Karasjok weg. Und nehmt Ersatzkanister mit.Versucht, den Leithengst zu erwischen. Wenn ihr denhabt, habt ihr alle achtzehn.«

Ari führte die vier in die Scheune. Die Quads standenin einem verstaubten Winkel. Als der Bürgermeister dieAbdeckplanen zur Seite klappte, stieß Børre einen leisenPfiff aus. »Wow! Yamaha Grizzly 350.« Der blonde Nor-weger nickte anerkennend mit dem Kopf. »4WD. Die ha-ben Vierrad-Antrieb. Gepäckträger vorn und hinten. Volllässig!«

»Biste schon mal Quad gefahren?«, fragte Ari Laska.Børre nickte. »Klaro. Ist noch gar nicht lange her. Mein

Vater hat mir ’ne Tour zum Geburtstag geschenkt.«»Gut, gut!« Ari klopfte Børre auf die Schulter. »Dann

packt eure Ausrüstung zusammen. Yana erklärt euchden Rest. Ikk muss jetzt schleunigst ins Büro.« Ari Las-ka zog seine Kofter stramm und verabschiedete sich.»Viel Erfolg! Nehmt das Handy mit.«

Am Nachmittag bummelten Eddy und seine Gattin durchKarasjok. Zum vierten oder fünften Mal. Was sollte manin diesem Kaff auch ohne Auto unternehmen? »Wir soll-ten uns einen Leihwagen nehmen«, meinte Erna vor demOptikgeschäft von Jule Linsgren. »Die Brillengestelle ken-ne ich so langsam in- und auswendig, Eddy. Und vorlauter Langeweile ein komplettes Trachtengeschäft leerzu kaufen, haut mittlerweile ein deftiges Loch in unsereRentenkasse.«

»Ja«, lachte ihr Mann, »dir fehlt nur noch ein Samen-dolch, dann siehste aus wie Calamity-Jane aus KansasCity.«

»Mir ist langweilig«, maulte Erna. »Schaufenster angu-

148

Patzerjob und Profiarbeit_141-152_Patzerjob und Profiarbeit 28.10.09 12:42 Seite 148

Page 149: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

cken ist so öde wie Pfannkuchen backen. Achte mal aufPlakate oder so was, Eddy. Vielleicht veranstalten die Ka-rasjoker ja mal ’n Rodeoreiten für Gäste oder ’n Street-hockey-Turnier für Senioren.«

Der Senior Ericson stöhnte auf. »Gut, dass du hierkein Kurdirektor bist, Erna.«

In diesem Moment steppte ein ungepflegter Mittfünf-ziger an ihnen vorbei. Ernas Augen leuchteten auf.»Wenn der zur Tankstelle dackeln sollte, gibt’s gleich Ac-tion!« Ernas Blick fiel auf Gerres Stiefel. Plötzlich spur-tete sie los. »He, du! Holste Nachschub?«

Gerre drehte sich schwerfällig um. »Musste ausgerech-net jetzt hier aufkreuzen, Omi? Lass mich doch mal inRuhe einkaufen gehn.«

Erna deutete nach unten. »Brauchst neue Gummistie-fel, nicht wahr?«

Gerre blickte dumm aus der Wäsche. »Ich? Gummistie-fel? Mein Schnapsvorrat ist aufgebraucht. Die Pullen vomKauto-Bürgermeister waren in zwei Tagen hier drin.«Der Ungepflegte tippte sich mit dem Zeigefinger auf denBauch. Aus seinem Mund stieg eine Alkoholfahne auf.

»Der Kauto-Chef hat dir Schnapspullen geschenkt?«,bohrte die Agenten-Omi nach. »Zum Geburtstag?«

»Nee«, rülpste Gerre, »ich hab ihm und seinerKleenen ’nen kleinen Gefallen getan.«

Erna zeigte auf seine Stiefel. »Zeig mir mal deine ›Hufe‹,Gerre. Biste in einen Hundehaufen reingejumpt? Hierstinkt’s ja wie im Osloer Dackelklo!«

Der Mittfünfziger schaute verdutzt zu Boden. Dannhob er brav den Stiefel und schielte verlegen unter dieSohle. »Nichts dran, Omi!«

In diesem Augenblick erschien Eddy. »EntschuldigenSie, mein Herr, meine Gattin ist manchmal etwas auf-dringlich.«

»Deine Olle hat behauptet, ich tu stinken«, murmelteGerre. »Frechheit!« Dann schlurfte er in Richtung Tank-stelle davon. Erna hatte genug gesehen. In der rechten

149

Patzerjob und Profiarbeit_141-152_Patzerjob und Profiarbeit 28.10.09 12:42 Seite 149

Page 150: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Stiefelsohle war ein Loch, so groß wie ein »Fußballtor«.Und Schnaps hatte er bekommen. Vom Bürgermeisteraus Kautokeino. Für irgendeinen Gefallen. Sieh mal ei-ner an! Da hatte sich der Patzer ja schneller gerächt, alssie zu hoffen gewagt hatte. Gerre war’s, dieser Trottel.Aber der Auftraggeber, die Tiere laufen zu lassen, warder B-Meister der Kautos höchstpersönlich. Erna schüt-telte ihr graues Haar.

Kurz darauf schob ein vierköpfiges Rentier-Suchkom-mando zwei schwer beladene Quads der Marke YamahaGrizzly aus der Scheune. Yana Laska kochte. Eben hatteFrau Ericson angerufen. Ascak Raaki war der Schuft!Vielleicht hatte Merle ihn bearbeitet, bis ihr Dad … Naja, die Männer würden diese Frechheit klären. Merle! Siehatte gute Gründe, Abrico auszuschalten. Sie war ihreFeindin! Chiara hatte es gewusst. Yana dachte an Ab-rico. Auf dem Vidda war ihr Liebling verloren. Sie muss-ten den Albino schnellstens finden. Weiße Tiere warengefährdeter als Rener mit graubrauner Tarnung. Yanaballte die Hand zur Faust. Und dann erklärte sie Merleden Krieg. Donner, Blitz und Samendolch! Auf in denKampf! Yana schwang sich auf den Sitz ihres Quads unddrehte den Zündschlüssel um.

In diesem Moment stieß Flavio, der schon eine ganzeWeile um Børre herumgetänzelt war, seinem Freund indie Seite. Aus der Jackentasche zog er seinen MP3-Play-er hervor. »Du, Børre?«

Der fahrbereite Norweger drehte sich um und zeigtemit dem Daumen auf den Sitz. »Steig auf, Flavio.«

Der smarte Italiener schüttelte den Kopf. Dann hielt erBørre den Player unter die Nase. »Den lass ich hier«,sagte er verlegen. »Nur damit du Bescheid weißt.«

Børre strahlte. »Voll die krasse Idee, alter Nordkap-Apache. Wo haste denn dein Lammfell?«

»Da…Das ist noch ein wenig feucht. Liegt oben in mei-ner Suite.«

150

Patzerjob und Profiarbeit_141-152_Patzerjob und Profiarbeit 28.10.09 12:42 Seite 150

Page 151: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Dann können wir ja mal wieder etwas miteinanderreden«, grinste Børre. »Waren doch ziemlich öde, die letz-ten zwei Tage, oder?«

Flavio nickte. »Ich … ich war beleidigt und hatte einenFrosch im Hals.«

»Dann spuck ihn aus, Kumpel.«»Du, Børre?«»Was ist denn noch? Wir müssen los.«»Ich will mich bei dir entschuldigen.«»Wofür?«»Verzeihst du mir die Sache mit den Stöpseln? Das war

voll der Ego-Trip. Ich hab dich gereizt, … wahr…wahr-scheinlich bis zur Weißglut.«

Die blauen Augen des blonden Norwegers leuchteten.»Klaro, Mann, mach ich!«

»Dann sind wir wieder richtige Freunde?«Børre knuffte Flavio in die Seite. »Ist noch nie anders

gewesen, Kumpel.«»Danke«, flüsterte Flavio. Plötzlich drehte sich der jun-

ge Italiener um und flitzte zu einer Mülltonne, die nebeneinem Regenfass stand. Ehe Børre reagieren konnte, warder MP3-Player in der Tonne verschwunden. Verlegenrieb er sich die Augen. »M…Mensch, Fla…Flavio, jetzt kön-nen wir ja gar keine Staunachrichten mehr hören …«

»Nicht nötig«, grinste Flavio. »Im Outback gibt’s keineStaus. Keine Wohnmobile, keine African Twins …«

Børre startete sein Quad. »Auf in die staufreie Zone!Hoffentlich fahren wir keine Hasen platt.«

Vimme Laska trat aus dem Hauseingang heraus. »VielErfolg«, winkte sie. Der Suchtrupp setzte sich die Helmeauf. Yanas Helm war sternförmig und blau. Als die zweiGrizzly-Quads langsam den Bürgermeisterhof verließen,ging auf der Polizeistation ein verspäteter Anruf ein. »Eric-son. Entwarnung, Herr Wachtmeister. Meine Frau ist wie-der an Bord. Sie war mit dem Rennrad unterwegs.«

Der Dorf-Sheriff grinste. »Lassen Sie Ihrer Gattin maldie Luft aus den Reifen, Herr Ericson.«

151

Patzerjob und Profiarbeit_141-152_Patzerjob und Profiarbeit 28.10.09 12:42 Seite 151

Page 152: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Wo ist Abrico?

Arne Lindberg bog nach Süden ab. Auf der Nase klemm-te eine blaue Sonnenbrille. Das Boot auf dem Dach warbraun. Ein Kanadier mit vier Sitzplätzen. »Hier beginntdas neue Jagdgebiet«, sagte Arne stirnrunzelnd. »Hier wa-ren wir noch nie.«

»Karasjok-Gebiet«, bemerkte Britta knapp.Arne verzog den Mund. »Das Geschäft artet in Stress

aus. Ich sitz nur noch hinterm Steuer und der Bolzen-Sven steht kurz vorm Herzinfarkt.«

»Diese Saison ziehen wir noch durch«, lächelte Britta.»Ich hab so im Gefühl, dass wir heute was ganz Beson-deres fangen.«

Arne Lindberg schüttelte genervt den Kopf. »Gefühle,Gefühle – Frauengeschwätz! Ich fürchte eher, heute gehtwas schief.«

»Pessimist!«, sagte Britta.Ihr Mann setzte die blaue Sonnenbrille ab. »Gib mir

lieber mal wieder die mintgrüne, Britta.«»Jetzt übertreibst du aber.«Arne grunzte. »Wart’s ab. Wir haben heute Freitag, den

Dreizehnten!«Jetzt verzog Britta ihren Mund. »Abergläubisch?«»Nee, männlicher Instinkt.«Britta seufzte. »Na gut, Arne. Gib Gas und halt die Au-

gen auf. Ich will endlich wieder auf den ›Suzi‹-Sattel!«

Zur gleichen Zeit, in der Britta Lindberg versuchte, ihrefraulichen Gefühle zu deuten, und sich auf einen außerge-wöhnlichen Fang freute, erreichten vier Grizzly-Quadfah-rer die leere Koppel des Bürgermeisters von Karasjok. Mitdem geübten Blick einer Samen-Squaw untersuchte Yanadie Spuren und zeigte nach Norden. Die vier Zipfel ihrerTrachtenmütze bewegten sich wie eine indianische Feder-haube im Wind. »Mein blonder Bruder aus dem Tipi der

152

Patzerjob und Profiarbeit_141-152_Patzerjob und Profiarbeit 28.10.09 12:42 Seite 152

Page 153: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Tromsøer Stadtbevölkerung möge mir folgen«, lächeltesie keck und zeigte Børre heute zum zweiten Mal eine lan-ge Nase. Dann gab sie Stoff. Doch schon nach wenigenHundert Metern verlor sich die Fährte der flüchtigenRentiere auf dem felsigen Untergrund des Viddas. Fehl-anzeige. Yana stoppte. »Sie finden nur im Norden ihreFreiheit«, überlegte die ortskundige Samin. »Im Osten ste-hen sie bald vor der Tana, im Süden fließt die Karas-jokka. Auch im Westen kommen sie nicht weit, da ist voreinem Wildbach Sense … ikk meine Ende.«

»Hast du überhaupt eine Karte mit?«, fragte Chiara.»Karte und Kompass«, bestätigte Yana. »Ohne diese Din-

ge bleibt man besser zu Hause.«Der Spähtrupp setzte die Fahrt über einen recht brei-

ten Schotterweg fort. Für ein Quad war er eigentlich soeine Art Autobahn. Schnurgerade zog sich der Weg durchdas hügelige Gelände. Trotzdem fuhr Børre vorsichtig,denn diese Hochlandwege waren immer gut für Überra-schungen. Plötzliche Mulden, Pfützen und kleine Was-serläufe tauchten meistens dann auf, wenn keiner damitrechnete. An besonders guten Aussichtspunkten hieltendie Fahrer an und Flavio suchte den Horizont mit demFernglas ab. Zwar entdeckten sie dann und wann kleineRentierherden, aber einen Albino konnte Flavio beim bes-ten Willen nicht ausfindig machen. Yanas Gesicht wur-de immer länger. Die Sonne stand schon tief. Plötzlichbremste Yana ab und bog einige Meter nach rechts vomWeg ab. Im grünen Viddagras hob sich ein weißer Fleckab. Ein heller Felsen konnte das nicht sein. Yanas Ge-sicht verlor die Farbe. Das war ein Rentier, und zwar eintotes. Schlimmer noch – das Fell war weiß! Die junge Sa-min sprang von ihrem Fahrzeug herunter und mustertedas tote Tier mit ängstlichem Blick. Dann atmete sie auf.Das weiße Ren besaß kein Brandzeichen. Schluck! DieÄhnlichkeit mit Abrico war allerdings verblüffend. YanasHände zitterten leicht, als sie am Gashebel drehte undlangsam zum Feldweg zurückholperte. Die hoffnungsvol-

153

Wo ist ›Abrico‹?_153-162_Wo ist ›Abrico‹? 28.10.09 12:17 Seite 153

Page 154: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

le Stimmung, die sie zu Beginn der Suche noch beflügelthatte, war schlagartig verschwunden. Børre machte denVorschlag, eine geeignete Stelle für das Nachtquartier zusuchen. Allgemeines Nicken. Doch erst nach einer hal-ben Stunde fanden sie etwas abseits des Schotterwegeseine Mulde, die Yana akzeptierte. »Okay«, sagte sie knapp,»sieht ziemlik windgeschützt aus. Hügeliges Gelände, ei-nige Büsche. Hier bleiben wir, hugh!«

Flavio sah sich unsicher um. »Hier sollen wir schlafen?Was ist, wenn hier ’ne Büffelherde vorbeiwill? Die klop-fen uns platt wie ’n Schweineschnitzel!«

Yana verzog den Mund. »Büffel? Wir sind hier nicht imWilden Westen. Hier schnüffelt höchstens mal ein Wolfherum.«

»Das war jetzt das passende Stichwort«, grinste Børre.»Komm, Flavio, wir bauen uns ’ne Wagenburg. Schiebmal Yanas Quad rüber. Dann spannen wir die Zeltplaneüber unser Camp.«

Eine halbe Stunde später saßen vier müde Krieger umein lustig flackerndes Lagerfeuer. Außer dem Knisterndes Holzes war kein weiterer Laut zu vernehmen. DieStille über der Tundra legte sich auf das Gemüt Flavios.Mit trübem Blick starrte er in den orangegelben Abend-himmel. »Um diese Uhrzeit ist die Strandpromenade vonPalermo noch rappelvoll«, sagte er sehnsüchtig. »Da essensie noch Erdbeereis und Pizza Peperoni, aber hier obenherrscht ja ’ne Stimmung wie auf dem Warschauer Zen-tralfriedhof.«

»Das ist die Ruhe vor dem Sturm«, kicherte Yana. »Hu,hu, gleich kommt der Elk von Samilu!«

Flavio rollte mit den Augen. »Sag ihr mal, dass sie ihrblaues Elchgeweih noch auf dem Scheitel hat, Børre.«

Der Angesprochene grinste. »Benutzt du das Teil auchals Nachtmütze, Oberhäuptling?«

Yana streckte Børre die Zunge heraus und erhob sich.»Das war jetzt das passende Stikwort«, sagte sie gähnend.»Ikk geh ratzen.«

154

Wo ist ›Abrico‹?_153-162_Wo ist ›Abrico‹? 28.10.09 12:17 Seite 154

Page 155: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Da Schlafen tatsächlich das Beste zu sein schien, wasman in dieser Einöde machen konnte, löschte Børre dasFeuer. Anschließend krochen die vier in ihre Schlafsä-cke. Børre und die Mädchen waren in null Komma nichtseingeschlafen. Flavio dagegen hörte sie schon kommen:eine stampfende Büffelherde! Dann bemerkte er in sei-ner Einbildung matt glühende Wolfsaugen. In seinerFantasie sah er Indianer heranschleichen und feindlicheKauto-Krieger, die ihm den Skalp nehmen wollten.Schweißgebadet schüttelte Flavio seinen Schlafsack abund krabbelte zu den Quads hinüber. Mücken surrtenund Ameisen bissen ihm ins Handgelenk. Der ängstlicheSüdländer stöhnte. Dann angelte er sich seinen Motor-radhelm und stülpte ihn über seinen Kopf. So, jetztkonnten sie kommen, die Kautos. Seinen Skalp würdensie nicht kriegen! Flavio schlüpfte in seinen Sack zurückund wälzte sich in einen unruhigen Schlaf. Plötzlichschreckte er hoch. Was waren das für Geräusche? EinSnowscooter? Nein, das konnte nicht sein. Aber Moto-rengeräusche waren es. Ganz sicher. Eine Geländema-schine, die über das Vidda hin und her jagte. Oder?Doch nur Einbildung? In der Ferne glaubte Flavio einenSchatten zu erkennen, der vor einem schwachen Licht-kegel flüchtete. Ein Schatten mit Geweih. Der smarteItaliener schüttelte sich. Ein Albtraum. Zitternd schlossFlavio die übermüdeten Augen und kuschelte sich nochtiefer in seinen Schlafsack. Gegen 4.00 Uhr früh war esdann so weit. Endlich »sägte« Flavio mit gleichmäßigenAtemzügen einen großen Tannenwald um.

Die Morgensonne stand schon hoch am Himmel, alsBørre seine Augen öffnete. Aber es waren nicht die wär-menden Sonnenstrahlen gewesen, die Børre geweckthatten, sondern ein schwerfälliges tappendes Geräusch.Dann ein Knacken, ein eigenartiges Schnüffeln. Vor-sichtig schielte der blonde Norweger zu Flavio hinüber.Da erstarrte er. Schräg hinter ihm, bei den Rucksäcken,stand ein zotteliges Geschöpf, das Børre bislang nur hin-

155

Wo ist ›Abrico‹?_153-162_Wo ist ›Abrico‹? 28.10.09 12:17 Seite 155

Page 156: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

ter Gitterstäben gesehen hatte. Ein Bär! Ein mittelgro-ßes Tier mit breitem Schädel. Gerade zog er seine Naseaus Yanas Rucksack heraus. Børre rutschte das Herz indie Hose. Jetzt nur nicht bewegen, keine falsche Bewe-gung machen! Er fing still an zu beten, dann an zu ru-fen, zu schreien. Lautlos. »O Gott, bewahre uns vor dieserBestie. Bitte scheuche dieses Raubtier fort!« Aus den Au-genwinkeln beobachtete Børre jede Bewegung des plum-pen Tieres. Jetzt sah es zu den schlummernden Mäd-chen herüber, zögerte einen Augenblick und tappte dannauf Flavio zu. Børres Augen weiteten sich. Nur noch einknapper Meter. Der Bär senkte seinen Brummschädelund schnüffelte an Flavios Kopf herum. Nein, an seinemHelm. Wieso hatte der Freund denn seinen Helm auf?Innerlich musste Børre für einen Moment schmunzeln.Da fing die Bestie an zu lecken. Zwei, drei Mal. Børresah die langen Reißzähne. Sein Herz klopfte zum Zer-springen. »Bitte, Gott, schenke Flavio den Schlaf des Ge-rechten!« Plötzlich hob der Bär den Kopf, drehte sich umund trottete unter der Zeltplane hervor ins Freie. Wit-ternd hob er den Kopf. Dann richtete er sich auf. Diesegewaltigen Tatzen! Und Krallen wie scharfe Pfeilspitzen!Børre fröstelte. Auf einmal ließ der braune Geselle sichfallen und verschwand zwischen den Büschen. Børresah zu Flavio hinüber. Dann zu dem Helm. Unglaublich!Warum hatte der junge Italiener einen Helm auf? Mög-licherweise hatte das Teil ihm das Leben gerettet. »Dan-ke, Gott! Danke für den Schutz!« Børre kroch langsamaus dem Schlafsack hervor. Seine Knie waren weich wieWackelpudding. Der Norweger zog die Schuhe an und un-tersuchte vorsichtig das Camp. War der Braunbär wirk-lich fort? Endgültig? Børre pirschte durch die Büsche zurAnhöhe hoch. Nach einem flüchtigen Rundumblick stell-te er erleichtert fest, dass der Zottelbär das Weite such-te und in schneller Gangart am Horizont entlangtrabte.Børre überlegte. Sollte er den anderen berichten, was ge-schehen war? Flavio würde jedenfalls nie wieder eine

156

Wo ist ›Abrico‹?_153-162_Wo ist ›Abrico‹? 28.10.09 12:17 Seite 156

Page 157: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Nacht im Freien verbringen. Also würde er besser denMund halten. Als er in das Nachtquartier zurückkehrte,war Yana schon aufgestanden. Amüsiert zeigte sie aufFlavios Kopfbedeckung. »Wahrscheinlik ein Schutz gegenMückenstikke«, witzelte sie. »Ganz ehrlik, da ziehe ikk ei-ne sternförmige Schlafmütze vor!«

Børre ging zu seinem Quad. »Koch doch bitte schonmal Kaffee, Yana«, sagte er kurz. »Ich mach noch ’ne klei-ne Erkundungsfahrt.« Der blonde Norweger startete seinAllrad-Grizzly. Beim Klang des Motors setzten sich dieBrusco-Geschwister erschrocken auf. Flavio fasste irri-tiert zum Kopf. Verlegen nahm er den Helm ab. Børrelegte den Gang ein und durchbrach das Gebüsch. EineViertelstunde peste Børre durch die Gegend. Dann hielter auf einem Hügel an. Irgendwie musste er sein inneresGleichgewicht wiederfinden. Ein Erwachen mit Bärenbe-such hatte man nicht alle Tage! Børre sah zum Himmelauf. Über dem menschenleeren Vidda war kein Wölk-chen zu sehen. Dann dankte Børre Gott für die herrlicheMorgenluft, die gute Nacht und die überstandene Ge-fahr. Er betete für den Erfolg ihrer Suche und für seineEltern, die heute wieder einige Familien besuchen wür-den, um ihnen von der Liebe Gottes zu erzählen. Lang-sam wurde er ruhig. Als er den zurückkehrenden Frie-den verspürte, verließ er die Anhöhe und machte sichauf den Rückweg. Plötzlich stutzte er. Den Blick ge-senkt, um sich auf das Gelände zu konzentrieren, er-spähte er eine schmale Reifenspur. Ein Motorrad? Hierauf dem Vidda? Børre untersuchte das Profil. RobusteStollenreifen. Wer düste denn hier so allein durch diePrärie? Die Spuren ließen auf einen Slalomkurs schlie-ßen. Børre fuhr ein paar Kreise und brummte anschlie-ßend zum Camp zurück. Dieser Morgen war ein Morgenvoller Fragen. Aber trotzdem – Gott war ihm ganz nahe,das verspürte Børre heute in einer Weise wie selten zu-vor. Was würde der Tag alles bringen? Noch mehr Über-raschungen? Børre erreichte die Mulde und lächelte: Das

157

Wo ist ›Abrico‹?_153-162_Wo ist ›Abrico‹? 28.10.09 12:17 Seite 157

Page 158: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Lager war aufgeräumt und Kaffeeduft lag in der Luft. Ya-na empfing den blonden Norweger mit fragenden Augen:»Hast du heute Nacht unseren Proviant geplündert, Bør-re? In meinem Rucksack sieht es aus wie auf unsererRentierkoppel – alles leer!«

Børre kratzte sich am Kopf. »Nee, ich hab gepennt wieKönig Harald auf der Luftmatratze.«

»Peil ikk nicht«, sagte Yana kopfschüttelnd. »Keiner will’sgewesen sein.«

Børre wechselte schnell das Thema. »Darf ich mal dei-ne Karte sehen, Yana?«

Kurz darauf hob Børre erstaunt den Kopf. »Wir sindgar nicht weit von der E 06 entfernt. Nur ein paar Kilo-meter. Und in der anderen Richtung muss ’ne Hochland-hütte namens Bojobæski liegen.«

»Da wohnt Mikkel, der Dogmusher«, sagte Yana. »Derhat schon sechsmal den ›Finnmarksløpet‹ gewonnen.«

»Vielleicht können wir ihn mal fragen, ob er Abrico ge-sehen hat«, schlug Chiara vor. »Der kennt sich hier dochbestimmt so gut aus wie in seiner Westentasche.«

»Beinharte Idee«, tönte Flavio. »Könnte von mir stam-men, Schwesterchen.« Die anderen nickten und so mach-ten sich die jungen Leute, von denen nur einer wusste,wer Yanas Rucksack leer gefuttert hatte, nach einem lei-der nur dürftigen Frühstück auf den Weg nach Westen.Die Sonne meinte es gut und lockte mit ihren warmenStrahlen unzählige Mückenschwärme zu den Wasser-tümpeln der Tundra. Aber weil die Quadfahrer, bis aufYana, einen idealen Mückenschutz trugen, den Flavio be-reits in der Nacht getragen hatte, um seinen Skalp nichtzu verlieren, war ihnen das Geschwirre über ihren Köp-fen völlig egal.

Weiter östlich, auf der E 06, waren zwei »Touristen« ineinem Mega-Mobil unterwegs nach Karasjok. Die zierli-che Beifahrerin hatte eine ausgesprochen gute Laune.»Ich hab’s ja gewusst«, lächelte Britta. »Auf meine Gefühle

158

Wo ist ›Abrico‹?_153-162_Wo ist ›Abrico‹? 28.10.09 12:17 Seite 158

Page 159: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

159

Wo ist ›Abrico‹?_153-162_Wo ist ›Abrico‹? 28.10.09 12:17 Seite 159

Page 160: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

ist Verlass. Von wegen ›männlicher Instinkt‹ – die Nachtwar absolut erfolgreich!«

»Glück gehabt«, brummte der Fahrer.»Der Albino-Hengst ist wunderschön«, schwärmte Brit-

ta. »Und völlig zahm. Viel zu schade zum Schlachten!«»Was gefangen wird, wird auch geschlachtet«, sagte

Arne bestimmt. »Was soll denn sonst das Ganze? Dukannst dir das Fell ja über den Kamin hängen.«

»Nee, Albinos zu schlachten bringt Unglück.«Arne ging ruckartig auf die Bremse. »Abergläubisch,

Britta? Du?«»Nein, frauliche Gefühle.«»Dann lassen wir das Tier nachher laufen«, sagte Arne.

»So ein Quatsch! Warum hast du’s dann gefangen?«»Es kam von allein«, entgegnete Britta.Arne Lindberg kratzte sich am Kopf. »Nur weil es dir

schöne Augen gemacht hat, hast du’s mitgenommen?Obwohl du wusstest, dass Albinos angeblich Unglückbringen? Nicht zu fassen! Frauengefühle hin oder her –wir schlachten es!«

Britta seufzte und hob abwehrend die Hände: »Okay,dann lassen wir es lieber laufen.«

Arne nickte. »Ich halt gleich mal irgendwo an.«

In diesem Augenblick hielten zwei Grizzly-Quads aufdem Hof von Mikkel Jakobson, dem Dogmusher von Bo-jobæski. Die Husky-Meute im Zwinger jaulte los wie dieAlarmanlage einer Pariser Luxusvilla. Die verstaubtenFahrer setzten ihre Helme ab und sahen sich um. Daswar also das Zuhause des berühmten ›Finnmarksløpet-Winners‹! »Ziemlich baufällig die Bude«, meinte Flavioknapp. »Jedenfalls ist er zu Hause«, stellte Yana fest.»Dort hinten steht sein Jeep mit seinem Schriftzug aufder Fahrertür.« Børre musterte eine windschiefe Scheune,deren Tor halb offen stand. Der blonde Norweger trat in-teressiert näher. »Er hat noch einen Volvo«, stellte Børrefest. »Wahrscheinlich für Sonntagsausflüge.« Børre bück-

160

Wo ist ›Abrico‹?_153-162_Wo ist ›Abrico‹? 28.10.09 12:17 Seite 160

Page 161: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

te sich und klopfte sich einen halben Planwagen vollViddastaub aus der Hose.

»Nee, nee, funktioniert nicht«, bemerkte der smarteItaliener. »Der Wagen hat ja gar kein Nummernschild.«

»Braucht man für Spazierfahrten auf dem Vidda nicht«,grinste Børre. »Genauso wenig wie auf Sizilien.«

Chiara wischte mit dem Finger über den Kofferraum.»Keine Spur von Staub«, stellte sie erstaunt fest. »Derkann noch nicht lange hier stehen.« In diesem Momentstieß sie mit dem Fuß an etwas Weiches. Verblüfft hobsie ein Bündel bedruckter Blätter auf, das mit einer Ban-derole umwickelt war. »Das ist ja Geld!«, entfuhr es Bør-re. »Lauter Fünfziger!« Nervös blickte er Chiara in die Au-gen. »Hier … hier stimmt was nicht, Leute!«

»Da hast du vielleicht recht, du Naseweis! Gib das her,du Schnüffler!« Erschrocken fuhren die vier Ankömmlin-ge herum. Die Stimme klang laut und gebieterisch. Hin-ter ihnen stand ein »Kleiderschrank« mit Igelschnitt. DieMündung seines Revolvers zielte genau auf Børres Brust.

Gefangen in der Hochlandhütte

Mikka hatte an diesem Morgen den Friseursalon in Altabetreten, direkt nachdem der grauhaarige Ladeninha-ber sein Geschäft aufgeschlossen hatte.

»Morgen, Meister! Ist Mari da?«Der Grauhaarige nickte bedächtig. »Guten Morgen, Herr

Jakobson. Fassonschnitt wie immer?«»Nee, Glatze!«Der Ladeninhaber zuckte zurück. »Aber Herr Jakob-

son, in Ihrer Stellung als Firmenchef …«Mikka verzog das Gesicht. »Mari macht das schon. Mein

Kopf ist Frauensache.«Der Grauhaarige verbeugte sich leicht. »Wie Sie wün-

schen, Herr Jakobson.«

161

Wo ist ›Abrico‹?_153-162_Wo ist ›Abrico‹? 28.10.09 12:17 Seite 161

Page 162: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

In diesem Moment ging die Tür auf und eine Blondinemit Wespentaille betrat den Raum. Als sie den Groß-händler erkannte, fingen ihre Sternchenaugen an zuleuchten. »Hi, Mikka. Seit wann biste denn Bartträger?Soll’s was Ernsthaftes werden?«

Mikka grinste. »Mich hat die Midlife-Crisis* erwischt.«»Steht dir gut, Mikka.« Die Blondine griff zur Schere.

»Managerschnitt wie sonst?«»Nee, probier mal was Neues aus. Nimm den Rasierer!«Mari stutzte. »Den Rasierer?«»Ja, alles weg, sechs Millimeter.«»Aber Mikka …«»Midlife-Crisis. Sag ich doch.«Die Blondine mit der Wespentaille rasierte los. Ein paar

Minuten später stand Mikka vor dem Laden und fuhrsich mit der Hand über die Stoppeln. Wahnsinn, dieseSteppenlaus-Frisur! Aber was sein musste, musste ebensein. Mikka schlenderte zu Mikkels Jeep hinüber, dervor einem braunen Kastenfahrzeug parkte. Als er geradeden Autoschlüssel aus der Tasche ziehen wollte, klopfteihm jemand auf die Schulter. »Tag, Herr Jakobson. Na,haben Sie den Schreck gut verdaut?«

Mikka drehte sich verdutzt um und blickte in das lä-chelnde Gesicht eines Security-Beamten. »W…WelchenSchreck?«

»Na den Überfall bei Karasjok. Schon vergessen?«»Kann mich nicht erinnern.«Der Beamte kniff die Augen zusammen. »Nicht erin-

nern? Aber Sie wollten doch als Zeuge aussagen!«Mikka rieb sich über die Lippen. »Ich? Zeuge?«Der Pistolenträger ließ die Kinnlade fallen. »Donner,

Blitz und Überfall! Sie sind doch Mikkel Jakobson, oder?«»Steht doch auf der Tür«, grinste Mikka.»Sie wollten bestätigen, dass es ein dunkler Volvo war«,

sagte der Beamte. »Ein dunkelblauer.«»Nee, nee, der Benz war dunkelgrün … äh, grau. Darf

ich jetzt bitte einsteigen?«

162

* Sinn-Krise in der Lebensmitte

Wo ist ›Abrico‹?_153-162_Wo ist ›Abrico‹? 28.10.09 12:17 Seite 162

Page 163: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Der Security-Beamte atmete tief aus und gab auf. »Ichheiße doch nicht Emil«, zischte er und kehrte Mikka denRücken. Dann marschierte er kopfschüttelnd zu seinemKollegen hinüber, der in dem Geldtransporter wartete.Mikka stieg ein und drehte den Zündschlüssel um. Puh,bloß weg hier! Der Typ hatte Per die Knete übergeben.Bei dem Überfall war der Beamte cooler geblieben alsjetzt. Na ja, verständlich. Wenn die Steppenlaus sichauch so doof stellen würde wie er vor ein paar Sekun-den, dann würde man ihm nichts beweisen können. DerGroßhändler sah in den Rückspiegel. Perfekter Haar-schnitt. Als Dogmusher von Bojobæski würde er überalldurchkommen. Jetzt aber nichts wie los. Mikka wende-te den Jeep und fuhr zügig die Hauptstraße hinunter. Erdurfte keine Zeit mehr verlieren. Heute war Zahltag bzw.Zähltag. Er musste endlich wissen, wie hoch die Beutewar. Übermorgen kamen die Geschäftspartner. Da muss-te er einen Überblick haben, was er auf dem Konto hat-te. Mikka lenkte den Jeep zur Stadt hinaus. Auf dieJungs in der Firma konnte er sich verlassen. Allen vor-an, auf Per. Der Bursche hatte es drauf. Hundertpro-zentig. Als ob er schon 50 Banken überfallen hätte. AberMikkel? Diese armselige Steppenlaus! Der wusste garnicht, dass er so früh kam. Er hatte ihn gestern ange-rufen und für heute auf die Jagd geschickt. Erst für denAbend hatte er sich angemeldet, um ihm die verspro-chene Summe von der Beute zu bringen. So hatte er dieRuhe der ganzen Welt, in Mikkels Bude Knete zu zählen.Und zwar allein. Jemand anderen ging die Höhe derBeute nichts an. Per? Ja gut, ihn sollte man vielleichteinweihen. Der hatte ja auch einen bombigen Job ge-schoben. Mikka bretterte über die Fjellroute wie seinfinnischer Namensvetter Häkkinen aus der Rallyeszene.Es war ja auch nicht seine Karre. Trotzdem, die Fede-rung von Mikkels Jeep schien noch in Ordnung zu sein.

Mikka schaffte die Strecke von Alta bis zur Hochland-hütte seines Bruders heute in zwei Stunden. Mit einem

163

Gefangen in der Hochland-Hütte_163-170_Gefangen in der Hochland-Hütte 28.10.09 12:50 Se

Page 164: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Fernglas vergewisserte er sich von einem Hügel aus, obMikkel wirklich unterwegs war. Zu Fuß jagen gehen!Dieser Depp! Aber widersetzt hatte er sich noch nie. Bisauf die Schnapsidee, seine Mytsi zu entführen. Loser!Selbst dieses Vorhaben war in die Hose gegangen. DerHof lag wie ausgestorben im Morgenlicht. Mikka parkteden Jeep und schlurfte zur Haustür. Sie war auf. Wieimmer. Mikka trat ein und ging in die Küche. Ein kurzerBlick zur Wand, wo sonst immer Mikkels Jagdgewehrhing. Es war weg. Der ›Nicht-mehr-nur-Großhändler‹ warzufrieden. Jetzt kam der große Augenblick. Mikka gingin die Scheune und öffnete den Kofferraum seines »dun-kelgrünen Mercedes«. Mann, hatte der Security-Typ däm-lich aus der Wäsche geguckt! In dem Kofferraum lagenvier Taschen, zwei Geldkassetten und eine prall gefüllteMappe mit Reißverschluss. Einige Geldbündel und Säck-chen mit Münzen lagen verstreut zwischen den Taschenumher. Mikka musste dreimal gehen, bis er die komplet-te Beute auf dem Küchentisch liegen hatte. Dass ihmbeim Zuschlagen des Kofferraumdeckels ein Bündel mitGeldscheinen aus der Hand fiel, merkte er nicht. Dannverschloss er die Haustür und brach die Kassetten auf.Bald türmten sich Geldstapel und Münzberge auf demTisch. Mikka führte eine Strichliste. Ein Strich ent-sprach 100 Kronen. Nach einer halben Stunde hatte ernach kurzem Überschlagen schon über 83.000 Kronenzusammen. Dabei hatte er erst den Inhalt von zwei Ta-schen gezählt. Mikkas Verbrecherwangen waren inzwi-schen rot wie ein Lausbubengesicht nach einer faust-dicken Lüge. Seine Augen glänzten.

Plötzlich runzelte Mikka die Stirn. Durch das geöffne-te Fenster drangen schwache Motorengeräusche herein.Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Kam da wer? DieGeräusche wurden lauter. Wahrscheinlich Motorräder.Wahnsinn! Besuch in der Wüste? Doch wohl nicht gera-de jetzt! Mikka zog seinen Revolver aus der Innentasche.Nervös stand er auf und schlich zum Fenster. Da fuhren

164

Gefangen in der Hochland-Hütte_163-170_Gefangen in der Hochland-Hütte 28.10.09 12:50 Se

Page 165: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

zwei Quads in den Hof ein. Mikka zählte drei Helme undeine Samen-Mütze. Kinder. Was wollten die denn hier?Bestimmt Autogramme von seinem »weltberühmten«Zwillingsbruder, dem Dogmusher von Bojobæski. Na ja,die konnten sie bekommen. Aber in die Küche durfte ersie nicht hineinlassen. Da verkrampften sich MikkasHände. Die Rasselbande ging auf die Scheune zu! Unddas Tor stand auf. Donner, Blitz und Geldkassette! Erhatte vergessen, das Scheunentor zu schließen, wo dasFluchtauto stand! Wenn die Kids ein bisschen auf Zackwaren, konnten sie ahnen, um welches Fahrzeug es sichhandeln musste. So viele dunkelblaue Volvos fuhren inder Finnmark nicht herum. Mikka fing an zu schwitzen.Dann steckte er den Revolver in die Tasche und verließdie Küche. Als er hinter den unbequemen Besuchernauftauchte, hob die kleine Schwarzhaarige gerade einGeldbündel auf. Auch das noch! Jetzt gab es keineandere Wahl. Mikka zog den Revolver. »Gib das her, duSchnüffler!«

Børre war der Erste, der nach einigen Schrecksekun-den die Sprache wiederfand. »W…Wir suchen ein …«

»Sag jetzt nicht ein fortgelaufenes Rentier!«, fiel MikkaBørre ins Wort. »Keine faulen Ausreden. Was schnüffeltihr hier herum?«

»D…Doch, Herr J…Jakobson. Einen Albino-Hengst.«Mikka hob drohend den Revolver. »Einen Albino-Hengst?

In meinem Schuppen? Was Besseres fällt dir wohl nichtein, was, Kleiner?«

Børre schluckte. »Wir … Wir suchen Rentiere, wirklich.«»Das Weiße ist meins«, ergänzte Yana schnell. »Es heißt

Abrico.«»Schnauze!«, zischte Mikka. »Das könnt ihr eurer Ur-

großmutter erzählen, aber nicht einem Mikkel Jakobson.Los, mitkommen!« Mikka machte eine Bewegung mit demRevolver. »Seht ihr dort hinten das Gebäude neben demHusky-Zwinger? Dort hinein. Und wehe, es startet je-mand einen Fluchtversuch … grrr, ich werfe ihn …«

165

Gefangen in der Hochland-Hütte_163-170_Gefangen in der Hochland-Hütte 28.10.09 12:50 Se

Page 166: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Verstört stolperten die vier jungen Leute über den Hof.Tolle Wurst! Anstatt eine hilfreiche Auskunft zu bekom-men, wo Abrico sein könnte, saßen sie jetzt in der Pat-sche wegen wer weiß nicht was. Der krasse Dogmushervon Bojobæski, der allerorten als sechsfacher ›Finnmarks-løpet-Winner‹ gepriesen wurde, bedrohte Jugendlichemit einer Waffe. Toller Champion! Wirklich. Jetzt riss erdie schwere Holztür des Nebengebäudes auf und zeigtemit dem Revolver hinein. »Und was ich eben noch sagenwollte … falls einer Mucken macht, ich werfe ihn meinenHuskys zum Frühstück vor! So, und jetzt, schönen Tagnoch. Autogramme später!« Peng, die Tür schlug zu undein Schlüssel drehte sich im Schloss. Der Suchtrupphatte ausgesucht. Gefangen in der Hochlandhütte. War-um? Keinen blassen Schimmer. Der Tag, der mit vielenFragezeichen begonnen hatte, wurde um eine Frage rei-cher. »Und nun?«, jammerte Flavio. »Sollen wir hier etwagrau und schimmelig werden?«

»Banditenbude«, sagte Yana mit erstickter Stimme.»Voll der lausige Urlaubsbunker«, flüsterte Flavio.Børre kratzte sich am Kinn. »Hier kommen wenigstens

keine Bären rein.«»Bären? Wieso?« Chiara hob fragend die Augenbrauen.»Ach nur so«, sagte Børre. »Hast du dein Handy in der

Tasche, Oberhäuptling?«»Wenn’s drauf ankommt, gehen die Dinger eh nicht«,

meinte Flavio missmutig. »Entweder ist der Akku leeroder es ist kein Geld mehr drauf.«

»Das Handy ist im Rucksack«, stöhnte Yana. »Und derist auf dem Quad festgeschnallt.«

»Tolle Wurst!«, flachste Flavio. »Und nun?«»Beten«, sagte Børre. »Wie damals im Maschinenraum.«»Auf dem getarnten Forschungsschiff? Da war es schön

warm.« Der junge Italiener seufzte. »Was man von diesemSchimmelbunker nicht gerade behaupten kann.«

Børre setzte sich auf einen Holzklotz. »Ich fang mal an.«Nachdem er Gott gebeten hatte, ihnen in dieser verzwick-

166

Gefangen in der Hochland-Hütte_163-170_Gefangen in der Hochland-Hütte 28.10.09 12:50 Se

Page 167: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

ten Lage zu helfen, hob Yana verlegen den Kopf. »Und jetztglaubst du, Børre, es passiert was?«

»Gott hat uns bisher noch nie im Stich gelassen«, erwi-derte der blonde Norweger.

»Ja«, bestätigte Flavio, »wenn’s drauf ankommt, ist Gottda. Ganz anders als bei den Handys!«

Yana zupfte gedankenversunken an ihrer Zipfelmütze.»Ikk hab so im Gefühl, dass Gott euch diesmal hängenlässt.«

»Pessimist«, sagte Flavio.»Nee, Karasjok-Instinkt.«»Beides falsch«, erklärte Børre. »Wir brauchen Glauben.

Gott hört uns, aber wir müssen ihm auch glauben und ver-trauen. Gefühle sind zu vage.«

»Na gut«, entgegnete Yana. »Ikk probiere es mit Karas-jok-Instinkt und ihr mit Glauben. Mal sehen, wer rechtbehält.« Die stolze Samin drückte andächtig ihre Karas-jok-Mütze auf ihr Herz und küsste den bunten Saum.

Mikka hockte nebenan und zählte Money ohne Ende. Ermusste damit fertig sein, bevor die Steppenlaus aufkreuz-te. Sein Kopf glühte. Was er mit den Rotznasen machenwürde, wusste er schon. Er würde sie einfach Mikkel über-lassen. Dieser Depp konnte sie aus der Bude rauslassen,wenn er sich übermorgen abgeseilt hatte. Mit der kom-pletten Knete. Es gab auch noch andere Verstecke. SollteMikkel den Schnüfflern doch erklären, warum er sie mitdem Revolver bedroht und eingesperrt hatte. Und derPolizei konnte er husten, wieso das Fluchtauto in seinerScheune stand. Er, der Zwillingsbruder, würde sich schonaus der Affäre zu ziehen wissen. Beweisen konnte ihmniemand etwas. 228.750 … 228.800 Kronen. Jetzt nur nochdie Münzen. Eine Viertelstunde später schleppte Mikkadie Knete zum Volvo zurück. Knapp 230.000 Piepen! So,jetzt hatte er Gewissheit. Eigentlich hatte er mit mehr ge-rechnet. Aber gut – für den Anfang … Mikka schob nochdie Quads in den Schuppen und ging in die Küche zu-

167

Gefangen in der Hochland-Hütte_163-170_Gefangen in der Hochland-Hütte 28.10.09 12:50 Se

Page 168: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

rück. Gerade wollte er sich eine Zigarre anzünden, als erSchritte auf dem Hof hörte. Mikka schielte aus dem Fens-ter. Da stand es ja – sein nur sieben Minuten jüngeresAbbild. Mit einem Hirn wie ein Hornochse. Auf dem Rü-cken schleppte er ein Hochlandschaf. Immerhin: Fürden Braten zum Meeting war gesorgt. Übermorgen wür-den sie kommen. Alle. Alle Partner und Lieferanten. Au-ßerdem noch ein paar Neue aus der Szene. Und dann wür-de er ihnen die neue Geschäftsordnung verklickern …

Zwei Minuten später öffnete Mikkel die Küchentür. Ab-gekämpft und schmutzig. In seiner Outdoorkleidung saher aus wie Lederstrumpf höchstpersönlich. Der müde Jä-ger hob lässig die Hand. »Hi, Mikka. Schon hier?«

»Siehste doch, Bruderherz.« Mikkel ließ das Schaf auf den Holzfußboden gleiten.

»Das ist das erste Mal, dass du mir Knete bringst«, be-merkte er. »Sonst musste ich mir jede Krone in Alta ab-holen.«

Mikka grinste zweideutig. »Haste dir redlich verdient.Deine Bude ist sicherer als ein bosnisches Bergkloster.Hier kommen noch nicht einmal ein paar Quads vorbei!«

Mikkel verzog unwirsch den Mund. »Für das Schaf ver-lange ich noch einen Zuschlag.«

»Wie viel verlangst du denn?«»300.«»So, so, dann verlang mal.«»1500 plus 300 für das Schaf sind 1700 Kronen. Her

mit dem Zaster!«Mikka kraulte seelenruhig in seinem Fünf-Tage-Bart.

»So, so. 1700 Kronen. Ich wollte dir heute eigentlichnur ’ne Anzahlung von 50% geben. 600! Den Rest krieg-st du, wenn das Schaf gut schmeckt.«

»Brat’s dir selber!«, fauchte Mikkel und fummelte ner-vös an seinem Jagdgewehr herum. »Ich bin die ständigenVertröstungen leid. Heute zahlst du alles.1700!«

Mikka schnipste mit den Fingern. »Langsam, Bruder-herz. Stell mal dein Bumm-Bumm-Gewehr in die Ecke.«

168

Gefangen in der Hochland-Hütte_163-170_Gefangen in der Hochland-Hütte 28.10.09 12:50 Se

Page 169: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

In Mikkel kroch die Wut hoch. Seine Lippen bebten.»Her mit den Piepen. Und zwar sofort! Wenn ich nichtendlich Bares kriege, dann … grrr, ich werfe …!«

»Was soll das heißen ›grrr‹?« Mikka erhob sich und schobseine Hand langsam in die Tasche.

Da rastete Mikkel aus. Zitternd riss er sein Jagdgewehrhoch und richtete den Lauf auf Mikkas Bauch. »Ich zählebis drei. Wenn ich dann kein Geld sehe, bist du … bist dueine … eine Leiche!«

Mikka knirschte mit den Zähnen. »Das … das würdestdu wirklich machen, Steppenlaus? Du armselige?«

Mikkel knurrte unverständliche Laute. Sein Zeigefingertastete nach dem Abzugshahn. »E…Eins!«

»Mein Portemonnaie liegt noch im Jeep«, flüsterte Mikka.»Du lügst!« Der Dogmusher brüllte wie ein angeschos-

sener Tiger. Sein Zeigefinger zuckte. »Z…Zwei!«»Bruderherz … wirklich!«Mikkel zitterte jetzt am ganzen Körper – klick! – Das

schwache Geräusch hing drei Sekunden in der Luft. Dannfiel das Gewehr krachend zu Boden. Die Faust Mikkastraf den Bruder mit voller Wucht. Blut schoss aus der auf-geplatzten Lippe. »Du … du Mistkerl! Du … du hast nurbis zwei gezählt!« Der nächste Hieb traf den Dogmusher inden Magen. Mikka konnte sich nicht mehr bremsen. »Rausmit dir, Steppenlaus. Mir aus den Augen.« Mikka zog sei-nen Revolver aus der Tasche und drängte den Bruder zurTür. »Ab in den Schuppen! Loser, noch nicht einmal einGewehr kannst du laden!« Mikkel torkelte auf den Hof.Alles um ihn herum drehte sich. Die wütenden Ausbrücheseines Bruders registrierte er kaum. Er hatte abgedrückt!Nur, weil er so gezittert hatte. Mikka hätte tot sein kön-nen! Mikkel spürte den Revolver im Rücken. Und die Lip-pe brannte wie Feuer. »Die 1700 kannste dir abschmin-ken, Steppenlaus. Forget it!« Die Zwillinge erreichten dasNebengebäude. Mikka zog den Schlüssel aus der Tasche,riss die Holztür auf und schubste Mikkel in den Raum.Vier erschrockene Augenpaare starrten den Blutenden an.

169

Gefangen in der Hochland-Hütte_163-170_Gefangen in der Hochland-Hütte 28.10.09 12:50 Se

Page 170: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Lauschangriff im Dixi-Klo

»Mik…Mikkel?« Yana rang um Fassung. »Was … was ist passiert? Bist du überfallen worden?«

Der Dogmusher stöhnte und tastete mit dem Fingernach seiner Lippe. »Was … was macht ihr denn hier?«

»Er blutet«, sagte Chiara bleich.»H…Halb so wild«, lispelte der Jäger benommen. »Wer

hat euch in meinen Schuppen gesperrt?«»Soll das ein schlechter Witz sein?«, fragte Børre irri-

tiert. »Sagen Sie uns lieber, wo wir hier hereingeratensind. Drucken Sie hier Falschgeld?«

»Falschgeld? Drucken? Ich züchte hier Huskys. Au,meine … grrr, tut das weh!«

Chiara zog ihr Taschentuch hervor und tupfte Mikkelvorsichtig auf die Lippen. »Geht’s so, Mik?«

Der Guide hob ächzend den Kopf. »Kennste mich, Püpp-chen? Wie heißt du?«

»Chiara Brusco. Das ist mein Bruder Flavio. Wir brau-chen unbedingt lauwarmes Wasser, sonst bekomme ichdas Blut nicht ab.«

»Warum haben Sie uns mit dem Revolver bedroht?«,fragte Børre unsicher. »Wir haben doch überhaupt nichtsverbrochen.«

»Ich euch bedroht?«»Ja, als wir das Geld gefunden haben.«»Welches Geld?«»Frag nicht so viel, Børre«, sagte Chiara jetzt. »Er ist

noch ganz benommen. Wir klären das später.«Mikkel drehte langsam den Kopf. »Børre heißt du?«»Ja, Børre Ålsen. Mein Vater arbeitet in den Ferien als

Missionar in Karasjok. Wir waren auf Rentiersuche undwollten Sie nur fragen, ob Sie irgendwo Yanas Albino-Hengst gesehen haben. Wir haben Sie nicht angelogen!«

»Ich … ich seh euch hier zum ersten Mal«, stammelteMikkel. »Ich schwör’s euch.«

170

Gefangen in der Hochland-Hütte_163-170_Gefangen in der Hochland-Hütte 28.10.09 12:50 Se

Page 171: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Das peil ich nicht«, sagte Børre nun. »Ein Menschmuss doch wissen, was er tut!«

»Es wird mein Bruder gewesen sein«, sagte Mikkel ver-bittert. »Wir sind Zwillinge und gleichen uns seit heutewie ein Ei dem anderen.«

Yana staunte mit offenem Mund. »Seit heute erst?«»Er war heute Morgen beim Friseur«, erklärte der Züch-

ter. »Seitdem sieht er genauso beschissen aus wie ich.Na ja, meinen Huskys ist’s egal.«

Die vier starrten den Guide an. In ihren Köpfen arbei-tete es. Langsam bekam die Geschichte ein Gesicht. Undnach wenigen Minuten hatten beide Parteien den Durch-blick. Mikkels Lippe hatte aufgehört zu bluten. Aber seinBart sah fürchterlich aus. Blutverkrustet und schmut-zig. »Ich bin heute mindestens 20 Kilometer durch dieBotanik gerobbt«, berichtete der Dogmusher nach einerWeile. »Ich bin fix und alle.«

»Und ich hab Hunger«, ergänzte Flavio.»Kommen wir hier nicht irgendwie raus, Mik?« Yana

sah dem müden Jäger fragend in die Augen.Mikkel Jakobson schüttelte langsam den Kopf. »Keine

Chance, Püppchen. Der Holzkeller ist der sicherste Bun-ker in ganz Bojobæski. Mikka hat’s genau gewusst.«

Beklommenes Schweigen machte sich breit und Mik-kel versank in trauriger Niedergeschlagenheit. Er hatteabgedrückt! Fast wäre er zum Mörder geworden. Nachdem 20-Kilometer-Marsch hatte er einfach keine Nervenmehr gehabt. Es war passiert. Ungewollt. Jetzt stand erda mit seiner Schuld. Schuld? Ja, irgendwie fühlte er sichmies. Wie ein Brudermörder eben. Wenn man ein Lebendoch noch einmal leben könnte! Das wär’s. Er würde ir-gendwo von Neuem anfangen. Aber wo und wie? Haupt-sache weit weg von seinem Zwillingsbruder. Ihm würdeer nie wieder in die Augen sehen können. Egal, wie fiesMikka sich auch ihm gegenüber benommen hatte – tö-ten ging zu weit. Viel zu weit! Mikkel grübelte, den Kopfauf seine Hände gestützt. Wie konnte man eine so große

171

Lauschangriff im Dixie-Klo_171-180_Lauschangriff im Dixie-Klo 28.10.09 12:46 Seite 171

Page 172: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Schuld loswerden? Einfach verdrängen? Er hatte auf al-len Gebieten des Lebens versagt, war ein armseliger Lo-ser. Aber am schlimmsten war dieses elende Wissen,schuldig zu sein. Vor wem denn? Nur vor seinem Bru-der? Oder vielleicht auch vor Gott? Mikkel seufzte undknibbelte sich eine Blutkruste aus dem Bart.

Genau in dem Moment, als ein vierköpfiger Suchtrupp inden sichersten Bunker von Bojobæski gesperrt wurdeund Mikkel noch auf dem Vidda umherstreifte, um ir-gendetwas Essbares zu erjagen, fand im ›Nordkap-Hotel‹Karasjok ein kurzes Telefongespräch statt. Endlich hatteEddy Ericson den Wohnmobil-Verleiher Nils Båtten inTromsdalen erwischt. Zufrieden legte er den Hörer aufdie Gabel. »Und?«, fragte Erna neugierig, »was sagt derGauner? Bekommen wir jetzt das Mega-Mobil mit demKanu auf dem Dach?«

Eddy schüttelte den Kopf. »Noch steht nicht fest, ob esihm wirklich gehört. Und wenn – mir wäre es viel zugroß. Nils hat übermorgen einen Termin, der hier ganzin der Nähe sein muss. Da will er uns ein Ersatzfahrzeugmitbringen und den Ducato abschleppen.«

»Wird auch Zeit«, nickte die Agenten-Gattin Erna Eric-son. »Wir können ja in unserem Alter nicht nur spazie-ren gehen.«

»Du bist schon Rennrad gefahren«, sagte Eddy. »Alsosei zufrieden.«

»Und was machen wir heute noch?«»Ich geh mal in die Hotelsauna.«»Was? Nackig in der Weltgeschichte herumsitzen? Ich

brauch Bewegung, Eddylein.«»In einer Sauna schwitzt man auch ohne Bewegung,

Schätzchen.«»Nee, nee. Ich muss an die Luft.«»Dann geh Himbeeren suchen, Erna, oder mach einen

Waldlauf. Ich schwitze lieber in der Sauna.«»Langeweiler!«, sagte Erna und ging zur Treppe. Kurz

172

Lauschangriff im Dixie-Klo_171-180_Lauschangriff im Dixie-Klo 28.10.09 12:46 Seite 172

Page 173: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

darauf lugte sie noch einmal um die Flurecke. »Sind wirin Zimmer 11 oder 12, Eddylein?«

»In Nr. 10, Erna! Auf dem Schlüssel steht die Nummerdrauf.« Erna nickte und verschwand. Eddy schluckte.

Eine halbe Stunde später radelte Erna zur Stadt hin-aus. Mit der »Möhre« vom Koch. Sie hatte sich entschlos-sen, noch ein zweites Mal zum Ort des Überfalls auf denGeldtransporter zu fahren. Eddy ahnte nichts. Der warglücklicher Rentner. Die Agenten-Omi aber hatte inzwi-schen 154 Tatortfotos ausgewertet und war auf einigePunkte gestoßen, die zu einer nochmaligen Prüfung An-lass gaben. Zum Beispiel der Leitpfosten neben der Stra-ße. Er besaß ein Loch direkt über dem Reflektor. Aufdrei Fotos konnte man es sehen. Wenn dies ein Ein-schussloch sein sollte, dann brauchte man nur eine ge-dankliche Linie zu ziehen und … na ja, eine Kugel wäreimmerhin ein brauchbares Indiz.

Zwei Kilometer hinter dem Ortsschild verspürte Ernaplötzlich ein Kneifen, wie das im menschlichen Verdau-ungstrakt normalerweise einmal pro Tag so üblich ist.Die rüstige Rentnerin kräuselte die Stirn. Auch das noch.Eine unwillkommene Unterbrechung ihrer Fahndungs-arbeit. Hmm, sollte sie einfach hinter dem nächstenBusch verschwinden? Ach ja, in einigen Hundert Meternkam ja der kleine Rastplatz mit dem Dixi-Klo. Das warangenehmer. Bis dahin würde sie es noch schaffen.Erna beschleunigte das Tempo und zog ein paar Minu-ten später eine rasante Bremsspur vor einem blauenToilettenhäuschen mit einem ausgestanzten Herzchenauf der Tür. Die »Möhre« konnte sie aufgrund der Dring-lichkeit nur noch in das Gras fallen lassen. Zwei schnel-le Schritte, Riegel zu und … da hörte sie draußen einMotorengeräusch. Einige Meter neben dem Dixi-Klo ver-stummte es. Nicht auszudenken, wenn ein andererschneller gewesen wäre! Erna atmete aus. Nachdem dasmenschliche Bedürfnis erledigt war, schielte Erna vor-sichtig durch das Herzchenfenster. Und das war gut so.

173

Lauschangriff im Dixie-Klo_171-180_Lauschangriff im Dixie-Klo 28.10.09 12:46 Seite 173

Page 174: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Sehr gut sogar, denn in diesem Moment sah sie es. Einmegastarkes Wohnmobil mit einem Kanu auf dem Dach.Ein braunes. So ein Power-Teil hatte sie erst einmal ge-sehen: Bei Nils Båtten vor dem Rolltor! Jetzt stiegen einMann mit mintgrüner Sonnenbrille und ein zerbrech-lich wirkendes Püppchen aus. Mit einer Thermosflascheund einem Marmorkuchen bewaffnet, setzten sie sich aneinen Holztisch, der keine vier Meter von Ernas Beob-achtungsposten entfernt stand. Der Mann zeigte auf die»Möhre« vom Hotelkoch und schüttelte den Kopf. »Dienorwegischen Parkplätze wurden auch schon mal bessergepflegt. Einfach liegen und verrosten lassen. Scheintmodern zu sein.«

»Vielleicht gehört’s jemandem, der auf dem Häuschensitzt«, meinte die zierliche Begleiterin lächelnd. Der Fah-rer musterte das Dixi-Klo und schritt geradewegs aufdas blaue Häuschen zu. Erna verschwand in der Versen-kung. Da wurde die Klinke heruntergedrückt. »Außer Be-trieb«, sagte Arne. »Wahrscheinlich will es keiner mehrsauber machen.« Die Agenten-Omi hielt sich schmun-zelnd die Hand vor den Mund. Durch die dünne Plastik-wand war jedes Wort zu hören. Eine ganze Weile redetendie beiden Touristen belangloses Zeug. Über Gefühleund Instinkte. Also wirklich, worüber sich die jungenLeute heutzutage alles unterhielten! Auf einmal meinteder Sonnenbrillen-Boy: »Wir lassen das Albino-Ren ersthinter Karasjok raus. Hier an der E 06 ist mir das zu ge-fährlich.« Erna spitzte die Ohren. Ein Rentier rauslas-sen? So, so. »Von mir aus«, entgegnete die Frauenstim-me. »Willste noch ’nen Kaffee, Arne?« In diesem Augen-blick klingelte irgendwo ein Handy. Coole Techno-Melo-die. Arne griff in die Innentasche. »Hi, Chef! … Wie bitte?Wir sollen nach Bojobæski kommen? Übermorgen? … Waswill Mikka denn von uns? … Das ist ja Wahnsinn! Ichkann mit dem ›Rentierschlitten‹ doch keine Schotterwegenehmen! Da bricht mir ja die Achse weg!« … Arne Lind-berg wurde immer lauter. Erna riskierte noch einen flüch-

174

Lauschangriff im Dixie-Klo_171-180_Lauschangriff im Dixie-Klo 28.10.09 12:46 Seite 174

Page 175: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

tigen Blick durch das Herzchen. Der Typ ging jetzt wildgestikulierend auf und ab. »Wer kommt denn alles, Nils,die ganze Bande? Ich meine, alle Partner? … Was? Dukommst mit dem Hymer? Dachte ich mir doch, dass dasmit dem Ducato ’ne Pleite wird …!« Die lauschende Agen-ten-Gattin bekam rote Ohren. Das war ja ein dickes Ei!Mannomann, die quatschten ja über sie! Kurz daraufsteckte der Fahrer das Handy in die Tasche. Also gehör-te dieses Protz-Mobil doch dem lustigen Nils! Erna drück-te ihr rechtes Ohr jetzt heftig gegen die Kunststoffwand.»Dann bleiben wir noch einen Tag in Karasjok«, hörte sienun den Sunnyboy sagen. »Wow! Endlich ein Tag Pause.Wir suchen uns irgendwo ein Hotelzimmer.« Erna hörtedie Dame gähnen. »Ja, das gönnen wir uns, Arne. Willstenoch ein Stück Kuchen?« Der Angesprochene verneinte.»Lass uns weiterfahren, Britta. Wir brauchen auf jedenFall ein Hotel, das einen Parkplatz hat, wo man die Tierenicht trampeln hört.« Erna atmete tief durch. Ein paarMinuten später rollte das Power-Mobil vom Parkplatz.Die rüstige Rentnerin entfernte den Riegel. Sie wusstegenau, was jetzt zu tun war. Im Gras lag die »Möhre«,jedoch nicht zum Verrotten. Erna schwang sich auf denSattel und bretterte nach Karasjok zurück. Ein Rennradwäre jetzt tatsächlich besser gewesen. Der Sheriff hattesein Büro neben dem Postamt. Nach dem genauen Be-richt Ernas war der Polizeibeamte bestens im Bilde. Dasschien ein dickes Ding zu werden! Wenn das der Schlüs-sel für das Verschwinden der Kauto-Rentiere sein sollte,war die Sache brandheiß. Man beschloss, mit der Über-prüfung bis übermorgen in aller Frühe zu warten. Bis da-hin würde die angeforderte Polizeieinheit zur Stelle sein.Ob Bojobæski ein Schlupfwinkel für eine mehrköpfigeRäuberbande war? Nun gut, man würde sehen.

Während nun zwei »Touristen« in Karasjok eine Zwangs-pause einlegen mussten, über das angenehm weiche Ho-telbett und den zu erwartenden Ruhetag aber alles an-

175

Lauschangriff im Dixie-Klo_171-180_Lauschangriff im Dixie-Klo 28.10.09 12:46 Seite 175

Page 176: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

dere als sauer waren, erwies sich die Nacht in MikkelsHolzschuppen dagegen als hundsmiserabel. Zwar lag ne-ben dem Kaminholzstapel auch etwas Heu, aber keinerder Gefangenen war es gewohnt, ohne Decken oder we-nigstens einen Schlafsack zu schlafen. Ab und zu hörtendie vier Freunde Mikkel stöhnen. Der Dogmusher wälztesich von einer Seite auf die andere. Keiner der fünf »Ein-sitzenden« im Schimmelbunker von Bojobæski fand mehrals nur vier Stunden Schlaf. Mikka hatte ihnen gnädi-gerweise noch etwas Brot hereingereicht, bevor er amAbend nach Alta zurückgefahren war. Aber das war’sauch schon. Nun erwartete sie ein Tag mit Langeweilepur. Mikkel hatte festgestellt, dass hinter seiner aufge-platzten Oberlippe auch noch ein Schneidezahn wackel-te. Irgendwann konnte er seine bohrenden Gedankennicht mehr für sich behalten. »He, Børre! Hat dein alterHerr neulich mal ’ne fromme Diskussionsrunde in ’nemKarasjoker Hotel veranstaltet?«

Børre nickte überrascht. »Woher weißt du das?«»Ich hatte ’ne Einladung.«»Von wem?«»Keine Ahnung. War ein Oldie mit nur einem Arm.«Børre lächelte. »Das war Kiki Manski. Bei ihm wohne

ich zurzeit.«»Zurzeit wohnen wir im Schimmelhotel Jakobson«,

tönte Flavio. »Mit Heubett und Borkenkäferbefall.«»Nicht mehr lange«, entgegnete der blonde Norweger.Yana seufzte. »Optimist.«»Glaube«, konterte Børre. »Optimismus ist nur ’ne po-

sitive Stimmung. Glaube geht tiefer.«Mikkel sah Børre fragend an. »Habt ihr im Hotel auch

über so was diskutiert?«»Ja«, sagte Børre, »über das Thema Schuld und Verge-

bung. Leider waren nicht viele Leute da.«»Wen interessiert das auch schon«, meinte Yana.»Dein alter Herr ist wohl Fachmann für solche Fragen,

was? Ist er Pastor oder Psychologe?«

176

Lauschangriff im Dixie-Klo_171-180_Lauschangriff im Dixie-Klo 28.10.09 12:46 Seite 176

Page 177: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Nee«, feixte Flavio vorlaut, »Børres Dad ist Lehrer. Derhaut den armen Schülern in Bio und Erdkunde die Fün-fen rein!«

»Und die Einsen und Zweien«, ergänzte Chiara. »Ich habe nur die Fünfen bekommen«, sagte Mikkel.

»Deshalb hat’s auch nur zum Dogmusher gereicht. MeinBruder hat’s bis zum Firmenchef gebracht.«

»Hmm«, machte Børre, »der Firmenchef droht mit Waf-fen und sperrt uns hinter Schloss und Riegel.«

Mikkel schwieg. Erst nach einer ganzen Weile fragte erleise: »Wenn du meinen Bruder in die Gewalt bekämst,würdest du dich rächen?«

Børre überlegte und meinte schließlich – mehr zu sichselbst – als Antwort auf Mikkels Frage: »Christen sollenihre Feinde lieben und denen wohltun, die sie hassen.«

»Fromme Theorie!«, brauste Yana auf. »Das schafft kei-ner. Merle werde ikk zum Nordpol jagen, wenn ikk sie er-wische!«

»Jesus hat’s geschafft«, antwortete Flavio. »Er hat ei-nem Soldaten sogar das Ohr wieder angeklebt, das Pe-trus ihm abgehauen hatte.«

»Und die Christen sollen sich Jesus zum Vorbild neh-men«, ergänzte Chiara.

»Und Ohren ankleben, was!«, stichelte Yana.»Nein, aber vergeben!«, entgegnete Børre.»Das hat der einarmige Oldie letzte Woche auch ge-

sagt«, meinte Mikkel. »Wie heißt er noch?«»Kiki Manski«, sagte Børre kopfnickend. »Ja, der kann

auch ein Liedchen davon singen, was es bedeutet, ge-hasst zu werden.«

»Wollte ihn jemand umbringen?«, fragte Mikkel leise.»Ja«, antwortete der blonde Norweger. »Es hat ihm je-

mand die Bude angezündet. Weil er ihm angeblich dieFrau ausgespannt haben soll. Hat sich später aber alsIrrtum erwiesen.«

»Was es in der Finnmark nicht alles gibt«, murmelte derDogmusher. »Und dabei hat er den Arm verloren?«

177

Lauschangriff im Dixie-Klo_171-180_Lauschangriff im Dixie-Klo 28.10.09 12:46 Seite 177

Page 178: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Ja, leider«, nickte Børre. »Die Verbrennungen warenso stark, dass er nicht mehr zu retten war.«

»Der Alte ist cool«, sagte Mikkel.»Cool? Wieso?«»Weil er dem Feuerteufel bestimmt verziehen hat«, mein-

te der Guide fasziniert. »Dem Kiki trau ich das zu!«Børre lächelte. »Richtig geraten. Hat aber ein Weilchen

gedauert. Der Brand hat Kiki dazu veranlasst, in seinemverpfuschten Leben aufzuräumen, seine Schuld vor Gottzu bekennen und mit Jesus ein ganz neues Leben anzu-fangen. Erst nachdem ihm selbst vergeben wurde, warer in der Lage, auch dem Brandstifter zu verzeihen. Kikihat ihn im Gefängnis sogar ein paarmal besucht.«

Mikkel Jakobson lächelte. »Wow! Sag ich doch, dassder Alte cool ist!«

»Ja, Gott hat ihn total verändert«, strahlte Børre.»Noch nie hat mich ein Mensch so freundlich angese-

hen wie Kiki Manski«, seufzte Mikkel. Die Gefangenen in der Hochlandhütte unterhielten sich

noch lange. Yana wurde unterdessen immer schweigsa-mer. Im Zwinger heulten die Huskys. Die Hunde beka-men an diesem Tag nichts zu fressen. Genauso wenigein Albino-Hengst namens Abrico, der mit zwölf Artge-nossen in einem Power-Mobil Kohldampf schob. Arneund Britta Lindberg dagegen saßen in einem KarasjokerRestaurant und genossen Rentierleber in Rotweinsoße.Zwei Tische weiter unterhielt sich ein weißhaariger Se-nior mit seiner Gattin. Erna ließ die beiden Schlemmernicht aus den Augen. Der arglose Eddy erfreute sich desRentnerlebens. Die eingetroffene Polizeistaffel plante diebevorstehende Festnahme der beiden Rentierdiebe.

Am nächsten Morgen bretterte Arne am Ufer des Karas-jokka entlang, als ob er nichts geladen hätte. Gegen10.00 Uhr bog er von der L 92 Richtung Storvatnet ab.Hier begann das Abenteuer »Schotterpiste«. Ein grünerGeländewagen mit vier Beamten folgte in unauffälligem

178

Lauschangriff im Dixie-Klo_171-180_Lauschangriff im Dixie-Klo 28.10.09 12:46 Seite 178

Page 179: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Abstand. Acht bewaffnete Einsatzkräfte warteten bereitsdrei Kilometer hinter der Hochlandhütte ›Ravnastua‹. Bo-jobæski war von hier aus in zwei Stunden zu erreichen.

»Warum gibt Mikka die Party nicht in seiner Keller-bar?«, fragte Britta in diesem Moment. »Stattdessen lässter die Geschäftspartner in diese Steinwüste gurken.«

»Geschäftspartner sind wir schon lange nicht mehr«,griente Arne. »Mikka trumpft mittlerweile auf wie Mafia-boss Al Capone in dem ehemaligen Chicago-Outfit.«

»Jetzt übertreibst du aber, Arne.«»Na vielleicht auch nur wie Tore Tabak aus der Ziga-

retten-Szene. Halt jedenfalls dein Lasso bereit, Britta.«»Pessimist! Geht schon wieder dein männlicher In-

stinkt mit dir durch?«Arne zuckte mit den Schultern. »Ich kann mir nicht

helfen, aber irgendwas ist faul an diesem Outback-Mee-ting. Die Kellerbar in Alta wäre mir auch lieber gewesen.He, he, was ist denn das?« Aus einem zivilen Kleinbus,der keine 100 Meter vor ihnen die Piste blockierte, stie-gen drei Männer aus. »Mach die CD an!«, rief Arne er-schrocken. Einer der Männer hob die Hand. »Das war’s«,presste Arne Lindberg hervor. »Die Einladung zur Hoch-landparty war eine Falle!« Die beiden Kollegen des Zivil-beamten schoben ihre Hände in die Jackentaschen. Ar-ne bremste und ließ die Scheibe herunter. »Polizeikon-trolle! Bitte steigen Sie aus!« Arne wurde bleich. »Alsodoch!« Rechts machte jemand die Beifahrertür auf. »Ma-chen Sie mal diese Tam-Tam-Musik aus!« Britta rührtesich nicht. Stattdessen wippte sie in leicht schwingen-den Bewegungen auf ihrem Sitz herum. Da wurde siemit dem Lauf einer Pistole angestoßen. »Ausmachen undaussteigen hatten wir gesagt!« Britta sah sich um. Ausdem Gebüsch sprangen zwei, drei athletische Typen inTarnanzügen heraus und umstellten das Wohnmobil.»Öffnen Sie bitte die Heckklappe!«

»Heckklappe?« Britta griff zu ihrem Lasso. »Ein Wohn-mobil hat doch keine Heckklappe.«

179

Lauschangriff im Dixie-Klo_171-180_Lauschangriff im Dixie-Klo 28.10.09 12:46 Seite 179

Page 180: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Hören Sie auf zu diskutieren«, sagte einer der Leuteim Tarnanzug. Britta sah zum Fahrersitz. Arne hatteschon aufgegeben. Die Lindberg stieg aus und ging nachhinten. Als ein Beamter anfing, an einem Hebel zu han-tieren, schwirrte ein Lasso durch die Luft. »Wollen Siemir die ›Suzi‹ demolieren?«, zeterte Britta. »Zuerst mussdas Motorrad runter.« Verlegen befreite sich der »Tarn-anzug« von dem Lasso und rieb sich die Oberarme. DreiMinuten später blickten vierzehn Augenpaare in den of-fenen Rentiertransporter hinein. Die Beamten nicktenzufrieden. Dann nahmen sie den »Touristen«, dem diebunten Sonnenbrillen am Ende doch nichts genützt hat-ten, mit in den Kleinbus und begannen ein kurzes Ver-hör. Schlüssel, Handys und Papiere wurden beschlag-nahmt. Unterdessen ließen einige Beamte die Rentiereaus dem Wohnmobil und banden sie mit Stricken anBäumen fest. Abrico und elf weitere Tiere aus der Bür-germeister-Koppel sogen begierig die frische Tundraluftein. Eine halbe Stunde später, nachdem ein Polizist not-dürftig die Ladefläche ausgemistet hatte, übernahm derEinsatzleiter das Steuer des Mega-Mobils und setzte dieholprige Fahrt nach Bojobæski fort. Hinten im Transpor-ter hockten neun Spezialkräfte mit Maschinenpistolen,Munition und Blendgranaten, bereit, um an diesem Tagnoch ein mutmaßliches Räubernest auszuheben.

»Big Bosse« tragen Nadelstreifen

Mikka Jakobson war heute Morgen schon recht früh inBojobæski eingetroffen. Immerhin musste er eine Partyfür zwölf Personen vorbereiten. Na ja, Party war viel-leicht ein bisschen übertrieben, aber Schafbraten undAlkohol sollte es geben. Noch ein paar Snacks. Zigarren.Das Ganze sollte so eine Art »Gründungsversammlung«sein. Mikka hatte noch einige Klappstühle mitbringen

180

Lauschangriff im Dixie-Klo_171-180_Lauschangriff im Dixie-Klo 28.10.09 12:46 Seite 180

Page 181: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

müssen, denn in der Dogmusher-Bude seines Brudersgab es nur vier Sitzgelegenheiten. Besuch hatte Mikkel sogut wie nie bekommen. Per war selbstverständlich mitvon der Partie. Auch Helge und Lasse aus der Tiefkühl-abteilung waren heute dabei. Zum ersten Mal. Nur einSchaf zurichten konnte keiner. Dazu hätte er besser Ole,den Fleischer, mitgenommen. Der hatte in fünf Minutenein herrliches Brustfilet in der Pfanne, taugte aber beieinem 0815-Bankraub noch nicht einmal zum Schmiere-steher. Also musste Mikkel den Grillmeister spielen –sein Bruderherz, der ihn glatt erschossen hätte! Mikkaholte die Reste eines Streuselkuchens aus dem Jeep undschlurfte zum Holzbunker. »Morgen, Rotznasen! Gut ge-schlafen? Hier habt ihr noch was zum Knabbern. Be-nehmt euch, dann könnt ihr spätestens morgen wiederfrische Luft einatmen.« Mikka reichte den Gefangenenden Kuchen durch die Tür. Dann gab er Mikkel einenWink. »Komm mal mit, Bruderherz.«

Mikkel schüttelte den Kopf. »Nee, keine Lust.«»Wie, keine Lust? Willste nicht mit uns feiern?« Mikka

sah seinen Bruder schief an.»Feiert allein!«, entgegnete Mikkel. »Ich brauche aber einen Koch. Also komm mit!«»Nein!«Mikka knallte die Tür zu. Sein Bruder drehte sich auf-

gebracht zu den anderen um. »Ich bin doch nicht der Vid-dakasper. Soll er seinen Club doch selber bewirten!«

Kurz darauf wurde der Riegel vor dem Holzschuppenerneut entfernt. In der Tür stand Mikka mit einem Hus-ky an der Leine. »Kennste diesen Rüden, Bruderherz?«

Mikkel betrachtete den Husky mit glänzenden Augen.»Das ist Oscar! Er war bei allen Siegen dabei.«

»Nun gut«, grinste Mikka kühl, »wenn du nicht spurstund tust, was ich dir sage, wird dieser Hund nie wiedereinen Schlitten ziehen, ist das klar?« Mikka zog seinenRevolver aus der Tasche und richtete ihn auf den edlenKopf des stattlichen Rüden.

181

Big Bosse tragen Nadelstreifen_181-194_Big Bosse tragen Nadelstreifen 28.10.09 12:56 Seite

Page 182: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Mikkel schoss das Blut in die Wangen. »Du Schuft!Nur mit Waffen und Gewalt erreichst du deine Ziele.«

»Schnauze, du Steppenlaus! Also, was ist? Hast du’sdir überlegt?« Mikka zielte mit dem Revolver jetzt genauauf das Auge des Huskys. Mikkel ballte beide Fäusteund schritt bebend in das helle Morgenlicht hinaus. Ausden Augenwinkeln registrierte er noch, wie Mikka lang-sam die Waffe senkte und hinter sich die Tür zum Holz-schuppen abschloss. Da stieß Mikkel einen lauten Rufaus. Den Ruf des Dogmushers von Bojobæski! Der Hus-ky-Rüde hatte ihn schon tausend Mal gehört und be-folgt: das Startsignal, loszujagen! Instinktiv schoss derRüde nach vorn. Mikka, der die Hundeleine zweimal umsein Handgelenk gewickelt hatte, um das starke Tier hal-ten zu können, taumelte und fiel der Länge nach auf denstaubigen Hof. Der Husky zog wie zwei Joch Ochsen. Daglitt dem Zwillingsbruder der Revolver aus der Hand. Imgleichen Augenblick hechtete Mikkel nach vorn, schnapp-te sich das Schießeisen und sprang in drei, vier Sätzenzur Scheune hinüber. Mikka fluchte und versuchte, dasSeil vom Handgelenk zu lösen. Da erschien Per in derHaustür. Mikkel drückte ab. Der Warnschuss hallte weitüber das Vidda. Per ging in Deckung. Mikkel verließ denSchutz der Scheune, sprang über die verwitterte Hof-mauer und verschwand in einer Senke. Bloß weg. HinterFelsbrocken Deckung suchend, stürmte er in die weiteTundra hinaus. Da hörte er hinter sich ein Hecheln.Oscar! Der Gute! Das Halsband war gerissen. Herrchenund Hund durchbrachen ein Gebüsch. Da hörte Mikkel,wie in der Ferne ein Wagen gestartet wurde. Das war seinJeep. Aber genau so hatte das Geräusch immer geklun-gen, wenn die Batterie am Ende war. Wahrscheinlichhatte Mikka heute Morgen das Licht angelassen. Mikkelatmete erleichtert auf und tauchte mit Oscar hinter demSteilufer eines Bachlaufes ab. Im Schutz der Böschungarbeitete er sich vorwärts. Meter um Meter. Er würde esschaffen. Die Natur war sein Element. Sein Bruder dage-

182

Big Bosse tragen Nadelstreifen_181-194_Big Bosse tragen Nadelstreifen 28.10.09 12:56 Seite

Page 183: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

gen war im Gelände eine Null. Mikkel sog begierig denDuft der blühenden Gräser ein und trank einen SchluckWasser aus dem klaren Hochlandbach. Über ihm tanz-ten die Mücken. Eine Forelle huschte hinter einen Stein.Stille. Nur das Plätschern des Baches. Das war Bojobæs-ki. Gewesen. Heute lag ein dunkler Schatten über die-sem Ort. Würde der Friede nach Bojobæski zurückkeh-ren? Plötzlich wusste Mikkel es. Nein, der Friede würdenicht zurückkehren! Nicht, solange er eine Schuld mitsich herumschleppte. Er hatte abgedrückt. Er war einganz mieser Dreckskerl. Er musste diese Schuld loswer-den. Unbedingt. Ob ihm Kiki Manski dabei helfen könn-te? Der Einarmige, der in der Lage gewesen war, demBrandstifter seines Hauses zu vergeben? Der Oldie wargenial! Der würde ihn nicht hängen, sondern ihm verge-ben – jawohl, das hatte er gesagt! Ob Gott ebenso bereitwäre, ihm zu vergeben, wie dieser Alte? Er musste dasunbedingt wissen. Mikkel schlug einen weiten Bogen.Die Sonne stand noch hoch am Himmel. Der Weg würdeweit und anstrengend sein – aber er würde ihn gehen …

Mikka betrat die Küche durch die Nebentür und sog ge-nießerisch den Bratenduft ein. Nachdem sein Brudersich dünne gemacht hatte, hatte er eben den Koch spie-len müssen. Nicht, dass er keine Ahnung von der Ma-terie gehabt hätte, nein – das Zubereiten eines Schafeswar einfach kein Job für einen Mann in seiner Position.Dafür gab es Handlanger. Er war Boss! Und Bosse ver-hielten sich entsprechend – und kleideten sich entspre-chend! Mikka griff noch einmal zum Knoten seiner Kra-watte. Da ertönte in der Stube ein anerkennender Pfiff.»Wow, Mikka! Man erkennt dich ja kaum wieder.«

Helge, der am Tisch saß und seine Pistole reinigte, sahauf. »Donner, Blitz und Nadelstreifen! Hab gar nicht mit-gekriegt, dass du in Paris zum Einkaufen warst.«

Lasse grinste. »Ein Same im Nadelstreifenanzug! Sehrgewöhnungsbedürftig.«

183

Big Bosse tragen Nadelstreifen_181-194_Big Bosse tragen Nadelstreifen 28.10.09 12:56 Seite

Page 184: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Zu jedem Auftritt das passende Outfit«, schmunzelteMikka. »Von mir aus können die Gäste jetzt kommen.«

»Gäste ist gut«, grinste Per. »Habt ihr alle eure Kano-nen gefüttert? Mach mal hinne, Helge, dein Schießeisenist blank genug.«

In diesem Moment hörten die Männer Motorengeräu-sche. In den Hof fuhr ein dreckbespritztes Hymer-Mobilein. »Der lustige Nils«, grinste Mikka. »Wie immer der Ers-te.« Kurz darauf trat Nils Båtten in die Küche. Ein wenigmüde reichte er dem Großhändler die Pranke. »Hi, Jakob-son! Heute mal ohne Kellerbar-Flair?«

Mikka zündete sich eine Zigarre an. »Für jeden Job diepassende Bude, du Gammelfleisch-Lieferant! In meineSauna passen wir heute nicht alle rein.«

Nils’ Gesichtsausdruck verdüsterte sich. »Können wirdas leidige Thema nicht so langsam abschließen, Mik-ka? Schick siehste aus … Nadelstreifen, Weste. Nur derHaarschnitt …«

»Was soll das heißen: ›nur der Haarschnitt‹?« Mikka tratdrohend zwei Schritte näher und paffte Nils eine Rauch-wolke ins Gesicht.

Nils zog hustend den Kopf ein. »Ich meine … ich wollteeigentlich nur fragen, ob du … ob du heute beim Friseurwarst.«

»Sieht man das nicht?«, qualmte Mikka und rieb sichmit der Hand über seine Stoppelfrisur.

»D…Doch. Eigentlich schon. Sieht cool …«»Da kommt der Haschisch-Hardy aus Kirkenes«, sagte

Lasse, der am Fenster stand.»Ha…Haschisch-Hardy?« Nils bekam große Augen. »Ich dachte, du bringst die Lindbergs mit«, wandte sich

Mikka nochmals an den Wohnmobil-Verleiher. »Die fahren noch ’ne Karasjok-Tour und kommen et-

was später.«»Der Erz-Ede aus Narvik«, meldete Lasse fünf Minuten

später. Langsam füllte sich die Bude. Die Männer zogenihre Klappstühle an den Tisch heran. Auf einmal ging

184

Big Bosse tragen Nadelstreifen_181-194_Big Bosse tragen Nadelstreifen 28.10.09 12:56 Seite

Page 185: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

die Tür auf und ein gepflegter Same in Kautokeino-Trachtbetrat den Raum.

Mikka nahm die Zigarre aus dem Mund und lächelte.»Hi, Ascak! Kleider machen Leute, was?«

Ascak Raaki musterte den nadelgestreiften Großhänd-ler mit verächtlichem Blick. »Ich glaube, hinter schwedi-schen Gardinen tragen sie auch gestreift«, sagte er kühl.»Willste dich schon mal daran gewöhnen?«

»Schnauze, Raaki! Solche Anspielungen gefallen mirnicht.« Mikka blies erneut eine blaue Rauchwolke unterdie Küchendecke.

»Der Brutalow kommt«, gähnte Lasse vom Fenster aus.»Wladimir?« Mikka beugte sich zu Per hinüber. »Auf den

Burschen müssen wir besonders aufpassen«, flüsterte erihm zu. »Der kontrolliert mit seiner Bande die russischenSpediteure. Ist ziemlich brutal, der Kerl.«

Mikka sah in die Runde. »Jetzt fehlt nur noch der Bu-ckel-Bodo«, stellte er fest. »An dem kannste dir mal einBeispiel nehmen, Raaki. Der beschafft mir in derselbenZeit dreimal so viel Ware wie du!«

»Nicht mehr lange«, brummte der Bürgermeister.»Was soll das heißen: ›nicht mehr lange‹?« Mikka, der

immer noch in der Nähe der Tür stand, trat drohend aufAscak zu. Helge und Lasse sahen sich an.

»Ich habe vor, meine Lieferungen ganz einzustellen«,sagte Ascak. »Besser, ich sag’s gleich am Anfang.«

Mikka schwollen die Adern. »Du willst aussteigen? Zudiesem Thema werde ich gleich noch was sagen. Aha, dakommt Bodo ja.« Über den Hof ging ein hagerer Endvierzi-ger. Sein Motorrad hatte er an die Scheunenwand gelehnt.

»Wieso heißt der denn Buckel-Bodo?«, flüsterte Nils sei-nem Sitznachbarn zu. »Der geht doch so aufrecht wieein Dressman auf dem Laufsteg.«

»Weiß ich auch nicht«, raunte der Erz-Ede zurück. »Ichkenn hier nur die Hälfte. Was Mikka alles für Kontaktehat, also wirklich – den Russen da drüben zum Bei-spiel, den hab ich noch nie gesehen.«

185

Big Bosse tragen Nadelstreifen_181-194_Big Bosse tragen Nadelstreifen 28.10.09 12:56 Seite

Page 186: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

In diesem Moment betrat Bodo die Küche. Sein Rü-cken sah aus wie ein Fragezeichen. Nils war baff. »Hi,Mikkel, schön dass du deinem Bruder die Bude …«

»Ich bin Mikka, alter Spitzbube«, sagte der Großhänd-ler beleidigt. »Setz dich, Bodo.«

Der Angesprochene ließ sich auf einen Klappstuhl sin-ken. »Also wirklich, Mikka, dein Bürsten-Haarschnitt …«

»Was soll das heißen: ›dein Bürsten-Haarschnitt‹!«, ex-plodierte Mikka. »Gefällt er dir etwa nicht?«

Bodo kuschte. »N…Nein … D…Doch, sieht echt … Woist Mikkel denn überhaupt?«

»Die Steppenlaus? Ausgeflogen.«»Ausgeflogen? Du meinst, er ist ›ausgestiegen‹?«»Nein, aber zu diesem Thema sage ich gleich noch was.«

Mikka strich über seinen Anzug. »So, meine Herren! Bisauf zwei Teilnehmer sind alle da. Lasse, öffne mal dieWeinflaschen!« Kurz darauf prosteten sich die Männer zu.Die wenigsten »Partner« hatten sich schon einmal gesehen.Helge trug den Braten auf. Beim Essen kam man sichnäher und der Portwein löste die Zungen. Ascak Raakischob sich dichter an den lustlosen Nils heran. »Hi, Kol-lege! Womit bist du denn bei Mikka im Geschäft?«

»Mit Rentierfleisch«, antwortete Nils knapp. »Und duwillst aussteigen?«

Ascak strich den Kofter glatt. »Geht nicht anders. MeinEhrenamt kommt sonst zu kurz.«

Nils fing an zu grinsen. »He, he! Ein Typ in unserenKreisen übernimmt Ehrenämter? Was machste denn?«

»Ich bin Bürgermeister von Kautokeino.«Nils fiel die Kinnlade herunter. »Bür…?«Ascak schmunzelte. »Machste auch was nebenbei?«»Ich … ich vermiete W…Wohnmobile«, stotterte Nils. »Cool!«, nickte Ascak anerkennend. »Kann man diese

beiden Jobs eigentlich irgendwie kombinieren?«»Wie meinst du d…das?«»Ob man in Wohnmobilen zum Beispiel Rentiere trans-

portieren kann. Meine Tochter hat das mal behauptet.«

186

Big Bosse tragen Nadelstreifen_181-194_Big Bosse tragen Nadelstreifen 28.10.09 12:56 Seite

Page 187: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Nils Båtten schluckte. Ahnte der »Kollege« was? In die-sem Augenblick stieß ihn der Typ aus Kirkenes an. »He,du, schon mal probiert?«

»Was?«»Na, mein weißes Pülverchen!«Nils schüttelte den Kopf. »Nee, lass mich in Ruhe!«»Aber, aber, Kollege«, grinste der Haschisch-Hardy, »man

muss doch mitreden können. Hier, probier mal!« Hardyhielt Nils etwas Weißes unter die Nase. Der Wohnmobil-Verleiher stieß die Hand energisch zurück. Das Pulverrieselte zu Boden.

»Bist du wahnsinnig, du Oberdepp!«, brauste Hardy auf.»Das waren mindestens 800 Kronen, die …«

»He, du!« Nils drehte sich um. Hinter ihm stand Wladi-mir. »Wir tauschen mal die Plätze. Troll dich, Väterchen!«Wladimir packte Nils am Kragen und zog ihn von seinemStuhl hoch. Vertraulich legte er dem Haschisch-Hardyden Arm um die Schultern. »Biste schon in Amsterdamim Geschäft, Kollege? Meine Leute fahren jede Wocheüber die holländische Grenze. Wir schmuggeln das Pül-verchen in getunten Auspuffrohren …«

Nils quetschte sich neben den Typen mit dem krum-men Rücken. Der Ede aus Narvik stiefelte hinterher. »Hedu? Nils heißt du doch, oder?«

»Ja, schon seit 44 Jahren, Mann.«»Hör mal, die Idee von der Kauto-Perle war doch gar

nicht schlecht, oder?«»Welche Idee?«»Na, in Wohnmobilen Rentiere zu transportieren.«Nils verzog das Gesicht. »Kauto-Fantasie!« »Find ich nicht«, flüsterte Ede. »Pass mal auf, Nils, ich

suche noch nach ’ner bombensicheren Lösung, um ein-geschmolzenes Silber nach Portugal zu befördern. DeineWohnmobile wären ideal …«

Nils winkte ab. »Nimm ein Segelboot, Mann!«»Ein Segelboot? Wieso?«»Ja, bau dir einen Rennboot-Motor ein, Ede! Klapp den

187

Big Bosse tragen Nadelstreifen_181-194_Big Bosse tragen Nadelstreifen 28.10.09 12:56 Seite

Page 188: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Masten runter … und tschüss. Zwei Tage und dein Sil-bermetall kannste in Lissabon auf den Strand kippen!«

Der Erz-Ede schüttelte ärgerlich den Kopf. »Gauner-Fantasie! Völlig hirnlos!«

»Eben«, brummte Nils, »genauso hohl wie Rentiere inWohnmobilen transportieren zu wollen.«

In diesem Moment erhob sich der Herr im Nadelstrei-fenanzug und zündete sich die fünfte Zigarre an. »MeineHerren, ich hoffe, es hat euch allen geschmeckt. Ichmöchte euch nun meine Vorstellungen für unsere zu-künftige Zusammenarbeit erläutern. Ich denke da an eineArt ›Team-Work‹ nach Vorbild süditalienischer … na ja,ihr wisst schon. Ich glaube, dass sich so was unter mei-ner Führung auch in Nordeuropa verwirklichen lässt.«

Wladimir runzelte die Stirn. »Unter deiner Führung, sag-test du?«

Mikka lächelte. »Genau, ich bin der Boss und gebe dieParagrafen für unseren neuen Club vor.«

Wladimir Brutalow stand langsam von seinem Klapp-stuhl auf. »Boss sagtest du? Bei dir piept’s wohl, was!«

Mikka streckte die Hand aus und zeigte auf den Stuhl.»Setz dich mal wieder hin, Russki, ich bin noch nichtfertig. Also, Paragraf eins lautet: Der Boss hat immerrecht! Paragraf zwei: Sollte der Boss einmal nicht rechthaben, tritt automatisch Paragraf eins in Kraft.« Mikkaqualmte jetzt wie ein defektes Ofenrohr. Grinsend fuhrer fort: »Paragraf drei: Mitglieder sind alle Teilnehmerdieser Runde. Paragraf vier: Wer aussteigen will, kanndies gerne tun … aber nur als Leiche! Damit hat sichdein Problem wohl gelöst, oder, Raaki?«

Der lange Kautokeino-Same schnellte vom Stuhl hochund griff zu seinem Samendolch. »Donner, Blitz und Platz-patrone! Da mach ich nicht mit!« Helge und Lasse fass-ten in die Innentaschen und zogen ihre Pistolen heraus.

»Ich auch nicht!«, rief Nils erregt. Der Wohnmobil-Ver-leiher war aschfahl im Gesicht. »Geschäfte machen kannman auch ohne Mafia-Methoden.«

188

Big Bosse tragen Nadelstreifen_181-194_Big Bosse tragen Nadelstreifen 28.10.09 12:56 Seite

Page 189: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

189

»Schnauze!«, brüllte Mikka durch den Zigarrenqualmhindurch. »Man muss alle Möglichkeiten ausschöpfen,um Knete zu machen. Wer das anders sieht, kann gehn.In dieser Küchentür wird er den letzten Schritt seinesLebens machen.« Helge und Lasse hoben drohend ihrePistolen. In diesem Augenblick fuhr ein großes Power-Mobil in den Hof ein. »Da kommen Arne und Britta«, riefNils nervös. »Die sind noch völlig ahnungslos.«

»Die sollten wir noch reinlassen«, grinste Mikka. »Las-so-Jane brauchen wir noch in unserem Club.«

»D…Das sind meine Leute«, stammelte Nils. »Die … diebeiden werden b…bestimmt nicht mitmachen.«

»Dann geh raus und warne sie!«, drohte Mikka undfummelte an seiner Krawatte herum. Helge richtete sei-ne Pistole auf die Küchentür. In der verqualmten Stubeherrschte eine Spannung wie bei einem mexikanischenWestern. Neun Augenpaare richteten sich erwartungs-voll auf Nils. Langsam erhob er sich. In der Küche hörteman jetzt nur das Knacken des Klappstuhls. Auf Nils’Stirn standen dicke Schweißperlen. Dann machte er ei-nen Schritt auf die Tür zu. Helges Mundwinkel zuckten.Da hielt Ede Nils am Hosenbein fest. »Setz dich, Nils. Seivernünftig!« Nils sah sich um. Seine flackernden Augentrafen den Blick Wladimirs. Der stellte langsam sein Wein-glas auf den Tisch. Ascak … seine Augen sprühten vorZorn. Nils bemerkte aus den Augenwinkeln, dass er un-bemerkt seinen Samendolch aus der Lederscheide gezo-gen hatte. Nils machte einen zweiten Schritt. Bodo hieltden Atem an. Da flog die Tür auf! Im selben Moment split-terte Fensterglas. Ein Knall. Grelles Licht blitzte auf. Ru-fe. Mikka ließ die Zigarre fallen. Schützend hielt er sichdie Hand vor die Augen. »Waffen fallen lassen, einzelnherauskommen! Das Haus ist umstellt!« Die Männer inTarnanzügen schoben drohend ihre Maschinenpistolendurch die Tür. Lasse sackte geblendet zu Boden. EineWeinflasche kippte um. Stöhnen. Fluchen. Das Durch-einander in der Chaos-Bude war unbeschreiblich.

Big Bosse tragen Nadelstreifen_181-194_Big Bosse tragen Nadelstreifen 28.10.09 12:56 Seite

Page 190: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Was ist da draußen los?«, fragte Flavio erschrocken.»Ist da ’ne Bombe explodiert?«

Børre lugte durch einen Spalt in der Holztür. »Der gan-ze Hof steht voller Autos.«

»Und? Was siehst du noch?«»Soldaten … glaub ich.«»Soldaten? Hier in Bojobæski?« Chiara strich sich er-

schrocken ihre Haarsträhnen aus dem Gesicht.»Die sind mit einem Wohnmobil gekommen«, flüsterte

Børre aufgeregt.»Mit einem Wohnmobil?« Yana sah den blonden Nor-

weger an der Ritze ungläubig an.Børre atmete heftig ein und aus. »Ihr werdet’s nicht

glauben – das ist das Rockmobil vom Tromsesund!«»Waaaaas?« Flavio trat mit einem Bein auf das andere.

»Lass mich auch mal gucken, Børre.«Der Norweger trat zur Seite. Der junge Italiener guck-

te sich die Augen aus. »Booaah ey! Alles voll Rauch!« »B…Brennt Mikkels Bude?«, fragte Chiara bestürzt.»Hmmm, sieht so aus. Jetzt schleppen sie einen Mann

aus dem Haus.« Flavio bekam ganz rote Wangen. »Puh!Der Typ passt in die Mafia-Szene von Palermo.«

»Wie sieht er denn aus?«, fragte Børre neugierig.»Nadelstreifenanzug!«»Und? Sonnenbrille auf?«»Nee!«»Zigarre?«»Auch nicht. Stoppelfrisur … fast Glatze. Moment mal,

das ist ja ein dicker Tintenfisch!«»Was denn?«Flavio pfiff durch die Zähne. »Das ist Mikka!«»Mikka Jakobson?«»Yeah … ›Big Boss‹ in Nadelstreifen! Jetzt sperren sie

ihn in das Rockmobil.«»Die heben hier ein Räubernest aus!«, stellte Børre fest.

»Wenn’s hier gleich ruhiger wird, müssen wir mal vor dieHolztür trommeln und uns bemerkbar machen.«

190

Big Bosse tragen Nadelstreifen_181-194_Big Bosse tragen Nadelstreifen 28.10.09 12:56 Seite

Page 191: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

191

Big Bosse tragen Nadelstreifen_181-194_Big Bosse tragen Nadelstreifen 28.10.09 12:56 Seite

Page 192: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Eine halbe Stunde später hockten zehn mutmaßlicheGründungsmitglieder einer nordeuropäischen Mafia-Ban-de in einem Power-Mobil, das nach Rentiermist roch. Ih-re Gaunerhände steckten in Handschellen. Der Erz-Edesah Nils finster an. »Das ist doch deine Kiste, oder? Duhast Rentiere damit transportiert, gib’s zu!«

Nils grinste matt. »Wenn sie dich in zehn Jahren wie-der laufen lassen, kannste ja mal die Idee mit dem fri-sierten Segelboot weiterverfolgen.«

Ede knirschte mit den Zähnen. »Spar dir deinen Gal-genhumor, Kollege!«

»Kollege? Nie gewesen. Der Einfall mit der Zwangsfu-sion* ist einzig und allein auf Mikkas Mist gewachsen.«

»Haste eigentlich mit der Kiste schon mal Rentieremit ’nem ›R‹ wie Raaki transportiert?«, mischte Ascaksich in den Wortwechsel ein.

Nils zuckte zusammen. »Ich? Wüsste nicht, dass wirschon mal im Geschäft waren.«

»Oder schon mal ’ne Karasjok-Mütze auf meiner Koppelverloren?« Ascak Raaki rollte wild mit den Augen.

»Ich … ich weiß gar nicht, wo…wovon du redest, Kol-lege«, stotterte der enttarnte Nils.

»Kollege? Nie gewesen. Wenn ich jetzt meine Hände freihätte, wüsste ich, was ich mit dir machen würde …!«

Inzwischen telefonierte der Einsatzleiter der Spezialein-heit mit der Zentrale in Trondheim. »Kommando ›Step-penwolf‹ erfolgreich beendet. Zehn Festnahmen. ZweiLeichtverletzte. Wir haben einige dicke Fische im Netz.Unter den Festgenommenen befinden sich der internatio-nal gesuchte russische Spediteur Wladimir Brutalow undder Haschisch-Hardy, alias Hardwig Vassmø, aus Kirke-nes. Überraschenderweise ist auch das Fluchtauto si-chergestellt worden, das beim Überfall auf den Geld-transporter bei Karasjok benutzt wurde. Alles in allem,diese verrückte Rentnerin in Karasjok hat uns einenTipp gegeben, der mehr als Gold wert war … ich würdeihr … ihr … Belohnung … « Tut, tut, tuuut. Der Einsatz-

192

* Zusammenschluss von Betrieben unter Gewalteinwirkung

Big Bosse tragen Nadelstreifen_181-194_Big Bosse tragen Nadelstreifen 28.10.09 12:56 Seite

Page 193: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

leiter drückte auf den Ausschaltknopf seines Handys.»Mist! Schlechter Empfang in dieser Wildnis.« Da wand-te sich einer seiner Beamten an ihn: »Herr Hauptkom-missar! In der Scheune sind noch zwei Quads entdecktworden. Die Ausrüstungsgegenstände lassen auf diegestern eingegangene Vermisstenanzeige des KarasjokerBürgermeisters schließen.«

Der Einsatzleiter rieb sich überrascht das Kinn. »Krem-peln Sie mal die Nebengebäude um, Káminsky. Hoffent-lich finden wir sie lebend!«

Zehn Minuten später brachen zwei Beamte die Türzum Holzbunker auf. Die Männer atmeten auf. »Entwar-nung! Sag den anderen Bescheid, Sven.«

Die Gefangenen der Hochlandhütte traten geblendet indas helle Sonnenlicht. Erstaunt sahen sie sich auf demHof um. »Was macht ihr denn hier?«, fragte der Polizist.

»Urlaub!«, antwortete Flavio. »Zwei Übernachtungen mitSparverpflegung. War eher so ’ne Spontanbuchung!«

Der Beamte sah Flavio schief an. »Könnte mir bessereUrlaubsquartiere vorstellen als diesen Schuppen. Los,mitkommen! Gebt unserem Protokollführer mal einenausführlichen Bericht.« Kurz darauf löcherte ein pflicht- bewusster Staatsdiener im Tarnanzug die Befreiten mittausend Fragen. Der Einsatzleiter hörte aufmerksam zu.Plötzlich meldete er sich mit einer Frage zu Wort. »DasGeldbündel lag in der Nähe des Volvos, sagtet ihr?«

Børre nickte. »Fast unter dem Kofferraum, Herr Ko…«Der Einsatzleiter winkte den Kollegen Káminsky heran.

»Haben Sie schon den Kofferraum untersucht?« Káminskyschüttelte den Kopf. »Machen Sie das noch! Danach wer-den wir die Untersuchungen auf diesem Hof für heute be-enden. Übrigens«, wandte sich der Hauptkommissar anYana, »mach dir mal keine Sorgen um dein weißes Ren-tier. Das haben wir vor vier Stunden aus dem Wohnmobilbefreit, in dem jetzt die Festgenommenen sitzen. DiesesFahrzeug scheint sich mehr und mehr zum Allround-Transporter zu entwickeln!«

193

Big Bosse tragen Nadelstreifen_181-194_Big Bosse tragen Nadelstreifen 28.10.09 12:56 Seite

Page 194: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Am Ende des Einsatzes unter dem Kennwort ›Steppen-wolf‹ blickten einige Beamte in einen dunkelblauen Vol-vo-Kofferraum mit Taschen voller Geldbündel. Die Män-ner machten zufriedene Gesichter. Børre und seine Freun-de staunten. Der Einsatzleiter blies zum Aufbruch. ZweiBeamte blieben als Wachposten zurück und richtetensich in einem Hymer-Mobil der Tromsdaler ›Båtten-Tours‹eine gemütliche Wachstube ein.

Frischluftfahrt im Campingbus

Am Abend dieses aufregenden Tages saßen Børre und dieBrusco-Geschwister in der Wohnstube des Stadtoberhaup-tes von Karasjok und gaben einen Drei-Tages-Berichtzum Besten, der an Fragezeichen kaum zu überbieten war.Fred und Linda Ålsen kratzten sich am Kopf. Ari Laskaund seine Vimme verstanden nur Bahnhof.

»Ja«, erklärte Flavio gerade, »und der Mikka, der sich fürden Mikkel ausgab, hat einfach behauptet, dass MikkelsScheune ihm gehöre. Dann hat Mikka uns in den Schim-melbunker gesperrt und später noch den Mikkel dazu-geschoben, der uns dann erklärt hat, dass Mikka erst seitvorgestern so aussieht wie er selbst. Der Mikka war näm-lich beim Friseur.«

»Aha … beim Friseur«, nickte Linda verständnislos.»Ja, und seitdem sieht das eine Ei so aus wie das ande-

re. Das liegt nämlich an der Stoppelfrisur …!«»So, so … an der Stoppelfrisur«, nickte Vimme. »Aha!«»Die beiden sind Zwillinge«, ergänzte Børre vorsichtshal-

ber.Der Bürgermeister hob den Kopf. »Zwillinge? Ich wuss-

te gar nicht, dass der Dogmusher einen Zwillingsbruderhat. Hat die Polizei alle beide verhaftet?«

»Nee«, posaunte der Brusco-Spross wieder los, »dem Dog-musher, der ja diese Schlitten-Doggen züchtet, ist es ge-

194

Big Bosse tragen Nadelstreifen_181-194_Big Bosse tragen Nadelstreifen 28.10.09 12:56 Seite

Page 195: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

lungen, mit einem Dog, einem Rüden, glaub ich – jeden-falls ein Champion – aus dem Hundezwinger zu flüchten… äh, ich meine, aus dem Doggen-Kennel.«

Yana verdrehte die Augen. »Das sind Huskys!«»Flüchten?«, wiederholte Ari Laska. »Schade! Dieser Ver-

leumder säße besser auch hinter Gittern. Was der allesfür Gerüchte in die Welt gesetzt hat – dabei ist seine Hoch-landbude ein wahres Räubernest!«

»Dafür kann er nichts«, verteidigte ihn Børre nun. »SeinBruder zwingt ihm mit der Waffe seinen Willen auf. MitMikkas Machenschaften hat er nichts zu tun.«

»Na ja«, hob Fred Ålsen an, »wollen wir mal hoffen, dassjetzt wieder Ruhe in der Finnmark einkehrt. Der Besitzerdieses umgebauten Wohnmobils, in dem man Abrico ge-funden hat, ist jedenfalls festgenommen worden. Wahr-scheinlich ist auch er derjenige, der die vielen Tiere der Sa-men gestohlen und seine Taten geschickt den Karasjokernin die Schuhe geschoben hat.«

»Sei vorsichtig mit deinen Vermutungen, Fred«, warf Lin-da ein. »Das muss die Polizei erst bestätigen.«

Der Angesprochene nickte. »Du hast recht, Linda. Dan-ke für den Hinweis. Ich möchte kein weiterer Koch in die-ser Gerüchteküche sein. Ist ja schrecklich, was man mitWorten alles anrichten kann.«

Linda lächelte. »Ich glaube, dass auch Flavio noch ler-nen muss, sich ein bisschen deutlicher auszudrücken.Manchmal weiß man wirklich nicht genau, was du sa-gen möchtest.« Linda sah Flavio herausfordernd an.

»Typisch Brusco«, hakte Chiara ein. »Das hat Flaviovon unserem Dad geerbt. Der macht aus den einfachstenDingen eine Wissenschaft. Zu »Knutschbremse« sagt er»Zahnregulierungsdraht« und zu ’nem stinknormalen »Ol-dietrichter« sagt er »Gehörunterstützungsmechanik«!«

»Und was ist ein ›Schimmelbunker?‹«, lachte Vimme.Flavio grinste. »Das ist eine Kaminholzsammelstelle.

Im Übrigen drücke ich mich nicht kompliziert aus, son-dern so, dass es jedes Spatzenhirn peilen kann!«

195

Frischluftfahrt im Campingbus_195-208_Frischluftfahrt im Campingbus 28.10.09 12:52 Seite 19

Page 196: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Nun gut«, sagte der Bürgermeister bedächtig, »jeden-falls sind wir sehr froh, dass ihr wieder alle heil zurückseid. Darauf nehmen wir jetzt erst mal einen ›Sápmi-Drink‹. Ari Laska klatschte in die Hände. »Vimme, hol bit-te mal die ›Vidda-Brause‹ aus der Küche.« Chiara warfYana einen fragenden Blick zu. Mama Laska erhob sichlächelnd und schleppte wenige Minuten später einedampfende Kanne mit Früchtetee in die Stube. »Übri-gens«, sagte Vimme und zog kurz darauf ein kleines Ge-rät mit zwei schwarzen Kabeln aus der Tasche, »das ha-be ich gestern in der Mülltonne gefunden. Ist diese Ka-mera kaputt?«

»Das ist keine Kamera, das ist ein Kommunikations-killer«, grinste Børre. »Deswegen liegt er auch in der Müll-tonne. Technisch ausgedrückt: Es ist ein MP3-Player.«

»So, so … ein MP3-Player«, nickte Vimme. »Aha!«»Na ja«, sagte Flavio, »eigentlich ist es ein Mittelchen ge-

gen den Nordkap-Koller gewesen.«»Aha … Nordkap-Koller«, nickte Fred. »Gewesen, sagst

du? Funktioniert er nicht mehr?« »D…Doch, eigentlich sch…schon«, entgegnete Flavio.»Dann ist es, wirtschaftlich ausgedrückt, eine Schande,

dieses teure Gerät einfach in die Mülltonne zu werfen.«»Der Freundschaft mit Børre tut’s a…aber gut.«»Das verstehe ich nicht«, sagte der Lehrer Ålsen gespielt

dumm. »Ein lebloses technisches Gerät kann doch keineFreundschaften zerstören. Sieh mal hier, Flavio, hier istdoch ein Schalter zum Ein- und Ausmachen dran. Ein Ge-rät direkt wegzuwerfen, ist nicht immer die beste Lösung.Man muss lernen, richtig damit umzugehen.«

»Ach so … richtig umgehen«, nickte Flavio betreten.»Das ist aber gar nicht so einfach.«

»Hier«, sagte Fred mit einem Schmunzeln und schob denPlayer, den Vimme inzwischen auf den Tisch gelegt hatte,zu Flavio hinüber, »versuch’s noch mal drei Wochen.Wenn’s nicht klappt, kannste ihn immer noch entsorgen.«

Flavio sah unsicher zu seinem Freund. »Soll ich, Børre?«

196

Frischluftfahrt im Campingbus_195-208_Frischluftfahrt im Campingbus 28.10.09 12:52 Seite 19

Page 197: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Der blonde Ålsen-Spross nickte. »Klaro, alter Nordkap-Apache, ist ’nen Versuch wert!«

»Nordkap-Apache?«, fragte Linda. »Was sind denn dasfür Leute?«

»Das sind beinharte Typen, die sich beim Rad- und Ka-jakfahren ein Lammfell unter den Hintern schieben, beimQuadreiten aber völlig ohne Satteldecke auskommen!«,lachte Børre.

»So, so … beinharte Typen«, nickte Linda. »Aha!«»Möchte noch jemand ›Vidda-Brause‹?«, fragte Vimme

Laska in diesem Moment. Linda Ålsen hob ihre Tasse. »Schmeckt gut, der Tee, Frau

Laska. Ich nehme noch etwas.«Vimme sah Linda in die blauen Augen. »Sagen Sie doch

einfach Vimme zu mir, Frau Ålsen. Das fördert bestimmtdie Beziehungen zwischen Norwegern und Samen.«

Die Angesprochene lachte. »Gerne. Ich heiße Linda.«Der Bürgermeister reichte Fred die Pranke. »Ich bin der

Ari. Ein Hoch auf unsere Kulturen!«Der norwegische Lehrer schlug ein. »Ich heiße Fred.«Yana kicherte. »Und ikk bin der Elk von Samilu, hu, hu!«

Mikkel und sein treuer Gefährte Oscar erreichten die ers-ten Häuser von Karasjok am Spätnachmittag des nächs-ten Tages. Der lange Marsch über das ungeschützte Vid-da war kein Pappenstiel gewesen, eigentlich so etwas wieder ›Finnmarksløpet‹ ohne Hundeschlitten. Mikkel war mü-de und hungrig wie ein Bär. Aber der unbändige Wunsch,noch einmal diesen Kiki Manski zu sprechen, bevor ermöglicherweise von der Polizei festgenommen werden wür-de, spornte ihn an und verlieh ihm ein Höchstmaß anKraft und Energie. Das erste menschliche Wesen, das ernach dem Gewaltmarsch traf, war ein ungepflegter Mitt-fünfziger, der ein großes Loch in seiner Gummistiefelsohlehatte. »He, du!«

Der Ungepflegte blieb stehen. »Hä? Meinste mich?«»Wen denn sonst! Kennst du dich hier aus?«

197

Frischluftfahrt im Campingbus_195-208_Frischluftfahrt im Campingbus 28.10.09 12:52 Seite 19

Page 198: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Logo!« Gerre grinste. »Wohne seit 50 Jahren in diesemelenden Kaff.«

»Kennst du Kiki Manski?«»Klar. Für ’ne Pulle Schnaps tu ich dich hinbringen.«Mikkel verzog den Mund. »Sag mir nur, wo er wohnt.

Knete oder Schnaps hab ich nicht.«Der Mittfünfziger winkte ab. »Tut mir leid, Kumpel, ich

hab die Adresse vergessen.« Gerre stiefelte davon. Mikkelsah dem Ungepflegten erbost hinterher. Dann ging er ver-unsichert in die Stadt hinein. Vor der Sparkasse stand dieBank, ja, die Bank! Hier hatte Kiki Manski ihn angespro-chen. Mikkel setzte sich. Seine Füße schmerzten. Oscarhechelte. Die wenigen Menschen, die an ihm vorübergin-gen, nahmen keine Notiz von dem schmutzigen Wanderer.Plötzlich tauchte eine etwa fünfzehnjährige Blondine vorihm auf. Sie musterte Mikkel mit forschem Blick, zögerteein paar Sekunden und ging dann schnellen Schrittes anihm vorbei. »He, du!«

Das Mädchen stockte und drehte sich um. »Meinen Siemich?«

»Ich glaube, wir kennen uns.«»Ja … Ja, flüchtig, … vom Sehen.«»Weißt du, wo Kiki Manski wohnt?«Die Blonde schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht«, sag-

te sie schüchtern und wollte weitergehen.Mikkel stand stöhnend von seiner Bank auf. »Warte mal.«

Der Dogmusher machte einige Schritte auf die Kleine zu,dann streckte er dem verdutzten Mädchen die Pranke ent-gegen. »Entschuldige, Püppchen, dass ich dich damals soangefahren habe. War sehr unhöflich von mir.«

Die Blonde wurde rot. »Ist schon in Ordnung, Herr …«»Sag ruhig Mik zu mir, Püppchen. Damals war ich wirk-

lich nicht gut drauf.«»Ehrlich … Mik … Bekomme ich dann vielleicht heute

ein … ein Autogramm von dir?«Mikkel schüttelte den Kopf und ging zur Bank zurück,

wo er Oscar angebunden hatte. »Lohnt sich nicht mehr,

198

Frischluftfahrt im Campingbus_195-208_Frischluftfahrt im Campingbus 28.10.09 12:52 Seite 19

Page 199: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Püppchen. Meine Karriere ist beendet. Ich fühle es ganzdeutlich.«

»Bist du nicht mehr fit, Mik? Oder stimmt was mit denHunden nicht?«

Mikkel schüttelte müde den Kopf. »Frag nicht. Vielleichtsteht’s ja auch bald in der Zeitung. Jedenfalls danke ichdir, dass du damals die Jeeptür aufgemacht hast … vorder Sparkasse … Danke dafür. Mach’s gut.« Mikkel ließsich auf die Bank sinken und hob die Hand zum Ab-schiedsgruß. Die Blonde winkte schüchtern zurück undwechselte die Straßenseite. Mikkel blieb grübelnd zurück.Eben hatte er es zum ersten Mal laut ausgesprochen:Seine Karriere war beendet. Wahrscheinlich würde er inden Knast kommen wegen Mithilfe in einer kriminellenVereinigung. Die Hunde müsste er verkaufen … irgend-wie, falls sie nicht schon krepiert waren, bis er zurück-kam – wenn überhaupt. Er hatte seine Hunde einfach imStich gelassen. Keiner würde sie füttern. Mikkel kraulteOscar liebevoll das Ohr. Ob man im Knast auch ein neuesLeben anfangen konnte? Ein Leben mit Gott? Er mussteunbedingt zu Kiki Manski. Einige Meter weiter bremsteein Bus. Mikkel sah auf. Der kam wohl von der finnischenGrenze herüber. Der ehemalige Dogmusher bemerkte,dass nur ein Fahrgast an der Haltestelle ausstieg. EinMann um die 60. In der Hand trug er ein kleines Köffer-chen. Suchend sah er sich um. Und weil weit und breitniemand zu sehen war außer Mikkel Jakobson mit sei-nem Oscar, überquerte der Fremde die Straße und steu-erte geradewegs auf den Erschöpften zu. »EntschuldigenSie, mein Herr, kennen Sie sich hier aus?«

Mikkel lächelte matt. »Tut mir leid! Ich bin nicht vonhier.«

»Ich auch nicht«, sagte der Fremde. »Zum letzten Malwar ich vor dreißig Jahren hier. Ich möchte einen Besuchbei einem früheren Bekannten machen, habe allerdingsnur seine alte Adresse von dem abgebrannten Haus. Woer jetzt wohnt, weiß ich nicht.«

199

Frischluftfahrt im Campingbus_195-208_Frischluftfahrt im Campingbus 28.10.09 12:52 Seite 19

Page 200: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Mikkel hob die Augenbrauen. »Sie haben einen Bekann-ten, dem das Haus abgebrannt ist? Ich auch. Leider hater nur einen Arm, aber dafür die freundlichsten Augen,die ich jemals gesehen habe.«

»Einen Arm?« Der Fremde musterte Mikkel mit prüfen-dem Blick. »Freundliche Augen?«

»Ja, er heißt Kiki Manski. Ich bin auf dem Weg zu ihm.«»Nicht möglich«, strahlte der Mann mit dem Köfferchen.

»Da haben wir ja das gleiche Ziel!«Mikkel hob überrascht den Kopf. »Woher kennen Sie

ihn? Sind Sie verwandt?«»Nein, leider nicht.« Der Fremde blickte auf den Gehweg.

Dann zeigte er auf die Bank. »Darf ich mich setzen?«»Bitte.«Der Fremde seufzte. »Nicht jeder will neben mir sitzen.

Ich habe eine langjährige Gefängnisstrafe hinter mir.«Mikkel rieb sich nachdenklich das Kinn. »Und ich vor

mir. Bevor sie mich einsperren, muss ich unbedingt nochmal mit Kiki Manski sprechen.«

»Kennen Sie ihn schon länger?«, fragte der Ankömmling.»Nee, erst einmal gesehen.«»Und Sie wollen wieder hin?«»Unbedingt.«»Weshalb?«»Ganz schön neugierig.« Mikkel rutschte auf der Bank

hin und her. »Aber ich will’s Ihnen flüstern: Der Alte istein Phänomen, vollkommen anders als gewöhnliche Leute!«

»So anders?«»Ja, ein Ausnahmemensch. Vielleicht sogar ein Engel.

Sie kennen vielleicht seine Geschichte. Kiki kann verge-ben. Er hat sogar demjenigen vergeben, der ihm damalsdie Bude angezündet hat. Er würde auch mir vergeben,obwohl ich ihm ja gar nichts getan habe, aber …«

»Aber?«»Aber ich habe … ich habe … abgedrückt.« Mikkel

kämpfte mit den Tränen.»Tot?«

200

Frischluftfahrt im Campingbus_195-208_Frischluftfahrt im Campingbus 28.10.09 12:52 Seite 20

Page 201: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Nein, mein Jagdgewehr war … war nicht geladen – Gottsei D…Dank nicht!« Mikkels rechte Hand verkrampftesich in der Tasche. Die Linke hielt Oscars Leine fest um-schlossen. »Aber das ist ja nur eine Sache von vielen.«Mikkel stockte. »Warum erzähl ich Ihnen das überhaupt?«

Der Fremde seufzte wieder. Dann fragte er den erregtenMann neben ihm: »Wissen Sie, weshalb ich ge…« DerFremde schluckte. Eine Träne lief seine Wange herunter.

Mikkel sah ihn betreten an. »Sie flennen ja, Mann!«»… weshalb ich gesessen habe?«, vollendete der Sitznach-

bar gerührt seinen Satz.»Nein, woher denn. Wegen Bankraub vielleicht?«»W…Wegen Brandstiftung!«»Brandstiftung?«»Ja, ich habe damals das Haus angezündet … von Kiki.«Mikkel fuhr herum. »Von K…?«Der Fremde nickte. Auf der Bank entstand ein langes

Schweigen. Plötzlich erhellte sich die Miene des Mannes.Mit feuchten Augen flüsterte er: »Aber jetzt ist alles gut.Dreißig Jahre hat es gedauert. Vor drei Wochen habe ichmein Leben neu geordnet und Jesus Christus das Kom-mando übergeben. Ich bin auf dem Weg, es Kiki zu sagen,persönlich … und … und ihm noch einmal für alles zudanken. Er hat mich im Gefängnis besucht, Briefe ge-schrieben … und mir eine Bibel geschenkt.«

Mikkel zog langsam seine Hand aus der Tasche. »Ist …ist es wahr, dass Gott genauso vergibt wie Kiki, ohne …ohne nachtragend zu sein?«

»Ja«, strahlte nun der Fremde. »Ich hab es erfahren.Gott hat mir vergeben, alles, die Brandstiftung und zehn-tausend Dinge mehr. Ich habe endlich kapiert, dass Jesusfür mich bezahlt hat, mit seinem Tod – an meiner Stelle.Meine komplette Sündenschuld hat er ins Meer versenkt!«

Mikkel stand erregt auf. »Wir müssen hin«, sagte er. Os-car sprang auf und leckte Mikkel über die Hand.

»A…Aber wir haben seine Adresse doch nicht.«Mikkel kratzte sich am Kopf und sah suchend die Haupt-

201

Frischluftfahrt im Campingbus_195-208_Frischluftfahrt im Campingbus 28.10.09 12:52 Seite 20

Page 202: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

straße entlang. »Ich frag mal da vorn in der Tankstellenach, ob …«

»Hi, Mikkel! Das ist ja krass! Du hier?« Børre, der so-eben mit Flavio einen Kramladen namens ›Mattis Motor-shop‹ verlassen hatte und eine nagelneue Fahrradpedalein der Tasche trug, klatschte Mikkel auf die Schulter. Derdrehte sich erschrocken um. »Ich glaub, mein Oscar kriegtSchlappohren! Du kommst ja wie gerufen, Kleiner!«

»Kleiner?« Flavio knuffte seinem Freund in die Seite.»Zeig ihm mal deine Patschhändchen, Børre-Bubi!«

Mikkel lachte. »Na ja, ich meine, dass du genau jetzterscheinst, wo wir die Adresse von Kiki Manski brauchen.Du wohnst doch bei ihm, oder?«

»Richtig, alter Ausreißer! Mann, mir klingelt jetzt nochdein Dogmusher-Ruf in den Ohren! Ich hab durch eineRitze gepeilt und geortet, wie du in Bojobæski den Abfluggemacht hast. Voll lässig!«

»Ja«, tönte Flavio, »und dann haben wir einen Schussgehört. Ich habe schon geglaubt, dass deine Dogge, äh …ich meine, dein Hunde-Rüde … also, Oscar, dein Husky-Champion … ins Gras gebissen hätte, besser gesagt, Bleigeschluckt und zu Tode geschossen wurde.«

Mikkel trat ungeduldig von einem Bein auf das andere.»Alles klar, Kollege. Also, wo wohnt Kiki Manski? MeinFreund und ich müssen nämlich unbedingt hin.«

Børre sah Mikkel erstaunt an und musterte dann denFremden an seiner Seite. »Wusste gar nicht, dass du ei-nen Freund hast, Mik.«

»Äh, ja. Seit einer halben Stunde. Er heißt … Momentmal, haben Sie mir … äh, hast du mir eigentlich schongesagt, wie … wie du heißt?«

»Olaf Båkkolm, und du?«»Mikkel Jakobson. Das hier ist Oscar.«»Kiki wohnt in der Vestgåta, Nr. 9. Dritte Straße rechts.

Nicht weit von der Brücke«, sagte Børre nun. »Ich …«»Danke«, sagte Mikkel und rief Oscar, der an der Bank

herumschnüffelte, bei Fuß. »Wir können später weiter-

202

Frischluftfahrt im Campingbus_195-208_Frischluftfahrt im Campingbus 28.10.09 12:52 Seite 20

Page 203: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

reden, Bør…« Mikkel stockte. 300 Meter weiter erschiender Jeep des Karasjoker Sheriffs. Mikkel drückte sich hin-ter eine Hauswand. Als das Polizeifahrzeug langsam ander Sparkasse vorbeigefahren und hinter der nächstenHäuserzeile verschwunden war, atmete Mikkel auf. Dannwinkte er Olaf heran. »Nichts wie weg. Los, wir müssenKiki erreichen, bevor mich die Polizei erwischt.« Kurz dar-auf waren die beiden Männer nicht mehr zu sehen.

»Hast du eine Ahnung, wer das war?«, fragte Flavio.»Vielleicht hat er mal einen Husky von Mikkel gekauft«,

meinte Børre achselzuckend.Der junge Italiener kratzte sich am Ohr. »Oder es ist sein

Haus- und Hoffriseur. Eventuell sogar sein Doggen-Dok-tor … äh, ich meine, Oscars Kennel-Arzt oder …«

»Ja, irgendwie so«, unterbrach ihn Børre. »Komm, alterNordkap-Apache, wir gehen nach Hause und bauen diePedale ein, damit du wieder reiten kannst.« Die beidenFreunde sockten an Jule Linsgrens Optikgeschäft vorbei,atmeten in der Nähe eines Back-Shops dreimal kräftigdurch die Nase ein, um den ofenfrischen Duft der Bröt-chen zu speichern, und erreichten zehn Minuten späterdas Haus des Bürgermeisters.

Während Børre also mit flinken Händen an Flavios Bikeeine Pedale anschraubte, die schon einen weiten Weg perSchiff und Flaschenpost zurückgelegt hatte, standen Ya-na und Chiara auf der Rentierkoppel und klopften einemheimgekehrten Albino-Hengst liebevoll den Hals. Wie knappdas brave Ren dem Bolzen des Fleischermeisters SvenCarlson in der »Werkstatt« des lustigen Nils entkommenwar, würden die beiden Freundinnen wohl nie erfahren.Dagegen war Britta Lindberg, alias Lasso-Jane, in diesemAugenblick mehr als klar, dass ihr Mann Arne mit seinemmännlichen Instinkt, zumindest diesmal, vollkommen rich-tig gelegen hatte. Und auch Yana musste wohl oder übelzugeben, dass man mit Karasjok-Instinkt nicht so weitkommt wie mit dem Vertrauen auf einen lebendigen Gott,der sich als ein Helfer in der Not erwiesen hatte und denen

203

Frischluftfahrt im Campingbus_195-208_Frischluftfahrt im Campingbus 28.10.09 12:52 Seite 20

Page 204: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

beisteht, die sich ganz auf ihn verlassen. Der einarmigeKiki Manski saß in diesem Moment zu Tränen gerührt inseinem Wohnzimmersessel und freute sich riesig über sei-nen unverhofften Besuch. Sein Blick ruhte freundlich aufOlaf Båkkolm – dem Brandstifter –, der erzählte, welchgewaltige Veränderung in seinem Leben stattgefundenhatte. Mikkel hörte staunend zu und fing an, ein wenig zubegreifen, dass Gottes Liebe selbst den armseligsten Lo-sern, Steppenläusen und Sündern gilt, wie er einer war.Der Dogmusher von Bojobæski beschloss, diesen verge-bungsbereiten Gott so lange zu suchen, bis er ihn findenwürde.

Einige Hundert Meter von Kiki Manskis Wohnung entferntsaß Eddy Ericson mit verdrießlicher Miene im Foyer des›Nordkap-Hotels‹ und drehte Däumchen. »Diesem NilsBåtten sind wir vollständig auf den Leim gegangen. Längsthätte er mit dem Ersatzfahrzeug hier sein müssen. Möchtewissen, wo der so lange bleibt.«

»In U-Haft«, sagte Erna nüchtern.»In U-Haft?« Eddy sah seine Frau groß an.»Ja, Nils hat in dem Power-Mobil Rentiere transportiert.

In seinen illegalen Schlachthof. Die Polizei hat ihn festge-nommen.«

»Wo…Woher weißt du das?«»Vom Sheriff.«»Was hast du mit dem Sheriff zu schaffen?« »Wir haben zusammengearbeitet.«»Aber Erna, wir haben doch Urlaub …«»Das habe ich berücksichtigt. Ich habe dich ausschlafen

und in der Hotelsauna schwitzen lassen. Was willst dumehr, Eddylein!«

Der Rentner verzog das Gesicht. »Ich habe dich gebeten,nicht den Hilfssheriff zu spielen, Erna!«

»Ich … ich habe nur ein wenig geschnüffelt, Eddy … imDixi-Klo. Mehr nicht!«

»Im Dixi-Klo? Wie geschmacklos. Pfui, Erna!«

204

Frischluftfahrt im Campingbus_195-208_Frischluftfahrt im Campingbus 28.10.09 12:52 Seite 20

Page 205: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Die Schnüffelei war aber ein Riesenerfolg. Für unsist ’ne Belohnung dabei rausgesprungen.«

»Eine Belohnung?«Erna schmunzelte. »Ja, Eddy. Unsere Hotelrechnung

wird von der Kripo übernommen und für die Heimfahrtnach Tromsdalen stellen sie uns so bald wie möglich einWohnmobil zur Verfügung.«

Der Rentner Eddy Ericson seufzte und griff zu seinemHerzen. »In einen Ducato steig ich nicht mehr ein, Erna.«

Die Agenten-Gattin lachte. »Und ich nicht mehr in einenklapprigen Campingbus.«

»Gut«, sagte Eddy, »wir einigen uns auf ein Mobil, für dasman keine Beruhigungspillen benötigt, abgemacht, Schätz-chen?«

»Abgemacht, Eddylein!« Erna stand auf und drückteihrem Eddy einen Kuss auf die Stirn.

Die nächsten Tage in Karasjok verliefen ausgesprochenruhig. Eben so, wie es normalerweise auf dem Finnmarks-Vidda üblich ist. Eddy und Erna gingen noch ein paarmalangeln. Natürlich zog Erna 20 Kilo mehr an Fisch ausdem Wasser des Karasjokka als Eddy, der immer geradedann, wenn sich der Schwimmer bewegte, entweder ein-genickt oder in ein Micky-Maus-Heft vertieft war. Krimi-nalromane las er im Urlaub schon lange nicht mehr.

Børre putzte aus Langeweile jeden Tag sein Trekking-Rad. Was sollte er auch machen, da die Mädchen nichtsanderes im Kopf hatten, als stundenlang ein weißes Ren-tier zu verwöhnen. Flavio lag meistens auf der Wiese undhörte Pavarotti oder Joseph Haydn bzw. seine klangvolle»Schöpfung« mit Stradivari-Geigen. Irgendwann ging dergelangweilte Norweger zu ihm hin und tippte ihm sanftauf die Schulter. In seiner Hand hatte er einen Hammerund einen Nagel. »He, du!«

Flavio zog brav die Stöpsel aus den Ohren und drückteauf den Ausschaltknopf. »Was haste denn, Kumpel?«

»Ich hab ’ne Idee. Komm mal mit.«

205

Frischluftfahrt im Campingbus_195-208_Frischluftfahrt im Campingbus 28.10.09 12:52 Seite 20

Page 206: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

Flavio musterte misstrauisch Børres Hammer. »Willstemeinem MP3-Player den endgültigen K. o. verpassen?«

»Nee«, grinste der breitschultrige Norweger, »ich zeig dirmal, wie man deinen Fahrradreifen flickt.«

Flavio zog ein langes Gesicht und stand auf. »Aber ichhab doch gar keinen Platten.«

»Was nicht ist, kann noch werden«, lachte Børre ver-schmitzt, drückte dem Italiener den Hammer in die Handund hielt den Nagel auf Flavios Vorderreifen. »Schlag malzu, aber kräftig!«

Flavio kratzte sich am Kopf. »Zuschlagen? Aber … aberdann geht doch der Reifen ka…«

»Feste!«, befahl Børre.Der smarte Italiener schluckte und hob zögernd den

Hammer. »Das … das ist Sabotage. Ich … Ich kann garnicht hinsehen.«

Børre wurde ungeduldig. »Zuschlagen, hab ich ges…Auuuuuuu!« Der Hammer traf seinen Daumen mit vollerWucht. Der Nagel fiel zu Boden.

»Ge…Getroffen?«, fragte Flavio leise. Vorsichtig öffneteder Italiener die Augen.

Na ja, und so kam es, dass am Abreisetag der Sommer-urlauber ein blonder Norweger den überladenen Camping-bus seines Vaters mit einem dick verbundenen Daumenbestieg. Yana schwenkte zum Abschied ihre Karasjok-Mütze. »Bis bald in Tromsø!«, rief sie Chiara zu.

»Du hast uns gar nicht gezeigt, wie man mit dem Lassowirft«, meinte Chiara händeschüttelnd.

»Holen wir in Tromsø nach«, lächelte die junge Samin.»Børres Daumen nehmen wir als Zielscheibe!«

Fred Ålsen hupte und dann knatterte das Gefährt ausdem Hof. Chiara kurbelte die Scheibe herunter, um zuwinken. Nach der fünften Umdrehung machte es »klack«und die Italienerin hatte die Kurbel in der Hand.

»Okay«, kommentierte Flavio, »damit hätten wir auchdas Frischluftproblem gelöst!«

206

Frischluftfahrt im Campingbus_195-208_Frischluftfahrt im Campingbus 28.10.09 12:52 Seite 20

Page 207: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

»Aber noch nicht das Kupplungsproblem«, ergänzte Fredheiter.« Dann gab er Gas. »Wem’s zieht, der kann sich ’neKarasjok-Mütze aufsetzen«, scherzte er.

»Ich nehm eine in Kauto-Optik«, flachste Flavio. »Gefälltmir besser.«

Chiara stöhnte. »Auf der Rückfahrt veranstalten wir kei-nen Samen-Krieg, hört ihr! Mützen- und Musikproblemesind tabu. Wir verlassen die Finnmark in christlicher Ein-tracht und Nächstenliebe.«

»Hugh!«, bekräftigte ihr Bruder. »Die Freundin des Ober-häuptlings hat gesprochen!«

Und so beendeten unsere nordischen Freunde, die ihreFinnmark-Rundfahrt im Luxusliner von Lars Jækesby be-gonnen hatten, ihre Tour in einem abenteuerlichen Cam-pingbus, in den sich eine rüstige Agenten-Gattin keinzweites Mal hineingesetzt hätte. Und das war auch gut so.Denn in einer unübersichtlichen Kurve am Tromsesundgeschah es: Fred musste sich gerade zum achtzehnten Malbücken, um ein klemmendes Kupplungspedal zu lösen,als es ein ähnliches Geräusch gab wie zu Beginn der Rück-reise an Chiaras Fensterkurbel: Klack! Als Fred wiederüber dem Lenkrad auftauchte, hatte er ein abgebrochenesKupplungspedal in der Hand. Der Campingbus machte einpaar unbeholfene Sprünge wie ein Kängurujunges in Aus-tralien und blieb am Straßenrand liegen. Das war’s. OhneKupplung keine Sause. Børre sah sich um. O Schreck!Die gleiche Kurve wie … In diesem Moment quietschtenauch schon Reifen. Aus dem angehaltenen Wohnmobilkletterte ein weißhaariger Senior. »Hallo, Fred! Probleme?«Eddy und Fred lachten, bis ihnen die Tränen kamen.Aber dann griff der Rentner Eddy Ericson wie selbstver-ständlich zum Abschleppseil und zog den kupplungslosenÅlsen-Bus bis zu einer Autowerkstatt in einer TromsdalerSackgasse. So endete das »Abenteuer Finnmark« kurz vordem Ziel mit einer »Gegenleistung«, von der Fred Ålsen inZukunft immer wieder gern erzählte.

207

Frischluftfahrt im Campingbus_195-208_Frischluftfahrt im Campingbus 28.10.09 12:52 Seite 20

Page 208: Borre Und Die Rentiermafia - Holger Klaewer - Bibel Jesus Gott Religion Glaube Esoterik

208

E47

E06

E75

E69

E47Trom

søA

lta

Old

erdal

en

Kau

toke

ino

Kar

asjo

k

Ival

o

Kir

kenes

Var

Lak

selv

Ham

mer

fest

Honnin

gs-

våg

Inarisee

Nord

kap

Nord

kinn

Skarvberg-

Tunnel

Skoganvarre

Bojobæski

Porsan

gen

Máz

i

Polarmeer

Finnmark

s- Vidda

Inar

i

N

FI

NN

-L

AN

D

RU

SS

_

LA

ND

N

OR

WE

EG

Frischluftfahrt im Campingbus_195-208_Frischluftfahrt im Campingbus 28.10.09 12:52 Seite 20